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Eva García Sáenz

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Beschreibung

Der großartige Thriller-Bestseller aus Spanien – jetzt auch verfilmt auf Netflix. Der erste Fall für Inspector Ayala, genannt Kraken. Eine Stadt ist in Angst. In der Kathedrale von Vitoria liegt ein totes Paar, völlig nackt, die Hände auf der Wange des anderen. Das alles gleicht exakt einer Serie von Verbrechen vor zwanzig Jahren, die die Stadt in Atem hielt. Doch der Fall gilt als gelöst, der Täter sitzt in strenger Einzelhaft. Hat man damals einen Unschuldigen verurteilt? »Hochspannender Krimi-Serien-Auftakt!« BILD am Sonntag »Atmosphärischer Thrill aus dem Baskenland.« FÜR SIE »So spannend, so frisch und rasant erzählt.« Kölner Stadt-Anzeiger

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Eva García Sáenz

Die Stille des Todes

Thriller

Aus dem Spanischen von Alice Jakubeit

FISCHER E-Books

Meinem Großvater. Gründe dafür habe ich mehr als genug.

Die Welt braucht schlechte Menschen.

Irgendwer muss ja die anderen schlechten Menschen in Schach halten.

 

RUST COHLE, True Detective

Die wichtigsten Personen[1]

Inspector Unai López de Ayala, genannt Kraken: Profilingexperte bei der Kriminalpolizei von Vitoria, spezialisiert auf die Analyse der Täter

Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna, genannt Esti: Kollegin von Unai, Viktimologin, spezialisiert auf die Analyse der Opfer

Subcomisaria Alba Díaz de Salvatierra: Chefin von Unai und Esti, ursprünglich aus Laguardia, neu im Kommissariat von Vitoria

Comisario Medina: Polizeichef von Vitoria, direkter Vorgesetzter von Alba

Tasio Ortiz de Zárate: ehemals angesehener Archäologe und Fernsehmoderator, seit zwanzig Jahren in Haft

Ignacio Ortiz de Zárate: ehemaliger Polizeiinspektor in Vitoria, eineiiger Zwillingsbruder von Tasio

Prolog

Vitoria, August 2016

Die Reporter ließen meiner Clique keine Ruhe. Sie brauchten einen Aufmacher und waren davon überzeugt, dass meine Freunde ihnen den liefern konnten. Seitdem bekannt geworden war, dass der Mörder auf mich geschossen hatte, folgten sie ihnen durch ganz Vitoria.

Schon früh morgens lungerten sie bei ihnen an der Haustür herum. Nachmittags folgten sie ihnen ins Restaurant Saburdi, wo sie ein paar Pinchos aßen – schweigend, doch in diesen Tagen war niemandem nach Reden zumute. Die penetrante Gegenwart der Reporter tat ein Übriges.

»Es tut uns leid, was Inspector Ayala zugestoßen ist. Gehen Sie heute Nachmittag zu der Gedenkfeier?«, fragte ein Journalist, während er ihnen die Titelseite einer Zeitung vor die Nase hielt, auf der ein Foto beinahe mehr Raum einnahm als die Schlagzeile.

Der große dunkelhaarige Mann auf dem Foto, der da erfolglos versuchte, sein Gesicht vor den Kameras zu verstecken, war ich, einige Tage vor dem Schuss.

Meine Freunde drehten dem Mann den Rücken zu.

»Wir stehen unter Schock«, stieß Jota schließlich hervor und trank seinen Rotwein aus. »Das Leben ist nicht gerecht, es ist nicht gerecht.«

Vielleicht glaubte er, nun würden die Journalisten sie in Ruhe lassen, doch die entdeckten jetzt Germán, meinen Bruder, unverwechselbar mit seinen ein Meter zwanzig, der Folge seiner Kleinwüchsigkeit. Germán hatte versucht, sich Richtung Toilette davonzustehlen, doch einer der Reporter hatte ihn mit geschultem Blick erkannt und machte sofort die Kameraleute auf ihn aufmerksam.

»Da ist der Bruder, hinterher!«

Germán drehte sich um. »Verpissen Sie sich«, sagte er bloß, nicht einmal verärgert, nicht einmal gekränkt. Einfach nur erschöpft. Dann schlug er ihnen die Tür zum Toilettenraum vor der Nase zu, was noch am selben Abend in sämtlichen landesweiten Fernsehsendern zu sehen war.

Ich weiß, die Bewohner Vitorias waren allesamt bestürzt darüber, dass ich mit einer Kugel im Kopf geendet bin. Als Polizist rechnet man nicht damit, einen Fall abzuschließen, indem man das letzte Opfer eines Serienmörders wird. Eines Serienmörders, der die gesamte Stadt in Atem gehalten hat. Doch das Leben ist sehr kreativ, wenn es darum geht, einem übel mitzuspielen.

 

Und … ja: Ich war nicht unbeschadet davongekommen. Am Ende hatte ich, wie gesagt, eine Kugel im Hirn. Aber vielleicht sollte ich zunächst die Ereignisse schildern, die mit dem sogenannten Doppelmord am Dolmen begannen und sich zu einem regelrechten Gemetzel ausweiteten, über viele, viele Jahre hinweg geplant und ausgeführt von einem Verbrecherhirn, dessen Intelligenzquotient uns, die versuchten, ihn zu fassen, turmhoch überlegen war.

Wenn jemand, der ein verdammtes Genie ist, sich daran macht, eine Mordserie zu verüben, dann kannst du nur beten, dass bei der großen Lotterie nicht gerade deine Kugel aus der vergoldeten Lostrommel fällt. Was mir leider passiert ist.

1Die alte Kathedrale

Sonntag, 24. Juli 2016

Ich ließ mir gerade die weltbeste Tortilla schmecken, das Ei leicht gestockt und die Kartoffeln bissfest, da erhielt ich den Anruf, der mein Leben verändern sollte. Zum Schlechten, sollte ich ergänzen.

Es war der Tag vor dem Día de Santiago, dem Gedenktag des heiligen Jakob. Ganz Vitoria bereitete sich auf die Feierlichkeiten zum Día del Blusa vor, wie dieser Tag bei uns auch genannt wird, eine Hommage an all die jungen Leute früher und heute, die an diesem Tag mit ihren traditionellen blauen Hemden und den dazu passenden Halstüchern durch die Straßen ziehen. Als mein Handy in der Brusttasche vibrierte, musste ich hinaus auf die Straße gehen, so laut war es in dem Restaurant.

»Was gibt’s, Esti?«

Normalerweise störte meine Kollegin mich an meinen freien Tagen nicht, und der Día del Blusa sowie der Tag davor waren selbstverständlich heilig. Es kam also nicht in Frage, dass ich zur Arbeit ging, während die übrige Stadt kopfstand.

Bei dem Radau, den die Musikkapellen und die Menschenmassen machten, die ihnen hüpfend und singend folgten, konnte ich sie ohnehin nicht richtig verstehen.

»Unai, du musst zur alten Kathedrale kommen«, entschlüsselte ich schließlich. Auch diesen Tonfall, diesen halb bestürzten, halb dringlichen Unterton war ich nicht gewöhnt von der Frau, die mehr Mumm hatte als ich – und das wollte etwas heißen.

Mir war sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

Ich entfernte mich ein wenig von dem Lärm und wandte mich in Richtung des Parque de la Florida.

»Was ist passiert?«, fragte ich und versuchte, die Wirkung des letzten Schlucks Rioja abzuschütteln, den ich nicht hätte trinken sollen.

»Du wirst es nicht glauben: Es ist alles genauso wie vor zwanzig Jahren.«

»Wovon redest du, Esti?« Ich war noch ein wenig begriffsstutzig.

»Ein paar Archäologen von der Firma, die die Restaurationsarbeiten in der Kathedrale durchführt, haben in der Krypta zwei Leichen entdeckt. Einen jungen Mann und eine junge Frau, beide vollkommen nackt, eine Hand an die Wange des anderen gelegt. Komm sofort her, Unai. Das ist ernst, das ist sehr ernst.« Und sie legte auf.

Das kann nicht sein, dachte ich.

Das kann nicht sein.

Ich verabschiedete mich nicht einmal von der Clique. Meine Freunde waren noch im Restaurant, dem Asador Sagartoki, mitten im Getümmel, und würden es wohl kaum bemerken, wenn ich versuchte, einen von ihnen auf dem Handy anzurufen, um ihnen Bescheid zu geben, dass der Día del Blusa sich für mich gerade erledigt hatte.

Während die letzten Worte meiner Kollegin noch in meinem Kopf widerhallten, machte ich kehrt und ging zur Plaza de la Virgen Blanca, lief an meiner Haustür vorbei und von dort bis zur Einmündung der Calle Correría, einer der ältesten Straßen im mittelalterlichen Stadtkern.

Das war keine gute Idee. Sie war ebenso verstopft wie das gesamte Stadtzentrum an diesem Tag. La Malquerida und die übrigen Lokale, die die Straßen der Altstadt säumten, quollen über, und so benötigte ich über eine Viertelstunde, um zur Plaza de la Burullería zu gelangen, dem Hinterhof der Kathedrale, wo ich mich mit Estíbaliz verabredet hatte.

Der Platz hieß so, weil sich dort im 15. Jahrhundert der Markt der Tuchweber, der burulleros, befunden hatte, denen die Stadt ihren Platz an einer der Haupthandelsrouten im Norden Spaniens verdankte. Ich lief über das Kopfsteinpflaster, und die Bronzestatue des Schriftstellers Ken Follett, an der ich vorüberkam, sah mich nachdenklich an, als wüsste er bereits von den finsteren Verwicklungen, die hier gerade ihren Anfang nahmen.

 

Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna, genannt Esti, ebenso wie ich bei der Kriminalpolizei, wartete hektisch telefonierend auf mich und lief dabei nervös auf dem Platz auf und ab. Sie hatte kinnlange rote Haare und hätte mit ihren ein Meter sechzig beinahe nicht die Einstellungsbedingungen der Polizei erfüllt – und Vitoria hätte um ein Haar auf eine seiner besten und dickschädeligsten Ermittlerinnen verzichten müssen. Beide waren wir verdammt gut darin, unsere Fälle aufzuklären; nur im Befolgen von Vorschriften waren wir nicht so gut. Wir waren mehrfach wegen Gehorsamsverweigerung verwarnt worden, und so hatten wir gelernt, uns gegenseitig zu decken. Was das Befolgen der Vorschriften anging … nun, wir arbeiteten daran.

Ich drückte beide Augen zu, was gewisse Laster betraf, die Esti noch nicht abgelegt hatte. Sie sah weg, wenn ich meinen Vorgesetzten nicht gehorchte und auf eigene Faust ermittelte.

Ich hatte mich in operativer Fallanalyse weitergebildet und kam daher immer dann zum Einsatz, wenn es um Serienverbrechen ging: Mord, Vergewaltigung … alle Arten von Wiederholungstaten. Geschahen mehr als zwei Taten am Stück, dann war es ein Fall für mich.

Estíbaliz hatte sich auf Viktimologie spezialisiert, auf die Opfer: warum genau diese Person und keine andere? Sie war am geschicktesten von uns allen im Umgang mit Datenbanken wie SICAR, wo die Reifenspuren sämtlicher denkbaren Fahrzeuge gespeichert waren, oder SoleMate, einem Kompendium aller Schuhmarken weltweit.

Sobald sie mich bemerkte, senkte sie ihr Handy und sah mir mit Leichenbittermiene entgegen.

»Was erwartet mich da drin?«, wollte ich wissen.

»Sieh es dir lieber selbst an«, murmelte sie, als könnte der Himmel – oder vielleicht auch die Hölle, wer weiß? – uns hören. »Comisario Medina persönlich hat mich angerufen. Sie wollen einen Profiling-Experten wie dich, und mich wollen sie auch dabeihaben, damit ich mich um den Aspekt der Opfer kümmere. Gleich verstehst du, warum. Ich möchte, dass du mir deinen ersten Eindruck schilderst. Die Leute von der Spurensicherung sind schon da, die Gerichtsmedizinerin und der Richter auch. Wir nehmen den Eingang auf der Cuchi.«

Die Calle Cuchillería ist auch eine der alten Straßen, an denen sich im Mittelalter die Zünfte zusammengefunden hatten, in diesem Fall die Messerschmiede. In Vitoria werden wir ständig an die Berufe unserer Vorfahren erinnert: Schuhmacher in der Calle Zapatería, Riemenmacher in der Calle Correría, Färber in der Calle Pintorería, Schmiede in der Calle Herrería … Die ursprüngliche Anlage der Altstadt, die man auch Almendra Medieval nennt, weil sie die Form einer Mandel hat, ist trotz aller Veränderungen im Lauf der Jahrhunderte erhalten geblieben.

Dass man durch die Tür eines auf den ersten Blick beliebigen Wohnhauses in eine Kathedrale gelangt, bleibt ein Kuriosum.

Zwei Uniformierte bewachten bereits den Eingang zu Hausnummer 95, eine wuchtige Holztür. Sie grüßten uns und ließen uns passieren.

»Ich habe die beiden Restauratoren, die sie gefunden haben, schon befragt«, teilte meine Kollegin mir mit. »Sie waren heute gekommen, um ein bisschen vorzuarbeiten, anscheinend machen die von der Fundación Catedral Santa María Druck, damit sie noch dieses Jahr mit dem Bereich der Krypten und der Grube fertig werden. Sie haben uns die Schlüssel überlassen. Das Schloss ist intakt, wie du siehst. Es wurde nicht aufgebrochen.«

»Du sagst, sie sind während des Stadtfestes arbeiten gegangen? Ist das nicht ein bisschen … seltsam für jemanden aus Vitoria?«

»Mir ist an ihren Reaktionen nichts Seltsames aufgefallen, Unai.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie waren völlig perplex, um nicht zu sagen, zu Tode erschrocken. So ein Entsetzen kann man nicht vortäuschen.«

Na gut, dachte ich. Ich vertraute Estíbaliz’ Intuition ebenso, wie der Beifahrer eines Tandems seinem Vordermann vertraut. So funktionierten wir, als eingespieltes Team.

Wir betraten den restaurierten Vorraum, meine Kollegin schloss die Tür hinter uns, und endlich verstummte der Lärm der endlosen Feierlichkeiten.

Bisher hatte mein Verstand die Nachricht vom Fund der beiden Leichen noch nicht richtig erfasst; zu krass war der Gegensatz zu dem fröhlichen und sorglosen Trubel um mich herum gewesen. Aber hier, in der klösterlichen Stille der Kirche und im Licht der Baulampen, die die Holztreppe zur Krypta sanft beleuchteten, erschien mir das alles sehr viel glaubhafter.

»Komm, setz den Helm auf.« Estíbaliz reichte mir einen der weißen Helme mit dem blauen Logo der Fundación, die alle Besucher der Kathedrale tragen mussten. »Bei deiner Größe stößt du dir garantiert den Kopf.«

»Verzichte.« Ich war damit beschäftigt, mich im Raum umzusehen.

»Der ist Pflicht«, beharrte sie, hielt mir das weiße Ding erneut hin und streifte dabei mit den Fingern meine Handkante.

Es war ein Spiel zwischen uns, mit nur einer einzigen, sehr klaren Regel: »Bis hierher und nicht weiter.«

»Weichei«, murmelte ich und nahm ihr den Helm ab.

Wir stiegen die geschwungene Treppe hinauf und ließen die Modelle des Dorfes Gasteiz hinter uns, der ersten Siedlung, aus der später die Stadt Vitoria geworden war. Dann mussten wir noch einmal stehen bleiben, weil Estíbaliz den richtigen Schlüssel zum Innenraum der Kathedrale suchte. Sie ist eines unserer Wahrzeichen, häufiger geflickt und instandgesetzt als mein altes Kinderfahrrad. Rechter Hand begrüßte uns ein Schild mit der Aufschrift WEGEN BAUARBEITEN GEÖFFNET.

Ich kannte sämtliche Wahrzeichen meiner Heimat. Sie waren in meinem Gedächtnis eingebrannt, seit der Doppelmord am Dolmen zwanzig Jahre und vier Monate zuvor eine ganze Stadt bis in die Grundfesten erschüttert hatte.

Der Dolmen La Chabola de la Hechicera – das Hexenhaus –, die bronzezeitliche Siedlung La Hoya, die römischen Salinen von Añana, wo heute noch eines der besten Salze der Welt gewonnen wird, die mittelalterliche Stadtmauer … dies waren die Schauplätze, die ein Serienmörder damals ausgewählt hatte, um Vitoria in die internationalen Nachrichten zu befördern.

Ich war damals schon um die zwanzig und so besessen von den Vorfällen gewesen, dass ich ihretwegen sogar zur Polizei gegangen bin. Den täglichen Fortgang der Ermittlungen hatte ich so begierig verfolgt, wie man es nur verstehen kann, wenn man selbst ein auf ein einziges Thema fixierter junger Mensch ist. Ich hatte die wenigen Informationen im Diario Alavés, einer unserer Tageszeitungen, ausgewertet und gedacht: Das kann ich besser. Die stellen sich ungeschickt an, die ignorieren ja das Wichtigste: das Motiv, das Warum. Ja, mit knapp zwanzig Jahren hatte ich mich für schlauer als die Polizei gehalten. Wie naiv mir das heute erscheint.

Später traf mich die Wahrheit härter als ein Boxhieb ins Gesicht und ließ mich ebenso verwirrt zurück wie den Rest des Landes. Niemand hätte damit gerechnet, dass ausgerechnet Tasio Ortiz der Schuldige sein könnte. Von mir aus jeder andere, das wäre mir egal gewesen: mein Nachbar, eine Nonne des Klarissenordens, der Bäcker, selbst der Bürgermeister … Aber doch nicht er, nicht unser Lokalheld, der unser aller Idol, unser großes Vorbild, unser Vorzeigebürger gewesen war. Angesehener Archäologe, triumphaler Star einer Fernsehsendung mit Rekordeinschaltquoten bei jeder Ausstrahlung, Autor von Büchern zu Geschichte und Mysterien der Stadt, die in wenigen Wochen vergriffen waren: Tasio war der charismatischste und charmanteste Mann, den Vitoria in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hatte. Klug, sehr attraktiv – nach einhelliger Auffassung der Frauen – und überdies in doppelter Ausfertigung.

Ganz recht, in doppelter Ausfertigung.

Uns standen zwei zur Auswahl. Tasio hatte einen eineiigen Zwilling, der mit ihm völlig identisch war. Ununterscheidbar. Optimistisch, aus guter Familie, fröhlich, feierfreudig, gebildet, korrekt … Sie waren gerade einmal vierundzwanzig Jahre alt, doch ganz Vitoria lag ihnen zu Füßen und eine strahlende Zukunft vor ihnen.

Ignacio, Tasios Zwillingsbruder, schlug die Laufbahn des Gesetzeshüters ein: Er ging zur Polizei und war der integerste Mann, den wir bei der Truppe je hatten. Niemand hätte gedacht, dass die Geschichte zwischen den beiden so enden würde. Alles daran war unglaublich schmutzig und grausam gewesen.

Dass jemand unanfechtbare Beweise findet, die belegen, dass sein eigener Bruder der meistgesuchte und bestanalysierte Serienmörder unseres Landes ist. Dass er selbst dessen Verhaftung anordnen muss, obwohl sie bis dahin so unzertrennlich wie siamesische Zwillinge waren. Ignacio war der Mann des Jahres, ein allseits respektierter Held – der Mann, der den Mumm hatte, die Verantwortung zu übernehmen und zu tun, was nur wenige von uns tun würden: sein eigen Fleisch und Blut zu einem Leben hinter Gittern zu verurteilen.

Was mich auf eine beunruhigende Frage brachte: Unsere beiden Tageszeitungen, die auf das Heftigste miteinander rivalisierten, El Diario Alavés und El Correo Vitoriano, erinnerten seit kurzem immer wieder daran, dass Tasio Ortiz in zwei Wochen seinen ersten Hafturlaub nach zwanzig Jahren Gefängnis antreten würde. Und jetzt, ausgerechnet jetzt, hatte die Stadt mit der ehemals niedrigsten Kriminalitätsrate Nordspaniens gleich zwei neue Leichen in ihrer makabren Statistik zu verzeichnen?

Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich damit meine Gespenster verscheuchen. Dann zwang ich mich, mir die Schlussfolgerungen für später aufzuheben und mich zunächst auf das zu konzentrieren, was wir vor uns hatten.

Wir betraten die gerade restaurierte Krypta, und ich musste tatsächlich den Kopf einziehen, so niedrig waren die Decken. Es roch nach frisch gesägtem Holz. Sehr vorsichtig trat ich auf die makellosen rechteckigen Fliesen aus poliertem grauen Stein. Sie wirkten so sauber, dass man sie gar nicht beschmutzen mochte. Zwei mächtige Säulen vor uns trotzten nach Kräften dem Gewicht der verstreichenden Jahrhunderte, die eigentlichen Grundpfeiler der vom Alter gebeugten Kathedrale.

Dann entdeckte ich die beiden reglosen Körper auf dem Boden, und ein Brechreiz stieg in mir auf. Doch ich widerstand.

Die Spurensicherer in ihren weißen Overalls und Überschuhen untersuchten bereits seit einer Weile den Tatort. Sie hatten mehrere Scheinwerfer aufgestellt, um die düstere Krypta auszuleuchten, und offenbar bereits alles fotografiert, denn ich sah diverse Messstäbe auf dem Boden liegen. Estíbaliz bat um die Skizze des Tatorts, die sie bereits angefertigt hatten, betrachtete sie dann eingehend und reichte sie an mich weiter.

»Sag mir, dass sie nicht zwanzig Jahre alt sind, Esti«, bat ich sie.

Jedes andere Alter, bloß nicht zwanzig.

Die Zählung des damaligen Mörders war bei fünfzehn Jahren stehen geblieben: vier Paare, immer ein männliches und ein weibliches Opfer, beide nackt, die flache Hand liebevoll an die Wange des anderen gelegt, eine unpassend zärtliche Geste, die bisher niemand hatte erklären können. Man hatte festgestellt, dass sich die Opfer in keinem der vier Fälle gekannt hatten. Alle hatten für die Provinz Álava typische zusammengesetzte Nachnamen: López de Armentia, Fernández de Retana, Ruiz de Arcaute, García de Vicuña, Martínez de Guereñu …

Am Dolmen La Chabola de la Hechicera hatte man die Leichen zweier Neugeborener gefunden, kurz darauf in der keltiberischen Siedlung La Hoya einen kleinen Jungen und ein kleines Mädchen von jeweils fünf Jahren. Mit einer Hand den anderen tröstend, den leeren Blick gen Himmel gerichtet.

Im Valle Salado de Añana, wo seit den Zeiten der Römer eine florierende Salzgewinnung betrieben wurde, entdeckte man die Leichen eines Jungen und eines Mädchens von jeweils zehn Jahren. Als die Serie Vitoria erreichte und neben dem Tor in der mittelalterlichen Stadtmauer ein Paar im Alter von fünfzehn Jahren auftauchte, hatte die Hysterie bereits solche Ausmaße angenommen, dass wir jungen Leute von zwanzig Jahren zu Hause blieben und mit unseren Großeltern Karten spielten. Niemand wagte, durch Vitoria zu spazieren, es sei denn im Rudel. Das Alter der Opfer nahm mit dem Vorrücken der Fundorte innerhalb der Chronologie unserer Heimatprovinz zu. Alles sehr archäologisch, alles sehr à la Tasio.

Dann schnappten sie ihn. Inspector Ignacio Ortiz de Zárate ordnete die Festnahme von Tasio Ortiz de Zárate, dem berühmtesten und beliebtesten Archäologen des Landes, an. Er wurde vor Gericht gestellt, des achtfachen Mordes für schuldig befunden und kam ins Gefängnis.

Und die blutige Ernte unter den Kindern Vitorias kam zum Stillstand.

Die Stimme meiner Kollegin holte mich zurück in die Gegenwart.

Doctora Guevara, die Rechtsmedizinerin, eine schlanke Frau von fünfzig Jahren, sprach gerade leise mit dem Richter, einem älteren Mann mit breiten Schultern, kräftigem Oberkörper und kurzen Beinen, der einen Fuß Richtung Tür gestellt hatte, als wollte er am liebsten flüchten. Wir beschlossen, noch nicht zu ihnen zu gehen – sie wirkten, als wollten sie jetzt nicht gestört werden.

»Wir konnten sie noch nicht identifizieren«, teilte Estíbaliz mir leise mit, »wir gleichen gerade die Daten mit den Vermisstenanzeigen ab. Aber beide, der Mann und die Frau, scheinen um die zwanzig zu sein. Du denkst das Gleiche wie ich, stimmt’s, Kraken?«

Manchmal nannte sie mich bei meinem Spitznamen aus Jugendtagen, eine dieser Vertraulichkeiten, die sich mit der Zeit eingestellt hatten.

»Es kann unmöglich sein, dass das passiert ist, was ich denke«, flüsterte ich und biss die Zähne zusammen.

»Es ist aber passiert.«

»Das wissen wir noch nicht«, fiel ich ihr stur ins Wort.

Sie schwieg.

»Das wissen wir noch nicht«, wiederholte ich, vielleicht, um mich selbst davon zu überzeugen. »Konzentrieren wir uns auf das, was wir vor uns haben. Nachher sprechen wir in meinem Büro mit kühlem Kopf über die Schlussfolgerungen, wenn du möchtest.«

»Einverstanden. Was siehst du?«

Ich ging zu den Opfern, kniete vor ihnen nieder und sprach leise mein Gebet: »Hier endet deine Jagd, hier beginnt die meine. … Ich sehe drei Silberdisteln – eguzkilores, die Blumen der Sonne«, sagte ich dann laut. »Zwischen ihren Köpfen und beiderseits der Füße. Welche Bedeutung sie in dieser Inszenierung haben, ist mir nicht klar.«

Der eguzkilore, die Silberdistel, ist ein altes Schutzsymbol in der baskischen Kultur, das man an den Türen der Bauernhäuser anbrachte, um Hexen und anderen Dämonen den Zugang zu verwehren. Doch in diesem Fall hatte es die Opfer offensichtlich nicht beschützt.

»Nein, ich verstehe auch nicht, was sie hier sollen«, stimmte Estíbaliz mir zu. »Ich mache mit den Opfern weiter: Mann und Frau, beide zwanzig oder ein bisschen älter. Sie sind nackt und liegen auf dem Boden der Krypta. Keinerlei Schnittwunden, Spuren von Schlägen oder sonstiger Gewalteinwirkung. Aber sieh mal da: Beide haben ein winziges Loch an der Halsseite. Einen Einstich. Den beiden wurde etwas injiziert.«

»Man wird den toxikologischen Bericht abwarten müssen«, sagte ich. »Sie werden Proben zur Analyse nach Bilbao ins gerichtsmedizinische Labor schicken müssen, vielleicht finden sie Drogen oder Psychopharmaka. Noch etwas?«

»Jedes der Opfer hat eine Hand an die Wange des anderen gelegt. Die Gerichtsmedizinerin wird den Todeszeitpunkt bestimmen, aber die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt, daher nehme ich an, dass sie erst seit wenigen Stunden tot sind«, fuhr Estíbaliz fort. »Ich sage den Spusis, sie sollen die Hände in Tüten packen, sieht zwar nicht so aus, als hätten sie sich gewehrt, aber man weiß nie.«

»Komm näher.« Ich winkte sie heran. »Ich glaube, sie riechen nach … Benzin? Der Geruch ist nur ganz schwach, aber ich würde sagen, sie riechen nach Benzin oder Petroleum.«

»Also, du hast wirklich eine feine Nase. Mir ist nichts aufgefallen«, sagte sie zustimmend, nachdem sie an den Gesichtern der Opfer geschnuppert hatte. »Wir müssen noch die Todesursache herausfinden. Glaubst du, sie wurden auch vergiftet wie die damaligen Opfer? Vielleicht hat der Mörder sie Benzin schlucken lassen.«

Ich wollte antworten, doch dann hielt ich inne und sah mir das Gesicht der jungen Frau aus nächster Nähe an. Es war zu einer schmerzverzerrten Grimasse erstarrt. Sie hatte vor ihrem Tod gelitten, ebenso wie der junge Mann. Ich musterte sein Haar. Es war an den Seiten gerade erst geschnitten worden, und die Tolle vorn hielt noch, dank des teuren Haargels. Offenbar hatte er auf sein Äußeres geachtet. Auch die junge Frau war hübsch und attraktiv gewesen. Die Augenbrauen waren gezupft, sie hatte ein sehr ebenmäßiges Gesicht und gehörte offensichtlich zu der Generation, die mit regelmäßigen Besuchen bei der Kosmetikerin aufgewachsen ist.

Reiche Gören, dachte ich. Wie damals. Doch dann fiel mir unser Fehler auf.

»Estíbaliz«, bremste ich sie, »wir müssen einen Reset machen und noch mal von vorn anfangen. Wir untersuchen gar nicht diesen Tatort, wir sind sofort dazu übergegangen, ihn mit einem anderen zu vergleichen. Dazu kommen wir noch, aber zunächst müssen wir ihn so behandeln, als wäre er einzigartig. Danach stellen wir dann Vergleiche an.«

»Aber ich glaube, genau das will der Mörder. Die Inszenierung ist genauso wie bei den Verbrechen damals. Wenn du mich fragst, Kraken, würde ich sagen, dass sich die Serie von vor zwanzig Jahren fortsetzt.«

»Ja, aber es gibt auch Unterschiede. Ich glaube nicht, dass hier der Tod durch Gift verursacht wurde. Wobei die Presse niemals durchsickern ließ, um welches Gift es sich handelte. Ich glaube auch nicht, dass Benzin verabreicht wurde. Dann wäre der Geruch viel penetranter, man hätte viel mehr benötigt, mal abgesehen von den Verbrennungen, von denen ich keine Spur sehe. Es ist, als wären sie nur mit ein, zwei Tropfen in Kontakt gekommen.«

Ich ging ganz dicht an das Gesicht des jungen Mannes heran. Der Mund sah eigenartig aus, er war geschlossen, und die Lippen waren leicht nach innen gezogen, als hätte er sich von innen darauf gebissen.

Da fiel mir etwas auf, und ich besah mir auch die junge Frau nochmals aus nächster Nähe.

»Man hat den beiden mit Paketband den Mund zugeklebt und es hinterher mit einem Ruck wieder abgerissen. Schau.«

Tatsächlich war die Haut in einem rechteckigen Bereich, wo das Packband geklebt hatte, ein wenig abgeschürft und gerötet.

Dann meinte ich, in der Stille der steinernen Kirche, die uns in stummem Entsetzen umfing, etwas zu hören. Ein Summen, ein leises, aber störendes Geräusch.

Ich bedeutete Estíbaliz, still zu sein, und hielt das Ohr ganz dicht ans Gesicht der jungen Frau. Was zum Teufel war das?

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich allein auf dieses Geräusch, darauf, woher es kam, an welcher Stelle das Summen am lautesten war. Ich hielt das Ohr dicht an die Nase des Opfers, dann bewegte ich mich abwärts über die Wange bis hin zu den Lippen.

»Hast du einen Kuli?«

Esti holte einen aus der Gesäßtasche ihrer Hose und reichte ihn mir mit fragendem Blick.

Mit der Spitze des Kugelschreibers hob ich am Mundwinkel die Oberlippe an, und unversehens kam eine wütende Biene herausgeschossen. Ich fiel vor Schreck auf den Rücken.

»Scheiße, eine Biene!«, entfuhr es mir.

Alle Anwesenden drehten sich zu uns um, und die Spurensicherer sahen mich vorwurfsvoll an, weil ich gleich neben die Leichen gestürzt war.

Estíbaliz reagierte ziemlich schnell und versuchte, die Biene einzufangen, doch das Insekt stieg über unsere Köpfe auf und war innerhalb von Sekunden außer Reichweite. Es entfernte sich in Richtung der abgedeckten Überreste des früheren Dorfes Gasteiz.

»Wir müssen sie einfangen«, sagte meine Kollegin und sah sich suchend nach der Biene um. »Sie könnte entscheidend für die Ermittlungen sein, falls sie die Mordwaffe ist.«

»Wie soll das gehen in einer Kirche von sechsundneunzig Metern von der Apsis bis zum Portal? Guck nicht so«, rechtfertigte ich mich, als ich ihren Blick sah, »jedes Mal, wenn ein Freund von auswärts nach Vitoria kommt, führe ich ihn durch die Kathedrale. Ich kenne sie wie meine Westentasche.«

Estíbaliz seufzte und ging zurück zu den beiden Leichen.

»Na gut, vergessen wir die Biene für den Moment. Sag mir, siehst du ein sexuelles Motiv?«, fragte sie mich.

»Nein.« Ich ging zu ihr. »Auf den ersten Blick scheint die Frau unangetastet. Lass uns die Gerichtsmedizinerin fragen, ich glaube, sie ist mit dem Richter fertig.«

»Herr Richter …«, sagte Estíbaliz und band die Haare, die unter dem Helm hervorsahen, zu einem Pferdeschwanz zusammen.

»Guten Abend, wenn man so will«, antwortete Richter Olano. »Mein Sekretär lässt Ihnen den Bericht über die Inaugenscheinnahme zur Unterschrift zukommen. Ich für meinen Teil habe genug gesehen für einen Feiertag wie heute.«

»Was Sie nicht sagen«, murmelte ich.

Der Richter verließ eilig die Krypta, und wir blieben mit der Rechtsmedizinerin zurück.

»Haben Sie irgendwelche Spuren gefunden, Doctora?«, wollte ich wissen.

»Wir haben sowohl die Leichen als auch den Tatort mit der CrimeScope-Lampe untersucht«, erwiderte sie und deutete auf die forensische Lichtquelle. »Keine Spur von Blut. Außerdem haben wir nach Sperma gesucht, aber anscheinend gibt es keines. Allerdings müssen wir die Ergebnisse der Obduktion abwarten, die werden genauer sein. Brauchen Sie sonst noch etwas, Inspectores?«

»Nein, Doctora. Im Moment nicht«, verabschiedete Estíbaliz sich lächelnd von ihr. Sobald die Gerichtsmedizinerin fort war, wandte meine Kollegin sich mir zu. »Also, Unai, was sagst du zu dieser Inszenierung?«

»Ich sage, sie sind nackt, das stimmt, und darin liegt ein ausgeprägter sexueller Aspekt, auch weil sie als Paar dargestellt sind, indem ihre Hände in dieser seltsamen Geste angeordnet wurden, wobei ich glaube, dass das post mortem geschah, als der Mörder sie hierherbrachte und ihre Körper Richtung …«

Ich holte mein Handy aus der Tasche und öffnete eine Kompass-App, bückte mich und nahm mir Zeit, bis ich sicher war.

»Sie sind genau dorthin ausgerichtet, wo die Sonne zur Wintersonnenwende aufgeht«, teilte ich Estíbaliz mit.

»Das musst du mir genauer erklären – ich bin schließlich kein Naturbursche, der sich am Wochenende mit Mutter Erde vereinigt wie du.«

»Ich vereinige mich am Wochenende nicht mit Mutter Erde, ich fahre einfach raus aufs Land, um meinem Großvater auf dem Feld zu helfen. Wenn du einen Großvater von vierundneunzig Jahren hättest, der sich stur weigert, sich zur Ruhe zu setzen, würdest du das garantiert auch tun. Und was deine Frage angeht: Die Leichen sind in einer Nordwestachse ausgerichtet.«

Wie beim ersten Doppelmord am Dolmen, dachte ich besorgt.

Doch ich schwieg.

Ich wollte mir nicht selbst widersprechen, denn Estíbaliz würde bemerken, dass ich diesen Fall entgegen meiner Absicht, ihn separat zu betrachten, noch immer mit den Morden in unserer Jugend verglich. Genau wie sie wahrscheinlich.

Tatsache war, dass in meinem Inneren etwas zitterte. Ich musste unaufhörlich denken, dass wenige Stunden zuvor ein Arschloch mit einer völlig durchgeknallten psychopathischen Störung den gleichen Raum eingenommen hatte wie ich jetzt. Die gleiche Luft geatmet hatte wie ich. Mir schien, als hätte er sichtbare Spuren im Nichts, in dem abgeschotteten Raum der Kathedrale, hinterlassen müssen. Ich kannte seine Vorgehensweise, ich sah es wie im Zeitraffer vor meinem inneren Auge. Wie er die Leichen in der Krypta abgelegt hatte, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich wusste es bereits: Er war sehr sorgfältig und hatte das schon zuvor getan.

Dieses Mal war nicht das erste.

Mir fehlte nur noch ein Gesicht dazu, denn ich weigerte mich zu glauben, die Lösung könne so einfach – und so unmöglich – sein: ein Rätsel, das entschlüsselt war, ehe es vollständig formuliert wurde.

Estíbaliz beobachtete mich und wartete darauf, dass ich wieder aus den Gedankenspiralen hervorkam, in denen ich mich manchmal verlor. Sie kannte mich gut, respektierte mein Schweigen und meine Rituale.

Schließlich erhob ich mich, wir sahen uns an, und da wusste ich, dass wir mindestens um zehn Jahre gealtert waren, seit wir eine halbe Stunde zuvor dieses Gotteshaus betreten hatten.

»Na gut, Unai, was sagt dir dein Profiler-Verstand?«

»Dass dieser Täter das Profil eines perfekt organisierten Mörders hat. Das war kein spontaner Gewaltausbruch. Ich würde sogar wetten, dass er die Opfer vorher überhaupt nicht kannte. Außerdem hatte er eine vollständige Kontrolle über den Schauplatz. Aber was mich am meisten beunruhigt, Esti, ist dieses verblüffende Fehlen von Spuren und anderen Rückständen. Das passt zum Profil: Der Mörder verfügt über einen beinahe professionellen forensischen Sachverstand, und das ist sehr besorgniserregend.«

»Was noch?«, drängte sie mich. Sie wusste, dass ich noch nicht fertig war, dass ich in ihrer Gegenwart laut nachdachte.

»Die Augen der Opfer stehen offen, also verspürte der Täter weder Reue noch Mitleid. Ein sehr psychopathischer Zug«, fuhr ich fort.

»Dieser Kerl scheint einer zu sein, der minutiös plant, einer, der keine Geisteskrankheit hat, was zum Glück bedeutet, dass er straffähig ist. Was mich stutzig macht, ist die Waffe, die er benutzt hat, falls es denn wirklich die Waffe ist: Bienen?«

»Etwas, was normalerweise keine Waffe ist, für ihn aber eine besondere Bedeutung hat«, dachte Esti laut.

»Das ist meine Befürchtung«, bestätigte ich. »Wir müssen feststellen, welches Gift der Mörder vor zwanzig Jahren verwendet hat. Das heißt, wir müssen die alten Akten anfordern, sobald wir wieder in der Dienststelle sind. Wenn wir akzeptieren, dass dieser Mord eine Fortsetzung der Serie von 1996 ist, dann reden wir über eine Cool-Down-Phase von zwanzig Jahren. Bei organisierten Serienmördern sagt man, je länger diese Phase dauert, desto abgeklärter ist die Persönlichkeit des Psychopathen. Statistisch gesehen dauern solche Pausen normalerweise einige Wochen oder Monate. Hast du eine Ahnung, womit wir es zu tun haben, falls das hier ein Kerl mit einer Cool-Down-Phase von zwanzig Jahren ist?«

»Ich fürchte, dass sich das ganz Vitoria in ein paar Stunden fragen wird, Unai.«

Ich seufzte.

Und da kam mir ein Gedanke, wie ein schwarzer Schmetterling, der sich auf meine Schulter setzte. Die Gewissheit, wenn ich damals gewusst hätte, dass dieser Fall mir zufallen würde, wäre ich niemals Mordermittler geworden.

Ich wäre in Villaverde geblieben und hätte mit Großvater Weizen angebaut.

Denn ich wollte mich damit nicht auseinandersetzen. Nicht damit. Mit jedem anderen Fall … Ich war darauf eingestellt, hatte mich jahrelang vorbereitet, und bisher war alles gut gelaufen. Tolle Statistiken, in vernünftiger Zeit aufgeklärte Fälle, Glückwünsche und Schulterklopfen seitens der Vorgesetzten. Aber nicht dieser Fall, nicht, wenn Tasio Ortiz beteiligt war.

Schließlich sprach ich aus, was wir beide schon die ganze Zeit dachten: »Wie zum Teufel kann Tasio zwanzig Jahre später auf die gleiche Weise weitermorden, obwohl er in Zaballa im Gefängnis sitzt?«

2Los Arquillos

Día de Santiago, Montag, 25. Juli 2016

Die eigenartige Symmetrie der Ereignisse faszinierte mich. Opferpaare, deren Alter auf null oder fünf endete … Ein Mörder und ein Polizist, die eineiige Zwillinge waren … Eine Verbrechensserie, die aufgehört hatte, als Tasio ins Gefängnis kam, und nun fortgesetzt wurde, wo er kurz vor dem Hafturlaub stand.

Das faszinierte mich, bescherte mir aber auch eine schlaflose Nacht.

Um sechs Uhr morgens stand ich auf; ich hatte kein Auge zugetan. Teils, weil die Leute unter meinem Holzbalkon auf der Plaza de la Virgen Blanca noch immer lautstark den Día del Blusa feierten, als gäbe es kein Morgen. Teils, weil der kommende Tag schwierig zu werden versprach: Wir mussten uns mit der Presse herumschlagen, uns die Anweisungen des Comisarios anhören, eine Besprechung würde die andere jagen. Dafür musste ich frische Luft tanken.

Ich zog Joggingschuhe an, lief die Treppe hinab und trabte zur Haustür, die mich vom Herzen Vitorias trennte. Zwei Jahre zuvor war es mir gelungen, eine günstige Wohnung mitten im Stadtzentrum zu ergattern. Eine Freundin, die bei dem renommiertesten Immobilienmakler der Stadt arbeitete, war mir einen Gefallen schuldig gewesen, nachdem ich den Erlass eines Kontaktverbots gegen einen zu aufdringlichen Exfreund beschleunigt hatte. Ein mieser Kerl, wirklich.

Diese Freundin war mir mehr als dankbar gewesen, und da sie gewusst hatte, dass ich eine Wohnung suchte (nach dem, was Paula und meinen Kindern zugestoßen war), hatte sie mir dieses Schnäppchen angeboten. Eine frisch renovierte Einzimmerwohnung. Sehr alte Nachbarn, herzlich, aber stocktaub. Eine tolle Aussicht aus dem vierten Stock, allerdings ohne Aufzug. Sprich: einfach perfekt für jemanden wie mich.

Auf dem Bürgersteig angekommen, rannte ich los und begegnete den Menschenmassen, die auf dem Heimweg waren, beinahe wie bei einer Prozession. Die Unterhaltungen versiegten allmählich, die Schritte waren schwerfällig geworden, an der Einmündung zur Calle Zapatería lief einer mit einem Schlüssel in der Hand Schlangenlinien.

Ich scherte aus der Menge aus und suchte mir weniger belebte Straßen, lief über den Platz bis zur Calle de la Diputación, dann durch die Siervas de Jesús und umrundete die gesamte Almendra Medieval, wie der mittelalterliche Stadtkern bei uns genannt wird, bis ich eine halbe Stunde später über die Cuesta de San Francisco zurückkehrte, erfrischt und wach. Dann lief ich durch den Säulengang Los Arquillos … und da war sie, die geheimnisvolle Joggerin, der ich in der vergangenen Woche jeden Morgen begegnet war. Der einzige Mensch in der Stadt, der verrückt genug war, morgens um sechs joggen zu gehen – außer mir.

Nie lief sie durch enge Gassen, von schattigen Stellen hielt sie sich fern, immer joggte sie mitten auf dem Bürgersteig und trug eine Pfeife gut sichtbar um den Hals. Eine vorsichtige Frau. Entweder war sie schon einmal überfallen worden, oder sie befürchtete einen Überfall. Dennoch lief sie beinahe jeden Tag in die Morgendämmerung hinein.

Als ich den letzten Abschnitt des Säulengangs erreichte, wurde ich langsamer; sie sollte sich nicht von mir verfolgt fühlen. Ich wollte ihr keine Angst machen, auch wenn diese Frau, die immer einen langen Zopf und eine Kappe trug, mich mehr faszinierte, als ich mir eingestehen wollte. Ich lenkte mich ab, indem ich ein riesiges Wandplakat betrachtete, das für das Musical Moby Dick im Teatro Principal warb. Nennt mich Ismael …

Zu meiner Überraschung war sie es, die das Eis brach und mich aus meinen Gedanken riss. Sie blieb auf dem erhöhten Vorplatz der Kirche San Miguel stehen und stellte neben der Bronzestatue ein Bein auf das Geländer, um sich zu dehnen.

Ich lief an ihr vorbei und gab vor, sie nicht zu bemerken, doch sie hob den Kopf.

»Du gehst an einem Tag wie heute joggen?« Sie lachte mit einer frischen Energie, die sympathisch war, so dass ich stehen blieb. »Entweder bist du kein Blusa, oder du läufst zu gern.«

Wenn du wüsstest, dachte ich.

»Weder das eine noch das andere«, antwortete ich vage. »Oder vielleicht beides.«

Noch nie hatte ich sie von nahe betrachten können. Sie hatte ein schmales Gesicht, einen freundlichen Blick, ihre Augenfarbe war im schwachen Licht der Straßenlaterne nicht zu erkennen. Ziemlich groß, sehr helle Haut. Hübsch, begehrenswert. All das und zugleich distanziert.

»Was ist mit dir?«, wollte ich wissen. »Gefällt es dir, anders zu ticken als alle anderen?«

»Vielleicht ist es auch bloß die einzige Stunde am Tag, die ich für mich allein habe.«

Entweder hast du familiäre Verpflichtungen oder eine stressige Arbeit. Viele Überstunden, ein verantwortungsvoller Posten, überlegte ich, behielt es aber für mich.

»Freut mich, dass ich nicht zu einer aussterbenden Spezies gehöre«, erwiderte ich.

Sie lächelte. »Ich heiße … Blanca.«

Da waren ein kurzes Zögern und ein kaum merklicher Blick zur Nische mit der Virgen Blanca vor uns. So lange braucht man nicht, um sich an den eigenen Namen zu erinnern.

Warum lügst du mich an?

»Und du?«, fragte sie.

Nennt mich Ismael …

»Ismael.«

»Ismael … aha. Tja, freut mich, dich kennenzulernen, Ismael. Wenn du so wunderlich bist, immer um diese Uhrzeit aufzustehen, um laufen zu gehen, könnte ich mir vorstellen, dass wir uns hier in der Gegend wiedersehen«, sagte Blanca. Dann lief sie weiter und verschwand die Treppe hinab.

Ich blieb stehen und sah ihr hinterher, während sie an meiner Haustür vorbei und von dort aus Richtung Parque de la Florida lief.

 

Zwei Stunden später radelte ich zu meinem Büro im Lakua-Viertel, wo man uns für die neue Polizeiwache ein imposantes Betongebäude errichtet hatte. Mein Fahrrad schloss ich an einem der Fahrradständer an, dann atmete ich tief durch und ging hinein.

Was würde der Tag mir bringen, mit welchen Gedanken würde ich heute Abend einschlafen?

Du, konzentrier dich auf das, was dir heute begegnet, alles wird gut, redete ich mir gut zu, ohne mir auch nur ein Wort zu glauben.

Ich stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock, setzte mich an den Computer und begann, die uns bekannten Daten zusammenzutragen und meine Gedanken zu ordnen. Nach einer Weile klopfte es zweimal dumpf an der Tür, dann kam mit ernster Miene Comisario Medina, der Leiter unseres Kommissariats, herein, ein Mann mit buschigen schwarzen Augenbrauen und dichtem weißem Bart, manchmal unnachgiebig, manchmal verständnisvoll.

»Guten Morgen, Inspector Ayala. Haben Sie heute schon Zeitung gelesen?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu, Señor. Hat der Krieg bereits begonnen?«

»Ich fürchte, ja.« Seufzend warf er mir eine Ausgabe des Diario Alavés hin. »Jemand hat ihnen den Leichenfund in der alten Kathedrale gesteckt, sie haben schon gestern Nacht eine Sonderausgabe rausgebracht.«

»Eine Ausgabe auf Papier gestern Nacht?«, wiederholte ich irritiert. »Sonderausgaben auf Papier gibt es doch gar nicht mehr. Soweit ich weiß, wird jetzt alles, was nicht in der Morgenausgabe steht, nur in der digitalen Ausgabe aktualisiert.«

»Genau das gibt uns einen Vorgeschmack darauf, wie der Diario Alavés diesen Fall angehen wird. Andererseits auch kein Wunder. Seit Mitternacht ist auf den Straßen Vitorias von nichts anderem mehr die Rede. Ich bekam schon Anfragen von einem Dutzend Radiostationen und mehreren landesweiten Fernsehsendern. Alle wollen etwas wissen, alle wollen weitere Einzelheiten. Kommen Sie in mein Büro, Inspectora Gauna erwartet uns schon. Heute tritt Subcomisaria Díaz de Salvatierra ihren Dienst an, an sie werden Sie in diesem Fall berichten. Natürlich hatten wir gedacht, ihr erster Tag würde ruhiger sein, aber das Tagesgeschehen geht vor. Kommen Sie bitte mit.«

Ich nickte, während ich noch rasch die Schlagzeile las: »Zwei junge Leute in der alten Kathedrale tot aufgefunden.«

Ich seufzte erleichtert. Die Schlagzeile war sehr allgemein gehalten und der Tonfall erstaunlich sachlich, weit entfernt von der Schlagzeilenschlacht, die die Zeitung sich in der Vergangenheit mit ihrem ewigen Rivalen, dem Correo Vitoriano, geliefert hatte.

Erwartungsvoll betrat ich das holzgetäfelte Büro des Comisario. Neubesetzungen waren bei uns immer das reinste Staatsgeheimnis, und der Versuch, vorab etwas zu erfahren, war zwecklos. Die Vorgesetzten bewahrten Stillschweigen, und in der Regel kannte niemand die Kandidaten für frei gewordene Führungspositionen. Normalerweise kamen sie von anderen Dienststellen. An dem riesigen Besprechungstisch wartete bereits Estíbaliz in Uniform auf mich. Dann sah ich die neue Subcomisaria, und es verschlug mir für einen Augenblick die Sprache.

»Subcomisaria Alba Díaz de Salvatierra, ich stelle Ihnen Inspector Unai López de Ayala vor.«

Vor mir stand eine elegante Frau im Hosenanzug, lächelte mich an und gab vor, mich zum ersten Mal zu sehen, obwohl wir beide wussten, dass dem nicht so war. Denn sie war die Frau, die ich gerade an diesem Morgen unter dem Namen Blanca kennengelernt hatte.

»Subcomisaria«, sagte ich so ausdruckslos wie möglich. »Willkommen in Vitoria. Ich hoffe, es wird Ihnen bei uns gefallen.«

Sie sah mir den Bruchteil einer Sekunde länger als erwartet in die Augen, setzte ein verbindliches Lächeln auf und drückte mir zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden die Hand.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Inspector Ayala. Ich fürchte, wir müssen jetzt gleich unsere erste Besprechung improvisieren.«

»Inspectora Gauna«, unterbrach Comisario Medina sie, »haben Sie schon den Bericht der Spurensicherung?«

»So ist es«, sagte Estíbaliz, erhob sich und verteilte drei Kopien an uns. »Ich fasse kurz zusammen: Der oder die Mörder haben nicht eine einzige Spur hinterlassen, keine Fingerabdrücke, nichts. Fußabdrücke gibt es auch keine. Die beiden waren erst knapp zwei Stunden tot, als sie in die Krypta gebracht wurden. Es gibt keinerlei Anzeichen von sexuellem Missbrauch oder Widerstand vonseiten der Opfer. Die Obduktionen werden erst heute im Lauf des Tages vorgenommen, aber wir können schon mal vorweg feststellen, dass die mutmaßliche Todesursache Ersticken infolge mehrerer Bienenstiche im Rachen der Opfer war.«

»Bienen?«, wiederholte die Subcomisaria. »Und wie kommen Sie darauf?«

»Inspector Ayala und ich haben um die Münder der Opfer Rötungen und Abschürfungen wie die von Klebeband entdeckt. Ich glaube, der Mörder hat ihnen mit Gewalt mehrere Bienen in den Mund gesteckt und ihn dann zugeklebt. Jedenfalls roch es in der Nähe der Gesichter der Opfer nach Petroleum. Dieser Geruch macht Bienen wütend, somit wollte der Mörder wohl, dass die Bienen die beiden in den Hals stechen, die dadurch hervorgerufene Schwellung der Schleimhäute die Luftröhre verschließt und den Tod hervorruft; allerdings muss er ihnen dafür auch die Nasen verschlossen haben. Ich fürchte, es war ein sehr qualvoller Tod.«

Ich beobachtete die Subcomisaria. Ihr Gesichtsausdruck entglitt ihr einen Moment, dann fing sie sich wieder.

»Was ist mit der Identität der beiden?«, fragte sie und strich sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Dazu wollte ich gerade kommen. Wir gleichen die Personenbeschreibungen mit denen der Vermisstenmeldungen in Vitoria und der übrigen Provinz aus den letzten Tagen ab. Bis gestern Nachmittag gab es keine neuen Anzeigen, aber die Zeitungsschlagzeile von gestern Nacht wirkt wie ein Appell, der, wie ich vorherzusagen wage, im Lauf des Vormittags Wirkung zeitigen und heute Nachmittag oder Abend Früchte tragen wird.«

»Ich verstehe nicht.«

»Im Klartext, Subcomisaria«, erwiderte Estíbaliz, »heute früh haben die Eltern in der Zeitung gelesen, dass in der alten Kathedrale ein junger Mann und eine junge Frau tot aufgefunden wurden. Gestern war der Tag vor dem Día del Blusa. Viele junge Leute um die zwanzig Jahre sind ausgegangen und noch nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Es ist jetzt elf Uhr vormittags. Die Eltern sind außer sich vor Sorge, sie haben versucht, ihre Kinder auf dem Handy zu erreichen, aber die melden sich nicht. Es ist normal, dass die jungen Leute abends ihre Handys ausschalten oder nicht drangehen, wenn ihre Eltern anrufen; später sagen sie dann, sie hätten kein Netz gehabt oder der Akku sei leer gewesen. Auf der Wache in der Calle Olaguíbel wimmelt es jetzt von besorgten Eltern, die ihre Kinder nicht erreichen können. Das ist leider häufig so, das kennen wir schon. Die Notrufleitungen brechen fast zusammen. Bis vor fünf Minuten haben wir fast dreihundert Anrufe von Eltern gezählt, die ihre Kinder als vermisst melden wollten. Aber bevor sie nicht vierundzwanzig Stunden verschwunden sind, dürfen wir die Anzeigen nicht offiziell aufnehmen. Die meisten dieser Eltern rufen an, weil sie beim Frühstück die Nachricht gelesen haben und besorgt sind, da ihre Kinder noch nicht vom Feiern zurück sind. Im Lauf des Vormittags werden die jungen Leute allmählich nach Hause zurückkehren, und viele dieser Eltern werden uns nicht noch mal anrufen, um uns Bescheid zu geben, dass ihre Kinder wieder da sind, einfach weil sie so erleichtert sind, dass sie den Vorfall so schnell wie möglich vergessen wollen.«

»Was dem Täter oder den Tätern kostbare Stunden verschafft«, dachte ich laut. »Es war kein Zufall, dass die Morde am Vorabend des Día del Blusa geschehen sind. Ich glaube, das ist genau das, was er wollte: uns voraus zu sein. Außerdem glaube ich, dass er diesen Effekt einer Massenhysterie nach dem Feiern bewusst geplant hat.«

»Erste Eindrücke?«, erkundigte die Subcomisaria sich bei uns.

»Sie sind sehr klein«, machte ich den Anfang.

»Wie bitte?«

»Die beiden Opfer. Beide sind recht klein. Und dünn«, erklärte ich.

»Und wohin führt uns das?«, fragte Subcomisaria Díaz de Salvatierra interessiert. »Warum erwähnen Sie das, Ayala?«

»Weil wir die ganze Zeit von einem Mörder reden und davon ausgehen, dass es ein Mann ist. Aber im Moment würde ich auch eine Frau nicht ausschließen; ich halte es für denkbar, dass sie nacheinander getötet wurden. Bisher waren die Opfer Säuglinge oder Kinder von fünf, zehn oder fünfzehn Jahren, und jetzt, falls unsere Vermutungen sich bestätigen, zwei junge Leute von zwanzig Jahren. Nicht sonderlich groß, nicht sonderlich kräftig. Als Täter kommen nach wie vor sowohl ein Mann als auch eine Frau in Frage. Falls die Morde weitergehen, wird es interessant sein, welche Größe und welchen Körperbau die nächsten Opfer haben.«

»Die nächsten Opfer …«, wiederholte die Subcomisaria. »So sicher sind Sie, dass es wieder passieren wird?«

»Ach, kommen Sie! Hören wir auf, so zu tun, als wäre dieses Verbrechen einzigartig«, sagte ich und stand auf. »Wir spielen dem Täter in die Hände. Wir müssen akzeptieren, dass diese Morde sich explizit auf die vor zwanzig Jahren beziehen. Es hat keinen Sinn, bei null anzufangen. Die Serie wurde wieder aufgenommen. Und sie wird sich fortsetzen. Ich empfehle, schon einmal die fünfundzwanzigjährigen Einwohner zu warnen. Wir können keine Schutzmaßnahmen für fünftausend junge Erwachsene ergreifen, aber wir können Sicherheitshinweise herausgeben. Sie sollen nicht allein ausgehen, sondern immer in Begleitung. Wir haben keine Ahnung, wo er seine Opfer fängt oder wo er sie gefangen hält, bevor er sie tötet. Man muss einfach versuchen, es ihm schwerer zu machen.«

Alba stellte sich mit verschränkten Armen vor mich.

»Das werden wir nicht tun«, sagte sie bloß.

»Was?«, fragte ich ungläubig.

»Wir werden die Bevölkerung nicht noch mehr beunruhigen.« Mit einer Gelassenheit, die mich erboste, schüttelte sie den Kopf. »Wenn wir diese Hinweise veröffentlichen, greift in der Stadt Panik um sich, und das würde unsere Arbeit erheblich erschweren. Ich will nicht, dass hier das Chaos ausbricht.«

»Das Chaos ist schon da, er hat es ausgelöst, der Mörder. Wollen Sie sagen, Subcomisaria, dass Ihre Absicht die ist, die nächsten Morde an einem jungen Mann und einer jungen Frau von fünfundzwanzig Jahren nicht zu verhindern?«

Darum ging es: ihn vor den nächsten Morden zu fassen.

Doch als ich die anderen drei ansah, entdeckte ich einen eigenartigen Ausdruck in ihren Augen, so, als hätte ich die Nerven verloren und herumgebrüllt. Womöglich hatte ich das auch getan, ich erinnere mich nicht.

In diesem Moment kam Pancorbo herein, einer unserer dienstältesten Inspectores, und kratzte sich den runden glänzenden Schädel mit den wenigen zerzausten grauen Strähnen darauf.

Er flüsterte dem Comisario etwas ins Ohr und warf uns einen besorgten Blick zu, ehe er so still und leise, wie er gekommen war, wieder hinausging und die Tür hinter sich schloss.

Comisario Medina kniff sich in die Falte zwischen seinen buschigen Augenbrauen und schloss einen Moment die Augen.

»Sind Ihre Computer eingeschaltet?«, fragte er.

Estíbaliz und ich zuckten verwundert die Achseln.

»Ja, natürlich«, sagte sie.

»Dann gehen Sie jetzt in Ihre Büros, verlassen das Intranet und schalten die Geräte aus. Beenden Sie auch die Internetverbindung auf Ihren Handys. Unsere Dienststelle ist Opfer eines Hackerangriffs geworden.«

 

Ich rannte in mein Büro, schloss alle Dokumente, in denen ich meine ersten Eindrücke zum Fall festgehalten hatte, und wollte gerade mein E-Mail-Programm schließen, als ich eine ungelesene Nachricht mit einem Absender entdeckte, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: From jail – aus dem Gefängnis.

Ich weiß, unser Vorgesetzter hatte uns befohlen, unsere Computer sofort auszuschalten, und wenn ich jetzt noch eine E-Mail las, ging ich ein hohes Risiko ein. Ich weiß …

Ich öffnete die Nachricht. Sie war kurz und ließ mich erstarren:

Kraken: Du und ich, wir können uns zusammentun und einen Mörder jagen. Komm mich heute noch besuchen. Es ist dringend, und du weißt es. Er wird weitermachen.

Voller Respekt für deine Ermittlungsmethoden,

Tasio

3Zaballa

Montag, 25. Juli 2016

Kraken? Woher kannte Tasio Ortiz de Zárate meinen Spitznamen aus Jugendtagen? Wie hatte ein Kerl, der seit zwanzig Jahren hinter Gittern saß, sich über mich erkundigen und mir eine E-Mail schicken können, obwohl er im Gefängnis keinen Zugang zum Internet hatte? War er es wirklich, oder war das eine Falle?

Eilig lief ich in Estíbaliz’ Büro und schloss die Tür.

»Du musst mich decken«, platzte ich heraus.

»Wieder mal«, antwortete sie und zog ihren roten Pferdeschwanz fest. »Ich höre.«

Estíbaliz ließ mich nie im Stich. Sie war vertrauenswürdig und verlässlich wie der Motor eines alten kubanischen Cadillacs.

»Ich fahre ins Gefängnis von Zaballa, um mit der Direktorin zu sprechen. Ich glaube, Tasio Ortiz de Zárate hat Kontakt zu mir aufgenommen, aber es könnte natürlich auch ein Nachahmer sein. Jedenfalls muss ich mich persönlich vergewissern, das ist die einzige Möglichkeit. Ich möchte anfangen, ein Profil des Mörders zu erarbeiten; falls Tasio der Anstifter ist, gibt es bestimmte Merkmale, die er nicht verbergen können wird. Da die da oben es anscheinend nicht so eilig haben wie wir, werden wir sie einstweilen nicht informieren. Offiziell bin ich den ganzen Vormittag bei dir und nehme die Aussagen der Personen auf, die in der alten Kathedrale zu tun hatten. Heute Morgen habe ich übrigens herausgefunden, wie die zuständige Verwaltungsfirma heißt: Alfredo Ruiz, S.L. Sprich mit dem Geschäftsführer, er soll dir die Daten aller zur Verfügung stellen, die einen Schlüssel für die Kathedrale haben. Wir treffen uns um Punkt drei in der Bar Toloño zum Mittagessen, um uns auf den neuesten Stand zu bringen.«

 

Ich nahm einen unserer Dienstwagen, einen weißen Nissan Patrol, und fuhr Richtung Nationalstraße N-1 zum Centro Penitenciario de Álava, einer riesigen Strafvollzugsanstalt, in die man nach der Schließung des alten Gefängnisses Tasio und die übrigen Häftlinge verlegt hatte.

Tasio hatte zwanzig Jahre Zeit gehabt, um aus dem Gefängnis heraus ein neues Leben zu beginnen und sich neu zu erfinden. Er war kein Archäologe mehr; jetzt war er Kriminologe und Drehbuchautor von Krimiserien. Die Nachricht, er habe das Drehbuch einer Serie für eine siebenstellige Summe an einen für seine Kultserien berühmten nordamerikanischen Fernsehsender verkauft, hatte ihn wieder in die Schlagzeilen gebracht.

Kurz nachdem er sich so die führende Rolle in den Medien zurückerobert hatte, war ein mysteriöser Twitter-Account mit dem Benutzernamen @scripttipsfromjail aufgetaucht.

Das Profilfoto zeigte Tasio in seinen besseren Zeiten, kurz vor seiner Festnahme: dunkelblondes Haar, kantiges Gesicht, strahlend weißes Lächeln, selbstbewusst. Ein attraktiver Mann, ein Gewinnertyp.

Die biographische Notiz zum Account klang beunruhigend: »Ich bin ein Drehbuchautor auf der falschen Seite der Realität. True serial addict, fake serial killer. Tasio Ortiz de Zárate.«

Ein Account-Name, der »Drehbuchtipps aus dem Gefängnis« versprach. Und ein Wortspiel, das sich in etwa so übersetzen ließ: »Echter Serienfan, falscher Serienmörder«.

In der Regel postete er Tipps wie: »Der Zuschauer muss seinen Gegenspieler gern hassen.« Und: »Dramatische Ironie erzeugt man am besten, indem man den Zuschauer im ersten Akt mehr wissen lässt als den Protagonisten.« Oder: »Bedenke: Dein Schurke hält sich nicht für einen Schurken. Diese Figur geht mit reinem Gewissen zu Bett, überzeugt, das Richtige zu tun.«

Der Account hatte über eine halbe Million Follower, und natürlich tat der Absender der hundertvierzig Zeichen so, als wäre er Tasio. Aber niemand wusste, wie es ihm gelang, Tweets aus dem Gefängnis zu versenden.

Die Gefühle, die er bei den Menschen hervorrief, waren gemischt: In Vitoria war er im Großen und Ganzen verhasst, aber der Rest der Welt und die jüngere Generation, die das Grauen der vier Doppelmorde nicht miterlebt hatte, waren fasziniert vom Mythos des Serienmörders, der Millionen für seine Drehbücher bekam, und vergötterten jede einzelne der Weisheiten, die er ins Netz stellte.

Als ich mich dem riesigen Parkplatz des Gefängnisses näherte, ertappte ich mich dabei, dass ich nervös mit den Fingern aufs Lenkrad trommelte.

Lass den Quatsch, du bist jetzt erwachsen, rief ich mich zur Ordnung und besann mich auf das, was man uns auf der Polizeischule gelehrt hatte, um solchen manipulativen, egomanischen Persönlichkeiten entgegenzuwirken.

Am Empfang zeigte ich dem diensthabenden Beamten meine Dienstmarke und wollte um eine Unterredung mit der Gefängnisdirektorin bitten, um sie über den Vorfall zu unterrichten. Doch als der Mann meinen Namen sah, warf er einen Blick in sein Verzeichnis und sagte: »Gehen Sie in den Besuchertrakt. Der Häftling Tasio Ortiz de Zárate erwartet Sie bereits in Raum drei.«

Ich ließ mir meine Überraschung nicht anmerken, verließ das Empfangsgebäude und wandte mich Richtung Besuchertrakt.

 

Durch einen grün gestrichenen Korridor erreichte ich Raum drei. Ich trat ein, erkannte aber auf den ersten Blick, dass ich mich geirrt haben musste. Auf der anderen Seite der Trennscheibe befand sich ein Häftling, der wie ein Heroinsüchtiger im Endstadium aussah und auf einem schwarzen Plastikstuhl saß. Ein Skelett mit irrem Blick, das auf den Besuch eines Angehörigen wartete.

Ich machte kehrt und packte gerade den Türknauf, da hörte ich, wie der Mann an die Scheibe klopfte. Zerstreut drehte ich mich um. Der Häftling zeigte auf das Telefon auf der Ablage aus rostfreiem Stahl und bedeutete mir dann, mich auf den freien Stuhl zu setzen.

Ich nahm den Hörer ab und hielt ihn mir im Stehen ans Ohr, einen Fuß noch zur Tür gewandt.

»Kraken …«, flüsterte er langsam mit einer tiefen Stimme, die sich mir wie ein Geschoss ins Gedächtniszentrum bohrte.

Die Salzsäule, zu der ich erstarrte, vergaß sekundenlang zu atmen, während Tasio den irren Blick hob und auf mich richtete.

Es fiel mir schwer, das Bild des gutaussehenden Siegertypen, an den ich mich erinnerte, mit diesem menschlichen Wrack zu vereinbaren. Tasio war erst fünfundvierzig, doch der Mann vor mir wirkte viel älter. Zu sagen, das Altern sei ihm nicht gut bekommen, wäre lachhaft gewesen. Ein knochiger Junkie mit zotteligem Pferdeschwanz und hinter die Ohren gesteckten Strähnen, dazu ein herabhängender Schnurrbart, so deplatziert, dass er trübsinnig und beunruhigend zugleich wirkte.

Dieser Mann war geistig verwirrt. Er sah aus, als hinge er seit zwanzig Jahren an der Spritze oder schlimmer.

Was hat das Leben dir angetan, Mann?

Das war mein erster Gedanke.

Tasio zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch bedächtig wieder aus und spielte ein Weilchen mit einer Zigarettenschachtel neben ihm auf der Ablage. Er rauchte schwarzen Tabak, und da waren zwei Zigarettenschachteln, eine noch unangebrochen.

Mit einer Handbewegung forderte er mich erneut auf, mich zu setzen, und unsere Spiegelbilder legten sich auf dem Sicherheitsglas übereinander wie ein Hologramm.

»Na gut«, sagte ich schließlich seufzend. »Kommen wir zur Sache. Warum hast du mich herkommen lassen?«

»Ich bin sehr besorgt«, erwiderte er und brauchte dafür eine halbe Ewigkeit. Seine schleppende Sprache hielt ich für eine Auswirkung des Heroins und diese Grabesstimme, die wesentlich tiefer war, als ich sie in Erinnerung hatte, für eine Folge von zwanzig Jahren Zigarettenkonsum.

»In zwei Wochen trete ich meinen Hafturlaub an. Wenn die Verbrechen sich fortsetzen, wird der Mörder eine Möglichkeit finden, sie mir zur Last zu legen.«

»Dir? Du bist im Gefängnis, wie soll sie dir da jemand zur Last legen?«

»Tu nicht so, der Gedanke ist dir auch schon gekommen, genau wie ganz Vitoria in diesen Stunden. Ihr glaubt, ich sei der Anstifter. Deshalb habe ich dich hergerufen. Wenn ich dir helfe, ihn zu schnappen, wird Vitoria mich wieder akzeptieren.«

»Dich akzeptieren?«, wiederholte ich ungläubig. »Nachdem du acht Kinder ermordet hast? Hast du eine Ahnung, wie du klingst?«

Tasio betrachtete mich mit seinen Junkie-Augen und ließ sich Zeit mit seiner Antwort, als lohnte es die Mühe nicht.

»Ich will erst gar nicht versuchen, dich davon zu überzeugen, dass ich die ersten acht Morde nicht begangen habe. Ich weiß, du hast mich längst verurteilt. Genau wie der Rest der Menschheit. In den ersten Jahren habe ich es versucht, mit aller Macht. Ich habe den besten Verteidiger engagiert, den ich bezahlen konnte, aber das genügte nicht. Es wollte mir lange nicht in den Kopf, dass die Wahrheit niemanden interessierte. Nur die Tatsache: Ein Verurteilter saß im Gefängnis, und die Morde hörten auf. Aber ich musste begreifen, was geschehen war, wie es gekommen war, dass die Leute mich plötzlich hassten. Ich schrieb mich in Kriminologie ein, studierte Profile, Verfahren, so viele Serienmörderfälle wie möglich. Ich fand Gefallen an Kriminalfilmen, an den wenigen, zu denen ich hier im Gefängnis Zugang hatte. Allmählich begriff ich, dass Realität und Fiktion Zwillingsschwestern sind, sie nähren sich gegenseitig.«

»Deshalb wurdest du Drehbuchautor …«

»Ich stellte fest, dass ich gut darin bin, den Geschichten Strukturen zu geben. Sie sind wie ein Gerüst. Danach muss man das Gebäude nur noch ausschmücken. Die Sache ist die: In vierzehn Tagen trete ich meinen Hafturlaub an, aber diese Sache lässt es nicht gut aussehen für mich. Ich möchte, dass wir uns gegenseitig helfen.«

»Wie willst du mir denn helfen? Willst du dieses neue Verbrechen aus dem Gefängnis heraus aufklären?«

»Ich habe einen Vorteil, an den du im Moment nicht glaubst: Ich weiß, dass ich weder jetzt noch vor zwanzig Jahren der Mörder war, weshalb ich mich darauf konzentrieren kann, herauszufinden, wer es stattdessen gewesen ist. Du hingegen hältst mich für den Täter der ersten Mordserie, und jetzt musst du in meinem Umfeld ermitteln, um mich als Anstifter der kommenden Morde auszuschließen oder nicht. Das wird dich wertvolle Zeit kosten, was dem echten Mörder nützen wird.«

Na gut, Tasio. Spielen wir. Mal sehen, wohin es führt.

»Nehmen wir einmal an, ich würde dir gegen alle Vernunft glauben«, sagte ich, während der Hörer mir förmlich das Ohr versengte. »Du warst es nicht, man hat dir eine Falle gestellt, genauso, wie du es in deinen ersten Erklärungen behauptet hast …«

»Na bitte«, sagte er zustimmend. Mit einer knappen Bewegung der Zigarette forderte er mich auf weiterzusprechen.

»Glaubst du, dass die Morde von gestern das Werk desselben Täters sind?«

»Ich habe die Bilder nicht gesehen. Du könntest sie mir bringen.«

»Spiel nicht den Oberschlauen, Tasio«, unterbrach ich ihn.

»Na schön.« Er lehnte sich zurück. »Mal sehen. Die ersten Morde folgen der Chronologie der Geschichte Álavas. Der Dolmen La Chabola de la Hechicera: Bronzezeit, vor fünftausend Jahren. Die Neugeborenen. Als stellten sie das erste Zeitalter der Menschheit dar. Siehst du die Parallelen?«

Ergötzte er sich etwa an seinem eigenen Werk? War dieser Mann derart krank im Kopf?

»Ja, Tasio. Ich hatte zwanzig Jahre Zeit, um sie zu erkennen. Ich und das ganze Land.«

»Dann weißt du ja schon, was kommt. Die keltiberische Siedlung La Hoya: 1200 vor Christus. Fünfjährige Kinder. Das Valle Salado, erstes Jahrhundert vor Christus. Zehnjährige Kinder. Die mittelalterliche Stadtmauer, elftes Jahrhundert. Ein Fünfzehnjähriger und ein gleichaltriges junges Mädchen.«

Mir fiel ein fast unmerklicher schmerzlicher Ausdruck in seinem Gesicht auf, doch dann steckte er die Zigarette in den Mund, um es zu überspielen.

»Und was erwartet uns, Tasio? Weißt du es? Hast du mich kommen lassen, um mich zu erleuchten?«

Er ignorierte die letzte Frage und näherte sich mit dem Telefonhörer der Scheibe, bis er sie mit der Stirn berührte.

»Die zeitlichen Koordinaten von gestern – wenn ihr sie in der alten Kathedrale gefunden habt – markieren das zwölfte Jahrhundert. Von da geht es weiter. Jetzt könnt ihr damit rechnen, dass die Schauplätze der nächsten Verbrechen vom Mittelalter an chronologisch durch unsere historischen Wahrzeichen wandern werden. Der Torre de los Anda, die Zunftstraßen: die Pinto, die Cuchi und das alte Judenviertel. Vielleicht die Casa del Cordón. Die Opfer werden fünfundzwanzig Jahre alt sein. Danach geht es in die Renaissance. Obacht bei den Palacios: Bendaña, Monte hermoso, Villa Suso, Escoriaza-Esquivel … Uff, es sind zu viele. Was werdet ihr machen, Überwachungsmaßnahmen ergreifen?«

Die Frage war so dreist, dass ich lachen musste.

»Glaubst du wirklich, das würde ich dir sagen? Das wäre, als gäbe ich dir eine Wunschliste. Freies Büfett, damit du dich nach Lust und Laune an den nicht überwachten Orten austoben kannst.«