Die Herren der Zeit - Eva García Sáenz - E-Book
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Die Herren der Zeit E-Book

Eva García Sáenz

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Beschreibung

Die Rituale stammen aus dem Mittelalter. Doch die Opfer sterben hier und heute. Vitoria im Baskenland. Wieder erschüttert eine Serie von Morden die Stadt. Sie folgen düsteren mittelalterlichen Ritualen. Inspector Ayala alias Kraken muss feststellen, dass die Verbrechen alle in einem geheimnisvollen historischen Roman beschrieben sind. Der Titel des Buchs lautet »Die Herren der Zeit«. Und auch mit Krakens eigener Vergangenheit scheint das Epos zusammenzuhängen. Ein höchst gefährlicher Fall, nicht nur für den Inspector, sondern auch für seine Familie. Der dritte Fall für Inspector Ayala, genannt KRAKEN.

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Seitenzahl: 659

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Ähnliche


Eva García Sáenz

Die Herren der Zeit

Thriller

Aus dem Spanischen von Alice Jakubeit

FISCHER E-Books

Die wichtigsten Personen[1]

Inspector Unai López de Ayala, genannt Kraken: Profilingexperte bei der Kriminalpolizei von Vitoria, spezialisiert auf die Analyse der Täter

Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna, genannt Esti: Viktimologin, Kollegin von Unai, spezialisiert auf die Analyse der Opfer

Subcomisaria Alba Díaz de Salvatierra: Chefin von Unai und Esti, ursprünglich aus Laguardia, außerdem Unais Lebensgefährtin und Mutter der gemeinsamen Tochter Deba

1Der Palacio de Villa Suso

Unai · September 2019

Ich könnte diese Geschichte beginnen, indem ich von dem verstörenden Fund der Leiche eines der reichsten Männer des Landes berichte, Besitzer eines Billigmode-Imperiums, der im Palacio de Villa Suso mit der »Spanischen Fliege«, dem legendären Viagra des Mittelalters, vergiftet wurde. Aber das werde ich nicht.

Stattdessen will ich lieber erzählen, was an jenem Abend geschah, als wir zur Präsentation des bemerkenswerten Romans gingen, von dem ganz Spanien sprach: Die Herren der Zeit.

Wir waren fasziniert von diesem historischen Roman, ich ganz besonders, muss ich zugeben. Es war eines dieser Bücher, die man förmlich verschlang; eine unsichtbare Hand packte dich von der ersten Zeile an und zog dich erbarmungslos in seine grausame mittelalterliche Welt, ohne dass du etwas dagegen tun konntest.

Es war kein Buch, es war ein Labyrinth aus Papier, eine Falle aus Wörtern, aus der es kein Entrinnen gab.

Mein Bruder Germán, meine Kollegin und Freundin Estíbaliz, die Jungs aus der Clique, alle sprachen davon. Viele lasen es trotz seiner vierhundertsiebzig Seiten in drei Nächten aus. Wir anderen dosierten es wie ein Gift, das einem wohliges Vergnügen bereitete, während man es zu sich nahm, und versuchten, die Zeit, die wir in Gedanken im Jahr 1192 waren, auszudehnen.

Ich tauchte so sehr in die Lektüre ein, dass ich Alba, wenn wir uns nachts zwischen den Laken einem wilden Spiel hingaben, manchmal »meine Gebieterin« nannte.

Und es gab noch einen zusätzlichen Reiz, ein Rätsel, das es zu lösen galt: die Identität des öffentlichkeitsscheuen Autors.

Das Buch fand seit anderthalb Wochen reißenden Absatz in den Buchhandlungen, aber weder in den Zeitungen noch auf dem Umschlag des Romans gab es ein Foto des Autors. Auch Interviews hatte er keine gegeben. Keine Spur von ihm in den sozialen Netzwerken, keine Webseite. Anscheinend lebte er tatsächlich in einer anachronistischen, analogen Vergangenheit.

Es wurde gemutmaßt, der Name Diego Veilaz, unter dem er veröffentlichte, könnte ein Pseudonym sein, eine augenzwinkernde Anspielung auf den Erzähler und Protagonisten des Romans, den charismatischen Conde Diago Vela, aber wer wusste das schon? Wie sollte man damals etwas wissen, als die Wahrheit noch nicht ihre Schwingen über das Kopfsteinpflaster der tausendjährigen Altstadt von Vitoria gebreitet hatte?

 

Über uns wölbte sich ein sepiafarbener Abendhimmel, als ich mit Deba auf den Schultern die Plaza del Matxete überquerte. Ich hoffte, dass meine zweijährige Tochter – sie selbst fand, dass sie schon groß war – die Buchpräsentation der Herren der Zeit nicht allzu langweilig finden würde. Großvater kam als Verstärkung mit, obwohl am nächsten Tag in seinem Heimatort Villaverde das Patronatsfest des heiligen Andreas gefeiert wurde, das er nie verpasste.

Er war in der Wohnung aufgetaucht und hatte verkündet: »Ich komme mit und habe für euch ein Auge auf die Kleine.« Alba und mir würde ein bisschen Entspannung guttun.

Wir machten seit zwei Wochen Überstunden, nachdem zwei Jugendliche unter sonderbaren – äußerst sonderbaren – Umständen verschwunden waren, und brauchten dringend Schlaf.

Noch ein, zwei Stunden, dann würden wir uns nach vierzehn Tagen ergebnisloser Ermittlungen eine kleine Auszeit nehmen können. Erschöpft ins Bett fallen und ausschlafen, um für einen Samstag gerüstet zu sein, der genauso frustrierend zu werden drohte.

Wir hatten unsere Hausaufgaben gemacht und doch nichts erreicht: Suchaktionen mit Freiwilligen und Hunden, die Handys des gesamten Umfelds auf richterliche Anordnung abgehört, sämtliche Überwachungskameras der Provinz gesichtet, Fahrzeuge von Familienangehörigen durch die Spurensicherung überprüfen lassen, jeden vernommen, mit dem die beiden Mädchen in ihren gerade einmal zwölf beziehungsweise siebzehn Lebensjahren Kontakt gehabt hatten.

Sie hatten sich in Luft aufgelöst … Und es waren zwei.

Ein Umstand, der das Drama wie auch den Druck des Polizeichefs auf Alba verdoppelte.

 

Eine endlos lange Schlange stand unter den schummrigen Laternen auf der Plaza del Matxete und wartete auf den Beginn der Buchpräsentation.

Ein Akrobat im grünen Samtgewand jonglierte mit drei roten Bällen, ein stiernackiger Mann schob sich den Kopf einer weißen Riesenschlange in den Mund. Auf dem Kopfsteinpflaster des Platzes roch es nach Maisfladen und Zuckerkuchen, ein paar wildgewordene Violinen spielten die Melodie aus Game of Thrones. Der Mittelaltermarkt, der im September stattfand, fiel mit der Buchpräsentation zusammen.

Der Platz, der in früheren Zeiten ein Marktplatz gewesen war, war belebter denn je. Die Grüppchen der Lesebegeisterten standen vor und in den Arkaden der Villa Suso, wo unzählige Verkäufer ihre Tonwaren und Lavendelöle anpriesen.

Ich entdeckte Estíbaliz, meine Partnerin bei der Kriminalpolizei, mit Albas Mutter, die Esti gleich in ihr Herz geschlossen hatte, als sie sich kennenlernten, und in unsere Familie mit eingebunden hatte.

Meine Schwiegermutter Nieves Díaz de Salvatierra war eine ehemalige Schauspielerin, die in den fünfziger Jahren ein Star des spanischen Films gewesen war und nun die ersehnte Ruhe in der Leitung eines Schlosshotels in Laguardia gefunden hatte, das idyllisch zwischen Weinbergen und der Sierra de Toloño lag.

»Unai!«, rief Estíbaliz und hob den Arm. »Hier!«

Alba, Großvater und ich gingen zu ihnen. Deba drückte ihrer Patentante Esti einen feuchten Schmatzer auf die Wange, dann betraten wir den Palacio de Villa Suso, ein Stadtpalais aus der Renaissance, das seit fünfhundert Jahren die Anhöhe im oberen Teil der Stadt beherrschte.

»Ich glaube, die Familie ist komplett«, sagte ich und reckte mein Handy in den Himmel, der sich inzwischen tiefblau gefärbt hatte. »Schaut mal alle her.«

Vier Generationen der Familien Díaz de Salvatierra und López de Ayala lächelten für ein gemeinsames Selfie.

»Die Veranstaltung findet im Saal Martín de Salinas im ersten Stock statt, glaube ich.« Alba ging gutgelaunt voran. »Heute Abend wird das Geheimnis gelüftet, und wir erfahren endlich, wer der Autor ist«, fuhr sie fort, während sie meine Hand nahm und ihre Finger mit meinen verschränkte. »Wenn doch die Fälle, mit denen wir auf der Arbeit zu tun haben, auch so leicht zu lösen wären.«

»Apropos Geheimnis«, warf Estíbaliz ein und gab Alba am Eingang zum Veranstaltungsraum einen kleinen Schubs. »Nicht auf die verfluchte Seele treten, Alba. Die Wachleute sagen, dass sie herzerweichend heult, wenn sie nachts durch die leeren Gänge bei den Toiletten spukt. Angeblich sind es die unheimlichsten Klos der ganzen Stadt.«

Alba machte einen Satz zur Seite. Im Gedränge war sie auf die Glasplatte im Fußboden getreten, durch die der Stein zu sehen war, unter dem angeblich die Gebeine einer Frau aus dem Mittelalter ruhten, wie auf einer Tafel an der Wand zu lesen war.

»Sprich vor Deba nicht von Gespenstern und Gerippen«, flüsterte Alba Estíbaliz mit einem Augenzwinkern zu. »Ich will nicht, dass sie später nicht schlafen kann. Heute Nacht muss sie schlafen wie ein Stein. Ihre Mutter braucht nämlich dringend eine Erholungskur.«

Großvater setzte dieses wissende Lächeln eines alten Mannes auf, der uns viele Jahre voraushatte. »Ihr glaubt doch nicht, dass ihr die Kleine mit ein paar schlecht verscharrten Knochen erschrecken könnt.«

In seiner rauen Stimme lag ein Hauch von Stolz; was seine Urenkelin anging, beharrte er darauf, dass er derjenige war, der sie am besten verstand. Sie hatten eine Art telepathische Verbindung, die alle anderen ausschloss: ihre Mutter, ihre Großmutter Nieves, ihren Onkel Germán, ihre Tante Esti und auch mich. Deba und Großvater verständigten sich mit Blicken und kleinen Gesten, und zu unserer Verzweiflung verstand er besser als jeder andere die Nuancen im Weinen meiner Tochter, ihre Gründe, die Gummistiefel nicht anzuziehen, obwohl es wirklich nötig war, oder die geheimen Botschaften des Gekrakels, mit dem sie jede Oberfläche beschmierte, die ihr unter die Finger kam.

Schließlich waren wir in dem überfüllten Raum, auch wenn wir uns mit Plätzen in der vorletzten Reihe begnügen mussten. Großvater setzte sich Deba auf die Knie und überließ seiner Urenkelin die alte Baskenmütze, die sie sich sofort aufsetzte. Dadurch trat die Ähnlichkeit der beiden noch deutlicher zutage und machte Deba zu einem kleinen Klon von ihm.

Während Großvater meine Tochter bei Laune hielt, konnte ich für einen Moment von meinem beruflichen Stress abschalten. Ich hob den Kopf: Der enge Raum mit den Natursteinwänden besaß eine robuste Holzbalkendecke. Hinter einem langen Tisch, an dem drei ungeöffnete Wasserflaschen und drei leere Stühle standen, hing ein ausgeblichener Wandteppich mit einer Darstellung des Trojanischen Pferdes.

Ich schaute auf mein Handy. Die Veranstaltung war bereits fast eine Dreiviertelstunde verspätet. Der Herr zu meiner Rechten, der ein Exemplar des Buchs auf den Knien hielt, rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Aber es erschien niemand. Alba sah mich ein paarmal an, als wollte sie sagen: »Wenn es noch länger dauert, müssen wir mit Deba nach Hause gehen.«

Ich nickte und nutzte die Gelegenheit, um ihre Hand zu streicheln und ihr mit meinen Blicken eine leidenschaftliche Nacht zu versprechen.

Wie gut es sich anfühlte, sich nicht verstecken zu müssen, wie schön es war, eine kleine Familie zu haben. Seit zwei Jahren – seit Debas Geburt – war mein Leben eine glückliche Aneinanderreihung familiärer Routinen.

Und das gefiel mir: helle Tage mit meinen beiden Mädchen zu verbringen.

Ein dicker, schwitzender Mann ging an mir vorbei. Ich erkannte ihn: Es war der Verlagsleiter von Malatrama.

Vor einiger Zeit hatten wir bei einem Fall miteinander zu tun gehabt. In seinem Verlag war das Werk des ersten Opfers Annabel Lee erschienen, Comiczeichnerin und außerdem die frühreife erste Freundin aller Jungs meiner Clique. Ich freute mich, ihn wiederzusehen. Ihm folgte ein Typ mit dichtem Bart, vielleicht unser öffentlichkeitsscheuer Autor. Im Saal entstand ein erwartungsvolles Raunen, das die fast einstündige Verspätung zu entschuldigen schien.

»Endlich«, murmelte Esti neben mir. »Noch fünf Minuten, und wir hätten die mobile Einsatztruppe rufen müssen.«

»Reg dich nicht auf. Wir hatten in den letzten zwei Wochen genug Stress mit den verschwundenen Mädchen«, beruhigte ich sie. Ihre roten Locken fielen mir in die Augen, als sie sich zu mir beugte. »Sie werden zu Mama und Papa nach Hause zurückkehren, ich hab’s dir tausendmal gesagt«, flüsterte sie.

»Möge der Himmel dich erhören, damit wir endlich wieder schlafen können«, antwortete ich und unterdrückte ein Gähnen.

Zum Glück war meine Sprachfähigkeit nach meiner Broca-Aphasie vor drei Jahren nahezu wiederhergestellt. Drei Jahre intensiver Sprechtherapie hatten mich in die Welt der redegewandten Ermittler zurückgeführt, und abgesehen von gelegentlichen Blockaden aufgrund von Müdigkeit, Stress oder Schlafmangel konnte ich flüssig reden.

»Eins, zwei, eins, zwei«, krächzte die Stimme des Verlegers. »Hört man mich?«

Die Anwesenden nickten einhellig.

»Ich möchte mich zunächst für die Verspätung entschuldigen, mit der die Veranstaltung beginnt. Außerdem muss ich Ihnen leider mitteilen, dass der Autor heute Abend nicht anwesend sein kann«, sagte er, nachdem er sich mit zitternder Hand über den struppigen Dichterbart gestrichen hatte.

Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Einige Gäste beschwerten sich lautstark, andere begannen, verstimmt den Raum zu verlassen. Der Verleger betrachtete betrübt die Rücken der ersten flüchtenden Leser.

»Ich verstehe Ihre Enttäuschung, glauben Sie mir. Aber damit der Abend für alle, die auf den Autor gewartet haben, nicht vergebens war, möchte ich Ihnen Andrés Madariaga vorstellen. Er ist Historiker und einer der Archäologen aus dem Team der Fundación de la Catedral Santa María, die vor einigen Jahren nur wenige Meter von dort, wo wir jetzt sitzen, Grabungen am Hang der Villa Suso und unter der Alten Kathedrale vorgenommen hat. Er wollte unseren hochverehrten Autor bei seiner Präsentation unterstützen und den Anwesenden die verblüffenden Parallelen zwischen der Altstadt, wie wir sie heute kennen, und dem mittelalterlichen Vitoria aus dem Roman erklären.«

»So ist es.« Der Archäologe räusperte sich. »Die Geschichte ist verblüffend detailgetreu erzählt, als wäre der Autor tatsächlich vor fast tausend Jahren durch diese Gassen gestreift. Genau hier, neben dem alten Eingangsportal des Palacio, an der Treppe, die wir heute unter dem Namen San Bartolomé kennen, befand sich im Mittelalter das Portal del Sur, eines der Tore zum befestigten Stadtkern, das …«

»Er weiß nicht, wer er ist«, wisperte Alba mir ins Ohr, das nur durch die zarte Berührung errötete.

»Was?«, flüsterte ich zurück.

»Der Verleger weiß auch nicht, wer der Autor ist. Er hat nicht einmal seinen Namen erwähnt und ihn auch nicht bei seinem Pseudonym, Diego Veilaz, genannt. Er hat keine Ahnung, wer er ist.«

»Oder er hebt sich das Geheimnis für die nächste Veranstaltung auf und wollte das Rätsel heute gar nicht enthüllen.«

Sie sah mich an wie einen kleinen Schuljungen. Sie wirkte nicht sehr überzeugt.

»Ich würde schwören, dass er genauso ahnungslos ist wie wir.«

»Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass wir uns hier direkt an der alten Stadtmauer befinden. Sehen Sie diese Wand?« Der Archäologe deutete auf die Natursteinmauer zu seiner Rechten. »Durch die Radiokarbonmethode wissen wir, dass sie bereits vor Ende des 11. Jahrhunderts errichtet wurde, hundert Jahre früher als ursprünglich angenommen. Wir befinden uns sozusagen am selben Ort, an dem der Roman spielt. Tatsächlich stirbt ganz hier in der Nähe, gleich neben der Mauer, eine der Figuren aus dem Buch. Viele werden sich fragen, was die Spanische Fliege ist. Im Roman ist es ein braunes Pulver, das unserer unglücklichen Romanfigur als Aphrodisiakum verabreicht wird. Das stimmt so. Ich meine, das ist machbar«, korrigierte er sich.

Der Archäologe blickte hoch und sah in aufmerksame Gesichter.

»Die Spanische Fliege war das Viagra des Mittelalters«, fuhr er zufrieden fort. »Ein Pulver aus dem zermahlenen Panzer eines kleinen, grün schillernden Käfers, der in Afrika weitverbreitet ist. Die Spanische Fliege war seinerzeit das einzige Aphrodisiakum, das nachweislich die Blutgefäße erweiterte und die männliche Erektion förderte. Doch dann geriet es aus der Mode, denn wie sagte Paracelsus: Die Dosis macht das Gift. Zwei Gramm Spanische Fliege würden selbst den Gesündesten hier im Raum töten. Deshalb geriet sie im 17. Jahrhundert aus der Mode, nachdem ›Richelieus Bonbons‹, wie man sie auch nannte, in Frankreich bei den Orgien jener Epoche den halben Hofstaat dahingerafft hatten.«

Ich sah mich um. Die Leute, die zu dem improvisierten Vortrag des Archäologen geblieben waren, lauschten aufmerksam seinen Anekdoten aus dem Mittelalter. Deba schlief unter Großvaters Baskenmütze, sicher geborgen in den Pranken des uralten Riesen. Nieves hörte gespannt zu, Alba streichelte meinen Oberschenkel, und Esti betrachtete abwesend die Deckenbalken. Kurz gesagt, alles war in Ordnung.

Vierzig Minuten später ergriff der Verleger wieder das Wort, nachdem er eine verbogene Lesebrille auf die Spitze seiner gewaltigen Nase geschoben hatte.

»Ich möchte diese Veranstaltung nicht beschließen, ohne die ersten Abschnitte aus Die Herren der Zeit zu lesen.

Er räusperte sich und begann.

Mein Name ist Diago Vela, man nennt mich auch Conde Don Diago Vela, sei’s drum. Diese Chronik der Ereignisse beginnt mit jenem Tag, als ich nach zweijähriger Abwesenheit in meine alte Ortschaft Gasteiz zurückkehrte, nach Gaztel Haitz, Burgfels, wie die Heiden sie nannten.

Ich kehrte über Aquitanien zurück, und nachdem ich Niedernavarra durchquert hatte …

Plötzlich hörte ich, wie die Saaltür hinter mir aufgerissen wurde. Neugierig drehte ich mich um. Ein weißhaariger Mann kam an einer Krücke hereingehinkt und rief: »Ist ein Arzt im Saal? Im Palais ist niemand, wir brauchen einen Arzt!«

Esti, Alba und ich sprangen gleichzeitig auf und versuchten, den Mann zu beruhigen.

»Sind Sie in Ordnung?«, fragte Alba, wie immer resolut. »Wir rufen den Notarzt, aber Sie müssen uns erzählen, was mit Ihnen los ist.«

»Es geht nicht um mich. Es geht um den Mann, den ich unten auf der Toilette gefunden habe.«

»Was ist mit ihm?«, drängte ich, das Telefon bereits in der Hand.

»Er liegt auf dem Boden. Ich habe mich hingekniet, um nachzusehen, ob er tot ist. Es war schwierig mit der Krücke, aber ich könnte schwören, dass er sich nicht mehr rührt. Entweder ist er bewusstlos oder tot«, sagte der Mann. »Ich denke, dass ich ihn erkannt habe, ich glaube, es ist … Nun, ich bin nicht sicher, aber ich glaube, es ist …«

»Machen Sie sich darüber jetzt keine Sorgen, wir kümmern uns darum«, unterbrach ihn Estíbaliz und stellte wieder einmal ihre legendäre Ungeduld unter Beweis.

Der ganze Saal starrte uns schweigend an. Der Verleger hatte seine Lesung unterbrochen. Ich warf Großvater einen letzten Blick zu, und der sah mich mit einem Blick an, der sagte: »Ich kümmere mich um Deba und bringe sie nach Hause ins Bett.«

Dann rannte ich mit Esti zur Treppe, die hinunter zu den Toiletten führte. In der Eile traten wir beide auf das Glas, unter dem sich die Gebeine der Eingemauerten der Villa Suso befanden. Ich traf vor meiner Kollegin ein und fand einen großen, gut gekleideten Mann reglos auf dem Boden liegend, mit schmerzverzerrter Miene, die auch mir weh tat.

Die Toiletten waren makellos sauber. Wir waren umgeben von antiseptischem Weiß und einer Fotomontage an der Wand. Die Kabinentüren waren mit den vier Türmen Vitorias geschmückt.

Ich zog das Handy aus der Tasche, schaltete die Taschenlampenfunktion ein und hielt es einige Millimeter vor seine Augen. Nichts. Seine Pupillen verengten sich nicht.

»Verdammt …«, seufzte ich. Dann tastete ich nach der Halsschlagader, vielleicht hoffte ich auf ein Wunder. »Keine Pupillenreaktion, Esti. Kein Puls. Dieser Mann ist tot. Fass nichts an, und gib der Subcomisaria Bescheid, sie soll die Dienststelle informieren.«

Meine Kollegin nickte und wollte gerade Albas Nummer wählen, als ich sie aufhielt.

»Es riecht nach Stinkbombe«, stellte ich fest und schnupperte. »Der Mann hat Aftershave aufgelegt, aber der Geruch kann diesen widerlichen Gestank nicht übertünchen.«

»Das hier ist ein Männerklo, was erwartest du?«

»Das ist es nicht. Es riecht wie diese Stinkbomben, die im Spielwarenladen verkauft wurden, als wir klein waren, weißt du noch? Sie waren in Schachteln mit so einem Mandarin-Chinesen drauf.«

Wir wechselten einen Blick. Hier ging es nicht um Kindheitserinnerungen.

»Du willst also sagen, du glaubst, dass der Mann vergiftet wurde?«, fragte sie.

Mir war nicht klar, ob wir es mit einem natürlichen Tod oder einer Vergiftung zu tun hatten, aber da ich ein umsichtiger Mensch bin und nicht gerne bereue, etwas nicht getan zu haben, und auch aus Respekt vor dem verstorbenen Hünen, ging ich neben ihm auf die Knie und flüsterte mein Gebet:

»Hier endet deine Jagd, hier beginnt die meine.«

Ich betrachtete ihn eingehend und ging zur Praxis über.

»Ich glaube, der Zeuge hat recht. Es gibt nicht viele Fotos von ihm, aber er ist eine auffällige Erscheinung, und ich habe schon immer vermutet, dass … Ich glaube, wir haben es mit einem Fall von Marfan-Syndrom zu tun. Einem Spinnenmenschen.«

»Drück dich verständlich aus, Kraken.«

»Dieser Mann hat oder hatte das Marfan-Syndrom. Verlängerte Gliedmaßen, vorstehende Augen. Schau dir die Finger an. Die Größe. Wenn er es wirklich sein sollte, ist hier die Hölle los. Du bleibst bei dem Toten. Ich sage Alba Bescheid. Sie soll die Türen des Gebäudes abschließen lassen, damit niemand entkommen kann. Wir müssen die Aussagen von zweihundert Personen aufnehmen. Wenn dieser Mann gerade getötet wurde, ist der Mörder noch im Palais.«

2Das Portal del Norte

Diago Vela · Im Jahr des Herrn 1192, Winter

Mein Name ist Diago Vela, man nennt mich auch Conde Don Diago Vela, sei’s drum. Diese Chronik der Ereignisse beginnt mit jenem Tag, an dem ich nach zweijähriger Abwesenheit in meine alte Ortschaft Gasteiz zurückkehrte, nach Gaztel Haitz, Burgfels, wie die Heiden sie nannten.

Ich kehrte über Aquitanien zurück, und nachdem ich Niedernavarra durchquert hatte, mied ich Tudela, denn ich wollte dem alten König Sancho keine Rechenschaft ablegen müssen, noch nicht. Ich hatte seine Tochter Berengaria dem Ungeheuer übergeben, mit dem sie sich vermählen sollte: Richard, den man auch Löwenherz nannte, aber nicht aus guten Gründen, wie ich versichern kann, nachdem ich ihn kennengelernt hatte.

Mächtig zog es mich zu dem, was sich innerhalb der Mauern befand, die ich bereits vor mir sah. Ein Umhang aus Wildkatzenfellen verhinderte, dass ich in jener unwirtlichen Nacht erfror. Es war nicht mehr lang, bis ich Onneca wiedersehen würde …

Mein entkräftetes Reittier beklagte sich über den steilen Anstieg zum Portal del Norte, das den Weg in die Villa de Suso versperrte. Schon querten wir die Brücken über die beiden Befestigungsgräben, allerdings in der leidigen Gewissheit, dass mir seit drei Monden ein Reiter folgte – umso mehr Grund, dem Pferd die Sporen zu geben und endlich hinter die sichere Stadtmauer zu gelangen. Es war bereits dunkel, und es wehte ein Wind, der in Kürze den ersten Schnee eines harten Winters herantragen würde. Man hatte sicher bereits zum Torschluss ins Horn geblasen, die Tore wurden bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen, somit würde man mit Sicherheit eine Erklärung von mir verlangen. Doch es drängte mich, baldmöglichst zurückzukehren …

An diesem Abend schien kein Mond, weshalb ich mit einer Fackel in der Hand ritt. Zu meiner Linken machte ich den alten Friedhof der Kirche Santa María außerhalb der Stadtmauern aus. Am Vormittag war offenbar Markt gewesen: Auf den Gräbern lagen noch Fischgräten und andere Abfälle. Verschiedenes nächtliches Raubzeug floh, sobald es mich bemerkte.

»Wer da um diese Stunde? Seht Ihr nicht, dass das Tor geschlossen ist? Wir wollen keine Herumtreiber innerhalb der Mauern«, schrie ein junger Bursche, der auf dem Wehrgang seine Runden drehte.

»Du nennst euren Senior Don Vela einen Herumtreiber?« Ich erhob den Kopf und die Stimme, damit er mich von hier unten hörte. »Bist du nicht Yñigo, der einzige Sohn von Nuño, dem Kürschner?«

»Unser Senior Don Vela ist tot.«

»Wer behauptet das?«

»Alle hier. Wer bestreitet das?«

»Der Verstorbene. Ist meine Schwester, Donna Lyra, da?«

»Sie übt sicher im Innenhof der Schmiede. Mein Vetter hält ihr die Fackel, ich glaube, sie hat sich geweigert, nach der Eheschließung zu bleiben. Ich gehe sie holen, aber ich schwöre Euch, falls das eine Falle für meine Seniora ist …«

Was für eine Eheschließung?, fragte ich mich.

»Schwöre nicht, Yñigo, sonst muss ich dir die Buße für Gotteslästerung abnehmen. Willst du mich denn noch reicher machen?«, fragte ich lachend.

»Hätte nicht Euer wohlgelittener Bruder Nagorno bekümmert Euren Tod verkündet, ich würde wohl sagen, dass Ihr mein Senior seid. Ihr seid hochgewachsen und kräftig wie er …«

Da hatte ich meine Erklärung: Nagorno. Immer Nagorno. Der allgegenwärtige Nagorno.

»Nun hol schon meine Schwester, ich bitte dich«, unterbrach ich ihn. »Mir friert noch das Gemächt ab.«

Er brauchte eine Weile, daher stieg ich ab und vertrat mir die kältestarren Glieder. Schneite es schon? Die Witterung in Vitoria war rau. Und so waren auch die hiesigen Frauen und Männer.

Nach wenigen Orten hatte ich mich so gesehnt wie nach diesem.

Und Onneca … schlief sie womöglich schon?

Dann sind es wenige Stunden länger, sagte ich mir. Geduld, Diago. Alles zu seiner Zeit. Nach der Pflicht kam endlich wieder das Leben an die Reihe.

Schließlich kehrte Yñigo zurück.

»Unsere Donna Lyra hat gesagt, ich soll Euch das Tor öffnen, sie glaubt, dass Ihr lebt, mein … mein Senior. Ihr sollt sie im Innenhof Eurer Schmiede aufsuchen.«

Endlich gehörten die Nächte unter freiem Himmel der Vergangenheit an. Die stillen Landgüter blieben hinter mir; ein letztes Mal blickte ich mich um.

»Yñigo«, sagte ich, »falls heute Nacht oder im Morgengrauen noch jemand Einlass begehrt, öffne das Tor nicht, sondern benachrichtige mich. Gib auch am Portal del Sur und am Portal de la Armería Bescheid.«

Er nickte und machte sich auf den Weg, diejenigen Einwohner zu benachrichtigen, die an den anderen Toren Wache hielten. Ich ließ mit meinem Ross den Friedhof hinter mir und bog dann in die Rúa de la Astería ab, wo das Haus meiner Familie stand.

Die Velas, unser Geschlecht, hatten bereits seit einem halben Jahrtausend im Norden der Anhöhe ihren Wohnsitz, schon bevor diese den Namen Gasteiz erhielt.

Unsere Eisenhütte hatte die Zeiten überdauert. Zwar war sie zweihundert Jahre zuvor bei jenem verfluchten Brand, den die Sarazenen bei einem Überfall gelegt hatten, ein Opfer der Flammen geworden, doch wir hatten sie wieder aufgebaut, die Mauern verstärkt, weniger Holz verwendet und weitergemacht.

Meine Familie machte immer weiter, so viel Zeit auch vergehen mochte. Wir hatten die ersten Mauern um diese Ansiedlung errichtet, hatten unserem Haus damit den Rücken gedeckt. Neunzig Menschen hatten fast ein Jahrzehnt lang daran gearbeitet. Der Ort war gewachsen, der Donnerstagsmarkt gegenüber unserer Eisenhütte lockte Händler, Bauern und Gesinde aus allen vier Himmelsrichtungen herbei. Dann war die Kirche Santa María gefolgt, ebenfalls direkt an der Mauer.

Nachts nach dem Torschluss kehrte Ruhe ein in unserer kleinen Stadt. Federleichte weiße Flocken fielen sanft vom schwarzen Himmel, Schnee, der noch nicht auf den Dächern liegen blieb. Auf der Suche nach meiner Schwester betrat ich den Innenhof unserer Schmiede.

Ich sah sie von ferne. Mehrere Fackeln an den Säulen erhellten den Innenhof der Eisenhütte mehr schlecht als recht. Lyra übte häufig, denn ihr lag daran, mit ihrem Schwert mit der gekrümmten Schneide die Nachteile ihres zierlichen Wuchses auszugleichen. Heute Abend hieb sie allerdings mit einer Franziska, einem Einhandbeil, nach Art der Nordländer auf eine Vogelscheuche ein. War es möglich, dass mein guter Gunnarr ihr das beigebracht hatte?

Zwei Jahre hatte ich sie nicht gesehen. Gerührt stieg ich ab und umarmte sie von hinten. »Liebe Schwester, wie habe ich mich nach dir gesehnt …« Weiter kam ich nicht. Mit dem, was dann geschah, hätte ich niemals gerechnet. Ich wurde attackiert von einer Salve Schnabel- und Krallenhieben, ausgeführt mit der Kraft eines Tieres, das aus dem Nichts gesegelt kam – oder besser gesagt vom Dach – und das mir mehrere Büschel meines Haars ausriss.

»Munio, halt ein, ich bitte dich, du bist noch mein Untergang!« Diese Stimme gehörte nicht meiner Schwester.

Die junge Frau, die ich umarmt hatte, war nicht Lyra, wenn sie ihr auch in Aussehen und Wuchs glich. Mehr konnte ich nicht erkennen, hatte ich doch genug damit zu tun, zu verhindern, dass dieser Höllenvogel mir ein Auge auskratzte.

Da pfiff sie laut, wie es einer Frau kaum anstand, und streckte den Arm aus. Der Vogel, eine große weiße Schleiereule, setzte sich darauf, nicht ohne mich ein letztes Mal warnend anzukrächzen.

»Es tut mir leid, mein Herr!«, flehte die junge Frau.

Falls sie ledig war, dann stammte sie nicht von hier, wo die unverheirateten Frauen zwei lange Strähnen neben den Ohren hatten. Auch die Haube der verheirateten Frauen trug sie nicht, was ein interessantes Rätsel darstellte. Offenes dunkelblondes Haar bis auf die Schultern war in dieser Gegend nicht üblich.

»Munio ist mit mir zusammen aufgewachsen. Er hält mich für sein Weib und ist sehr eifersüchtig, er lässt kein männliches Wesen in meine Nähe«, erklärte sie in entschuldigendem Ton.

»Wie heißt Ihr, Seniora?«

»Ich bin Alix, die Hüttenmeisterin.«

»Die Hüttenmeisterin? Als ich fortging, war Angevín de Salcedo der Hüttenmeister.«

»Mein verstorbener Vater, Herr. Auch meine älteren Brüder starben an den Skrofeln, und da kehrte ich aus dem Kloster Leyre zurück, wohin mein Vater mich einige Jahre zuvor geschickt hatte, obwohl ich die Schmiede liebe und in meinen Adern geschmolzenes Eisen fließt.«

»Demnach seid Ihr eine Art Kriegernonne«, versetzte ich lächelnd, als ich sah, wie sie das Beil gepackt hielt.

»Ich war Novizin, aber irgendjemand musste das Kloster ja gegen das Gesindel verteidigen, das sich als Jakobspilger ausgab.«

»Ich brachte sie hierher, lieber Vetter«, ertönte es plötzlich hinter mir. »Deine Schwester Lyra bat mich darum, nachdem Alix’ Brüder gestorben waren und niemand übrig war, der ihr mit der Eisenhütte half«, ertönte eine kräftige Stimme in der Dunkelheit.

»Gunnarr? Bist du es wirklich? Ich wähnte, du brächtest Jakobspilger zu den Häfen des Camino Inglés«, sagte ich und lief, ihn zu umarmen.

Lachend trat der Riese mit den weißen Brauen aus den Schatten und hob mich empor, als wäre ich ein Spatz, obwohl ich an allen Höfen, an denen ich gewesen war, die übrigen Männer um zwei Kopf überragt hatte. Gunnarr kam aus einem Zweig unserer Familie, der auf dänischem Boden beheimatet war, doch in Vitoria waren viele insgeheim der Überzeugung, er stamme von Heiden ab, von den Riesen, die unsere Berge in den ersten Zeitaltern bevölkert hatten.

»Ich wusste, dass du nicht tot bist. Wie hättest du sterben können, wo du uns doch alle überleben wirst?«, murmelte er mir gerührt ins Ohr.

»Wer sagt denn, dass ich tot bin?«, fragte ich zum zweiten Mal in dieser Nacht.

»Das musst du deinen Bruder fragen. Eigentlich bin ich zu Nagornos Hochzeit nach Vitoria gekommen. Die Ehe ist bereits geschlossen, Diago«, erzählte er in behutsamem Ton, und ich empfand seine Worte wie eine Beileidsbekundung. »Jetzt vollziehen sie die Ehe. Nagorno und der Brautvater haben darauf bestanden, Zeugen für die Entjungferung zu haben. Lyra wollte nicht dabei sein, und auch ich bin nicht hingegangen. Auch deshalb, weil ich heute Nacht nicht mit schmerzenden Eiern schlafen will. Entscheide selbst, sie sind vor einer Weile hineingegangen.«

In dem Moment trat meine Schwester mit einer Fackel und rußgeschwärztem Gesicht aus der Schmiede. Sie trug dieselbe Lederschürze der Hüttenmeisterin wie an dem Tag, an dem wir voneinander Abschied genommen hatten. Zahlreich waren die Nächte im Osten gewesen, an denen ich unsere schweigsamen Abende am Feuer vermisst hatte.

»Es stimmt, Bruder. Ich gehe da nicht hin«, erklärte Lyra ernst.

Mittlerweile fürchtete ich das Schlimmste, das, was ich niemals gedacht hätte, das Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte, als ich mein Ross gen Vitoria gelenkt hatte.

»Wo?«

»Ich glaube, du weißt es bereits: im Haus des Conde de Maestu. Schwöre mir bei Lur, dass ich nicht bereuen muss, es dir gesagt zu haben«, verlangte Gunnarr.

»Es werden keine Köpfe rollen, falls es das ist, was dir Sorgen bereitet.«

»Allerdings bereitet mir das Sorgen. Schwöre es mir!«

»Ich schwöre.«

»Bei Lur.«

Ich seufzte. »Bei Lur. Aber begleite mich nicht, am Ende verteidigst du immer Nagorno.«

»Ich werde dich nicht begleiten, Diago. Dein Wort ist für mich Gesetz, das weiß ich, aber zwinge mich niemals, zwischen Nagorno und dir zu wählen. Er hat mich auf dänischem Boden gerettet, und ich wurde im Osten an seiner Seite zum Mann. Alles, was ich jetzt bin, verdanke ich ihm, das weißt du.«

Zu einem streitlustigen Händler, dessen Wort nichts gilt, dazu hat mein Bruder dich gemacht, mein lieber Gunnarr, dachte ich bei mir, doch ich schwieg. Sinnlos, die alten Auseinandersetzungen wieder aufzuwärmen.

Ich machte kehrt und lenkte meine Schritte durch die Rúa de las Tenderías zum Haus des guten Conde Furtado de Maestu, des Mannes, der mein Schwiegervater hätte werden sollen.

»Alix, begleite ihn!«, hörte ich Lyra hinter mir anordnen. »Verhindere, dass mein Bruder Dummheiten macht. Ich stecke derweil Munio in seinen Käfig.«

Gleich darauf vernahm ich hinter mir leichte Schritte.

»Ich brauche keine Amme, Frau. Kehre an deine Arbeit zurück«, sagte ich und warf ihr einen verstohlenen Blick zu.

Sie hatte sich den Saum ihres langen Rocks über den Kopf geworfen, so dass ihr Haar bedeckt war.

»In Abwesenheit meiner Seniora Lyra diene ich Gunnarr, Senior. Doch mein Senior Diago ist der Herr der Stadt, von daher diene ich in Abwesenheit von Gunnarr Euch.« Sie zeigte mir das Beil, das in den Falten ihrer Kleidung verborgen war, und warf mir einen verschwörerischen Blick zu. »Falls es Euch in den Sinn kommt, Köpfe rollen zu lassen, werde ich an Eurer Seite sein und verhindern, dass man den Euren abschlägt.«

Der Wortwechsel überdrüssig und erschöpft von der langen Reise ließ ich zu, dass sie mir durch die dunkle gepflasterte Straße folgte.

Das Haus des Conde de Maestu war leicht zu finden: Aus seinen Fenstern fiel warmer Kerzenschein, während der Rest der Straße im Dunkeln lag. An der Haustür traf ich auf einen der Diener des Condes. Er musste sich am Türrahmen festhalten, so betrunken war er.

»Wer da?«, brachte er hervor.

»Euer Senior, der Conde Don Vela«, erwiderte ich, der vielen Fragen müde.

»Der Conde Don Vela geht im Augenblick angenehmeren Beschäftigungen nach, ein Stockwerk weiter oben«, gab er mit dieser albernen Nachdrücklichkeit zurück, die Gott den Betrunkenen verleiht.

Ich hob den Ellbogen und drückte mit dem Unterarm seinen Hals gegen die Tür, so fest, dass er mich ernst nahm.

»Ich bin Diago Vela, Remiro, und falls du mich nicht erkennst, dann bist du zu betrunken, um die Tür deines Herrn zu bewachen. Lass mich passieren, sonst erzähle ich ihm von deiner Neigung zum Rioja-Wein«, flüsterte ich ihm verärgert zu.

Der Mann versuchte, Luft zu holen, und erkannte mich endlich.

»Nun, sicher, Ihr seid es. Geht hinein, guter Senior. Man hat Euch sehr vermisst in der Stadt.«

»Wo?«, fragte ich bloß, denn ich hatte es satt, dass man mir ständig den Zugang verwehrte.

»Sie sind in der Schlafkammer.«

Meine Begleiterin folgte mir mit besorgter Miene. Ich stieg die alten Holzstufen, die unter meinem Gewicht ächzten, hinauf zur Schlafkammer, in der ich bereits gewesen war. Ein Dutzend Bürger verstellten mir den Blick auf das, was im verhüllten Bett vorging.

Ich setzte einige Male die Ellbogen ein, und die Leute machten mir Platz. Einige erkannten mich wieder und hielten mich wohl für ein Gespenst. Ich sah Angst in ihren erschrockenen Augen, der eine oder andere bekreuzigte sich. Mir war schon alles gleich. Ich wollte nur noch in Erfahrung bringen, was hinter dem Bettvorhang geschah.

Es war mein Bruder Nagorno, der sich da mit einer Frau vereinigte, ohne den Anstand zu wahren, obwohl er sich doch beobachtet wusste. Die Heilige Römische Kirche verdammte jede fleischliche Vereinigung, bei der nicht der Mann auf dem Weib lag, und sie verurteilte auch die Nacktheit im Bett. Doch er hatte sich seines Hemds entledigt, und ich sah seinen glänzenden braunen Rücken mit den vielen Kampfesnarben.

Links und rechts von ihm war je ein weißer Schenkel zu sehen. Sie hatte das Nachtgewand anbehalten, doch ihrer Miene und ihrem Stöhnen nach zu urteilen, genoss sie den Ansturm meines Bruders.

Zwei Jahre lang hatte ich dieses geliebte Gesicht nicht gesehen, dieses Haar, das so schwarz war wie meines, diese braunen Augen und die blassen Lippen. Onneca zeigte ihre Lust vor den verstörten Blicken der Zeugen, die verängstigte, Schmerzen leidende Bräute gewohnt waren.

Herrgott, Onneca! Wenn sie dich schon gezwungen haben, es vor Zeugen zu treiben, dann tätest du besser daran, die Jungfrau zu spielen, dachte ich.

Ich sorgte mich um sie. Sie vereinigte sich gerade mit meinem Bruder, und dennoch sorgte ich mich um sie.

Keiner der beiden Kämpfenden geizte mit Lustschreien, bis mein Bruder fertig war. Er löste sich von ihr und zeigte allen Anwesenden ohne jede Schamhaftigkeit seine sehnige Nacktheit. Ein Dutzend Köpfe beugten sich vor, neugierig auf das Ergebnis dieses Zweikampfes. Drei auserwählte Hebammen schoben das Tuch beiseite und begutachten das Bett. Und da war er, der Blutfleck, den ihr Vater von ihr erwartete.

Ich atmete auf. Vorübergehend war mir entfallen, wie einfallsreich Onneca war.

Als würde sie etwas so Wichtiges dem Zufall überlassen!

Wir wussten beide, wie man eine Jungfräulichkeit vortäuschte, die nicht mehr gegeben war. Üblicherweise führte man irgendwelche blutigen Hühnereingeweide in den Körper ein, damit auf dem Glied des Bräutigams Blut zurückblieb. Jahre zuvor hatten wir beim Planen unserer Ehe in meinem Bett darüber gelacht, denn wir hatten damit gerechnet, dass ihr Vater den Beweis ihrer Jungfräulichkeit von ihr erwarten würde.

Ich glaube, in diesem Moment erkannte sie mich noch nicht, zu sehr war sie damit beschäftigt, ihre Würde zu wahren und der kranken Neugier unserer Vasallen nicht zu viel zu offenbaren. Doch mein Bruder sah mich sehr wohl. Es dauerte nur eine Sekunde: Unsere Blicke kreuzten sich, er presste die Lippen aufeinander und lächelte in sich hinein, selbstgefällig, würde ich sagen.

Meine Hand fuhr zum Dolch, den mein Umhang verbarg. Nicht ich, sondern meine Wut führte mir die Hand. Eine andere, kleinere Hand hinderte mich daran, ihn zu ziehen.

»Der Conde de Maestu, mein Herr«, warnte sie mich.

Furtado de Maestu trat in diesem Moment in das Gemach ein. Er hielt sich noch immer aufrecht, wenngleich er mir an diesem Abend ein wenig kränklich erschien: Seine einst glänzend schwarze Mähne war nun grau durchzogen und sein Gesicht ein wenig abgezehrt. Nichtsdestotrotz hatte er die schöne Gewohnheit beibehalten, sich so zu kleiden, als verheiratete er täglich eine seiner Töchter. Sein Vermögen verdankte er dem Handel mit grobem Tuch, das in Kastilien jetzt so gefragt war. Dank Maestu war die Zunft der Tuchweber mittlerweile die größte in Nova Victoria, der neuen Stadt: Der Außenbezirk Sant Michel war vor zehn Jahren mit einer Mauer umgeben und dem alten Gasteiz einverleibt worden. Damals hatte uns König Sancho, der Weise, unsere Sonderrechte als Stadt verliehen. Auf dem Papier waren seither beide Bezirke eine einzige Stadt, die Villa de Vitoria, sehr begehrt, da sie dicht an der Grenze lag und den Schlüssel zum Reich darstellte. Doch die Mauern und die drei Tore trennten mehr als Straßen und Gassen.

»Aber wie ist das möglich, mein lieber Diago? Ihr seid am Leben!«, flüsterte er und sah sich vorsichtig um.

»Das war ich immer«, erwiderte ich gekränkt. »Ihr schuldet mir einige Erklärungen, lieber Freund. Wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen einer Ehe. Ihr solltet mein lieber Schwiegervater werden, und was bin ich jetzt? Der Bruder des Mannes Eurer Tochter, meiner Verlobten?«

Er bedeutete mir zu schweigen und führte mich in den zweiten Stock, wo wir ungestört waren und niemand mich sah. Ich bat Alix mit einem Blick, bei den übrigen Dorfbewohnern im Schlafgemach zu bleiben. Es gefiel ihr nicht, doch sie gehorchte.

»Ihr habt euch nicht verabschiedet, guter Senior«, warf er mir an den Kopf, als wir allein waren. »Ihr seid einfach verschwunden.«

»Ich hatte meine Gründe, und ich schulde niemandem Rechenschaft.«

»Das fehlte noch. Meine bekümmerte Tochter hat auf Euch gewartet, und ich hielt mich an mein Versprechen, sie für Euch zu bewahren, glaubt mir. Doch dann kam dieses Schreiben mit der Nachricht von Eurem Tod«, sagte er, nachdem er sich mit dem Ärmel die Reste des Festmahls von den Lippen gewischt hatte. Er durchsuchte eine mit Samt ausgeschlagene Truhe und reichte mir ein Schriftstück.

»Wer überbrachte Euch diesen Brief?«, fragte ich, nachdem ich ihn gelesen hatte.

»Ein Bote, nehme ich an.«

»Und warum habt Ihr ihm Glauben geschenkt?«

»Wie denn nicht? Er schildert in allen Einzelheiten den Untergang Eures Schiffes vor der Küste Siziliens.«

Der Schreiber dieses Briefes wusste, wovon nur wenige wussten: von meiner Reise über die Alpen nach Sizilien und dem Sturm, der uns von den anderen Schiffen getrennt hatte. Was mochte er noch wissen?

»Es gab eine Seereise und einen Sturm, das ist wahr. Und wahr ist auch, dass mein Schiff unter dem Ansturm der Wellen zu leiden hatte und unsere Reise vor Sizilien endete. Aber es sank nicht, und niemand starb. Nicht einmal ich, wie Ihr seht. Und aufgrund eines Briefs, den ein unbekannter Bote Euch bringt, übergebt Ihr meine Verlobte meinem Bruder?« In meiner Erregung erhob ich die Stimme.

»Pst! Wahrt den Anstand, Ihr seid in meinem Haus, und die Mehrheit der Geladenen hat Euch noch nicht gesehen. Wir werden sehen, wie wir diese missliche Lage handhaben. Aber um Eure Frage zu beantworten: Ich schenkte dem Brief Glauben, weil er das königliche Siegel trug. Allerdings habe ich den Umschlag mit dem Siegel nicht aufbewahrt. Das erschien mir nicht nötig. Aber hier seht Ihr das Tatzenkreuz seiner Unterschrift.«

Ich las den Brief zu Ende und musste mich räuspern.

»Dann ist Don Sancho, der Weise, König?«

»Er herrscht über uns, oder kennt Ihr noch einen König von Navarra?«

Das kann nicht sein. Er kann meine Zukunft nicht so grausam zunichtemachen nach allem, was ich für ihn getan habe!

»Geht schlafen, mein lieber Diago. Die Nacht ist schon fortgeschritten, und Ihr wirkt müde von der Reise. Ihr habt Blut im Haar, und hier könnt Ihr nicht bleiben, ohne Aufsehen zu erregen. Lasst Euren alten Freund die Eheschließung seiner Tochter feiern, wie es sich gehört. Morgen sehen wir dann, wie wir dieses Unrecht wiedergutmachen. Ich fürchte, Ihr habt drängendere Probleme als den Umstand, dass Euer Bruder Euch die Frau, die die Eure sein sollte, geraubt hat. Als der neue Conde Don Vela lenkt Nagorno auch mit fester Hand die kürzlich nach Nova Victoria gekommenen Adeligen. Nach Meinung der alteingesessenen Bürger begünstigt er sie allzu sehr. Und wenn mein Sohn, dieser Narr, weiter Kreuzfahrer spielt und ohne Nachkommen bleibt, sollen Onnecas Kinder die nächsten Condes de Maestu sein, so habe ich es heute im Ehevertrag festgesetzt. Diese Ehe wird den Besitz, welcher der Eure war, mit dem meinen vereinen, und besagte Kinder werden die Herren über all das, was sich innerhalb dieser Mauern befindet.«

3Die Dächer von San Miguel

Unai · September 2019

Rasch stieg ich die enge Treppe von den Toiletten hinauf zum Veranstaltungssaal, vor dem Alba mich erwartete.

»Wir müssen einen Einsatz auf die Beine stellen! Schnell!«, sagte ich, als ich bei ihr war. »Alle Ausgänge müssen abgeriegelt werden. Wir haben ein Todesopfer und vermuten, dass der Mann vergiftet wurde.«

Alba nahm ihr Handy und tätigte diverse Anrufe. Die Türen zum Saal blieben geschlossen, so dass die Besucher der Buchpräsentation isoliert waren, ohne zu wissen, was wenige Meter von ihnen entfernt geschehen war.

Mit einem Mal sah ich einen Schatten die Treppe hinaufhuschen. »Bleib hier«, flüsterte ich Alba zu. »Ich meine, ich hätte da jemanden gesehen, eine … eine Nonne?«

Ich lief an einem gewaltigen Fenster mit Blick auf die Rückseite der Kirche San Miguel vorüber und dann möglichst geräuschlos die Treppe hinauf in den dritten Stock.

»Halt! Stehen bleiben!«, schrie ich.

Es war tatsächlich eine Nonne in weißem Habit und mit schwarzer Haube, die meinen Ruf missachtete und auf einen Notausgang zueilte. Ich reagierte mit einigen Sekunden Verzögerung. Vielleicht hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie so flink war. Dann stürzte ich hinaus auf eine Terrasse ganz in der Nähe der Kirchendächer. Die Nonne sprang bereits von Dach zu Dach, und der Abstand zu ihr wurde immer größer.

»Halt!«, schrie ich noch einmal. Ich würde sie nicht einholen können, das war mir klar, also änderte ich meine Strategie und versuchte, ihr den Weg abzuschneiden.

Die Nonne erreichte das Ende des Kirchendachs. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu Boden zu springen, wo zwischen dem Palais und der Kirche zwei schmale Rampen verliefen. Dort konnte sie nicht weg. Die von Lavendelbeeten gesäumten Rampen endeten auf Höhe der restaurierten mittelalterlichen Holzmauer. Ich sprang bis zur tiefsten Stelle einer der Rampen, verbarg mich im Schatten und wartete auf die Frau.

Die Nonne sprang ebenfalls aus einer Höhe von einigen Metern herab und rollte sich ab. Jetzt gehörst du mir, Schwester, dachte ich. Ich rannte auf sie zu, doch sie stand auf und lief einen der Stege hinauf. Hastig folgte ich ihr, aber als ich um die Ecke bog … war sie verschwunden. Sie hatte sich in Luft aufgelöst.

Hier konnte sie sich nirgends verstecken. Die Lavendelsträucher waren niedrig. Die Rampe endete an der Stadtmauer.

»Halt!«, schrie ich erneut.

Vergeblich. Ebenso vergeblich wie meine Suche, bei der ich ein ums andere Mal die Rampen und die Beete ablief.

Ich rief Alba an. »Alba, benachrichtige den Hausmeister. Ich sitze bei den Stegen zwischen Palacio und San Miguel fest, unterhalb der restaurierten Stadtmauer.«

»Ich versuche hier einen Einsatz zu koordinieren. Wo bleibst du denn?«

»Befrag alle, die sich im Palacio aufhalten«, sagte ich, »frag, ob den Leuten jemand aufgefallen ist. Die Plaza del Matxete muss auch abgesperrt werden, und wir müssen mit allen, die auf dem Mittelaltermarkt arbeiten, reden.«

»Wonach suchen wir denn?«

»Nach einer Nonne. Aber fragt nicht direkt danach. Die Kollegen sollen sie nicht erwähnen, es sei denn, jemand erzählt von sich aus über sie. Ich will nicht, dass die Leute sich etwas ausdenken.«

4Das Portal del Sur

Diago Vela · Im Jahr des Herrn 1192, Winter

Ein Schrei zerriss meine durchwachte Nacht. Der Schrei einer Frau. Im Tagesanbruch waren bereits die Umrisse des Wehrgangs zu erkennen. Ich fand keinen Trost in meinem alten Bett. Es war leer und eisig, wie mit Raureif überzogen. Das Feuer im Kamin meines Schlafgemachs war erloschen, die morgendliche Kühle hielt mich wach. Wenigstens träumte ich nicht von Schiffbrüchen.

»Sie haben den Conde gefunden! Sie haben den Conde gefunden!«, ließen sich Rufe aus Richtung der Rúa de las Tenderías vernehmen.

Ich öffnete die Truhe, die einst mir gehört hatte, wählte Kleidung aus, die nicht allzu häufig getragen worden war, denn ich wollte nicht erneut für einen Herumtreiber gehalten werden. Dann wusch ich mich mit dem Wasser in der Waschschüssel und lief die Treppe hinab.

Die Frage nach dem Wo erübrigte sich. Ich musste einfach nur den bestürzten Rufen der Nachbarn folgen. Also zum Portal del Sur, dachte ich. Gleich darauf stand ich am Fuße der Mauer, neben dem Tor. Hinter der Mauer erhob sich der Turm der Kirche Sant Michel, gleichgültig gegen die Tragödie.

Einige Köpfe umringten den Toten. Ich drängte mich zwischen ihnen hindurch. Er war bereits ziemlich kalt, als ich bei ihm ankam. Der, der mein Schwiegervater hatte sein sollen und es nicht geworden ist.

Der Conde Furtado de Maestu. Als ich mich gestern Abend von ihm verabschiedet hatte, hatte er nicht gerade kerngesund gewirkt, sondern unruhig und ausgezehrt. Einer seiner Ärmel hatte nach frisch Erbrochenem gestunken. Er hatte sich damit über den Mund gewischt. Ich hatte es mir mit dem Festessen und dem reichlich geflossenen Wein erklärt.

Doch einen solchen Anblick hatte ich schon einmal gesehen.

Ich hatte das schon einmal gesehen, musste mich aber vergewissern. Nur wie, inmitten eines solchen Menschenauflaufs?

Ich trat näher heran. Der dunkle Stoff seiner Kleidung verbarg den Fleck gut.

Dennoch sah ich es: Dieser Mann hatte beim Wasserlassen geblutet.

Da sah ich sie. Alix de Salcedo, zum Glück ohne ihre angriffslustige Schleiereule. Das Haar trug sie diesmal unter einer sehr auffälligen Haube mit drei Spitzen verborgen, doch die Befriedigung meiner Neugier hob ich mir für später auf. Mit einem Blick bat ich sie zu mir.

»Er ist ein gerechter Mann gewesen. Ich dachte, er würde an Altersschwäche sterben«, bemerkte sie leise, ohne den Blick von der bereits steifen Leiche abzuwenden.

»Könntet ihr mir ein Kaninchen beschaffen?«, flüsterte ich.

»Tot oder lebendig?«

»Der Balg genügt mir.«

»Ich glaube nicht, dass sie mich im Augenblick aus der Stadt lassen, aber der Sohn des Metzgers hält welche auf seinem Hof. Kaufen oder stehlen?«

Ich ließ zwei Sueldos in ihre Hand gleiten. Sie hatte die Schwielen eines Menschen, der Waffen trägt und mit ihnen übt und der auch den Hammer schwingt.

»Wo bringe ich ihn hin?«

»Zum Haus des Conde. Wir treffen uns dort.«

Sie war fort, ehe ich mich wieder umgedreht hatte.

»Jeder geht zurück an seine Arbeit!«, befahl ich. »Und jemand soll einen Karren und ein Zugtier holen, wir müssen den guten Conde nach Hause schaffen.«

»Seid Ihr es, unser Senior, Don Diago Vela?«, fragte der Armbruster.

»So ist es, Paricio. Man hat Euch fälschlich von meinem Tod benachrichtigt, ich weiß. Doch ich bin zurückgekehrt. Und während ich in Ordnung bringe, was ich in der Stadt hinterließ, werden wir uns um diesen Notfall kümmern. Tut kund, dass ich wieder hier bin. Ich werde mich um Eure Angelegenheiten kümmern, wie ich es immer tat.«

»Das tut jetzt Euer Bruder, der Conde Nagorno. An wen sollen wir uns wenden?«

Ich täuschte Gelassenheit vor. Lächelte. »An mich, ohne jeden Zweifel. Er wird sich um alles kümmern, wenn ich wirklich tot bin.«

Alle lachten erleichtert.

Jemand lud sich den Conde de Maestu auf die Schulter, trug seine Leiche die alte Treppe hinauf bis ins Hauptgeschoss und legte sie in dasselbe Bett, in dem nur Stunden zuvor seine Tochter die Ehe mit meinem niederträchtigen Bruder vollzogen hatte.

»Ist die Hüttenmeisterin schon hier?«, fragte ich, während ich den Verstorbenen entkleidete. In diesem Augenblick erschien Alix de Salcedo mit einem weißen Kaninchen in der Hand.

»Hinaus alle miteinander«, befahl ich.

Zwei Nachbarn, die mich begleitet hatten, sowie Remiro, der alte Diener des Conde, gingen die Treppe hinab, die unter ihrem Gewicht knarrte und ächzte.

Alix gehorchte nicht, sondern warf mir einen Blick zu, den ich mir wie folgt übersetzte: Ich rühre mich nicht vom Fleck.

»Wie Ihr wünscht. Könnt Ihr rasieren?«

»Ich habe meinen Vater und meine beiden Brüder rasiert. Ich habe eine ruhige Hand.«

»Es genügt, wenn Ihr das Kaninchen rasiert.«

»Senior?«

»Entweder dies, oder ich rasiere das Kaninchen, und Ihr schlitzt den Toten auf. Wir werden uns beeilen müssen, damit uns niemand daran hindert.«

Alix zog einen Dolch und stellte keine weiteren Fragen. Sie trat ans Fenster, um mehr Licht zu haben, und ich schob Furtados Tunika nach oben, um mit der Aufgabe zu beginnen, ihm einen Teil seiner Eingeweide zu entnehmen.

Ich fasste sie mit einem Tuch an, um sie nicht zu berühren, und legte sie in die Waschschüssel.

»Bringt mir den Kaninchenbalg, Alix. Wir werden damit die Eingeweide abreiben.«

»Was sucht Ihr?«

Auf dem rasierten Teil des Kaninchenbalgs bildeten sich Blasen.

»Das, was gerade passiert ist. Ein Arzt aus Pamplona hat es mich vor Jahren gelehrt. Das ist die Wirkung des Ölkäfers, wenn man zu viel davon einnimmt.«

»Ist das dieses braune Pulver, das die Soldaten in Bordellen nehmen, wenn ihre Männlichkeit versagt?«

Ich lächelte.

»Ihr wisst eine Menge für eine Novizin. Eure Brüder, nicht wahr?«, fragte ich und überging das Rätsel der Haube mit den drei Spitzen.

»Meine Brüder, Senior. Kann ich es mir wenigstens vor Euch sparen, so zu tun, als würde ich rot? Es ist anstrengend, eine brave Christin zu sein.«

»Ihr braucht nicht so zu tun. Ich bin darüber hinaus, Anstoß zu nehmen. Hatte der alte Conde eine Geliebte?«

»Es heißt, seit er Witwer wurde, habe er am Grab der Condesa geweint und lieber an einem kalten Altar gebetet, als sich in einem warmen Bett zu vergnügen.«

»Also hatte er keinen Bedarf an diesem Pulver.«

»Ehrlich gesagt fällt mir kein Mann ein, dem fleischliche Gelüste ferner lagen als dem Conde.«

»In diesem Fall muss man nach jemandem suchen, der sich mit Giften auskennt …«, murmelte ich, nachdem ich die Eingeweide des Conde wieder in seine Bauchhöhle gestopft und ihm die Tunika mit dem Gürtel gerichtet hatte. »Könnt Ihr das Blut abwaschen, Euch des Kaninchens entledigen und über das, was Ihr hier gesehen habt, Stillschweigen bewahren?«

Alix befolgte meine Anweisungen so tüchtig wie eilig. Dabei wirkte sie nicht unterwürfig, im Gegenteil, auf mich machte sie sogar einen ein wenig unbändigen Eindruck. Sie erinnerte mich an meine Schwester Lyra, die unbeherrschbare Lyra.

 

Ich traf Nagorno in der kleinen Werkstatt an, die neben der Schmiede unserer Familie errichtet worden war. Nagorno hätte ein bedeutender Goldschmied werden können, wenn er nicht in eine Familie mit Sonderstellung hineingeboren worden wäre.

Er bearbeitete gerade mit einem feinen Hammer eine Brosche aus Gold mit Glasschmelz. Ein sich aufbäumender Adler kämpfte gegen eine Schlange, die sich ihm um den Hals gewunden hatte.

»Ist dieses Schmuckstück für dein Weib? Du weißt, dass Prahlsucht der Kirche neuerdings nicht gefällt«, sagte ich.

»Du brauchst nicht anzuklopfen, Bruder«, erwiderte er. »Für dich ist immer geöffnet. Papst Coelestin III. hat Händlern, die zu Geld gekommen sind, gerade Pelze, Edelsteine und Gürtel mit Schnallen verboten. Aber meine Frau stammt aus einem alten Geschlecht und wird meine Geschenke nicht verstecken. Ich freue mich, dass du lebst, lieber Diago.«

»Gestern, als du noch dachtest, ich sei tot, wirktest du erfreuter«, bemerkte ich und setzte mich auf die Werkbank, an der er arbeitete.

Seufzend hielt Nagorno inne. »Höre ich da Bitterkeit, Diago? Ich habe es für unsere Familie getan. Irgendjemand musste ja das Durcheinander richten, das du vor zwei Jahren hinterlassen hast.«

»Indem du die mir Versprochene heiratest?«

»Du bist gegangen, ohne irgendeine Erklärung abzugeben, nur ein ›Ich komme wieder‹, das im Lauf der Monate immer weniger glaubwürdig wurde. Wirst du mir sagen, warum du fortgingst?«

»Das kann ich nicht, Nagorno. Der weise König hatte mich unter feinsinnigen Drohungen mit einer Aufgabe betraut, und ich konnte mich nicht weigern. Die Reise erwies sich als viel schwieriger, denn zu erwarten gewesen war. Ich bin nicht einmal an den Hof von Tudela zurückgekehrt, aus Angst, er könnte mir Gott weiß welchen neuen gefährlichen Auftrag erteilen. In ein paar Jahren kann ich dir vielleicht anvertrauen, was geschehen ist und worin ich verwickelt war, doch nicht jetzt«, log ich, denn ich musste in Erfahrung bringen, wie viel er wusste.

»Na schön«, gab Nagorno zurück, der wusste, wann es sinnlos war, Druck auszuüben. »So sehr plagt es dich, dass ich Onneca geehelicht habe? Für mich hat es ein gewisses Opfer bedeutet. Du weißt, dass ich es nicht ertrage, verheiratet zu sein. Wie oft bin ich schon verwitwet?«

»Zu oft«, flüsterte ich.

»Wenn ich nur gewusst hätte, dass du lebst, wenn ich nur diese Gewissheit gehabt hätte, hätte ich nicht geheiratet. Aber Onneca hatte zwei Heiratsanträge nacheinander zurückgewiesen. Du weißt, dass sie nach dem Gesetz von Navarra verpflichtet war, den dritten anzunehmen.«

»Wer machte ihr diese beiden Anträge?«

»Der Senior von Ibida, Bermúdez de Gobeo, und Vidal, der Sohn des Senior von Funes.«

»Ein Greis und einer, der noch grün hinter den Ohren ist. Kein Wunder, dass der Conde sie zurückwies.«

»Das Onneca sie zurückwies«, berichtigte er mich. »Unterschätze sie nicht.«

»Das tue ich nie. Auch ihre Ländereien hätten dem Vater nicht viel gebracht. Niederer Adel …«

»Begreifst du jetzt, dass ich dir einen Gefallen getan habe, Bruder?«

»Du schienst es zu genießen.«

»Jede Strafe verdient eine Entschädigung. Ich kann es kaum erwarten festzustellen, wie unsere Dame ungestört und ohne Zeugen ist … aber du kannst es mir sicher sagen.«

»Das wird mich nie wieder etwas angehen, wie du selbst gesagt hast«, sagte ich lächelnd. Ich musste lernen, dieses Lächeln besser vorzutäuschen.

»Nein … nein, das ist es nicht. Du hast gesehen, dass mein Weib mir zugetan ist. Das nagt an dir. Ich kenne dich. Bisher hattest du nie Grund, an dir zu zweifeln, aber jetzt … Ich weiß die Feinheiten deines Ärgers zu unterscheiden, und da ist er, kaum wahrnehmbar: der Selbstzweifel – nach dem, was du gestern sahst.«

Ich ignorierte die versteckte Spitze. Nagorno tastete nur meine Schwachpunkte ab. Wie ein Schwert, das an der Schulter trifft, am Oberschenkel, am Rücken, in der Hoffnung, dass der Krieger sich krümmt, weil die Rüstung eine aufgeplatzte Narbe verbirgt.

In der gerade vergangenen schlaflosen Nacht hatte ich meine Wunde genäht.

Die Wunde namens Onneca blutete nicht mehr. Die Welt durfte nichts von ihr wissen, das würde mich schwächen. Und diesen Vorteil durfte ich unseren Feinden nicht gewähren.

Ja, es gab Feinde, und die Frage war: Wie nahe waren sie mir in diesem Augenblick?

»Du weißt, dass du ihr einen Erben schenken musst …« Jetzt stocherte ich meinerseits in einer wohlbekannten Wunde.

Seine Miene blieb unverändert, ein Anzeichen dafür, dass ich ihn tiefer getroffen hatte, als ich gedacht hatte.

»Das erwartet man selbstverständlich von mir.«

»Und wie gedenkst du, das zu tun, Bruder?«, hakte ich nach.

»Alles zu seiner Zeit, Bruder.«

»Nun gut. Ich werde nicht an deiner Fähigkeit zur Täuschung zweifeln, du wirst dir zu helfen wissen. Reden wir von etwas anderem. Was weißt du über das Schreiben, das mich zum verblichenen Conde Don Vela machte?«

»Der Bote war wie ein Trugbild, auf dem Wehrgang gab es widersprüchliche Aussagen. Als ich hinlief und nach ihm fragte, konnte sich niemand an sein Aussehen erinnern. Zwei der Wachmänner behaupteten, sie hätten ihn bei Einbruch der Dunkelheit nahe dem Portal del Sur gesehen. Ich ließ ihn verfolgen, aber als er den Mühlbach überquert hatte, verschwand er.«

Jetzt war meine Geduld erschöpft. »Du hättest ihn selbst verfolgen müssen! Du hättest seine Spur nicht verloren!«, schrie ich.

»Das Schreiben war für den Conde Maestu bestimmt. Du weißt, dass ich ein Auge für Fälschungen habe …«

»Was du nicht sagst.«

Er lächelte. Manche Sünden reizten ihn mehr als andere. Hochmut hatte ihn noch nie gestört.

»Er sagte, er habe das königliche Siegel einigermaßen gründlich betrachten können, Diago.«

»Man kann alles fälschen.«

»Man kann alles fälschen«, räumte er ein. »Ich selbst habe es dir gezeigt. Aber es war ein Brief von König Sancho VI., dem Weisen, höchstselbst. Und wenn man sein Siegel fälscht, tut man das auf die Gefahr hin, wegen Hochverrats an den Galgen zu kommen. Gib zu, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand das wagt. Was hätte ich machen sollen, Bruder, als dich zu beweinen, nach vorn zu blicken und mich um das zu kümmern, was unsere Familie erreicht hat?«

Seiner ganzen Falschheit überdrüssig, packte ich ihn am Hals. Ich wollte ein echtes Gespräch mit meinem Bruder, keine Abfolge von Unaufrichtigkeiten.

»Denk ja nicht, ich würde dir glauben, dass du mich für tot gehalten hast. Du und ich, wir haben gemeinsam genügend schwere Zeiten durchgemacht, um zu wissen, dass wir nicht so leicht zu Fall zu bringen sind«, sagte ich. »Ich muss in Erfahrung bringen, wer dieses königliche Schreiben geschickt hat.«

»Du glaubst wirklich, dass es nicht vom König war?«

»Ich sehe keinen Grund, warum er mir das hätte antun sollen.«

»Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich war es nicht.«

Nein, ich glaube dir nicht, Nagorno. Du bist der Herr der Lügen. Wie sollte ich dir glauben, wo ich dich seit unserer Kindheit kenne? Doch diesen Gedanken behielt ich für mich, denn hier gab es nichts zu gewinnen. Ich wechselte das Thema.

»Da ist noch etwas. Du hast unseren geliebten Gunnarr kommen lassen.«

»So ist es.«

»Wofür?«

»Die üblichen Geschäfte. Am Hof von Tudela herrscht Nachfrage nach dem Horn des Einhorns.«

Das Horn eines Einhorns, das vielen vertrauenswürdigen Quellen zufolge das beste Mittel für Männer war, deren Glied nicht hart werden wollte, war nicht zu finden. Gunnarr brachte von seinen Fahrten über die Nordmeere einen zweckdienlichen Ersatz mit, und niemand bemerkte den Unterschied.

»Der Stoßzahn des Narwals ist das einzige den Geschlechtstrieb anregende Mittel, nach dem man am Hof verlangt?«

»Es ist das teuerste und das einzige, was sich für mich lohnt.«

Meinen Verdacht hinsichtlich des Ölkäfers verschwieg ich ihm einstweilen. Dieses Tier war in Navarra nicht anzutreffen, sondern bewohnte wärmere Gegenden. Jemand musste es von weither mitgebracht haben. Aber Vitoria war eine Stadt der Händler. Hatten Nagorno oder gar Gunnarr etwas mit dieser Bestellung zu tun?

Die Totenglocke wurde geläutet.

»Vom Tod meines Schwiegervaters hast du sicher erfahren«, sagte er da.

»Unmöglich, in diesem Dorf etwas nicht zu erfahren. Wie nimmt Onneca es auf?«, fragte ich ihn.

Nagorno wich meinem Blick aus.

»Es geht ihr nicht gut, sie leidet«, murmelte er, bekümmert, hätte ich gesagt.

Befremdet verzog ich das Gesicht. Onneca war ihm wichtig?

»Die Bestattung des Conde beginnt zur Stunde des Angelusgebets«, fuhr er in eisigem Ton fort. »Ich habe einen Chor von Klageweibern bezahlt. Vermutlich wird das ganze Dorf zum Haus des Conde kommen, wie es bei uns Sitte ist … die Cabezada. Es wäre gut, wenn sie uns zusammen sehen.«

»Du hast Klageweiber verpflichtet?«

»Der Conde verdient sämtliche Ehrungen, die ich bezahlen kann. Ich vergesse nicht, dass er ein Mann von Ehre war. Onneca ist jetzt in seinem Schlafgemach und hält die Totenwache. Ich bestehe darauf: Es wäre gut, wenn sie uns zusammen sähen. Die Obrigen der Stadt werden alle kommen, ebenso der Richter, der Henker und der Geistliche unserer Kirche Santa María. Ich habe verfügt, dass er auf unserem Friedhof bestattet wird. Wir sind schon eine Familie, er wird umgeben von unserem Blut, von anderen Velas, ruhen.«

Ich nickte. Ausnahmsweise war ich mit Nagorno einer Meinung.

Als wir die kleine Werkstatt verließen, entging mir nicht, wie er die Brosche, die er Onneca schenken wollte, in eine verborgene Tasche seiner prächtigen roten Tunika steckte.

Zwischen Marktbuden und Schweinen, Wasserträgerinnen und Krämerinnen hindurch gingen wir Richtung Cantón de la Armería. Schon von weitem sahen wir den Auflauf der Leute, die gekommen waren, um der Familie des Conde ihr Mitgefühl auszusprechen. Alle waren da, die Einwohner von Nova Victoria und sogar die des Bezirks der Messerschmiede außerhalb der Stadtmauern.

Bei der alten Sitte der Cabezada standen die Angehörigen beim Toten, der in seinem Schlafgemach aufgebahrt war. Die Ärmsten bahrten ihre Toten auf dem Tisch auf, an dem sie sonst aßen und der üblicherweise lediglich aus einer Holzplatte bestand, die jeden Abend, wenn die Familie sich zum Nachtmahl zusammensetzte, auf- und wieder abgebaut wurde. Dann kamen nacheinander die Nachbarn herein und sprachen den Angehörigen ihr Mitgefühl aus, und diese antworteten mit einem Nicken – eben der Cabezada. Es war ein langer, langweiliger und lästiger Brauch, aber er war in der Gegend seit Jahrhunderten fest verankert und nicht auszurotten.

»Und die übrigen Kinder des Conde kommen nicht zur Bestattung?«, fragte ich Nagorno.

»Ich bezweifle es. Sein Erstgeborener, dieser Narr, ist in Edessa und tötet Ungläubige. Die beiden kleinen Töchter mussten das Gelübde der Finsternis ablegen.«

»Alle beide?«, fragte ich ein wenig befremdet.

Nagorno machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Er war in Gedanken wohl bereits bei dem Totenbrauch, dem er gleich vorstehen würde, und blieb in der Nähe der Haustür, um zu verfolgen, wer alles eintrat.