Clemens Meyer über Christa Wolf - Clemens Meyer - E-Book

Clemens Meyer über Christa Wolf E-Book

Clemens Meyer

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Beschreibung

Eine fulminante Reise in ein versunkenes Land: Clemens Meyer betrachtet eine Büste Christa Wolfs, die vor ihm steht, und beginnt ein großes Gespräch mit der Verstorbenen über die Literatur der DDR, über die ungeheure Bedeutung, die das Lesen damals hatte, über die Visionen und Träume der Schriftsteller und wie sie Wirklichkeit werden sollten. Ist nicht schon der Titel seines ersten Romans »Als wir träumten« dem Werk Christa Wolfs entnommen? Wie viel in seinem Leben, seinem Schreiben verdankt Clemens Meyer der Literatur der DDR. Was für Größen gab es da, was für Leben, was für Bücher! Meyer erzählt in einem inneren Dialog mit Christa Wolf die Geschichte der Utopien in der Literatur. Und damit auch eine eigenwillige, subjektive, emphatische Geschichte der DDR-Literatur. Wie wurde er selbst zu dem, der er ist? Und wie wurde in den Jahren nach dem Mauerfall eine ganze Epoche der deutschen Literatur von Kritikern abgeräumt und dann von Publikum und Lesern beinahe vergessen? Eine Suche nach Antworten. Und ein eindringliches Bekenntnis zu einer großen Schriftstellerin.

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Clemens Meyer

Clemens Meyer über Christa Wolf

Bücher meines Lebensherausgegeben von Volker Weidermann

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Clemens Meyer

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Clemens Meyer

Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle/Saale, lebt in Leipzig. 2006 erschien sein fulminanter Debütroman »Als wir träumten«, es folgten u. a. »Die Nacht, die Lichter. Stories« (2008), der Roman »Im Stein« (2013) sowie 2017 die Erzählungen »Die stillen Trabanten«. Für sein Werk wurde Clemens Meyer vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Bremer Literaturpreis.

Volker Weidermann, geboren 1969 in Darmstadt, studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg und Berlin. Er war Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, ist seit 2015 Autor beim SPIEGEL und Gastgeber des »Literarischen Quartetts« im ZDF. Zuletzt erschien von ihm »Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft« und »Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen« über die Münchner Räterepublik.

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Über dieses Buch

Eine fulminante Reise in ein versunkenes Land: Clemens Meyer betrachtet eine Büste Christa Wolfs, die vor ihm steht, und beginnt ein großes Gespräch mit der Verstorbenen über die Literatur der DDR, über die ungeheure Bedeutung, die das Lesen damals hatte, über die Visionen und Träume der Schriftsteller und wie sie Wirklichkeit werden sollten.

 

Ist nicht schon der Titel seines ersten Romans »Als wir träumten« dem Werk Christa Wolfs entnommen? Wie viel in seinem Leben, seinem Schreiben verdankt Clemens Meyer der Literatur der DDR. Was für Größen gab es da, was für Leben, was für Bücher!

Meyer erzählt in einem inneren Dialog mit Christa Wolf die Geschichte der Utopien in der Literatur. Und damit auch eine eigenwillige, subjektive, emphatische Geschichte der DDR-Literatur. Wie wurde er selbst zu dem, der er ist? Und wie wurde in den Jahren nach dem Mauerfall eine ganze Epoche der deutschen Literatur von Kritikern abgeräumt und dann von Publikum und Lesern beinahe vergessen? Eine Suche nach Antworten. Und ein eindringliches Bekenntnis zu einer großen Schriftstellerin.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 O du Falada, da du hangest

2 Das Vergangene ist nicht tot

3 Enkel

Lebensdaten

Vorwort

Klar, wir können mit den Toten reden, jeden Tag. Die Frage ist, ob sie uns antworten. Ob wir sie hören können. Clemens Meyer spricht immer wieder mit der verstorbenen Christa Wolf, spricht mit ihrer Büste, die auf dem Fensterbrett seines Arbeitszimmers steht. Er spricht mit ihr und beschwört die Erinnerungen an ihre Bücher, ihre Vorlesungen, ihre Reden, bis sie antwortet und mit ihr viele andere Dichter der untergegangenen DDR. Die Büste lebt.

Clemens Meyer führt uns in seinem Text über Christa Wolf in ein Traumreich der Dichtung. Er führt uns in die Urgründe seines eigenen Werkes, in die Zeit, als er begann, die ersten Entwürfe für seinen fantastischen Ursprungs-Roman »Als wir träumten« zu schreiben, dieses Buch über die ungeheuren Möglichkeiten des Scheiterns, Kämpfens, Trinkens und Träumens in den Nachwendejahren von Leipzig. Und er beschreibt, wie Christa Wolfs Buch »Kindheitsmuster«, das er in seinen frühen Bauarbeiterjahren jeden Tag mit auf die Baustellen brachte, um darin zu lesen oder es einfach bei sich zu haben, wie die Lektüre dieses Textes in sein eigenes Leben und Schreiben einfloss, ganz von selbst. Wie er sich in die Figuren der Werke Wolfs verliebte und diese später in Figuren seiner eigenen Texte verwandelte.

Ja, Clemens Meyer betreibt in diesem Buch im Grunde gleich eine doppelte Beschwörung: Er beschwört einerseits in einer Soap-Opera des Ostens die Erinnerung an so viele große Werke, so viele große Autoren, die heute beinahe vergessen sind. Viele auch deswegen, weil ihr Werk in den Nachwendejahren von moralischen Scharfrichtern aus dem Westen abgeräumt wurde. Und er beschwört die Jungen von heute: Ihr müsst all das doch kennen, wenn ihr uns verstehen wollt! Ihr müsst all das doch kennen, wenn ihr das utopische Potenzial von Literatur erfassen wollt!

Es gibt diese zwei utopischen Momente in Meyers Roadmovie in die Vergangenheit des Ostens: das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Errichtung einer literarischen Gegenwelt. Und die Wendewochen um 1989, in denen Christa Wolf auf dem Alexanderplatz ihre berühmte Rede hielt.

Wenn Clemens Meyer an Christa Wolf erinnert, an ihre Welt, ihre Kraft, ihre Bücher, und an all die anderen fast vergessenen Autoren ihrer Zeit, dann erinnert er an die Macht der Literatur, das Gegenreich der Wirklichkeit. An die Zeit, als wir träumten »mit hellwacher Vernunft«. An eine literarische Zukunft, die fest auf dem Fundament dieser Traditionen ruht. Denn: Auf die Träume kommt es an, die ihre Kraft aus der Wirklichkeit und den Gesprächen mit einer Büste schöpfen.

 

Volker Weidermann

1 O du Falada, da du hangest

Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind? Christa Wolf schaut mich an. Skeptisch ihr Blick, dennoch scheinen ihre Lippen ein Lächeln anzudeuten, beinahe ein gütiges Lächeln, ein nachsichtiges? Nachsicht ob der Vorurteile, die immer noch über sie und ihr Werk kursieren? Oder ein gütiges und nachsichtiges Lächeln für jene, die sich an die von Brecht an die Nachgeborenen gedichteten Worte erinnern wollen: »Ihr aber (…) / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.«[1]

Vorsichtig streiche ich über die Bronze. Aus welchem Jahr ihres 2011 vergangenen Lebens stammt das Gesicht, das dem kürzlich erst entstandenen bronzenen Kopf als Vorbild diente? Ist sie siebzig, ist sie achtzig? Und wieder Brecht: »So verging meine Zeit / Die auf Erden mir gegeben war.«[2] (Für mich einer der elementarsten Sätze aus deutscher Dichtung, neben Goethes »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön!«[3] Um beides und dessen Variationen wird es im Folgenden gehen: das Vergehen, das Erinnern, das Schöne, auf das die Schatten fallen, die Kindheit, die vergeht, die Schuld, die nie vergeht. Wer hier Humor erwartet, sollte nicht weiterlesen, obwohl, auch die große Soap wird ihren Platz bekommen …)

Wie alt bist du, wende ich mich, noch in Gedanken, an den Kopf. Auf dem Umschlag des 1989 bei Aufbau erschienenen Bandes »Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch« erkenne ich beinahe dasselbe Gesicht, nur ohne das Lächeln, und vielleicht wirken die Augen dort, also auf dem Buch, etwas dunkler, etwas müder, 1989, da war sie sechzig, die Toten bleiben jung … Aber wie kann man Büste und Bild vergleichen, wenn doch die Augen der Büste mich aus leeren Höhlen und dennoch wissend anschauen, wenn diese Augen, denn so scheint es mir, durch die Wände meines Zimmers blicken, durch die Jahre blicken, wenn ihre Blicke durch die Bücher, durch die Mauern dringen, durch Gräber und Wälder und Menschen … Wenn ich einmal heimgeh, / dorthin, woher ich kam …[4] Nein, so weit sind wir noch nicht. Die Urnebel, die der zu Unrecht auf sozialistische und agitatorische Dichtung reduzierte Louis Fürnberg beschrieb (dessen Beerdigung in Christa Wolfs letztem großem Text »Stadt der Engel« thematisiert wird, aber dazu später mehr), wehen noch nicht um die Bronze, aus den Tiefen der Wälder[5], wehen noch nicht übers Papier der »Kindheitsmuster«, wehen noch nicht durch die Seiten, durch die Zeiten, zu uns … Die Toten bleiben jung. Und auch Anna Seghers, deren Romantitel wir hier zitieren, die große weißhaarige Sphinx der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, mit der Wolf so oft verglichen wird, muss noch warten. Zu groß sind die Bögen, die wir sofort, schwankend beschreiten, zu bedeutungsvoll …

Aber wie groß muss Christa Wolfs Aura in natura gewesen sein, wenn schon diese bronzene Büste den Raum vom Fensterbrett aus verändert. Sie strahlt eine Ruhe aus. Erdet förmlich mein Arbeitszimmer, das an einer Ausfallstraße im Leipziger Osten liegt. Hinter Christa Wolfs rotgolden glänzendem Schopf, auf der anderen Straßenseite, wächst ein Birkenwäldchen. Linden und sogar eine Kastanie blühen im Frühsommer zwischen den Birken und Büschen, seit mehr als fünfundzwanzig Jahren verwildert diese Brache, nein, sie verwaldet, und Hoffnung besteht, dass dort das Grün obsiegen wird, kein Beton, kein Supermarkt, keine Eigentumswohnungen …

Eine riesige Fabrik stand dort einst, wurde 1994 abgerissen, ein VEB, der Druckmaschinen herstellte, über einen eigenen Gleisanschluss verfügte, Werkhalle an Werkhalle, Straßen dazwischen, Schienen, die Villen der Werksleitung, weitere Hallen, immer wieder wurde angebaut, eine eigene Poliklinik, eine Schwimmhalle und im Hintergrund des ganzen Komplexes, ihn förmlich abschließend wie eine massive Ziegelmauer, ein lang gezogenes Fabrikgebäude von 1912, mit einem Turm, der über alldem thronte wie der bezinnte Turm einer Burg. Die südöstlichen Stadtbezirke waren, wie auch die ganze Stadt Leipzig, einst von Industrie geprägt, und auch um die Stadt herum standen die dunkel verwitterten Burgen der Industrie, der Kohle, der Chemie, der Produktion.

»Die Stadt, kurz vor Herbst noch in Glut getaucht nach dem kühlen Regensommer dieses Jahres, atmete heftiger als sonst. Ihr Atem fuhr als geballter Rauch aus hundert Fabrikschornsteinen in den reinen Himmel, aber dann verließ ihn die Kraft weiterzuziehen. Die Leute, seit langem an diesen verschleierten Himmel gewöhnt, fanden ihn auf einmal ungewöhnlich und schwer zu ertragen, wie sie überhaupt ihre plötzliche Unrast zuerst an den entlegensten Dingen ausließen. Die Luft legte sich schwer auf sie, und das Wasser – dieses verfluchte Wasser, das nach Chemie stank, seit sie denken konnten – schmeckte ihnen bitter. Aber die Erde trug sie noch und würde sie tragen, solange es sie gab.«[6]

So beginnt Christa Wolfs Erzählung »Der geteilte Himmel« (eigentlich ein kleiner Roman), in der die wunderbar naive und so herzzerreißend verliebte Studentin Rita ins große Waggonbauwerk Ammendorf (in Halle an der Saale) zur Schicht einrückt, um dort zu arbeiten und die Brigade bei der Sollerfüllung zu unterstützen. Fast scheint es, das Wäldchen, das auf der Brache des einstigen VEB wächst, würde sich mit all seinen Birken und Bäumen über die Straße wölben und beugen und mit Ästen und Zweigen an das Fenster schlagen, hinter dem die bronzene Büste steht, stoisch dem längst verschwundenen VEB den Hinterkopf zuwendend, trotz der Äste und Zweige, die nun ans Glas klopfen, an den gläsernen Türen kratzen … Und sind es nicht auch Birken oder doch Pappeln, an denen Rita in »Der geteilte Himmel« vorbei ins große Werk eilt, das nie so genau beschrieben wird in dieser Erzählung, das sich eher über die Menschen mitteilt, die in diesem Werk arbeiten … So entsteht das Bild des Werkes durch die Bilder und Geschichten der in ihm arbeitenden Menschen. In der DEFA-Verfilmung von Konrad Wolf (nicht verwandt oder verschwägert!), einem wahren Meister des Films (»Ich war neunzehn« und auch »Solo Sunny« sind großes europäisches Kino), sehen wir die Fabrik wie eine kleine Stadt, eilen durch ihre Straßen und die Räume und Kantinen, folgen aber auch in dieser DDR-Nouvelle-Vague eher den Menschen, den Arbeitern, sind dicht an ihren jungen und zerfurchten Gesichtern, die Nebel ziehen durch die Innenstadt von Halle, liegen über der Saale, sind eher romantische Nebel als Industrienebel …

Und nun war das Waggonbauwerk Anfang der 60er sicher noch nicht eine dieser apokalyptischen Industrieanlagen, die der Dichter und Schriftsteller Wolfgang Hilbig später so meisterhaft beschrieb in ihrem Verfallen, Leuna war nicht weit entfernt von Ammendorf, Schornsteine wie Höllenschlünde, aus denen Flammen schlugen, die Weiße Elster, die durch Ammendorf fließt, war schwarz in jenen fernen und dennoch nahen Tagen …

Ein Foto von Wolfgang Hilbig, der 1941, zwölf Jahre nach Christa Wolf geboren, aber vier Jahre vor ihr gestorben ist, steht schon lange auf meinem Schreibtisch.

Sind Hilbig und Wolf nicht zwei absolut konträre Gestalten einer deutschen, einer DDR-Literatur? Der um die Form ringende Nachtalb und die kommentierende Seherin. Würde jemand einen Kopf von Hilbig gießen, ich würde auch ihn sofort kaufen.