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»Cancel Culture« – Ende der Aufklärung? E-Book

Julian Nida-Rümelin

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Beschreibung

Die Gefährdungen der Demokratie nehmen zu: Die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in Schweden und Italien, die Erosion des Rechtsstaats in Ungarn und Polen, die Konflikte mit autokratischen Regimen belegen dies ebenso wie der Verlust demokratischer Zivilkultur; Cancel Culture ist Teil einer zunehmend demokratiegefährdenden Praxis. Umso wichtiger ist es, Humanismus und Aufklärung gegen Intoleranz, Ignoranz, Hetze und Diskursverweigerung zu verteidigen und die politische Urteilskraft zu stärken. Dieses Buch leistet dazu einen pointierten Beitrag aus philosophischer Sicht.

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Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

Vorwort

Cancel Culture in unterschiedlichen Theorien

Zum Begriff »Cancel Culture«

Platon: Der Ursprung aller Cancel Culture?

Aristoteles: Zivilreligion

Klerikale Autorität

John Locke: Oder die Idee des Menschenrechts auf Freiheit

Das kantische Paradigma

Das rawlssche Paradigma

Erkenntnistheoretische Aspekte der Cancel Culture

Der Fall Galileo Galilei

Epistemische Rationalität

Der Irrtum des Descartes

Das Ende der Gewissheit

Die Lebenswelt als Refugium

Demokratietheoretische Aspekte der Cancel Culture

Was ist Demokratie?

Der arco costituzionale

Strategische Kommunikation in der Demokratie

Das Ende der Aufklärung?

Cui bono?

Deplatforming

Plädoyer für Toleranz

Politische Urteilskraft als Alternative zu Cancel Culture

Deliberative Demokratie

Die ökonomistische Kritik politischer Urteilskraft

Die multikulturelle Kritik politischer Urteilskraft

Schluss: Ein Plädoyer für politische Urteilskraft

Cancel Culture: Eine kleine Kasuistik

Danksagung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Οὐ γὰρ εὐσχημοσύνης τε καὶ ἀσχημοσύνης ῥημάτων ἓνεκα τὰ νῦν σκοπούμεθα πρὸς τὸν τῶν πολλῶν λόγον, ἀλλ ̓ ὀρθότητός τε καὶ ἁρματίας πέρι νόμων, ἥτις ποτ ̓ ἐστὶν φύσει.«

»Denn nicht die Angemessenheit oder Unangemessenheit der Ausdrücke nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche hat unsere gegenwärtige Untersuchung zum Ziel, sondern die [objektive] Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der Gesetze.«

Platon, Nomoi, 627 d

Vorwort

Das Wort »Cancel Culture« ist ein Reizwort, an dem sich die Geister scheiden: Die einen praktizieren Cancel Culture, nennen das zum Beispiel »Deplatforming« und weisen entrüstet zurück, dass es sich dabei um eine Form der Zensur handelt. Schließlich könnten nur Staaten Zensur ausüben. Die anderen – meist politisch eher konservativ oder auch rechtslibertär – sehen in der Cancel Culture eine große Gefahr für die Demokratie und verteidigen das freie Wort gegen die Sprachpolizei des linksliberalen Mainstreams. Die Auseinandersetzung bezieht dann auch das Thema genderkorrekte Sprache mit ein, weil sich viele durch die Moralisierung des Sprachgebrauchs gegängelt fühlen oder, wie Elke Heidenreich und viele andere Schriftsteller, eine durch öffentlichen Druck erzwungene Verhunzung der Sprache beklagen.

Dieses Buch wird sich allenfalls am Rande mit diesen Querelen und Quisquilien befassen. Vielmehr nimmt es das Phänomen Cancel Culture zum Ausgangspunkt einer tiefer gehenden Analyse. Tatsächlich ist die Praxis, unliebsame Meinungen zum Schweigen zu bringen, uralt; sie lässt sich schon in der Antike verfolgen, und sie prägt in ganz unterschiedlichen Formen das politische und gesellschaftliche Leben in den meisten Kulturen zu fast allen Zeiten.[1] Wenn man sich gegen diese Praxis wendet, und die gibt es eben nicht nur in der Form des Deplatforming, sondern ebenso in populistischer Hetze und Verfolgung Andersdenkender, verteidigt man die Demokratie als ein Projekt der Aufklärung. Aber was genau ist mit diesem Projekt gemeint? Welche Rolle spielen dabei Pluralität und politische Urteilskraft? Und was ist politische Urteilskraft? Welche erkenntnistheoretischen Probleme wirft die Analyse auf, und wie sind diese zu lösen?

Dieser Essay ist also nicht ein weiterer Beitrag zu einem vordergründigen politischen Schlagabtausch, der uns nun schon seit Jahren begleitet, in den USA seit Jahrzehnten, und wohl leider weiter begleiten wird. Es handelt sich um den Versuch einer Klärung der Begriffe und der Argumente. Eine Klärung, die weit über das Ausgangsphänomen der Cancel Culture hinausreicht, die aber notwendig ist, um den aktuellen Gefährdungen der liberalen und sozialen Demokratie und ihren zivilkulturellen Grundlagen entgegenzutreten.

Das Buch ist in Sorge um aktuelle kulturelle Entwicklungen geschrieben, aber doch vom Optimismus eines eingefleischten Humanisten getragen. Die aktuell größte Gefahr für die Demokratie als Staats- und Lebensform geht nicht von linker Cancel Culture aus, sondern – zumindest in den meisten Staaten Europas – von rechtspopulistischen Kräften. Diese werden allerdings durch kulturelle und politische Fehlentwicklungen gestärkt, zu denen die sich ausbreitende Cancel Culture gehört. Zu den internen Herausforderungen der Demokratie gesellen sich zunehmend die externen, die durch den Konflikt alter und neuer Weltmächte und die Verhärtung und Ausweitung autokratischer, diktatorischer und teilweise totalitärer Regime zunehmen. Es mag sogar sein, dass die externen Herausforderungen dazu beitragen, die internen zu bewältigen.[2]

Die Demokratie als Staats- und Lebensform ist zahlreichen Bedrohungen ausgesetzt: der Verlust ökonomischer Leistungskraft und technologischer Innovationen, eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Überforderung durch die Klimakrise, die unzureichende Verfügbarkeit von Ressourcen, wachsende Ungleichheit mit der Folge einer Refeudalisierung etc. Die Erosion der Zivilkultur und des öffentlichen Vernunftgebrauchs ist nur eine dieser Gefährdungen. Wenn sie nicht gestoppt wird, bliebe von der Demokratie im günstigsten Fall nur die äußere Form in Gestalt von Wahlen, Parlamenten und Regierungen, aber ihre Substanz wäre verloren.

Die Gefährdungen der Demokratie haben seit dem Sommer 2021, in dem dieses Buch begonnen wurde, zugenommen: im Inneren der Europäischen Union durch Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in Schweden und Italien und die weitere demokratische Erosion in Ländern wie Ungarn und Polen. Hinzu kommt die äußere Bedrohung durch internationale Konflikte mit autokratischen und diktatorischen Regimen. In solchen Zeiten ist es besonders wichtig, die Substanz demokratischer Praxis und ihrer kulturellen Grundlagen zu bewahren und, wo sie beeinträchtigt ist, wiederherzustellen. Die Verteidigung von Humanismus und Aufklärung gegen Intoleranz, Ignoranz, Hetze und Diskursverweigerung ist erforderlich, um die Demokratie zu bewahren und zu stärken. Dieses Buch versteht sich als Beitrag dazu.

Cancel Culture in unterschiedlichen Theorien

Zum Begriff »Cancel Culture«

Cancel Culture ist ein uraltes Phänomen, das sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit zieht: Praktiken, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, deren Auffassungen von den eigenen in störender Weise abweichen. Manchmal sind diese Praktiken todbringend, wie in den Ketzerprozessen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Neben der Androhung oder Vollstreckung des physischen Todes gibt es die Praxis des sozialen Todes, des nachhaltigen Ausschlusses aus der Gemeinschaft.

Im Römischen Imperium war die Verbannung neben der Ermordung ein bei Kaisern und anderen Potentaten beliebtes Instrument der Cancel Culture. Der soziale Tod wurde nicht nur von oben dekretiert, sondern auch von unten praktiziert. Vom Scherbengericht in den griechischen Stadtstaaten, das Alkibiades, den Feldherren und lange Zeit Liebling der Athener, mitten im Krieg gegen Syrakus zum Abbruch seiner militärischen Mission und zur Rückkehr nach Athen zwang, um sich dort vor einem Tribunal zu verantworten,[3] bis hin zu der alltäglichen Praxis des Verächtlichmachens, der Diffamierung, der Denunziation, der üblen Nachrede, der Diskreditierung in den unterschiedlichsten Varianten – meist ohne dass den betroffenen Personen eine faire Chance eingeräumt wird, sich zu verteidigen, sich zu rehabilitieren, den Weg zurück in die soziale Gemeinschaft zu finden. Cancel Culture ist darauf gerichtet, unliebsame Meinungen verstummen zu lassen.

Das Gegenmodell zu den Praktiken der Cancel Culture ist nicht die große Harmonie, die concordia klerikaler oder auch konfuzianischer Prägung, auch nicht die platonische sophrosýne, die Tugend der Besonnenheit, sondern die aufklärerisch gestimmte Kritik. Menschen sind zu theoretischer Vernunft befähigt, sie suchen nach Erkenntnis und wollen Erklärungen für Ereignisse. Zudem sind Menschen in der Lage, so zu handeln, dass sich ihre eigene Praxis in eine vernünftige Struktur der Praxis aller einbetten lässt. Sie sind befähigt zu praktischer Vernunft. Aufklärung in allen ihren Varianten beruht auf diesen beiden miteinander verkoppelten menschlichen Fähigkeiten und ist darauf gerichtet, diese zu aktivieren, zu fördern und die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen so zu gestalten, dass sie praktisch wirksam werden. Kritik ist ein durchgängiges Merkmal der Aufklärung. Sie beginnt oft genug mit der Kritik von Vorurteilen und von Praktiken, die einem erfüllten menschlichen Leben zuwiderlaufen. Die Kritik an Aberglauben, Pseudowissenschaft, Ideologie und menschenunwürdiger Praxis steht am Beginn der Aufklärung. Die Alternative zur Aufklärung ist Rückfall in Irrationalität und Inhumanität.

Aufklärung als Praxis der Vernunft gründet auf einer optimistischen Anthropologie, sie ist seit Jahrzehnten in der Defensive. Ihre Gegner sind zahlreich und ihre Verteidiger ängstlich. Nicht allen ist bewusst, dass mit ihrem Niedergang nicht lediglich die eine oder andere Überzeugung bedroht wäre, die wir bisher für selbstverständlich gehalten haben mögen, sondern darüber hinaus eine Lebensform, ohne die die Demokratie nicht existieren kann.

Die Stärke des aufklärerischen Projekts ist zugleich ihre Schwäche. Im Vertrauen auf die menschliche Vernunftfähigkeit nimmt sie ihre Kritiker als Gesprächspartner ernst und bekämpft sie nicht als ihre Feinde. Ihre Stärke beruht auf ihrer Universalität und Inklusivität, ihre Schwäche ebenso. Wenn sie sich mit den Mitteln ihrer Feinde, zu denen Cancel Culture ganz wesentlich gehört, verteidigen würde, gäbe sie sich selbst auf. Sie muss sich verteidigen, ohne ihre eigenen Grundlagen zu gefährden.

So versteht sich auch dieses Buch. Es ist ein Gesprächsangebot an diejenigen, die dem Projekt der Aufklärung die Treue halten, aber auch an diejenigen, die sich davon verabschieden. Es appelliert an Vernunft, auch gegenüber ihren Verächtern.

Unter Cancel Culture wird dabei eine kulturelle Praxis verstanden, die Menschen abweichender Meinungen zum Schweigen bringt, indem sie

die Äußerung dieser Meinungen unterbindet, behindert oder zumindest erschwert;

Personen, die diese Meinungen haben, zum Schweigen bringt, aus dem Diskurs ausgrenzt oder zumindest marginalisiert;

Personen, die diese Meinungen haben, tötet, verfolgt oder ihnen Nachteile auferlegt, die die Freiheit ihrer persönlichen Lebensgestaltung beeinträchtigen.

Es handelt sich um drei Eskalationsstufen der Cancel Culture, nach denen sich konkrete historische und aktuelle Fälle gliedern lassen.[4] Im Zentrum dieses Buches steht aber die systematische Analyse dieses Phänomens mit dem Ziel, die Alternative zu allen Praktiken der Cancel Culture herauszuarbeiten: eine Theorie der Urteilskraft in der Tradition von Aufklärung und Demokratie.

Platon: Der Ursprung aller Cancel Culture?

Platon eignet sich in seiner Ambivalenz gut für einen Einstieg in die Thematik. Der große Philosoph, dessen Schriften von hoher literarischer Qualität sind, plädiert zum Entsetzen vieler seiner Leser in der Politeia dafür, die Künstler, insbesondere die Tragödienschreiber, aus der Stadt zu vertreiben. Dabei wird oft unterschlagen, dass er an späterer Stelle in dieser Schrift erörtern lässt, unter welchen Bedingungen man sie wieder in die Stadt zurückkehren lassen könnte. Der Wissenschafts- und Erkenntnistheoretiker Karl Popper hat daraus das vernichtende Urteil abgeleitet, Platon sei ein radikaler Vertreter der geschlossenen Gesellschaft, dem Urbild der totalitären Diktatur.

Der platonische Sokrates führt für den Vorschlag, die Künstler aus der Stadt zu vertreiben, erkenntnistheoretische, politische und psychologische Argumente an. Das erkenntnistheoretische besagt, dass die Werke der Kunst den Zugang zur Realität verstellen, dass sie Abbildungen von Abbildungen seien. Für Platon gründet die Realität in den tiefer liegenden Strukturen (sogenannten eidé, was irreführend mit »Ideen« übersetzt wird), die Welt der Erscheinungen hingegen besteht ihm zufolge lediglich aus Schatten dieser Urbilder, von denen wiederum die Kunst mehr oder weniger gelungene Nachbildungen schafft, also statt zur Realität vorzudringen, sich weiter von ihr entfernt.

Das politische Argument besagt, dass die Werke der Kunst die Harmonie in der Stadt gefährden, dass sie aufrührerisch und spaltend wirken. Und das psychologische besagt, dass sie die innere Seelenruhe, die sich für den gerechten Menschen einstellt, der damit die Harmonie der Stadt im wohlgestalteten Verhältnis ihrer Teile widerspiegelt, gefährden. Die Strukturgleichheit von psyché und pólis, der Einzelseele und der politischen Gemeinschaft, beruht bei Platon auf einer strukturellen Theorie des Ganzen, dessen Teile zueinander in einem ausgewogenen, sich wechselseitig stabilisierenden Verhältnis stehen. Die Künste bringen diese Harmonie von psyché und pólis in Gefahr. Die Künstler stören die wohlgeordnete Stadt und die Seelenruhe des Einzelnen.

In der modernen Kunst, insbesondere in der Literatur- und Filmtheorie, ist manchmal von der »Melodramatisierung« die Rede, die von der Kunst auf die Lebenswelt übergreift.[5] Während Platon die nur in Bruchteilen erhaltene Tragödienliteratur, die das moralische Bewusstsein seiner Zeit prägte, kritisch beurteilte, wendete dies Aristoteles mit seiner kátharsis-Theorie, also der Auffassung, dass die Erschütterungen, die durch den Besuch einer Tragödienaufführung ausgelöst werden, zu einer inneren Reinigung führen, ins Positive; beide scheinen sich jedoch einig darin zu sein, dass die Kunst einen Beitrag zum gelingenden Leben zu leisten habe. Umgekehrt liegt der Schluss nahe, dass sie, sofern sie dies nicht tut, verstummen sollte. Auch in der Hochphase der europäischen Aufklärung hält diese eudämonistische Gesinnung noch an, und das Aufblühen der Wissenschaft oder die Gewährung von Freiheit wird im utilitaristischen Geist als Instrument der Optimierung des allgemeinen Wohlergehens gerechtfertigt.

Die Aufklärung kommt aber erst zu sich selbst, wenn sie die Vielfalt der Erscheinungsformen des menschlichen Geistes als solche und nicht als bloßes Instrument zu anderen Zwecken schätzen lernt. Im Zentrum des Projekts der Aufklärung aber steht der Respekt gegenüber Gründen. Gründe, die für Überzeugungen sprechen – nennen wir sie »theoretische Gründe« –, und Gründe, die für Handlungen sprechen – nennen wir sie »praktische Gründe«. Es ist allein das bessere Argument, das unsere Überzeugungen leiten sollte, und nicht andere Erwägungen. Epistemische Rationalität bildet den Kern der Aufklärung. Nicht klerikale Autorität oder fürstliche Macht bestimmt, was richtig oder falsch ist, sondern die Abwägung von Gründen pro und kontra. Wissenschaft ist ein Kind der Aufklärung; ohne Aufklärung, ohne die Hochachtung gegenüber dem besseren Argument gibt es keine Wissenschaft.

Dies macht die Ambivalenz der platonischen Philosophie aus: Sie möchte wohlbegründetes Wissen (epistéme) an die Stelle bloßen Meinens (dóxa), bloßer Vorurteile setzen. Sie setzt auf wissenschaftliche und philosophische Rationalität, um das Gemeinwesen zu ordnen und gerecht zu gestalten. Und zugleich fürchtet sie sich vor der Irritation durch Vielfalt und Differenz. Es sind nur die wenigen, die den philosophischen, wissenschaftlichen Weg zu Ende, bis zur Schau des Guten, gehen können, und von den anderen wird sophrosýne erwartet, die sie auf diese wenigen hören lässt. Die wenigen geben die Richtung vor, und die vielen folgen. Und die Wissenden kommen zu einheitlichen Überzeugungen. Vielfalt und Differenz, Meinungsstreit und politische Konflikte sind Ausdruck von Unordnung, die durch reines Wissen behoben werden kann. Aber hier irrt Platon, und ebenso irren viele derjenigen, die diesem Konzept bis heute, meist ohne sich dessen bewusst zu sein, folgen. Wahre Wissenschaft ist vielfältig, sie respektiert den Streit der Hypothesen und Theorien, die beständige Abwägung von Argumenten, die nie enden wollende Suche nach den richtigen Überzeugungen. Sie führt eben nicht zu der einheitsstiftenden Schau des Guten, sondern bleibt auf dem Weg. Sie bezieht alle ein, auch diejenigen, die sich irren. Sie ist irrtumsfreundlich und inklusiv. Wissenschaft ist mit Cancel Culture, mit der Austreibung der Künste, mit der Ausgrenzung unliebsamer Meinungen, mit Ideologisierung und Abschottung unvereinbar.

Im Theaitetos-Dialog geht es Platon um die Frage, was Wissen sei. Und nachdem alle alternativen Wissensdefinitionen gescheitert sind, insbesondere diejenigen, die Wissen als bloßes Instrument für Macht oder Reichtum verstehen, führt Sokrates seine Gesprächspartner zu dem Ergebnis, Wissen sei wohlbegründete, wahre Meinung. An einer Stelle wendet er sich gegen die Wortstreit-Künstler, die im Kampf der Meinungen obsiegen wollen, denen es aber nicht darum geht, herauszufinden, wie es sich tatsächlich verhält.

Dieser Theaitetos-Dialog kann durchaus als eines der ersten, beeindruckendsten Dokumente des Projekts der Aufklärung gelten. Wissen ist begründete, wahre Meinung, und das Abwägen von Gründen hat das Ziel, Irrtümer zu beheben und Wissen zu erreichen. Das Ringen um das bessere Argument ist entgegen einer verbreiteten zeitgenössischen Auffassung kein Machtkampf. Niemand wird besiegt, wenn sich herausstellt, dass ein Argument, das die betreffende Person vorgetragen hat, irrig ist. Niemand obsiegt in einem Machtkampf, wenn er mit seinem Argument überzeugen konnte. Der Austausch von Argumenten, das Abwägen von Gründen pro und kontra, hat seine eigene Logik, und diese lässt sich in den Kategorien der Macht ebenso wenig rekonstruieren wie in den Kategorien des Interesses. Dies ist das Ergebnis des Theaitetos-Dialogs. Wir verstehen es als Zentrum des Projekts der Aufklärung. Wer dieses Zentrum aufgibt, fällt zurück in dunkle, eben voraufklärerische Zeiten, in denen Argumente nicht für sich selbst stehen, sondern bloße Mittel sind, um anderes als Wissen zu erreichen, zum Beispiel Macht oder Reichtum.

Aristoteles: Zivilreligion

Von manchen Interpreten wird die aristotelische Methode der philosophischen Klärung als »topisch« bezeichnet. Gemeint ist, dass Aristoteles nicht, wie etwa Platon, unser Alltagswissen durch ein wissenschaftlich-philosophisches Grundlagenwissen ersetzen möchte, sondern vielmehr der lebensweltlichen Erfahrung vertraut. Daher beginnt seine Argumentation meist unter Bezugnahme auf das, was die Menschen für richtig halten – die tópoi, die Allgemeinplätze, auf die sich alle einigen können. Aber sie bleibt dabei nicht stehen, sondern geht dann über diese tópoi hinaus, um – möglichst nah an dem, was wir gemeinsam für richtig halten – eine tragfähige Theorie zu entwickeln. In einzelnen Fällen führt diese Theorie dann doch sehr weit ab von den üblichen Meinungen.

Ein Beispiel ist Aristoteles’ Theorie der Lebensformen. Er meint, dass es nur zwei Weisen gibt, ein gelingendes Leben zu leben: die praktische und die theoretische. In der praktischen Lebensweise entfalten sich die menschlichen Fähigkeiten im alltäglichen Handeln, in der Kooperation und im Engagement in der politischen Gemeinschaft, dem damaligen griechischen Stadtstaat. Der polítes ist der männliche, freie Bürger einer Stadt, der über sich keine Herrschaft duldet, aber sich mit anderen zusammentut, um die Bedingungen des städtischen Lebens möglichst günstig zu gestalten. Der polítes ist kein Politiker, sondern ein praktisch Tätiger, der – gegründet auf Lebenserfahrung, nicht primär auf Wissenschaft – dazu beiträgt, dass die Menschen ein gutes Leben realisieren können.

So weit ist die Theorie, jedenfalls damals unter den Zeitgenossen des Aristoteles, weithin zustimmungsfähig. Aber dann führt Aristoteles aus, dass es noch eine zweite, bessere Lebensform gibt, die er als die »theoretische« bezeichnet, die im Rückzug aus der Vielgeschäftigkeit des engagierten, zumal politischen Lebens besteht, für die die Betrachtung, das philosophische Urteil, im Mittelpunkt steht. Vermutlich hat Aristoteles selbst bemerkt, dass dies nicht gut zu seiner sonst so pragmatischen Sicht passt, und daher die Erläuterung hinzugefügt, dass es diese Lebensform sei, die eine Gemeinsamkeit mit den Göttern schafft, die er sich offenbar nicht primär als praktisch tätige, sondern als beobachtende, räsonierende Wesen vorstellte.

Es ist nicht anzunehmen, dass die harsche Zurückweisung der Lebensformen der Vielen und das doch recht exzentrische Lob des Rückzugs auf die bloße Betrachtung sich allgemeiner Zustimmung erfreute. Aber es ist damit ein Lied angestimmt, das mit unterschiedlicher Melodie immer wieder über die Jahrhunderte bis heute nachhallt. Cicero schwärmt von der idealen menschlichen Lebensform des otium, ausgerechnet er, der Anwalt, Rhetor, Politiker und in viele politische Händel Verstrickte – die mittelalterliche contemplatio, die den Christenmenschen Gott näherbringen sollte, die zeitgenössischen Akademien der Muße oder die zenbuddhistisch inspirierten Retreats.

Nichts scheint Aristoteles ferner gelegen zu haben als das Bestreben, widerstreitende Meinungen zum Verstummen zu bringen; vielmehr versuchte er, in einem großen Projekt der Integration der Disziplinen, Methoden und Erfahrungen möglichst viel kohärent zusammenzufügen. Dogmatismus war Aristoteles völlig fremd. Die bei Platon so charakteristische Herabsetzung Andersdenkender, die scharfe Polemik gegen Sophistik und Rhetorik, weicht in Aristoteles’ Schriften einer souveränen, menschenfreundlichen Toleranz. Und doch gibt es auch bei ihm eine irritierende Ambivalenz.

Auf der einen Seite stehen die gleichermaßen distanzierten Beschreibungen unterschiedlicher Verfassungen, die Äquidistanz gegenüber der Frage, ob Monarchie, Aristokratie oder Politie (Demokratie) die beste Staatsform ist. Die Herrschaft von einer Person (Monarchie oder Tyrannis), von mehreren Personen (Aristokratie oder Oligarchie) und von allen (Politie oder Ochlokratie) kann in guten und schlechten Varianten auftreten, und doch empfiehlt er verpflichtende religiöse und kulturelle Riten und Gebräuche, an denen alle teilzunehmen haben und diejenigen, die sich dem entziehen, mit Strafe rechnen müssten. Angesichts der religiösen Indifferenz, die die Schriften des Aristoteles durchzieht, ist dies eine erstaunliche Empfehlung. Sie ist als »Ziviltheologie« in die Geschichte der politischen Philosophie eingegangen. Die wohlwollende Interpretation lautet, dass damit ein Band der Gemeinsamkeit gestiftet werden soll, ohne das eine politische Gemeinschaft nicht gedeihen kann. Die kritische Interpretation lautet, dass Aristoteles, der als métoike, also Halbbürger aus Mazedonien, in der multikulturellen Metropole Athen den Großteil seines Lebens verbracht hatte, einer kulturellen Homogenitätsvorstellung anhing, die schon zu seiner Zeit überholt war.[6]

Aber auch die moderne Republik versteht sich in den Worten Rousseaus als sittliche Körperschaft,[7] zusammengehalten durch ein gemeinsames bürgerschaftliches Ethos; und vielleicht war es ja dies, auf das uns Aristoteles hinweisen möchte. Die säkulare Republik beruht nicht auf einer vorpolitischen kulturellen Homogenität, erst recht nicht auf einem gemeinsamen religiösen Glauben, sondern auf einem geteilten, eben republikanischen Ethos der Bürgerschaft, der gemeinsamen Hochschätzung ihrer Institutionen, Praktiken und Riten. Jean-Jacques Rousseaus Idee einer Republik als sittlicher Körperschaft hat durchaus Züge einer Ziviltheologie. Allerdings hat sich dann in der Entwicklung moderner Demokratien herausgestellt, dass diese republikanische Idee einer überwölbenden politischen Identität, die religiöse, regionale, kulturelle (partikulare) Identitäten integriert, in der politischen und sozialen Praxis in vielen Fällen auf Ausgrenzung, Marginalisierung und Unterdrückung abweichender Überzeugungen hinauslief. Schon die Französische Republik strebt entgegen ihrer republikanischen Programmatik nach sprachlicher und kultureller Homogenität. Sie veranlasst die einen, sich zu assimilieren, und die anderen, sich als unterdrückte oder allenfalls geduldete Minderheiten abzugrenzen. Die Atatürk-Republik degradiert ihre kurdische Minderheit zu »Bergtürken« und unterdrückt ihre Kultur und Sprache. Die kulturellen Differenzen werden geleugnet, und diejenigen, die diese artikulieren, werden zum Schweigen gebracht.

Klerikale Autorität

Religionsgemeinschaften sind geprägt durch religiöse Erfahrungen und Dogmen, also Glaubenssätze, die nicht zur Disposition stehen. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Grundelementen ist von Religionsgemeinschaft zu Religionsgemeinschaft sehr unterschiedlich gestaltet. In manchen spielen Dogmen die zentrale Rolle, in anderen kann von einem festen Bestandteil von Dogmen, die die Religionsgemeinschaft bestimmen, keine Rede sein. Auch die abrahamitischen Religionen, also Judentum, Christentum und Islam, unterscheiden sich diesbezüglich voneinander. Nicht-monotheistische Religionen verzichten oft ganz oder jedenfalls weitgehend auf Dogmengebäude. Wo immer aber religiöse Dogmen eine Rolle spielen, führt dies zur Unterscheidung zwischen denjenigen, die diese Dogmen nicht infrage stellen, und solchen, die sie anzweifeln oder nicht akzeptieren.

Der Umgang mit Dissidenz reicht von der Drohung mit dem Tode gegenüber denjenigen, die sich von ihrem (islamischen) Glauben abwenden, bis zu umfassender Toleranz, besonders in einigen buddhistischen Religionsgemeinschaften, die ihre neuen westlichen Anhänger sogar davor warnen, ihren ursprünglichen Glauben abzulegen, und den Kombinationen aus buddhistischen und konfuzianischen, christlichen oder shintoistischen Glaubensinhalten mit großer Toleranz begegnen. Diese Toleranz ist so groß, dass manche Theologen dem Buddhismus seinen Religionscharakter absprechen. In der Tat ist der Übergang insbesondere im Zenbuddhismus zu einer philosophisch grundierten Mystik fließend, wie etwa die sogenannte Kyōto-Schule zeigt. Die meisten muslimischen Gemeinschaften legten und legen dagegen auf die Unvereinbarkeit ihrer Dogmen und Lebensvorschriften großen Wert.

Christliche Religiosität scheint mit animistischen spirituellen Traditionen gut vereinbar zu sein, wie zahlreiche Synkretismen in Afrika, aber auch in Brasilien zeigen, während sich muslimische Religionsgemeinschaften als radikale Alternative verstehen und jede Verbindung mit animistischen Traditionen strikt ablehnen. Die Kulturkämpfe, insbesondere in der Sahelzone zwischen muslimisch und christlich geprägten Landesteilen, beziehen auch aus diesem Unterschied ihre Unversöhnlichkeit.

Ende der Leseprobe