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Das Ritual des Wassers E-Book

Eva García Sáenz

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Beschreibung

Hingerichtet nach einem keltischen Opfer-Ritual – der aufregende Thriller-Bestseller aus dem Baskenland. »Ein nervenzerreißender Thriller mit actionreichen Szenen, überraschenden Wendungen und schockierenden Offenbarungen.« Buchszene.de Für Inspector Ayala alias Kraken geht es ans Eingemachte: Seine erste Liebe Annabel wird ermordet aufgefunden, ertränkt in einem historischen Wasserkessel. Und es bleibt nicht bei diesem einen Mord. Jemand scheint Menschen zu töten, die bald Mutter oder Vater werden. Kraken nimmt zusammen mit seiner Kollegin Estíbaliz die Ermittlungen auf. Er muss sich beeilen, denn seine Chefin Alba ist schwanger – und das Kind könnte von ihm sein. Der zweite Fall für Inspector Ayala, genannt Kraken.

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Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war, die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.

KEVIN SPACEYals »Verbal« zitiert in Die üblichen Verdächtigen Charles Baudelaire

Die wichtigsten Personen[1]

Inspector Unai López de Ayala, genannt Kraken: Profilingexperte bei der Kriminalpolizei von Vitoria, spezialisiert auf die Analyse der Täter

 

Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna, genannt Esti: Viktimologin, Kollegin von Unai, spezialisiert auf die Analyse der Opfer

 

Subcomisaria Alba Díaz de Salvatierra: Chefin von Unai und Esti, ursprünglich aus Laguardia, in einer komplizierten Beziehung mit Unai

 

Annabel Lee: Comiczeichnerin, Künstlername von Ana Belén Liaño, war 1992 mit Unai und seinen drei besten Freunden Asier, Lutxo und Jota im Ferienlager in Cabezón de la Sal

PrologDer Tunnel von San Adrián

Donnerstag, 17. November 2016

»Ich bin seit August schwanger«, flüsterte Alba und sah mich erwartungsvoll an, »seit den Fiestas de la Blanca, Unai.«

Die intensiven Gefühle, die sie damit in mir weckte, werde ich nie vergessen. Das spontane Lächeln, das mir den November erhellte. Alba schwanger. Von mir. Ich rechnete es im Kopf aus: vierzehn Wochen. Dieses Kind lebte bereits länger, als meine Zwillinge damals gelebt hatten. Vierzehn Wochen. Über das kritische erste Schwangerschaftsdrittel hinaus. Ein Sohn oder eine Tochter. Alba und ich wurden Eltern.

Ich schloss die Augen und kostete diesen Moment, den glücklichsten seit Jahren, voll aus. Dann blickte ich aus dem Fenster in meinem Wohnzimmer; draußen löste sich ein erstarrtes Vitoria in Regen auf, so dass die weißen Erker auf der anderen Seite der Plaza de la Virgen Blanca beinahe nicht mehr zu erkennen waren. Es war mir egal; meine innere Wärme hätte ein ganzes Universum beheizen können.

Aber als ich Alba wieder ins Gesicht sah, las ich in ihrem Blick eine stumme Warnung, eine sich anbahnende schlechte Nachricht.

»Was?«, schrieb ich irritiert. »Was ist los? Ich weiß, das ist eigentlich nicht der richtige Beginn für eine Beziehung, aber …«

Alba bremste meine Finger auf dem Display.

»Im Moment lässt sich noch nicht feststellen, ob das Kind von dir oder von ihm ist.«

Die Erwähnung ihres Exmannes brachte mich mit einem Schlag in die Realität zurück. Er selbst war tot, aber sein Samen lebte in Albas Bauch weiter?

Für diejenigen, die meine Vorgeschichte nicht kennen, fasse ich kurz zusammen: Ich arbeite als Fallanalytiker bei der Kriminalpolizei Vitoria und heiße Unai López de Ayala, aber praktisch alle Welt nennt mich Kraken. Seitdem mich der Serienmörder in meinem letzten Fall beinahe erledigt hätte, indem er mir eine Kugel in den Kopf jagte, hatte ich eine Broca-Aphasie und konnte noch immer nicht wieder sprechen. Nur wenn mir nichts anderes übrigblieb, stieß ich eine Art Krächzen aus. Aber dank einem Programm auf meinem Smartphone konnte ich mich ganz gut verständigen. Und genau das versuchte ich gerade mit meiner Chefin, der Subcomisaria Alba Díaz de Salvatierra, der Frau, die außerdem … nun ja, wie soll ich das erklären?

Aber ausgerechnet in diesem Augenblick, der unpassender nicht hätte sein können, erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht von Estíbaliz, meiner Kollegin, und verfluchte sie dafür.

»Kraken, sorry für die Störung, aber die von der Kriminaltechnik untersuchen gerade einen Tatort am Tunnel von San Adrián. Subcomisaria Salvatierra hat ihr Handy ausgeschaltet. Ich möchte, dass du mitkommst, es ist wichtig.«

Ich bedeutete Alba, die Nachricht zu lesen. Wir wechselten einen besorgten Blick, dann holte sie hastig ihr Handy aus der Tasche und schaltete es ein.

»Esti, tut mir leid, dass du einen Einsatz hast, aber ich bin krankgeschrieben. Die Subcomisaria ruft dich gleich an. Was ist passiert?«, schrieb ich.

»Junge Frau, mit einem Seil an den Füßen aufgehängt, möglicherweise Tod durch Ertrinken.«

»Ertrinken, oben in den Bergen?«, fragte ich unwillkürlich. Ich glaube, der Profiler in mir schaltete sich ganz ohne mein Zutun ein, als er diese Ungereimtheit bemerkte.

»So ist es. Sie steckte bis zu den Schultern in einem Bronzekessel voller Wasser, Kraken. Ein Museumsstück, da wird man einen Experten hinzuziehen müssen, aber es scheint ein Kessel aus der Keltenzeit zu sein. Ein sehr seltsamer Tod, ein sehr ausgefeilter Tatort. Das ist kein x-beliebiger Mord. Die Subcomisaria soll Richter Olano für mich bitten, dich als Sachverständigen bei der Inaugenscheinnahme dabei sein zu lassen. Hoffentlich irre ich mich, hoffentlich haben wir es nicht wieder mit einem Serienmörder zu tun, aber du bist der beste Profiler, den ich kenne, und falls sie den Fall mir zuteilen, brauche ich dich als Berater an meiner Seite.«

Unwillkürlich stellte ich Mutmaßungen an, malte mir den Tatort aus und wünschte, ich könnte ihn mit eigenen Augen sehen. Aber ich bremste mich. Ich war noch immer krankgeschrieben, ich konnte noch immer nicht sprechen, ich war noch nicht wieder im Dienst. Ich konnte ihr nicht helfen.

»Stimmt. Es wirkt sehr ungewöhnlich, aber das kannst du allein, ich kann und darf da nicht hinfahren«, schrieb ich und hoffte, sie werde nicht weiter in mich dringen.

»Kraken … bevor du es aus der Presse erfährst, sage ich es dir lieber selbst. Wenn ich es dir jetzt nicht erzähle, wirfst du mir das bis an mein Lebensende vor, fürchte ich.«

»Ich verstehe nur Bahnhof, Esti.«

»Die Frau hatte ihren Ausweis dabei. Ihre Brieftasche wurde nicht gestohlen, sie lag auf dem Boden, vielleicht ist sie ihr aus der Tasche gefallen. Ich gebe dir jetzt die Gelegenheit, mit mir zusammen den Tatort und das Opfer zu begutachten.«

»Und wer ist sie?«, schrieb ich beunruhigt.

»Ana Belén Liaño, deine erste Flamme. Das Mädchen, mit dem du zusammen warst, bevor diese Sache damals in diesem kantabrischen Sommerlager passierte …«

»Okay, Esti, okay«, bremste ich sie unbehaglich. »Aber woher weißt du das alles?«

»Lutxo hat die ganze Geschichte mal meinem Bruder erzählt.«

Annabel Lee, dachte ich und konnte es nicht fassen. Nie hatte ich sie mir tot vorgestellt, obwohl sie so gern mit dem Tod und seinen Riten gespielt hatte.

Annabel Lee war tot.

»Da ist noch etwas, was du wissen musst.«

»Und was soll das sein?«

»Sie war schwanger.«

1Der Monte Dobra

Sonntag, 4. September 2016

Heute war ich wieder am Wasserbecken, Vater.

Meine Patentante hat es mir verboten. Das war die einzige Regel, die ihr wirklich wichtig war. Nicht wieder nach dir zu suchen. Nicht deinetwegen zurückzukommen. Wir wissen nur zu gut, wozu Blaubart schon fähig war, wenn er nur das Gefühl hatte, man schnüffle ihm hinterher.

Dann lese ich bestürzt die Schlagzeile im Periódico Cántabro:

DREIUNDZWANZIGJÄHRIGE TOT AUF DEM MONTE DOBRA AUFGEFUNDEN

Das Rätsel der jungen Selbstmörderinnen setzt sich fort!

Es handelt sich um die Leiche von G.T. (23) aus Santander. Damit ist die Zahl der jungen Frauen, die auf verschiedenen Bergen an der kantabrischen Küste erfroren aufgefunden wurden, nachdem sie sich entkleidet und die Nacht im Freien verbracht haben, auf drei angestiegen. Keine von ihnen wies äußerliche Anzeichen von Gewalteinwirkung auf. Handelt es sich um eine Serie, um einen Nachahmungseffekt? Die Polizei findet weder eine Erklärung noch irgendeine Verbindung zwischen den Opfern.

Die Ermittler sind mal wieder verwirrt. Schon der dritte Fall nach dem gleichen seltsamen Muster: junge Frauen, teils am Beginn der Pubertät, die auf einen kantabrischen Berg steigen, sich ausziehen, wenn es dunkel wird, und am nächsten Morgen erfroren aufgefunden werden. Keine Spuren, kein Motiv, auch nach eingehender Untersuchung des familiären Umfelds nicht.

Wie denn auch?

Wie soll denn auch jemand, der nicht sehen will, was er vor Augen hat, etwas finden?

Nach einer umständlichen Suche habe ich ein Foto der Frau gefunden, Blaubart. Sie sieht aus wie ich, auf ihre Art. Ihr habt mir gesagt, sie sei tot. Ihr habt mir in die Augen gesehen und mir gesagt, sie sei tot, verdammt! Ihr habt sie behalten.

Ich schwor meiner Patentante, nicht in deine Nähe zu gehen, nicht nach dir zu suchen, aber diese Versprechen können mir jetzt gestohlen bleiben, denn du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Wut gerade in mir aufsteigt, in diesem Leib, den du verdorben hast.

Doch es ist meine Tragödie, dass ich dich trotz allem vermisse, Vater. Ich vermisse deine Aufmerksamkeiten, deine Art, in Gegenwart anderer so zu tun, als wäre ich dir wichtig, bis zu jenem letzten Sommer und allem, was in diesem Raum zwischen Siedlung und Steilküste geschah, in dem ich mein erstes Leben verlor.

Manchmal schloss ich die Augen und versuchte, mich unter dein Publikum zu mischen, versuchte, so zu tun, als glaubte ich es auch, als gäbe es wirklich ein Paralleluniversum, in dem du ein guter Vater bist und mich auf eine gute Art liebst anstatt auf diese schändliche.

Zwecklos. Daran werde ich nie glauben können. Ich rauche und trinke mehr als sonst. Gestern habe ich einen Streit angezettelt. Ich muss mich wieder einmal neu erfinden, muss mein Leben in Ordnung bringen. Muss ein anderer Mensch werden, irgendjemand, der nicht ich ist.

Ich bin wieder da, Vater.

2Die Sierra de Aizkorri-Aratz

Donnerstag, 17. November 2016

Wer Annabel Lee war? Mal sehen. Ich war damals knapp sechzehn. Ana Belén Liaño war von Anfang an dabei im Ferienlager in Cabezón de la Sal, einem Ort in der Nähe der kantabrischen Küste, in dem Lutxo, Asier, Jota und ich – der harte Kern unserer Clique auf der Schule – den besten Juli unseres kurzen, noch sehr verunsicherten Lebens verbringen wollten.

Sie hatte glatte schwarze Haare, die ihr bis zur Taille reichten, einen gerade geschnittenen Pony, der ihr in die Augen hing und damit jeden auch nur halbwegs sicheren Blick verhinderte, und so feste Ansichten, dass nicht einmal die Erwachsenen sie in Frage stellten.

Zuerst ging mir ihre Art auf die Nerven, dann faszinierte sie mich, und in der dritten Nacht des Ferienlagers tat ich kein Auge zu, so gebannt lauschte ich dem Stöhnen und Flüstern, das aus ihrem Schlafsack einige Betten weiter drang.

In einem Alter, in dem die meisten von uns noch keine Ahnung hatten, was wir nach dem Abitur studieren würden, geschweige denn, was wir später einmal werden wollten, war Ana Belén Liaño bereits eine begnadete Comiczeichnerin. Das Pseudonym, mit dem sie ihre kunstvollen, düsteren Zeichnungen signierte, Annabel Lee, wie das gleichnamige Gedicht von Edgar Allan Poe, genoss trotz ihrer Jugend bereits einen gewissen Ruf in der Welt der Comicfans: erotisch, düster, postapokalyptisch.

Nichts war vor ihr sicher, Grenzen und Genres ignorierte sie, wobei Gustavo Adolfo Bécquer, Lord Byron und William Blake ihre Vorbilder waren. Mit ihrem schwarzen Staedtler-Filzstift war sie praktisch verwachsen, und ihre Unterarme waren häufig mit improvisierten Bildern verziert, die ihr in den Sinn kamen, wo sie ging und stand: beim Spülen der Blechbecher vom Frühstück oder im verdreckten Minibus unterwegs zu irgendeinem mehr oder weniger magischen Ort an der Nordküste, während Saúl, der Leiter des Ferienlagers, uns von Riten und uralten Relikten erzählte, um uns für seine Sache zu gewinnen.

Annabel Lee hatte noch mehr absonderliche Eigenheiten. Je nach Stimmung hing eine Dauerwolke über ihr. Sie war oft ausweichend in ihren Antworten, und wir alle wussten, dass ihre wilde Innenwelt sie weit mehr faszinierte als unser fades Leben in der Übergangsphase zum Erwachsenendasein. Sie war irgendwie alterslos, weder Kind noch Erwachsene. Das Alleinsein war ihr sehr wichtig, und sie hätschelte es hingebungsvoll.

So benötigte sie nur vier Tage und drei Nächte, bis sie mein bis dahin jungfräuliches, größtenteils narbenfreies Herz k.o. geschlagen hatte. Unglücklich. Sie eroberte mich, nährte meine Verliebtheit, ließ zu, dass ich mich an ihre schweigsame und beunruhigende Gesellschaft gewöhnte, und spuckte dann alles wieder aus.

Ich weiß nicht, welcher niederträchtige Impuls sie veranlasste, mich derart abzuservieren, mit einer solchen … ich wollte schon Gleichgültigkeit sagen, aber nein. Überhebliche Menschen sind gleichgültig, sie dagegen konnte durchaus hitzig sein. In Wahrheit war es so, dass Annabel in einem Paralleluniversum lebte, das sich manchmal mit dem unseren überschnitt, meistens allerdings nicht. Dann war sie an einem anderen Ort, zu anderen Bedingungen, nämlich ihren eigenen und denen ihrer bizarren Phantasien. Deshalb empfand ich ihren Tod auch nicht als sonderlich real oder konkret, sondern bloß wie ein alternatives Ende eines ihrer Comics.

Man geht unwillkürlich davon aus, die Schöpfer solcher Geschichten würden weder sterben noch altern, sondern einfach immer da sein. So war es mir jedenfalls mit Annabel Lee gegangen, auch wenn ich nichts mehr von ihr hatte wissen wollen, nachdem es in jenem Sommer vor einer halben Ewigkeit so zwischen uns geendet hatte.

 

Als wir auf dem Parkplatz hielten und ich aus unserem Dienstwagen, einem Nissan Patrol, ausstieg, peitschte mir ein sehr kalter Wind ins Gesicht und begrüßte mich wieder in der Realität. Estíbaliz mit ihren eins sechzig hätte er fast vom Berg gefegt, aber sie zog sich bloß die rote Haarsträhne aus dem Mund und ging weiter. Nach den Regenfällen der letzten Tage war der Weg zum Tunnel von San Adrián aufgeweicht, und beim Anblick der Gewitterwolken, die der Nordwind herantrug, ahnte man, dass das vorhergesagte Unwetter mit Hagel tatsächlich eintreffen würde.

»Bist du bereit, Kraken?«, fragte Estíbaliz ein wenig besorgt. »Die Subcomisaria hat erlaubt, dass du als Sachverständiger dabei bist, aber sie weiß nicht, dass du die Tote gekannt hast.«

»Und mir wäre lieber, wenn das erst mal so bleibt«, schrieb ich ihr auf meinem Smartphone und zeigte es ihr.

Zum Zeichen ihres Einverständnisses zwinkerte sie mir zu.

»Für den Anfang ist es wohl besser so«, bestätigte sie. »Na komm, in ein paar Stunden wird es dunkel. Gibt es übrigens irgendwas, was ich über das Opfer wissen sollte? Irgendwas, das von Bedeutung sein könnte angesichts der Art, wie sie gestorben ist?«

Ich zuckte die Achseln: nicht dass ich wüsste.

Nein, ich werde dir nicht erzählen, was in jenem Sommer alles geschah, Estíbaliz. Weder bin ich bereit dafür, noch möchte ich das, dachte ich.

Wir waren über Zegama zum Tunnel von San Adrián im Naturpark Aizkorri-Aratz gefahren, denn so kam man zum nächstgelegenen Parkplatz, wo auch schon zwei Wagen der Kriminaltechnik standen. Nun machten wir uns an den Aufstieg.

Ein schmaler Schotterweg, über den sowohl Esti als auch ich schon oft gelaufen waren, führte zum Eingang des Tunnels. Wir traten durch den Spitzbogen ein, durchquerten die knapp sechzig Meter lange Höhle und ließen dabei eine restaurierte Wallfahrtskapelle und eine kleine Fundstätte, in der jeden Sommer eine Gruppe von Archäologen arbeitete, rechter Hand liegen.

Das Licht nahm an diesem späten Nachmittag bereits rapide ab. Hinter uns im Buchenwald raschelten die grünen und goldenen Blätter im ziemlich starken Wind.

Wenn ich in Großvaters Haus in Villaverde übernachtete, lauschte ich in stürmischen Nächten gern dem Blätterrauschen der Buchen und Eichen in meiner Sierra. Es war wie ein Konzert, bei dem wir Menschen überflüssig waren. Heute allerdings fand ich das Brausen des Winds in den Bäumen nicht so herrlich. Ja, es war atemberaubend, aber es entspannte mich nicht so wie sonst.

Der Tunnel von San Adrián mündete in einen breiten, aber niedrigen natürlichen Felsdurchbruch, den seit prähistorischen Zeiten schon zahllose Wanderer und Reisende durchschritten hatten. Jahrhundertelang war er ein Abschnitt des nördlichen Jakobswegs gewesen.

Es hieß, sogar Karl V. habe an diesem Ausgang zum ersten Mal in seinem Leben das Haupt beugen müssen. Zwar weiß ich nicht, wie groß dieser Monarch war, aber ich musste jedenfalls den Kopf einziehen, um den Tunnel auf der alavesischen Seite zu verlassen, die an diesem ungemütlichen Nachmittag zum Schauplatz eines Mordes geworden war.

Wir stiegen einen kurzen Hang hinauf, dann entdeckten wir Andoni Cuesta, einen Kollegen von der Kriminaltechnik. Er war über fünfzig und ein sehr methodischer Typ, einer von denen, die klaglos bis spät bleiben. Cuesta zeigte uns den Zugang zum Tatort. Der gesamte Bereich war bereits abgesperrt, und man konnte ihn nur an einer Stelle betreten.

»Wie geht’s, Cuesta?«, fragte Estíbaliz mit einem verschwörerischen Blick. Ich wusste, dass Esti und er sich sehr gut verstanden und oft zusammen einen Kaffee tranken, wenn sie in unserem Kommissariat auf der Calle Portal de Foronda im Stadtviertel Lakua aufeinandertrafen. »Sag, dass du der geheimnisvolle Lottogewinner mit den drei Millionen Euro bist. Dann musst du mich nämlich morgen einladen.«

Seit mehreren Wochen spekulierte ganz Vitoria darüber, wer der glückliche Gewinner sein könnte. Vielleicht der Nachbar aus dem fünften Stock, den man schon seit Tagen nicht mehr getroffen und der am Sonntag das Spiel von Deportivo Alavés verpasst hatte? Oder der Schwager, der nicht ans Telefon ging und seinen Job bei Mercedes ohne Angabe von Gründen an den Nagel gehängt hatte?

»Schön wär’s, ehrlich. Aber nein, leider nicht. Was die Inaugenscheinnahme angeht, haben wir gerade erst angefangen. Es gibt also noch viel zu tun. Und ich möchte gern rechtzeitig zu Hause sein, um meinen Kindern noch gute Nacht zu sagen. Der Große hat am Wochenende eine Partie mit der U-17 und ist total aufgeregt. Und übrigens, wenn ich der Lottogewinner wäre, dann würde ich meinem Sohn die ganze Mannschaft von Baskonia kaufen, plus Management und Trainer, das kannst du mir glauben, damit sie mir den Jungen nicht immer auf die Ersatzbank setzen«, erzählte Cuesta, der neben seinem Köfferchen hockte, halb lächelnd, halb besorgt. Er war ein kleiner, rundlicher, liebenswürdiger Mann, den man bei jeder Inaugenscheinnahme trotz des weißen Overalls, den er und die beiden anderen Kriminaltechniker trugen, sofort an seiner Silhouette erkannte. »Zieht euch Überzieher über die Schuhe und passt auf, wo ihr hintretet. Hier wimmelt es von Stiefelabdrücken. Das wird die reinste Qual, die alle zu identifizieren.«

Wir gehorchten und zogen auch die Handschuhe über, die er uns reichte.

Richter Olano hatte die Inaugenscheinnahme zwar angeordnet, aber ich hätte meinen Kopf darauf verwettet – und gewonnen –, dass er nicht persönlich hier mitten in den Bergen erschienen war, um die Leichenschau zu beaufsichtigen, sondern den Rechtspfleger geschickt hatte.

Wir folgten Cuestas Anweisungen und hielten auf einen waldigen Bereich zu, bis wir Doctora Guevara, die Rechtsmedizinerin, entdeckten. Sie stand neben einem Baum, an dem die Leiche einer Frau hing, und machte sich Notizen. Ein Stückchen weiter unterhielten sich der Rechtspfleger und Inspector Goyo Muguruza, der Leiter der Kriminaltechnik, leise miteinander und deuteten dabei auf eine mit Totenköpfen bedruckte Kapuzenjacke, die wohl der Verstorbenen gehört hatte.

Der Rechtspfleger, ein linkischer Mann mit weißem Haar und länglicher Nase, nickte mit ernster Miene und machte sich Notizen zu Goyos Ausführungen. Zu ihren Füßen stand ein geöffneter Spurensicherungskoffer.

Annabel nach so langer Zeit wiederzusehen, von meiner allseits bekannten Abneigung gegen Leichen ganz zu schweigen, war zu viel für meinen Magen. Ich musste mich abwenden, damit man mir die Übelkeit nicht ansah. Esti deckte mich, indem sie vortrat und der Rechtsmedizinerin die Hand reichte.

»Inspectora Gauna, freut mich, Sie zu sehen. Und Inspector Ayala ist auch wieder bei uns«, bemerkte Doctora Guevara und übersah geflissentlich, in welcher Verfassung ich mich befand.

Sie war etwa fünfzig Jahre alt, recht klein und hatte stets gerötete Wangen. Außerdem war sie schweigsam und effizient, wie ein stumm geschalteter Roboter.

Ich hatte sie in langjähriger Zusammenarbeit zu schätzen gelernt. Nie war sie gereizt, wenn ich sie bat, eine bestimmte Obduktion vorzuziehen, und sie besaß die seltene Gabe, mit sämtlichen Richtern, mit denen sie zu tun hatte, gut auszukommen, egal, mit was für einem Mist sie konfrontiert war.

»Heute ist er als Fachmann für Fallanalyse hier, demnächst kehrt er dann in den aktiven Dienst zurück«, log Estíbaliz so kaltblütig, als täte sie das bereits ihr ganzes Leben lang. »Können Sie uns schon etwas sagen, Doctora?«

Ich betrachtete die Tote, die einmal meine erste Freundin gewesen war, meine erste Liebe … Ich betrachtete sie, obwohl sie an den Füßen aufgehängt war, so dass ihre lange schwarze, zum Teil noch feuchte Mähne bis auf den felsigen Boden hing und der dichte Pony ausnahmsweise einmal ihre Stirn sehen ließ. Offene Augen. Sie hatte sie vor ihrem Tod nicht geschlossen, obwohl ihr Kopf in einem Bronzekessel voller Wasser gesteckt hatte.

Wie tapfer du warst, Annabel, dachte ich.

Die Hände waren ihr mit Kabelbinder auf den Rücken gefesselt. Kein Ehering. Bekleidet war sie mit einer Wanderhose und einer Fleecejacke, die herabgerutscht war, so dass der gewölbte Bauch zum Teil zu sehen war … vierter Monat? Fünfter? Die Knöchel fest mit einem Seil zusammengeschnürt, das an einem soliden Ast hing, etwa zweieinhalb Meter über dem Boden.

Man musste schon ein echtes Arschloch sein, um ihr so etwas anzutun, trotz ihrer Spielchen, trotzdem sie ihr ganzes Leben lang die Menschen, die sich von ihr angezogen gefühlt hatten, zurückgewiesen hatte.

Was hast du dir da eingehandelt, Annabel?

Und während Estíbaliz und die Rechtsmedizinerin die wenigen Schritte zum Bronzekessel gingen, beugte ich unwillkürlich das Knie vor ihr und deklamierte stumm:

Hier endet deine Jagd, hier beginnt die meine.

Und da glaubte ich ganz kurz, ich sei wieder ich, Inspector Ayala, und nicht ein matter Abglanz seines Abglanzes, und ich hätte eine Arbeit, die mich ganz in Anspruch nähme, und eine neue Obsession, die meine gesammelten Traumata unter sich begrübe.

Traumata wie den Umstand, dass meine Chefin schwanger war und nicht wusste, ob von mir oder von einem Serienmörder.

3Die Räubergrenze

Donnerstag, 17. November 2016

Den Bronzekessel, der Esti so wichtig zu sein schien, ignorierte ich erst einmal und wartete einfach, bis sie mit Doctora Guevara zurückkehrte und diese uns ihre Eindrücke schilderte.

»Die Verstorbene ist eine schwangere Frau – nach der Obduktion kann ich Ihnen die genaue Schwangerschaftswoche angeben. Wir haben sie kopfüber hängend aufgefunden, an den Füßen mit einem Strangwerkzeug gefesselt, in diesem Fall einem handelsüblichen Seil aus Espartogras. Der Körper berührt den Boden nicht. Nach meinen Informationen haben die beiden Zeugen sie bis zum Hals oder den Schultern in Wasser getaucht aufgefunden. Der Kopf befand sich vollständig unter Wasser. Die Kriminaltechnik muss es noch bestätigen, aber diese Kabelbinder scheinen mir ganz gewöhnliche zu sein, wie man sie in jedem Baumarkt finden kann.«

»Erklären Sie mir bitte das mit den beiden Zeugen«, unterbrach Estíbaliz sie.

»Zwei Bergwanderer, die von der alavesischen Seite her aufgestiegen sind, haben sie gefunden. Sie sind aus Araia und hatten ihr Auto auf dem Parkplatz Las Petroleras abgestellt. Beide haben ausgesagt, sie seien sofort zu ihr gelaufen und hätten sie aus dem Wasser gezogen für den Fall, dass sie noch lebte, aber aus ihrer Blässe hätten sie geschlossen, dass sie schon eine Weile tot war. Nachdem sie ihr am Hals den Puls gefühlt und sich vergewissert hatten, dass sie nicht mehr atmete, wollten sie nichts weiter anfassen. Sagen sie jedenfalls. Die Leute von der Bergrettung haben bestätigt, dass sie bereits tot war. Sie sind schon wieder weg.«

»Ja, sie waren es auch, die uns am frühen Nachmittag benachrichtigt haben«, erklärte ihr Estíbaliz.

In diesem Moment kam Inspector Muguruza zu uns. Er war ein Mann mit energischen Gesten und einem eigenartig quadratischen Kopf und trug eine dieser Brillen, die sich bei Sonnenschein verdunkeln. Allerdings blieben seine Brillengläser immer dunkler als nötig. Dadurch wirkte er oft übernächtigt, und außerdem machte es ihn älter. Zur Begrüßung hob er nur kurz die Augenbrauen, dann löste er die Rechtsmedizinerin ab.

»Überall sind Fingerabdrücke, vor allem außen am Kessel, wie Doctora Guevara es Inspectora Gauna ja schon gezeigt hat. Allerdings fürchte ich sehr, dass diese Abdrücke von den Zeugen stammen. Im Moment bestätigt das, was wir gefunden haben, ihre Geschichte. Wir werden ihnen Fingerabdrücke abnehmen müssen, um sie auszuschließen.«

»Die Leiche weist keine Spuren eines Kampfs auf, wobei man die Obduktion abwarten muss, bei der ich sie gründlicher auf Abwehrverletzungen und Hautreste unter den Fingernägeln untersuchen werde. Aber als sie aufgehängt wurde, hat sie noch gelebt, folglich ist sie im Kessel ertrunken«, fuhr Doctora Guevara fort. »Was wir allerdings haben, sind Prellungen und Abschürfungen am Kopf, die sie sich wahrscheinlich selbst zugefügt hat, als sie gegen die Innenwand des Kessels schlug, vermutlich bei dem Versuch, den Kopf aus dem Wasser zu heben, um nicht zu ertrinken.«

»Wo ist das Wasser jetzt?«, fragte Estíbaliz und kam damit meinem fragenden Blick zuvor.

»Ich fürchte, die Bergwanderer haben es bei ihrem Rettungsversuch ausgegossen.«

»Und was glauben Sie, wo der Mörder das Wasser herhatte?«

»Hier in der Nähe sind im Winter überall Quellen und kleine Wasserfälle. Oder der Täter könnte den Kessel oder ein anderes Gefäß irgendwo in der Nähe deponiert haben. Die Regenfälle der letzten Tage hätten genügt, um es zu füllen. Apropos, wir sollten uns beeilen«, sagte Doctora Guevara besorgt, als es in der Ferne donnerte. »Wir müssen das Opfer in einen Leichensack packen.«

»Umständliche Vorbereitungen, findest du nicht?«, flüsterte meine Kollegin mir zu.

Estíbaliz hatte recht. Diese ganze Inszenierung war zu kompliziert für einen gewöhnlichen Mord. Es war eine sehr eigenartige Tötungsart, so, als wären wir in den Tunnel von San Adrián hineingegangen, aber aus einem Zeittunnel herausgekommen und in einer anderen Epoche gelandet, wo das Ritual ebenso wichtig war wie der Tod an sich.

Der Profiler in mir machte sich daran, meine ersten Eindrücke zu verarbeiten: Schauplatz, Modus Operandi, Signatur und Geographie. Die Viktimologie, die Frage nach dem Opfer, blieb Estíbaliz überlassen.

Das Vorhandensein eines Kessels und eines Seils sowie die Notwendigkeit, den Kessel mit Wasser zu füllen, sprachen für einen durchdachten Tatort, wie er typisch für einen Psychopathen war. Der – oder die, den Plural schloss ich nicht aus – Mörder hatte dieses Ritual bis ins kleinste Detail geplant. Der Kessel als Waffe war ein Gegenstand, der an und für sich keine Waffe darstellte, aber vom Mörder in eine verwandelt worden war. Außerdem war da ein Bedürfnis nach Kontrolle: Die auf den Rücken gefesselten Hände sprachen für jemanden, der Angst hatte, sein Opfer könnte sich verteidigen und seine ausgefeilte Inszenierung ruinieren.

Das im Kessel verborgene Gesicht wiederum mochte auf ein gewisses Schuldgefühl hindeuten und vielleicht darauf, dass der Täter Annabel Lee gekannt hatte. Außerdem konnte es sein, dass er von den Zeugen gestört worden war, ehe er das Ritual hatte vollenden können. Es war zu früh, um das zu wissen. Allerdings gewann ich aus dem ganzen Drumherum den Eindruck, dass hier etwas nachgeahmt worden war. Ein Baum, ein historischer Ort, ein archäologisches Fundstück wie dieser Bronzekessel …

Doch ich war mir noch nicht darüber im Klaren, ob dies das Werk eines reinen Psychopathen war. Ich sah hier eine Verbrecherpersönlichkeit mit gemischten Zügen: Da war auch etwas Messianisches, so, als hätte der Täter eine ihm übertragene Mission erfüllt, indem er Annabel Lee rituell hingerichtet hatte. Und das hatte etwas sehr Psychotisches, etwas von einem kranken Hirn, das den Kontakt zur Realität verloren hatte. Kurz: etwas Wahnhaftes.

Und das machte mir Sorgen, denn psychotische Mörder sind unberechenbar, und ich hatte die Welt gern geordnet und kontrollierbar.

»Körperflüssigkeiten, Doctora?«, fragte Estíbaliz.

»Bisher sehe ich keine Spuren von Blut oder Sperma«, antwortete die Rechtsmedizinerin und blickte erneut zum Himmel. »Da wir ohnehin nicht vor Einbruch der Dunkelheit fertig werden, werde ich die Gelegenheit nutzen und mit Luminol und UV-Licht nach Blutspuren suchen. Auf jeden Fall werde ich aber einen Fingerabdruck vom rechten Zeigefinger der Leiche nehmen, auch wenn sie offenbar schon identifiziert ist. Ich möchte da auf Nummer Sicher gehen.«

»Was können Sie uns über den Todeszeitpunkt sagen?«

»Die Leichenstarre hat bereits eingesetzt, folglich sind seit ihrem Tod mehr als drei, vier Stunden vergangen. Allerdings beeinflussen, wie Sie wissen, die Kälte und weitere Elemente den Algor mortis, die Körpertemperatur der Leiche, und somit die Richtigkeit meiner Schätzung. Aber ich würde sagen, dass sie heute früh gestorben ist. An Wochentagen und im Winter ist es hier sehr einsam, und die Archäologen der Firma Aranzadi, die die Ausgrabungen durchführt, arbeiten nur im Sommer hier. Insofern hatte der Mörder reichlich Zeit, sie an den Baum zu hängen, den Kessel aufzustellen, sie sterben zu sehen und in aller Ruhe zu verschwinden.«

»Dann haben die Bergwanderer sie schon tot gefunden, wenn es stimmt, dass sie am frühen Nachmittag hier ankamen«, warf Estíbaliz ein.

»Wenn ihre Angaben stimmen, dann war sie auf jeden Fall tot.«

»Vielen Dank, Doctora. Das wäre dann alles«, verabschiedete sich Estíbaliz von ihr und ging zu einem der Kriminaltechniker, um sich das Protokoll der Inaugenscheinnahme geben zu lassen.

Wir betrachteten die Skizze des Tatorts mit den umliegenden Bäumen, dem Tunneleingang, der Position der Leiche und der des Kessels. Außerdem hatte die Spurensicherung sämtliche Beweisstücke und Spuren für den Transport nummeriert. Ein Kriminaltechniker fotografierte noch ein paar Papiertaschentücher und Zigarettenstummel, neben denen Nummernschildchen und Maßband lagen. Die Umgebung des Tunnels war zwar nicht direkt eine Müllkippe, aber gedankenlose, wenig umweltbewusste Menschen hatten ihre Spuren hinterlassen: leere Chipstüten, Alufolie, in der Brötchen eingewickelt gewesen waren, zerdrückte Getränkedosen …

Die Spurensicherung hatte auch eine Probe der Erde an den Sohlen von Annabels Stiefeln genommen, um sie mit der Erde auf dem Parkplatz Las Petroleras in Álava und der auf der anderen Seite in Gipuzkoa zu vergleichen und so herauszufinden, wo sie den Tunnel betreten hatte und was ihre letzten Schritte gewesen waren. Die Reifenabdrücke der dort parkenden Autos würden sie ebenfalls überprüfen müssen.

Was die Fußabdrücke anging … das war ein fürchterliches Durcheinander. Da waren mehrere Dutzend verschiedener Abdrücke, sehr wahrscheinlich von den Bergwanderern, die an den Wochenenden hierherkamen. Der gute Andoni Cuesta hatte recht: Es würde eine Sisyphusarbeit sein, sie mit denen in SoleMate, der Schuhdatenbank, mit der wir arbeiteten, abzugleichen.

Während Estíbaliz das Protokoll gründlich studierte, ging ich zu dem mysteriösen Bronzekessel, der wenige Meter von Annabels Leiche entfernt im Gras ruhte. Er mochte einen Durchmesser von etwa sechzig Zentimetern haben, wies so etwas wie Nieten auf und hatte zwei ringförmige Henkel. Man sah sofort, dass es kein zeitgenössischer Kessel war, und ich wusste genau, wer mir helfen konnte, seine Herkunft festzustellen.

Ich fotografierte ihn und schickte die Fotos per WhatsApp an einen alten Bekannten. »Ich brauche den Archäologen. Seid ihr schon in Los Angeles gelandet?«, schrieb ich dazu.

»Wir sind noch auf alavesischem Boden«, antwortete Tasio postwendend. »Was hast du mir da geschickt? Befasst du dich jetzt mit Verbrechen gegen das Kulturerbe?«

Tasio Ortiz de Zárate war derjenige, der im Fall der Doppelmorde die Zeche bezahlt hatte: zwanzig Jahre unschuldig hinter Gittern. Jetzt begann er eine neue Lebensphase als Drehbuchautor einer amerikanischen Serie, die auf den damaligen Vorfällen beruhte.

»Ich erkläre es dir, wenn du mir deine Diskretion und deine Expertise zusicherst, einverstanden?«, antwortete ich.

»Dein Misstrauen kränkt mich. Allerdings bin ich ein bisschen eingerostet nach zwanzig Jahren. Wie auch immer: Was du mir da geschickt hast, ist Stoff aus dem ersten Studienjahr. Das ist der Kessel von Cabárceno.«

»Cabárceno … du meinst Kantabrien?«

»Genau. Das ist ein seltenes Stück, von denen hat man in Nordspanien nicht viele gefunden. Es ist ein Kessel im irischen Stil aus der Kultur der Kelten. Gefunden wurde er 1912 im Gebirgsmassiv Peña Cabarga, wenn ich mich recht erinnere. Er stammt aus der späten Bronzezeit und ist zwischen zweitausendsechshundert und zweitausendneunhundert Jahre alt«

»Und wo müsste er sich eigentlich befinden?«

»In einer Museumsvitrine, im Prähistorischen Museum von Kantabrien, soweit ich weiß, aber gib mir ein paar Minuten, dann vergewissere ich mich.«

»Noch etwas: Du hast sowohl Archäologie als auch Kriminologie studiert. Was hat es aus deiner Sicht zu bedeuten (und das ist jetzt streng vertraulich), dass er am Tunnel von San Adrián benutzt wurde?«

»Hoppla.«

»Allerdings.«

»Wie denn benutzt?«

»Mehr darf ich dir nicht erzählen, Tasio. Lass dir meine Frage durch den Kopf gehen und antworte mir später, okay?«

»Ignacio lässt dich grüßen. Wie kommt’s, dass du schon wieder im Dienst bist?«

»Ich bin noch nicht im Dienst.«

»Wie du meinst. Ich mache Schluss und werde mein Wissen über die Kelten entstauben. Danke, dass du an mich gedacht hast, Kraken. Du weißt ja, wie gerne ich der Gemeinschaft von Nutzen bin.«

»Es ist schwer, dich zu vergessen. Ich bin froh, dass du auf der richtigen Seite stehst.«

Zufrieden beendete ich den Chat. Vielleicht brauchte ich meine Stimme gar nicht so dringend, wie ich gedacht hatte.

Ich blickte in den Kessel, in dem noch ein wenig Wasser verblieben war, und da sah ich ihn: einen Widerschein dessen, der ich einst gewesen war. Ein Kraken, den man schlagen, aber nicht brechen konnte, flexibel und stark, ja, sogar angsteinflößend. Ein eher hartnäckiger als brillanter Fallanalytiker, jemand, der von einem Fall erst dann abließ, wenn er ihn abgeschlossen, die erforderlichen Ermittlungsprotokolle vorgelegt und den Verdächtigen vor den Untersuchungsrichter gebracht hatte. Dieser Mann war ich einst gewesen, in einem anderen Leben, das am 18. August geendet hatte, als man mir eine Kugel ins Gehirn gejagt hatte.

Ich hatte mich abgesondert, und in meinem Mikrouniversum in Villaverde lebte es sich sehr angenehm, sogar mehr als das, aber jetzt war ich nur noch irgendein Mann, der Brombeermarmelade einkochte. Sehr gute Marmelade, das wohl, aber eben auch nicht mehr.

Und so hielt ich Ausschau nach Estíbaliz, musste aber feststellen, dass sie nicht mehr am Tatort war. Daher stieg ich den Abhang zum Tunneleingang hinab. Ich fand sie im Tunnel, halb hinter der kleinen Wallfahrtskirche verborgen. So geräuschlos wie möglich näherte ich mich, um das Telefonat, das sie gerade führte, nicht zu stören.

»Ich möchte ihn als unseren Experten für Fallanalyse«, flüsterte sie ihrem Gesprächspartner zu. »Mir ist bewusst, dass er noch nicht vollständig wiederhergestellt und einsatzfähig ist, aber Inspector Ayala weiß sich auch ohne seine Zunge zu helfen. Verzeihung«, korrigierte sie sich, »ohne sein Sprechvermögen. Subcomisaria Salvatierra, auch wenn wir Verstärkung bekommen, ohne ihn sind wir gehandicapt, das wissen Sie. Außerdem ist das genau der richtige Antrieb für ihn, wieder in den aktiven Dienst zurückzukehren. Ich bitte Sie nur, ihn als unseren externen Berater zuzulassen, bis er wieder hundertprozentig fit ist und offiziell zurückkommt.«

Dann lauschte Estíbaliz, aber aus dieser Entfernung konnte ich nicht hören, was unsere Chefin sagte. Ich hätte einen goldenen Kessel und noch mehr dafür gegeben.

»Alba«, fuhr Estíbaliz in deutlich vertraulicherem Ton fort, »du hast mir erzählt, dass die Neurologin dir gesagt hat, er brauche ein Umfeld, das ihn fordert. Und dass es ihm schneller bessergehen wird, je mehr Fortschritte er in der ersten Zeit macht. Unai ist voll in Form, das versichere ich dir. Er kann seine Arbeit korrekt machen.«

Ich wunderte mich darüber, dass Estíbaliz und Alba sich duzten. Zwar wusste ich, dass Esti unsere Chefin bewunderte und die beiden gut miteinander auskamen, aber erst jetzt wurde mir klar, dass ihre Beziehung in meiner Abwesenheit vertrauter geworden und nicht mehr nur beruflicher Natur war. Das freute mich. Für beide. Sie taten einander gut. Alba tat es gut, dass sie in Vitoria nicht mehr so einsam war, und Esti half es, wieder mehr Bodenhaftung zu bekommen. Oder vielleicht hatte auch der noch nicht überwundene Schmerz die beiden zusammengeführt: wegen des Ehemanns bei der einen, um den Bruder bei der anderen.

Dass meine Chefin und meine Kollegin inoffiziell ein wenig nachhalfen, um mich zur Rückkehr zu zwingen, rührte mich. Zumal es meine beste Freundin und die Mutter meines potentiellen Kindes waren, die sich da hinter meinem Rücken miteinander verschworen und mir einen Schubs geben wollten, damit ich mich aus meiner Komfortzone herauswagte und wieder gesund wurde.

Da beschloss ich, hier in der Sierra del Aizkorri, von unseren Vorfahren auch die »Räubergrenze« genannt, alles zu geben, damit ich wieder zu Kraken wurde – meinetwegen, Annabel Lees wegen, Albas wegen und meines ungeborenen Kindes wegen.

Danach wartete ich noch einige Minuten in sicherer Entfernung, bis Estíbaliz ihr Telefonat beendete. Ihr triumphierendes Lächeln entging mir nicht.

Ich trat zu ihr und zeigte ihr das Display meines Handys.

»Bist du dir bei dem, worum du gerade gebeten hast, sicher, Esti?«, hatte ich geschrieben.

Sie warf mir einen verschmitzten Blick zu und war überhaupt nicht überrascht, mich hier zu sehen. Vielleicht hatte sie ja meine Schritte gehört, oder sie hatte gespürt, dass ich da war. So etwas konnte Estíbaliz bei mir, es war fast so etwas wie übersinnliche Wahrnehmung. Dass ich mich daran gewöhnt hatte, hieß nicht, dass es mich nicht mehr verblüffte, aber ich ließ mir nichts anmerken.

»Lass uns zum Tatort zurückgehen. Ich hoffe, sie beeilen sich, denn dieser Donner gefällt mir nicht, und dass der Wind noch stärker geworden ist, schon gar nicht«, sagte sie. Wir gingen wieder zum Ausgang des Tunnels. »Mir ist klar, dass du nicht zurück in den Dienst kommen willst, dass du dir das Leben nicht schwerer als nötig machen musst, aber du bist ein guter Profiler. Ich weiß nicht, ob das hier der Anfang einer Serie ist oder ob der Mörder das schon einmal getan hat, das musst du beurteilen, aber es ist klar, dass diese Art zu töten sich vom Üblichen abhebt. Du wärst eine große Hilfe dabei aufzuklären, was für ein Spinner Ana Belén Liaño das angetan hat. Mich beunruhigt, dass sie schwanger war. Falls das eine Serie wird, gehört das hoffentlich nicht zu den Voraussetzungen, die das Opfer erfüllen muss. Beim bloßen Gedanken kommt mir die Galle hoch.«

Nein, Estíbaliz. Hier fängt niemand an, lauter schwangere Frauen zu töten. Denk nicht mal dran, dachte ich.

Punkt.

Doch dann sah ich zum finsteren Himmel, betrachtete die furchteinflößenden Wolken, die sich über unseren Köpfen zusammenballten, und mein Bauchgefühl sagte mir, dass die Naturgewalten wieder einmal ihren Lauf nehmen würden, ohne mich zu beachten.

4Die Wallfahrtskapelle San Adrián

Donnerstag, 17. November 2016

»Tu es für sie und ihr Kind«, drängte Estíbaliz, und wir sahen beide zum Gipfel, weil bereits erste dicke, kalte Tropfen fielen, die nichts Gutes verhießen.

Für sie und ihr Kind … Ich beobachtete, wie die Kollegen Annabel Lees Leiche untersuchten, dachte dabei jedoch weder an sie noch an ihr ungeborenes Kind, sondern an die Frau, mit der meine Kollegin gerade telefoniert hatte.

»Lass uns zum Tatort zurückgehen«, sagte Estíbaliz. »Wenn es regnet, wird das ein Desaster. Mal sehen, ob wir bei der Sicherung der Spuren helfen können. Wir müssen alles im Tunnel in Sicherheit bringen. Ich glaube nicht, dass wir noch trocken zu den Autos kommen.«

Ich nickte und folgte ihr.

»Nach all dem, was ich gerade gesehen habe, könnte ich gar nicht in Villaverde bleiben und mich aus den Ermittlungen raushalten. Ich würde dich ständig anrufen und löchern, welche Fortschritte ihr gemacht habt«, schrieb ich, während wir Richtung Tatort gingen.

Schon öffnete der Himmel seine Schleusen, doch noch mehr Sorgen machte mir dieser immer stürmischere Wind, der vom kahlen Berggipfel herabfegte.

»Ja, am Ende würdest du wie ein Besessener in unsere Büros platzen, wenn die Ermittlungen nicht so laufen, wie du es erwartest. Wir haben schon früher unter dir gelitten, Kraken.« Sie lachte, und ihre Augen glänzten hoffnungsvoll. »Gib dir einen Ruck, und komm endlich zurück nach Hause, nach Hause zu uns.«

»Ich habe Angst«, schrieb ich. »Als ich heute Morgen aufstand, war ich nervös, weil ich mich von Tausenden von Vitorianos und Würdenträgern ehren lassen sollte, und meine Hauptsorge war, dass die Einschussnarbe möglichst nicht zu sehen ist.« Ich hielt inne, um die Narbe mit einer Haarsträhne zu verdecken.

Und von meinem Treffen mit Alba erzähle ich dir lieber nicht, dachte ich und biss die Zähne aufeinander, um diese schreckliche Wut drinnen zu halten.

»Aber dieser Mord sieht nicht gut aus, Esti. Ihr werdet einen Fallanalytiker brauchen.«

Sie lächelte, ich lächelte. Es war ein stillschweigendes Ja, und wir wussten es beide.

Aber ich hatte ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt.

Denn während der Inaugenscheinnahme hatte ich etwas vergessen können, wovon ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte: Albas Mutterschaft und meine potentielle Vaterschaft. Ich musste mich in diese voraussichtlich komplexe und verwirrende Ermittlung vergraben, denn wenn ich in Villaverde blieb, würden die Brombeermarmelade und die gerösteten Kastanien nicht verhindern können, dass ich so lange über diese Schwangerschaft nachgrübelte, bis ich verrückt wurde.

»Weißt du was?«, fragte meine Kollegin. »Wenn wir mit der Clique hier raufgestiegen sind, hat Eneko mir immer Geschichten über diesen Ort erzählt. Es gibt Hunderte davon. Hier sind jahrtausendelang Jakobspilger durchgekommen, Reiter, Kutschen, edle Damen und Händler. Aber eine dieser Geschichten gefällt mir besonders. Es ist die über einen Einsiedler, der in der Nähe der mittelalterlichen Pilgerherberge ein Stückchen weiter unten lebte, der heutigen Ermita de Sancti Spiritu. Es heißt, er hätte Kindern geholfen, die erst spät sprechen lernten.«

Und während sie mir diese Geschichte erzählte, fiel mir auf, dass sie unbewusst nach dem Anhänger aus Silber tastete, den sie noch immer an einer Schnur um den Hals trug. Er war eine Erinnerung an ihren Bruder Eneko in Form einer Silberdistel, dem eguzkilore, was auch Enekos Spitzname gewesen war. Auch Esti hatte noch nicht alles verwunden.

Da wurden wir unterbrochen. Der Rechtspfleger, der vor dem Regen Richtung Tunnel flüchtete, lief an uns vorbei, und Cuesta von der Spurensicherung trat zu uns. Seine beiden Kollegen, die Rechtsmedizinerin und Inspector Muguruza, beförderten Annabels Leiche eiligst in einen Leichensack. Cuesta hatte eine Plastiktüte mit irgendeiner Mappe dabei.

»Ich glaube, das solltet ihr euch ansehen«, sagte er, während das Wasser ihm über den weißen Overall lief.

»Was denn?« Estíbaliz war mehr daran gelegen, zu sichern, was am Tatort noch zu sichern war.

Aber jetzt begann es zu hageln. Murmelgroße Hagelkörner trafen uns mit voller Wucht auf den Kopf.

»Der Kessel! Und die Jacke!«, schrie Inspector Muguruza. »Kommen Sie, helfen Sie uns!«

Wir drei liefen zu ihm. Für die Fortsetzung unserer Unterhaltung blieb keine Zeit.

»Schaffen Sie das mit der Leiche?«, fragte Estíbaliz Doctora Guevara.

»Ja, wir gehen in den Tunnel, wobei ich nicht weiß, ob wir dort wirklich sicher sind. Wenn nach diesem Hagel noch ein Wolkenbruch kommt, ist das eine Todesfalle, dann werden wir alle mitgeschwemmt. Sie nehmen auf alle Fälle den Kessel und die Kapuzenjacke.«

Wir trugen noch die Latexhandschuhe, daher nahm ich die bisher nicht völlig durchnässte Kapuzenjacke vom Boden auf, und Cuesta und Estíbaliz machten sich daran, den Kessel zu tragen.

Aber dann sah ich, dass Doctora Guevara und Muguruza die Leiche kaum tragen konnten, also klemmte ich mir die Jacke unter den Arm und ging zu ihnen, um ihnen zu helfen.

Estíbaliz und Cuesta bemerkten, dass wir auch zu dritt Schwierigkeiten haben würden, deshalb ließen sie den Kessel wieder stehen. Zu fünft trugen wir die Leiche den Hang hinab, der sich in eine weiße Fläche aus Hagelkörnern verwandelt hatte.

»Wir kommen weder zu den Autos noch bis zur Schutzhütte«, sagte Inspector Muguruza erschöpft, »und falls es hier zu einer Überschwemmung kommt, wird sie uns alle mitreißen. Wir müssen in der Kapelle Schutz suchen.«

»Die ist verschlossen«, wies der Rechtspfleger auf das Offensichtliche hin.

»Dann müssen wir eben die Tür aufbrechen, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht«, entgegnete Doctora Guevara.

Wir blickten uns an. Für lange Überlegungen blieb keine Zeit, und so traten Estíbaliz, Cuesta und ich in Ermangelung eines Rammbocks abwechselnd gegen die hölzerne Tür. Es kam mir ein bisschen ketzerisch vor, einen von einem Relief der Jakobsmuschel beschützten Ort derart zu entweihen, aber als ich spürte, wie die Tür allmählich nachgab, war ich unglaublich erleichtert. Sobald sie aufschwang, stiegen wir mit Annabels Leiche die zwei Stufen hinauf und flüchteten uns hinein: die drei Kriminaltechniker, Doctora Guevara, der Rechtspfleger, Inspector Muguruza, Esti und ich.

Ich reichte Muguruza die Kapuzenjacke der Toten, damit er sie fachgerecht verwahrte und sie nicht noch kontaminiert wurde in dieser winzigen Kapelle, in der es gerade einmal einen Altar, ein Bild des Heiligen hinter einem schwarzen Eisengitter und ein vergittertes Fenster gab.

Draußen wütete ein Hagelschauer, der an Herzrhythmusstörungen zu leiden schien: Mal wurde er stärker, dann ließ er wieder nach. Die Spurensicherungskoffer und der Kessel von Cabárceno waren draußen zurückgeblieben. Zum Glück hatten die Kriminaltechniker wenigstens die Fotoausrüstung retten können.

Nach einer Weile schien das Unwetter jedoch vorübergehend nachzulassen, und diese Gelegenheit nutzte Cuesta, um die Kapelle zu verlassen.

»Wo wollen Sie hin?«, blaffte Muguruza.

»Ich gehe den Kessel holen, Chef! Wir können ihn doch nicht da oben lassen«, schrie Cuesta.

Und bevor wir sie aufhalten konnten, lief Estíbaliz ihm hinterher.

»Ich gehe mit ihm!«, sagte sie und glitt wieselflink von meiner Seite, um sich Andonis Selbstmordexpedition anzuschließen.

Ich wollte ihr hinterherschreien, sie solle hierbleiben, aber ich brachte nicht einmal eine einzige Silbe hervor, und als ich ihr folgen wollte, hielten Muguruza und Doctora Guevara mich an der Tür auf.

»Zwei reichen, Ayala«, sagte Muguruza energisch. »Wir dürfen uns nicht alle in Gefahr bringen.«

»Wenn Sie wissen, wie man betet, dann tun Sie es. Da ist der Altar«, flüsterte Doctora Guevara mir zu.

Also blieb ich, wo ich war, und wartete ohnmächtig an der Tür auf Estíbaliz. Jetzt gesellte sich noch ein Gewitter zum Hagel, der ohrenbetäubend laut auf die Felsen des Tunnels trommelte.

Dann kam die erste Lawine.

Da erschrak ich richtig.

Zum ersten Mal.

Es war nicht mein erstes Unwetter in den Bergen, aber jetzt war der Tunnel, durch den so viele Pilger gezogen waren, keine Zuflucht mehr, sondern hatte sich in eine Todesfalle verwandelt: Eine weiße Hagellawine wälzte sich heran.

Und da geschah das Unvorstellbare.

Vor meinen Augen schoss zu meinem Entsetzen der Kessel von Cabárceno vorüber. Ich stieß ein Grunzen aus, woraufhin auch die anderen zur Tür drängten. Der Kessel schlug gegen die Tunnelwände, verschwand durch den Bogen am Nordeingang des Tunnels und geriet außer Sicht.

Vor Entsetzen wie gelähmt, befürchteten wir das Schlimmste, und das trat auch ein, denn jetzt schoss auch Andoni Cuesta an uns vorbei, wegen seines weißen Overalls fast nicht zu erkennen inmitten der Lawine aus Hagelkörnern, die ihn wie ein Transportband bergab trug.

Es war wie ein Albtraum, der nur wenige Sekunden dauerte, und schon war auch Cuesta außer Sicht.

Aber im Moment konnten wir unsere Zuflucht unmöglich verlassen: Der Wind, der Regen und der Hagel hätten uns getötet.

Trotzdem riskierte ich es.

Denn es blieb noch Estíbaliz.

Ich musste sie abfangen. Keine zehn Sekunden später glitt auch sie heran.

Und dieser Anblick, ihre Arme, ihr Rumpf, ihre Beine, dem Unwetter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, genügte, um den Damm einzureißen, den mein Hirn Monate zuvor errichtet hatte.

»Du nicht!«, schrie ich und brachte damit zum ersten Mal seit August zwei Worte hervor, die für alle Welt verständlich waren.

Du nicht.

Ich war selbst verblüfft darüber, wie entschieden das geklungen hatte und was es für mich bedeutete.

In Kamikazemanier und wohl wissend, dass auch ich gleich den Abhang in die Hölle hinabrutschen würde, stürzte ich vor, aber im letzten Augenblick packte eine Hand fest meinen Arm.

Eine menschliche Kette.

Diesmal gab es sie. Und ich musste an das denken, was in der Vergangenheit, vierundzwanzig Jahre zuvor, geschehen war.

Die Hände, die ausgeblieben waren, die Menschen, die beschlossen hatten, nicht ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nicht … Und mir wurde klar, dass ich ihnen nicht verziehen hatte. Keinem der vier, und selbstverständlich auch nicht Annabel Lee.

Und ich musste an den leblosen Körper der jungen Frau denken, die ich stundenlang vor einer Steilküste in Kantabrien in den Armen gehalten hatte.

5Die kantabrische Siedlung

Montag, 29. Juni 1992

Die vier Jungen aus der Clique und ein dunkelhaariges Mädchen, das sie nicht kannten, sprangen aus dem Zug und verteilten sich mit ihren Rücksäcken voller Erwartungen im schmucklosen Bahnhof von Cabezón de la Sal, einer angesehenen Salinenstadt in Kantabrien.

Dort erwartete sie der Leiter des Projekts, Saúl Tovar, ein junger, lässig mit einem karierten Hemd bekleideter Universitätsdozent, und begrüßte sie. Ihn umringten einige studentische Hilfskräfte, die schon mehrfach den Sommer hier verbracht hatten.

Viele waren es eigentlich nicht: mehrere Geschichtsstudentinnen im zweiten und dritten Jahr, die um Saúl herumwuselten, und ein älterer Kommilitone, der sich zerstreut mit einer sehr großen Studentin unterhielt, in deren gebrauchtem Ford Fiesta sie alle aus Santander gekommen waren. Marian Martínez wusste, dass sie sie nur aus diesem Grund angerufen hatten: Sie sollte Taxi spielen, damit die anderen Saúl besuchen konnten, den allgegenwärtigen Saúl. Marian teilte die Ehrfurcht nicht, mit der die gesamte Universidad de Cantabria dem Dozenten für Kulturanthropologie begegnete. Sie hatte Geschichten gehört …

Ein wenig abseits vom Getümmel saß ein Mädchen mit sehr dunklen Haaren auf einer Bank, wo sie auf Geheiß ihres Vaters warten sollte, und beobachtete die jungen Leute hoffnungsvoll. Es war für sie die erste Begegnung mit Menschen, die nicht zu ihrer Welt gehörten, seit man sie wieder rausgelassen hatte. Bis dahin hatte sie nur mit ihrer Tante und ihrem Vater zu tun gehabt. Im Moment war er so liebevoll, als bereute er, was er ihr angetan hatte.

Das Mädchen wusste, dass sein Kopf noch nicht wieder hundertprozentig funktionierte. Sein Körper musste erst noch die ganzen Medikamente abbauen, die man ihm verabreicht hatte.

Also hieß es trinken und ständig mit ihrer kleinen Plastikflasche herumlaufen. Und ständig aufs Klo rennen.

Wie lästig.

Aber es war notwendig, sagte sie sich. Sie wollte sich nicht mehr benommen fühlen. Vielleicht war dieses Ferienlager ihre einzige Gelegenheit, denn wenn sie erst im September wieder zur Schule ging … uff, unmöglich. Dort kannten alle ihren Vater, und ihr Vater war dort Gott. Und obendrein musste sie das Schuljahr wiederholen; das würde sie ihm wirklich nie verzeihen. Wie peinlich, die achte Klasse wiederholen zu müssen.

Diese Gelegenheit würde sie sich nicht entgehen lassen. Sie musste lediglich beobachten und sich überlegen, wer von ihnen ihr helfen konnte.

Als ihr Vater die Gruppe durch die Straßen der Kleinstadt zum Palacio Conde de San Diego führte, einem imposanten Gebäude mit schwarzem Spitzdach, das die früheren Eigentümer der Stadt geschenkt hatten, schloss sie sich ihnen an. Das Haus konnte eine Renovierung brauchen, aber den bescheidenen Ansprüchen der jungen Leute genügte es vollauf.

Zwei Stunden später war die Vorstellungsrunde vorbei, und es gab Abendessen, aber das Mädchen hatte sich noch immer nicht entschieden. Der da, der große Dunkle mit den kräftigen Armen? Er schien der Älteste der vier Jungen aus Vitoria zu sein. Vielleicht. Sie konnte sich nicht entscheiden.

Lieber richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den, der am ernsthaftesten und verantwortungsbewusstesten wirkte, den mit der Hakennase, Asier. Der war nicht so ein Hampelmann wie die anderen, er lachte nicht über anzügliche Witze, und vor allem hatte sie ihn noch nicht mit ihrem Vater reden sehen.

Das war besonders wichtig.

Dieses Willkommensritual wiederholte sich jetzt schon zum dritten Mal, ein weiterer Sommer. Seit das Projekt der Rekonstruktion eines prähistorischen kantabrischen Dorfs begonnen hatte, war sie immer dabei gewesen. Für sie war klar, dass sie später Archäologin werden würde. Sie wusste alles über die Kelten. Wie ihr Vater, der ihr das alles beigebracht hatte.

In den drei Wochen des Ferienlagers betreute Saúl Tovar die kleine Schar von Freiwilligen, die sich gemeldet hatten, um den Bau der vier Hütten aus der Eisenzeit fertigzustellen. Alle fünf waren Oberstufenschüler, verantwortungsbewusste und motivierte junge Leute, denen er hoffentlich seine Leidenschaft für die Geschichte einimpfen und sie damit für ein Studium an der Universidad de Cantabria gewinnen konnte, wo Saúl eine Stelle als Lehrbeauftragter hatte. Er musste sich vor dem Dekan auszeichnen, musste sein Vertrauter werden, eine unbefristete Stelle bekommen. Damit er Rebeca – dem, was von seiner Familie geblieben war – Stabilität bieten konnte. Für seine Tochter, alles für seine Tochter.

Er hatte einen Kleinbus gemietet, damit er sich den Juli über nicht mehr mit der Transportfrage auseinandersetzen musste. Aus der Erfahrung der beiden vergangenen Jahre wusste er, dass die jungen Leute sich in den ersten Tagen richtig ins Zeug legten und dann am Wochenende versuchen würden, in Torrelavega oder auf der Fiesta del Carmen in San Vicente de la Barquera auszugehen. Im Lauf der drei Wochen würde ihr Eifer immer weiter abnehmen, das Interesse an der keltiberischen Geschichte und Kultur allmählich nachlassen, und am Ende würden sie bloß noch an das andere Geschlecht denken. Er musste hin und wieder für Luftveränderung sorgen, Ausflüge mit ihnen unternehmen, sie mit seinen Geschichten motivieren.

Am Nachmittag luden sie das Baumaterial in den Kleinbus, und dann fuhr Saúl mit den Neulingen zum Picu de la Torre, einer kleinen Erhebung, wo sie die hölzernen Skelette der Eisenzeithütten, die sie fertigstellen sollten, erwarteten.

Es war nicht weit dorthin, aber er nahm an, dass sie müde von der Reise waren, und wollte nicht schon am ersten Tag verdrossene Gesichter sehen.

Saúl stellte das Radio leiser, denn Eric Clapton, der seine »Tears In Heaven« schluchzte, wühlte ihn zu sehr auf. Es war die Geschichte eines Vaters, der seinen vierjährigen Sohn verloren hatte, weil der Junge aus dem 53. Stock eines Wolkenkratzers gestürzt war.

Unterwegs musste er zwei eifrigen, gut siebzigjährigen Radlern ausweichen, die sich in diesem Sommer wie Tausende anderer Fans auf die Straße begeben hatten, mitgerissen von Indurains Triumph beim Giro und seinem absehbaren zweiten Sieg bei der Tour de France.

Saúl fuhr konzentriert. Rebeca saß neben ihm. Beide gaben vor, an nichts zu denken, lauschten jedoch aufmerksam der Unterhaltung der vier Jungen.

»Hoffentlich gibt es in der Nähe eine Telefonzelle, ich muss jeden Abend im Krankenhaus anrufen«, sagte der Jüngste, der Blonde, Hübsche, besorgt.

Rebeca war er bereits aufgefallen. Er trug neue Markenturnschuhe und eine Levi’s 501 mit rotem Stofflogo. Dieser Jota war nicht nur hübsch, er hatte auch Knete.

Und was ist das mit dem Krankenhaus?, fragten sich Saúl und Rebeca. Aber keiner der beiden fragte laut nach.

Geduld, dachten sie einmütig, wie Vater und Tochter.

Ich finde es schon noch heraus, beschlossen sie.

»Na klar, Jota«, sagte der große Dunkle, dieser Unai. »Mach dir keine Sorgen, ich sag dir, in diesem Dorf gibt es garantiert eine Telefonzelle.«

»Klar, Mann. Du weißt doch, wenn es ihm schlechter geht, rufe ich meinen Vater an, und in zwei Stunden sind wir in Txagorritxu«, sagte der Dickliche mit den fettigen langen Haaren und dem schwarzen Pearl-Jam-T-Shirt. Lutxo hieß er. Er sprach sehr schnell, sehr selbstsicher, sehr aggressiv, wie eine Schlange.

Rebeca hatte ihn von Anfang an abstoßend gefunden.

Aber man merkte, dass sich alle um den Hübschen, den Kleinen kümmerten, um José Javier alias Jota.

»Rebeca, Liebes, wie geht es dir?«, murmelte ihr Vater unvermittelt, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. Er fuhr gemächlich. Ihr Vater raste nie, das konnte Rebeca ihm wirklich nicht vorwerfen.

»Gut, Papá.«

»Hör mal, du sollst wissen … diese drei Monate ohne dich waren sehr schwer für mich. Ich habe dich sehr vermisst.«

Wie verlockend, ihm zu glauben.

»Ja, ich dich auch, Papá.«

»Du hast doch keine Kopfschmerzen mehr, oder?«

»Aber nein, Papá, es geht mir gut, wirklich.« Schon wieder. Ich will darüber nicht sprechen, Papá.

»Und bist du dazu gekommen, die Bücher zu lesen, die ich dir geschickt habe, die über Archäologie?«

Wenn ich gerade mal nicht zu groggy war, ja, ich habe sie gelesen. Das war das Einzige, was mich … bei Verstand gehalten hat.

»Ja, Papá. Vielen Dank für die Bücher.«

»Ich dachte, wenn wir den Neuen morgen die Werkstatt zeigen, könntest du ihnen beibringen, wie man Lehmziegel macht, und hinterher die Sache mit dem Dach aus Heidekraut. Das wäre eine gute Vorbereitung auf die Zeit, wenn du mal Dozentin an der Uni bist. Du weißt doch, dass ich dir den Platz freihalten werde, wenn ich in Ruhestand gehe«, sagte er und lächelte sie an mit seinen perfekten weißen Zähnen und diesem kantigen Kinn – er war wirklich der bestaussehende Vater der Welt. Er sah völlig anders aus als die Väter ihrer Klassenkameradinnen. Die waren kahlköpfig und hatten dicke Bäuche, sprich: Es waren gesetzte Herren.

Ihr Vater sah höllisch gut aus, das war ihr schon immer klar gewesen. Die Blicke ihrer Freundinnen, wenn er sie von der Schule abholte, bewiesen es ihr täglich.

Auch sein tiefschwarzes, fast blau schimmerndes Haar, das Rebeca geerbt hatte, trug dazu bei. Ebenso wie Saúls lässige Jeans, das weiße T-Shirt und das Holzfällerhemd, das er trug, um jünger zu wirken. Seine schrägen grünen Augen, mit denen er wie eine Mischung aus Hexer und Engel aussah, hatte sie leider nicht geerbt.

Der Vorschlag ihres Vaters zauberte ein Lächeln auf Rebecas Gesicht. Dabei merkte sie, dass ihre Gesichtsmuskeln völlig steif waren: Sie hatte seit Monaten nicht mehr gelächelt.

Womöglich hat er mich doch lieb, womöglich stimmt es, dass er sich Sorgen um mich macht, dachte sie, aber sie gestattete es sich nicht, es wirklich zu glauben. Solche Grübeleien lenkten sie nur von ihrem Plan ab, und eine zweite Gelegenheit würde sie nicht bekommen.

6Der Cantón de la Soledad

Donnerstag, 17. November 2016

Die Menschenkette, die wir gebildet hatten, bewahrte Estíbaliz im letzten Moment davor, den Hang hinabgeschwemmt zu werden. Wir konnten sie retten, betäubt und am Rande einer Unterkühlung, dann schlossen wir die Tür der Kapelle, um diese Miniaturversion des Weltuntergangs, die wir da gerade erlebten, auszusperren.

»Seht mal auf eure Handys, ich glaube, wir haben keinen Empfang.« Inspector Muguruza musste die Stimme erheben. Das unverminderte Trommeln des Hagels hallte laut in der Kapelle wider.

Wir sahen alle auf unsere Handys und bestätigten ihm dann mit bedauernden Blicken, dass wir von der Außenwelt abgeschnitten waren und keine Hilfe rufen konnten.

»Lasst uns die Ruhe bewahren. Die Kollegen von der Bergrettung wissen, dass wir wegen des Leichenfunds hier sind. Sie werden sich denken, dass das Unwetter uns in der Kapelle festhält und wir nicht runter zum Parkplatz können. Also werden sie abwarten, bis es sich legt, und uns dann zu Hilfe kommen. Wir müssen nur durchhalten.«

Wir anderen nickten. Keiner hatte Lust zu reden.

Ich tastete in den Taschen meiner Daunenjacke nach der Silhouette meiner Sierra. Großvater hatte mir diese winzige Holzschnitzerei der Bergkette, die sich hinter unserem Dorf erhob, zum Geburtstag geschenkt, und ich hatte sie an meinem Schlüsselring befestigt. Sie war eine permanente Erinnerung an mein Zuhause, an den Ort, an den ich immer zurückkehren wollte.

Und als ich über die Miniatursilhouette des Monte San Tirso strich, stieß ich auf das kleine Plastiktütchen mit den gebrannten Mandeln, die Großvater meinem Bruder und mir heute Morgen nach dem Frühstück geschenkt hatte, bevor wir uns auf den Weg zur Ehrung beim Wandgemälde am Cantón de la Soledad gemacht hatten. In einem anderen Leben also.

Es war gerade einmal ein Dutzend übrig. Mandeln und Zucker. Genau das, was wir jetzt brauchten. Wir rationierten sie, aber trotzdem schmeckten sie uns so köstlich wie einem zum Tode Verurteilten die Henkersmahlzeit.

Dann setzten wir sieben Überlebenden – der Rechtspfleger, Doctora Guevara, Muguruza, die beiden Kriminaltechniker, Estíbaliz und ich – uns dicht nebeneinander an die geschützteste Wand der Kirche, um möglichst wenig Körperwärme zu verlieren, und warteten darauf, dass dieses todbringende Unwetter nachließ und in die Hölle zurückkehrte, aus der es gekommen war.

Ich vermied es, Annabel Lees Leichensack anzusehen, der in der kältesten Ecke der Kirche lag, gleich an der Tür. Wer hätte gedacht, dass dies die letzte Nacht sein würde, die ich mit ihr verbrachte? Stets hatte Annabel ein Hauch von Tod und Zerstörung angehaftet. Als Mutter, als jemand, der Leben schenkt, hatte ich sie mir nie vorgestellt.

Sie sagte immer, sie lebe lieber in der Phantasiewelt ihrer Comics als in der realen Welt, die nur alles kaputtmache. Das Sich-Versenken in ihre Kunst hatte sie beschäftigt und die zerstörerische Kraft in ihr im Zaum gehalten. Zumindest war sie sich dessen bewusst gewesen. Entschuldigt hatte sie sich für die Verletzungen, die sie uns zugefügt hatte, allerdings nie.

Je länger die Nacht andauerte, desto stärker setzte mir die Feuchtigkeit zu, in meiner Kleidung und meinem Haar, am Hals, an den Händen, überall. Jedes Fleckchen unbekleidete Haut litt darunter, dass wir in einem ausgesprochen fiesen November die Nacht in tausendzweihundert Metern Höhe verbrachten. Der Hagel draußen tat ein Übriges. Wir steckten quasi in einem Eisschrank.

Ich weiß auch nicht, warum ich mich so auf Estíbaliz’ eisige Füße fixierte, aber jedenfalls rieb ich sie unablässig. Dann hüllte ich sie mit in meine Daunenjacke, und sie drückte sich an mich. Wir zwei mussten wie eine überdimensionale Schwangerschaft wirken.

Der Kopf, dachte ich dann besorgt.

Ich wusste, dass Neugeborene zuerst am Kopf auskühlen, daher auch die vielen Fotos von blauen und rosa Mützchen auf Facebook. So gut ich konnte, deckte ich den Kopf meiner erschöpften Kollegin zu, und sie ließ sich gehorsam, ja, beinahe apathisch von mir in das Daunennest hüllen.

Du nicht. Du nicht. Wag es ja nicht zu sterben, das würde ich dir nie verzeihen, dachte ich.

Immer wieder küsste ich sie auf die Stirn und die Wangen. Vielleicht konnte ich mit meinen Lippen diese ungestüm mit Sommersprossen übersäte, erstarrte Haut ja ein bisschen erwärmen.

Du musst mich weiterhin retten, du bist doch die, die die Bösen erledigt, hätte ich ihr gern gesagt.

Und dann wurde mir klar, dass es stimmte, dass ich mir selbst gegenüber ausnahmsweise einmal ehrlich war. Estíbaliz war meine Leibwächterin, auch wenn ihre Körpergröße eher das Gegenteil vermuten ließe. Sie war meine Mauer, mein Schutzwall, der Wassergraben um die Festung. Meine Beschützerin. Wenn sie in meiner Nähe war, hatte ich das Gefühl, eine Naturgewalt sorge für mich. Und diese Erkenntnis veranlasste mich, ein paar Prioritäten zu setzen.

Du bittest mich um Hilfe, ich unterstütze dich. Scheiß auf die Broca-Aphasie. Scheiß auf die komplizierte Situation mit Alba. Du rufst mich an, und ich komme. Punkt. Ich werde wieder gesund werden, schließlich bin ich der Enkel meines Großvaters.