Depeche Mode - Serhij Zhadan - E-Book

Depeche Mode E-Book

Serhij Zhadan

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Charkiw 1993. Sowjetische Kriegsveteranen und neureiche biznesmeny lauschen im Konzertsaal einem amerikanischen Erweckungsprediger. In ehemaligen Komsomolbüros der ostukrainischen Metropole residieren Werbeleute. Das Jugendradio bringt in Kooperation mit London ein Feature über die »irische Volksmusikgruppe Depeche Mode« und die Rolle der Mundharmonika beim Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung. Durch diese hybride Szenerie irren drei Freunde – Dog Pawlow, Wasja Kommunist und der Ich-Erzähler Zhadan, neunzehn Jahre alt und arbeitslos –, um ihren Kumpel Sascha Zündkerze zu finden. Sie müssen ihm mitteilen, daß sich sein Stiefvater erschossen hat. Ihre Suche führt sie auf ein verfallendes Fabrikgelände, wo sie eine Molotow-Büste klauen, ins Roma-Viertel zu einem befreundeten Dealer und schließlich per Nahverkehrszug ins Pionierlager »Chemiker«, wo Zündkerze als Betreuer arbeitet. Depeche Mode, Zhadans erster Roman, führt mitten hinein in die Anarchie der postsowjetischen Umbruchszeit und entfaltet ihre enorme ästhetische Produktivkraft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 295

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Serhij Zhadan

Depeche Mode

Roman

Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr

Suhrkamp

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel Depeš Mod im Verlag Folio in Charkiw.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 4. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2494

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin 2007

© Serhij Zhadan 2004

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77519-6

www.suhrkamp.de

Depeche Mode

Inhalt

Textbeginn

Prolog Nr. 1

Prolog Nr. 2

Prolog Nr. 3

Prolog Nr. 4

Erster Teil

Zweiter Teil

Buch Nr. 1

Epilog Nr. 1

Epilog Nr. 2

Epilog Nr. 3

Epilog Nr. 4

Einer geht noch, einer geht noch rein, Ihr seid Wichser, der Schiri ist ein Schwein

15.02.04 (Sonntag)

Als ich vierzehn war und meine eigenen Vorstellungen hatte, was das Leben betrifft, ließ ich mich zum ersten Mal vollaufen. Bis zum Anschlag. Es war heiß, über mir schwammen die blauen Himmel, und ich lag sterbend auf der gestreiften Matratze und konnte meinen Kater nicht mal mit Alkohol bekämpfen, denn ich war erst vierzehn und wußte noch nicht, wie das geht. In den folgenden fünfzehn Jahren gab es mehr als genug Gründe, dieses Leben nicht zu mögen, das Leben war von Anfang an, kaum daß ich mir seiner bewußt wurde, ätzend und undankbar, hat mich von Anfang an in unglaublich miese Situationen gebracht, die, obwohl ich gar nicht dran denken will, lange in Erinnerung bleiben. Hab mich aber trotzdem nie beschwert, klar, alles okay mit meinem Leben, trotz seiner krankhaften Arschigkeit. Wenn nicht gerade mal wieder eine Demarche von außen anstand, paßte mir eigentlich alles – mir paßten die Umstände, in denen ich lebte, mir paßten die Leute, mit denen ich redete, die ich von Zeit zu Zeit traf und mit denen ich zu tun hatte. Im Prinzip störten sie mich nicht und ich sie hoffentlich auch nicht. Was noch? Mir paßte die Menge Knete, die ich hatte, obwohl, nicht die Menge als solche, Knete hatte ich eigentlich nie, mir paßte das Prinzip ihrer Umlaufbahn um mich herum – schon als Kind habe ich festgestellt, daß Geld immer dann auftaucht, wenn man es braucht, und in ungefähr der Menge, ohne die man nicht auskommen kann, normalerweise funktioniert das, funktioniert wirklich, natürlich nur, wenn man sein Gewissen nicht ganz abgeschrieben und sich noch einen Funken Anstand bewahrt hat, also immer die Zähne putzt oder als Moslem kein Schweinefleisch ißt, dann erscheint in seltsamer Regelmäßigkeit ein Engel mit den schwarzen Ärmelschonern eines Buchhalters und Schuppen auf den Flügeln und füllt das Konto auf, so daß man einerseits keine Verrenkungen machen muß, andererseits aber auch nicht ausflippt und sich die Reinkarnation durch den Kauf von Öltankern oder Schnapszisternen vermasselt. Mir paßte das, in dieser Hinsicht verstand und unterstützte ich die Engel. Mir paßte das Land, in dem ich lebte, paßte die Menge Scheiße, mit der es gefüllt war und die mir in den kritischsten Momenten meines Daseins in diesem Land bis etwas übers Knie reichte. Ich verstand, daß ich sehr gut auch in einem anderen, viel beschisseneren Land hätte geboren werden können, zum Beispiel mit rauherem Klima oder autoritärerer Staatsform, wo nicht einfach nur Kotzbrocken an der Macht waren, sondern verdammte Kotzbrocken, die die Macht, die Auslandsschulden und den inneren Obskurantismus einfach an ihre Kinder weitervererbten. Ich war also der Ansicht, es noch ziemlich gut getroffen zu haben, und kümmerte mich deshalb nicht allzuviel um diese Dinge. Eigentlich paßte mir alles, mir paßte das Fernsehprogramm vor meinem Fenster, deswegen versuchte ich, nicht allzuschnell umzuschalten, denn ich hatte schon bemerkt, daß es ziemlichen Ärger, auf jedenfall aber kleine, alltägliche Widrigkeiten hervorrief, wenn ich der um mich montierten Realität auch nur die geringste Beachtung schenkte. Die Realität ist ja eigentlich spannend, aber ganz schön beschissen, wenn du dir nach dem Spiel die Statistik anschaust, deine und ihre Daten analysierst und merkst, daß es von ihrer Seite viel mehr Fouls gab, aber immer nur deine Leute vom Platz gestellt wurden. Wenn mich eins wirklich genervt hat, dann die ständigen aufdringlichen Versuche des Fernsehprogramms, widernatürlichen Geschlechtsverkehr mit mir zu treiben, einfacher gesagt – mich mit Verweis auf meine sozialen Rechte und meine Christenpflicht zu ficken. So verbrachte ich diese fünfzehn Jahre meines erwachsenen Lebens froh und unbeschwert, ohne mich am Aufbau der Zivilgesellschaft zu beteiligen, ohne zur Wahl zu gehen, jeden Kontakt mit dem volksfeindlichen Regime erfolgreich vermeidend, wenn ihr versteht, was ich meine; Politik interessierte mich nicht, Wirtschaft interessierte mich nicht, Kultur interessierte mich nicht, nicht einmal der Wetterbericht interessierte mich, obwohl das vielleicht das einzig Vertrauenswürdige im Lande war, aber mich interessierte er trotzdem nicht.

Jetzt bin ich dreißig. Was hat sich in den letzten fünfzehn Jahren verändert? Fast nichts. Sogar das Aussehen dieses verfuckten Präsidenten hat sich kaum verändert, jedenfalls wurden seine Porträts damals genauso retuschiert wie heute, das fällt sogar mir auf. Die Musik im Radio hat sich verändert, aber eigentlich höre ich kein Radio. Die Kleidung hat sich verändert, aber die Achtziger sind, so weit ich sehen kann, weiter in Mode. Das Fernsehprogramm hat sich nicht verändert, ist immer noch klebrig und ätzend wie auf Parkett verschüttete Limonade. Das Klima hat sich nicht verändert, der Winter ist genauso lang und der Frühling – genauso lang ersehnt. Die Freunde haben sich verändert, soll heißen einige sind für immer verschwunden, andere neu aufgetaucht. Das Gedächtnis hat sich verändert, es ist länger geworden, aber nicht besser. Ich hoffe, es reicht noch für ungefähr 60 Jahre L-m-a-A und unerschütterliches seelisches Gleichgewicht. Das wünsche ich mir. Amen.

17.06.93 (Donnerstag)

Prolog Nr. 1

16.50

Am 17. Juni gegen fünf Uhr nachmittags versucht Dog Pawlow, die Metro zu betreten. Er kommt zum Drehkreuz, geht direkt auf die Frau in Uniform zu und zieht einen Veteranenausweis aus der Tasche. Die Frau in Uniform sieht sich den Ausweis an und liest »Pawlowa Wira Naumiwna«. – Und? – fragt sie.

– Meine Oma, – sagt Dog Pawlow.

– Wo ist deine Oma?

– Das, – Dog zeigt den Ausweis. – Meine Oma.

– Na und?

– Sie ist Kriegsveteran.

– Und du, was willst du?

– Sie hat im Panzer gebrannt.

Die Frau prüft noch mal den Ausweis. Wer weiß, denkt sie, vielleicht hat sie wirklich gebrannt, dem Foto sieht man es jedenfalls nicht an.

– Na gut, – sagt sie. – Und was willst du von mir?

– Lassen Sie mich durch, – sagt Dog.

– Hast du vielleicht auch im Panzer gebrannt?

– Moment, Moment, – Dog beginnt zu verhandeln, – vielleicht bringe ich ihr ja was zu essen.

– Was denn zu essen?

– Zu essen halt, – Dog überlegt, was seine Oma eigentlich ißt, wenn man sie läßt. – Milchprodukte, verstehen Sie? Käse.

– Selber Käse, – sagt die Tusse in Uniform nicht unfreundlich.

Dog weiß, wie das alles für Unbeteiligte aussehen muß. Daß er mit dem Kopf gegen eine riesige unendlich lange Mauer rennt, mit der sich das Leben von ihm abgeschottet hat, dagegen anrennt ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg, und daß ihm die Freuden des Lebens, darunter auch das Benutzen der Metro, derzeit einfach nicht vergönnt sind, so sieht es aus. Er faßt sich ein Herz und sagt etwas wie, jetzt hören Sie mal, gute Frau, natürlich redet er nicht so, aber ungefähr das bedeutet es. Also, hören Sie mal – sagt er, – okay? Regen Sie sich bloß nicht auf. Ich will Ihnen was sagen, gute Frau. Sie können mich natürlich verachten, ich merke ja, daß Sie mich verachten, Sie verachten mich doch, oder? Hören Sie zu, hören Sie zu, ich bin noch nicht fertig, hören Sie zu. Aber trotzdem, verstehen Sie, wie soll ich sagen – also, Sie, wie soll ich sagen, Sie sehen das vielleicht anders, gut, Ihnen ist es egal, aber eins müssen Sie zugeben: es kann nicht sein, daß meine Oma nur deswegen vor Hunger verreckt, weil ich, ihr, bitteschön, gesetzlicher Enkel, von irgend so einer blöden Kuh aus der Etappe nicht in die Metro gelassen werde. Geben Sie es zu? (Danach keifen sie sich nur noch an, nichts zu machen.) Er konzentriert sich, schlüpft der Frau unter den Armen durch, wobei er mit dem Veteranenausweis in der Luft herumwedelt, und verschwindet im kühlen Gedärm der Metro.

»Was heißt hier blöde Kuh aus der Etappe? denkt die Frau.

– Ich bin doch Jahrgang 49.«

17.10

Dog steigt unter dem Stadion aus, leerer Bahnsteig, in ungefähr einer Stunde spielt »Metallist« sein letztes Heimspiel, heute kommen bestimmt alle, klar, Saisonende und das ganze Gedöns, oben ein verregneter Sommer, der Himmel in Wolken, und irgendwo direkt über Dog das halbverfallene Stadion, ganz durchweicht und eingesunken in den letzten Jahren, Gras frißt sich durch die Betonplatten, vor allem wenn es geregnet hat, die Ränge verdreckt von den Tauben, auch auf dem Feld Scheiße, vor allem wenn wir spielen, ein kaputtes Land, kaputter Sport, die großen Steuermänner haben es versaut, wenn ihr mich fragt, denn wie auch immer, in der Sowjetunion gab es zwei Sachen, auf die man stolz sein konnte – Fußball und Atomwaffen, und wer das Volk dieser Errungenschaften beraubt hat, kann wohl kaum auf ein sorgenfreies Alter zählen, nichts ist so schlecht fürs Karma wie beschissene nationale Politik, klar. Dog steht schon eine ganze Weile auf dem Bahnsteig, gleich werden aus der anderen Richtung seine Kumpels kommen, er braucht also nur auf sie zu warten. Dog ist müde und fertig, säuft schon den dritten Tag, dazu das schlechte Wetter, es kommt bestimmt vom Wetter, Blutdruck oder wie das heißt, wie heißt der Zustand, wenn du drei Tage trinkst und plötzlich deine Verwandten und Freunde nicht mehr erkennst? Klar, Blutdruck.

Er weiß nicht einmal mehr, was passiert ist. Der Sommer hat so gut begonnen, es regnete, erfolgreich und sorglos verschlunzte Dog seine Jugend, bis ihn, den dauerhaft arbeitslosen Dog, irgendwelche Werbefreunde in die Abgründe der Werbeindustrie zogen, besser gesagt ihn als Kurier in der Werbeabteilung ihrer Zeitung anstellten. Dog hatte keine Böcke auf so was, überwand sich aber und ging arbeiten. Nutzen brachte er wenig, aber gut, daß man ihn wenigstens irgendwo als Menschen ansah, er selbst glaubte eigentlich nie wirklich daran, aber dafür sind Freunde schließlich da, daß sie mit brachialer Gewalt deinen sozialen Status verbessern, ich hab gleich gesagt, er macht’s nicht lange, aber sie haben nicht auf mich gehört, null Problemo, er ist in Ordnung, ein bißchen abgefuckt, aber in Ordnung, in Ordnung, gab ich zu, in Ordnung.

Nach zehn Tagen hat Dog die Schnauze voll, fängt an zu trinken, geht nicht mehr zur Arbeit, und damit sie ihn nicht finden, trinkt er bei Freunden, mit seinen neunzehn Jahren kennt Dog die halbe Stadt, eine Nacht verbringt er sogar auf dem Bahnhof – trifft dort befreundete Pilzsammler, die mit dem Frühzug irgendwo Richtung Donbass fahren, Stoff holen, und er übernachtet mit ihnen unter den Säulen auf der Straße, wird dreimal von einer Streife gefilzt, bleibt pflichtschuldig bis zum Morgen bei ihnen sitzen und lauscht den Stories über Pilze und anderes hartes Zeug, dann hat er es satt und robbt heim. Hier erreicht ihn der Anruf. In anderem Zustand hätte Dog nie im Leben abgehoben, aber in ihm schwimmen schon die silbrigen kalten Forellen dreitägigen Alkoholkonsums und peitschen mit ihren Schwänzen schmerzhaft auf Nieren und Leber, so daß sich Dogs Welt verdunkelt und er automatisch abhebt. »Dog? – schreit es aus dem Telefon. – Leg bloß nicht auf.« Seine Werbefreunde Wowa und Wolodja, die ihm unseligerweise die Stelle vermittelt haben, sitzen irgendwo in ihrem Komsomolzenbüro und reißen sich gegenseitig den Hörer aus der Hand, wollen Dog dazu bringen, daß er mit ihnen redet, gleiten dabei gelegentlich ins Fluchen ab. »Dog! – sagen sie. – Vor allem – leg bloß nicht auf. Schwule Socke! – sagen sie, nachdem sie sich davon überzeugt haben, daß Dog sie hören kann. – Wenn du jetzt auflegst, hast du verschissen. Dann machen wir dich alle, klar?« – »Hallo«, – sagt Dog. »Was hallo? – regen sich Wowa und Wolodja auf. – Was hallo? Hörst du uns?« – »Ja«, sagt der verängstigte Dog. »Gut, – Wowa und Wolodja beruhigen sich ein bißchen. – Hör zu – es ist jetzt zehn Uhr morgens.« »Was?« – Dog kriegt Panik und legt auf. Das Telefon rappelt gleich wieder. Dog nimmt zögernd ab. »Du!!! – brüllt es aus dem Hörer. – Schwule Socke!!! Leg bloß nicht auf!!! Hörst du uns??? Leg bloß nicht auf!!!« Dog schluckt schwer. »Hörst du uns?« »Okay«, sagt Dog unsicher. »Also gut – bricht es aus den Werbeleuten heraus. – Es ist jetzt zehn Uhr morgens. Leg bloß nicht auf!!! Hörst du??? Leg bloß nicht auf!!! Es ist jetzt zehn. Um halb sechs warten wir beim Stadion auf dich. Wenn du nicht kommst, reißen wir dir die Eier ab. Wenn du kommst, reißen wir dir auch die Eier ab. Aber besser du kommst. Kapiert???« »Ja«, – sagt Dog. »Hast du kapiert?!!« – die Werbeleute geben keine Ruhe. »Kapiert«, sagt Dog Pawlow und spürt, wie die Forellen irgendwo unter seiner Gurgel herumtollen. »Was ist mit dir? – fragen sie endlich. – Ist dir schlecht?« – »Ja.« »Brauchst du irgendwas?« – »Wodka.« »Schwule Socke«, – sagen Wowa und Wolodja und legen auf.

Dog atmet tief durch. Zehn Uhr. Er muß sich entweder umziehen oder den Kater mit Alkohol bekämpfen, besser natürlich den Kater bekämpfen. Seine Oma kommt aus dem Nebenzimmer. Seine Oma, er liebt sie natürlich und so, läuft mit ihrem Veteranenausweis durch die Gegend, man kann sogar sagen, daß er stolz auf sie ist, natürlich nicht komplett, aber bis zu einem gewissen Grad, erzählt, daß sie im Panzer gebrannt hat, ich kann mir die Alte schwer im Panzerhelm vorstellen, aber nichts ist unmöglich. »Was ist, Vitalik?« – sagt sie. »Arbeit, Oma, – sagt Dog. – Arbeit.« »Was denn für Arbeit, – lamentiert die Alte. – Gestern hat es den ganzen Tag angerufen, wo, fragen sie, ist diese schwule Socke. Ja woher soll ich das denn wissen?«

17.22

Wowa und Wolodja springen aus dem Waggon und sammeln Dog auf. Lebst du noch? – fragen sie, Dog ist ganz weiß, es wird nicht besser, oben ziehen sie ihn in den Lebensmittelladen auf der Plechanow-Straße und kaufen zwei Flaschen Wodka, keine Angst, sagen sie zu Dog, erst bringen wir dich wieder in Ordnung, dann reißen wir dir die Eier ab, was hätten wir denn für ein Interesse dran, dir so, wie du drauf bist, irgendwas abzureißen, schau dich doch an, sie führen ihn zum Schaufenster des Ladens, der Laden ist dunkel und leer wie die meisten Läden des Landes in dieser schweren Zeit, das Land haben sie zugrunde gerichtet, die Schweine, schau, sagen sie zu Dog, schau wie du aussiehst, Dog ist ganz fertig, er schaut ins Fenster, hinter dem eine Verkäuferin in weißem Kittel steht und auch schaut, wie es draußen auf der Straße aussieht, ihr direkt gegenüber stehen zwei kriminell aussehende Kotzbrocken, haben einen Dritten, der genauso aussieht, untergehakt und zeigen mit dem Finger auf sie. Haßerfüllt schaut sie sie an, Dog fixiert den Blick, erkennt sein Spiegelbild und merkt plötzlich, daß in seinem Spiegelbild noch jemand ist, ein seltsames, weißgekleidetes Wesen mit dick Make-up im Gesicht, schwerfällig wendet sich das Wesen in seiner, Dogs, Haut hin und her, in den Grenzen seines Körpers, als ob es versucht, aus ihm herauszubrechen, davon wird ihm schlecht, klar, denkt Dog, meine Seele, aber warum bloß hat sie Goldzähne?

17.35-18.15

Vierzig Minuten lang versuchen sie, Dog wiederzubeleben. Flößen ihm Wodka ein, und als er voll ist, kommt Dog, unbekannten physikalischen Gesetzen gehorchend, wieder an die Oberfläche, sagt allen Hallo, alle Anwesenden begrüßen ihn ihrerseits, willkommen zurück, Held der Arbeit, super, daß du wieder bei uns bist, du hast uns gefehlt, ja ja, sagen die Anwesenden, also Wowa und Wolodja, wir mußten dich einfach wieder auf die Beine bringen, um noch einmal in deine betrunkenen, aber doch ehrlichen Augen zu sehen, damit du uns sagen kannst, warum du uns so haßt, die Werbebranche im allgemeinen und Wolodja und mich – sagt Wowa – im besonderen, was haben wir dir getan, daß du uns so feige im Stich läßt und einfach mit übrigens sehr wichtiger Korrespondenz abhaust, für die wir dir, wenn wir könnten, zweimal die Eier abreißen würden. So plätschert die freundschaftliche Unterhaltung dahin, nichts Aufregendes, und Dog kehrt endgültig in die Welt zurück, aus der ihn seine eigene Seele fast hinausgestoßen hätte, er schaut sich um und hört in sich hinein: Die Forellen liegen irgendwo in der Tiefe, der böse goldzahnige Engel im weißen Kittel und Perlonstrümpfen ist auch weggeflogen, die Werbeleute Wowa und Wolodja haben Dog irgendwo ins Gras hinter die weißgestrichenen Metallkioske gezogen und geben ihm reichlich Wodka. Das Sozium fordert den Kompromiß.

18.15

Warum schaffen sie es nie, rechtzeitig im Stadion zu sein, wenn dort die Märsche und die Begrüßungsansprachen der Beamten der Stadtverwaltung erklingen? Erstens sind sie, wenn sie kommen, meistens schon nicht mehr ganz nüchtern und wissen kaum, wieviel Uhr es ist, manchmal wissen sie überhaupt kaum etwas, was heißt hier Uhr, sie unterscheiden die Jahreszeiten nicht, sitzen in dicken Pullovern in der brennenden Sonne oder in nassen T-Shirts im ersten Schnee. Zweitens findet vor dem Spiel eine Lotterie statt, und sie glauben nicht an Lotterien, logo. Drittens muß man sie verstehen – wenn du neunzehn bist, was kann spannender sein als vor aller Augen – einschließlich der Miliz – voll zugedröhnt in deinen Sektor zu kriechen? Später, wenn du groß bist und auf der Bank oder im Gaskontor arbeitest, wenn du mit der Realität übers Fernsehen kommunizierst und mit deinen Freunden per Fax, falls du Freunde hast und sie ein Fax, dann wirst du natürlich auf so einen besoffenen Teenager-Trip scheißen, auf so ein Spießrutenlaufen, wenn die Augen vor Erregung feucht werden und die Nägel blutleer, weil hunderte von Leuten zuschauen, wie sie in ihrem Sektor ankommen und ihre Plätze suchen, dabei sogar jemanden auf den Schultern tragen, den sie komischerweise Dog nennen, manchmal fällt er ihnen zwischen die Bänke, aber stur sammeln sie ihn gleich wieder auf und zerren ihn zu ihren Stammplätzen, weit weg von den Ordnern, weit weg von den Eisverkäufern, überhaupt – weit weg vom Fußball, so wie sie ihn verstehen.

18.25

Das nächste Mal kommt Dog Pawlow erst im Stadion wieder zu sich, wie gut, mit Freunden hier zu sitzen, denkt er, auf einer Bank, unter Bäumen, die rauschen und sich nach allen Seiten neigen, nein, denkt er plötzlich, das sind keine Bäume, aber was ist es dann?

Einige Sektoren weiter, links von ihnen, stehen die gegnerischen Fans im schweren Juniregen. Es sind ein paar Dutzend, schon morgens am Bahnhof angekommen, hatten den ganzen Tag die Miliz auf den Fersen, im Stadion wurde ihnen ein gesonderter Sektor zugewiesen, wo sie jetzt traurig ihre klatschnassen, schlaffen Fahnen schwenken. Unzufrieden mit dem Spielstand und dem Wetter durchbrechen unsere Leute schon vor der Pause die Absperrung und fangen an, die Gäste zu verprügeln. Vom Spielfeld zieht eine Einheit Offiziersanwärter der Feuerwehr herauf, der Miliz fällt schließlich nichts besseres ein, als alle zusammen aus dem Stadion zu werfen und die Leute noch während der ersten Halbzeit zum Ausgang zu drängen; alle anderen vergessen natürlich sofort den Fußball und feuern unsere Jungs auf den Rängen an, auch die Mannschaften kümmern sich mehr um die Prügelei als um das Spiel, ist doch interessant, mal was Neues, auf dem Feld war ja sowieso alles klar – irgendeine Schiebung gibt’s beim Spiel immer, aber das – Mensch, Randale, richtiges Rugby, auch die Feuerwehrleute kriegen schon eins übergebraten, da ist die erste Halbzeit um und die Mannschaften bewegen sich widerwillig auf den Tunnel zu, die Miliz trägt die letzten Gäste hinaus, als das Spiel wieder beginnt, ist der Sektor leer. Nur die zertretenen und zerrissenen Fahnen liegen schwer in den Pfützen, wie einstmals die Nazi-Standarten auf dem Roten Platz, wer überlebt hat, kehrt zufrieden in den eigenen Sektor zurück, nur die radikalsten und prinzipientreusten Fans begeben sich in Richtung Bahnhof – um die anderen zu erwischen, bevor sie heimfahren; plötzlich, so in der fünfzehnten Spielminute der zweiten Halbzeit, kommt ein letzter Auswärtiger angerannt – ein ganz junger Kerl, abgerissen und durchnäßt, wo der bloß gesteckt hat, das Interessanteste hat er jedenfalls verpaßt, er kommt also angerannt und sieht die Spuren des Kampfes und die zerrissenen Fahnen seiner Mannschaft und keinen seiner Freunde; wo sind sie? – ruft er in Richtung der erstarrten Ränge, he, wo sind sie alle?! – aber niemand kann es ihm sagen, schade um den Kerl, sogar die Ultras sind verstummt, haben ihr langgezogenes »Schiri, schwule Sau« für einen Moment unterbrochen, schauen irritiert auf den Gast, echt peinlich, irgendwie ein Looser, der Typ, er schaut auf die verstummten Sektoren und auf das nasse Spielfeld, wo die Mannschaften im Schlamm wühlen, schaut in den kalten und starren Himmel und schnallt es nicht – was ist los, wo sind die anderen, was haben diese Dumpfbacken mit ihnen gemacht, er greift sich eine zerbeulte Pionierströte, in die vorher einer seiner gefallenen Freunde geblasen hat, und beginnt herzzerreißend zu trompeten, so herzzerreißend und verzweifelt, daß auch der letzte ganz verdattert ist – ja muß das denn sein, so zu trompeten, abgewandt vom Feld und von den Ultras und von den verstummten und beschämten Feuerwehrleuten, einen nur ihm allein bekannten, lauten und falschen Ton zu trompeten, in den er all seinen Mut legt, seine Hoffnungslosigkeit und seine jungenhafte Liebe zum Leben . . .

19.30

Direkt unter dem Dach, über den hintersten Reihen, sitzen schläfrige, schläfrig gurrende Tauben, gewohnt an die Niederlagen unserer Mannschaft leben sie so vor sich hin und stören niemanden, komische nasse Schwärme, Dog hört sie noch im Schlaf, sie tauchen in seinen alkoholisierten Prostrationen auf und zerren ihn daraus hervor, ihr wißt schon, dieser komische Zustand, wenn du mit einem Auge vorne Licht siehst und mit dem anderen, wie soll ich sagen – mit dem anderen siehst du etwas, das man vielleicht die andere Seite des Lichts nennen könnte, versteht ihr, anders ausgedrückt – wenn man dir sehr viel auf einmal zeigt, du aber überhaupt nichts mehr sehen kannst. Und auch nicht willst. Darum rutscht Dog auf den Zementboden und kriecht in Richtung Durchgang, dabei zerreibt seine gemarterte Brust Schalen von Sonnenblumenkernen, Kippen und Lotterielose. Er kriecht zum Durchgang, kommt auf die Beine und bewegt sich zögernd aufwärts, bis zur hintersten Reihe, dort klammert er sich an die Metallstreben und bleibt kraftlos hängen –

bloß nicht auf die sitzreihen fallen und irgendwelche fans zerquetschen wenn du fällst mußt du dich entschuldigen mit jemandem reden etwas sagen und alle merken gleich wie schlecht du aus dem mund riechst und kommen drauf daß du getrunken hast also hauptsache mit niemandem reden und niemanden ansprechen wenn du fällst wird unbedingt jemand mit dir reden und du sitzt in der falle dann heißt es warum riechst du so schlecht aus dem mund werden bestimmt schnüffeln kaum daß sie anfangen zu reden auch wenn du dich abwendest und zur seite sprichst werden sie trotzdem schnüffeln kannst dich höchstens ganz abwenden beim reden. was reden? was muß ich reden damit sie nicht draufkommen? was soll ich sagen? bestimmt merken sie es und sagen etwas. was sagen sie? sagen sie warum schweigst du? schreist nicht? warum schreie ich nicht? ich muß schreien sonst merken sie daß ich schlecht aus dem mund rieche sie werden sagen daß ich schlecht aus dem mund rieche und deswegen nicht schreie oder denken daß ich betrunken bin weil ich nicht schreie was soll ich schreien? was soll ich schreien? was soll ich bloß schreien? ich muß jemanden fragen muß mich abwenden und fragen oder mich abwenden und losschreien dann merkt keiner was so oder so merken sie nichts der ganze lärm hier gut ich rufe was zur seite niemand merkt wie schlecht ich aus dem mund rieche aber alle merken daß ich schreie also bin ich nicht betrunken super das habe ich super überlegt nur was rufen was soll ich nur rufen was schreien sie alle? schiri schiri hauptsache zur seite damit sie den geruch nicht spüren aber so daß sie mich hören irgendwie so muß ich rufen und unbedingt was über den schiri dann ist alles okay

– da steht unser Stürmer allein dem gegnerischen Torwart gegenüber und schießt, zieht mit aller Kraft durch, einige tausend nasse Fans erstarren, halten buchstäblich die Luft an, und in der feuchten Stille hinter ihrem Rücken ertönt ein verzweifeltes:

– Eeeeeeeeeeeeeeeeeeei!!! – Duuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu!!!!!!!!!!!!!!!

Die nassen Fans in den angrenzenden Sektoren drehen wie hypnotisiert die Köpfe und sehen Dog Pawlow, den guten alten Dog Pawlow, den hier jeder Hund kennt, also jeder Wachtmeister mit Funkgerät, er hängt völlig fertig an den eisernen Streben, hat den Sitzreihen seinen, nennen wir es Rücken zugewandt und heult langgedehnt irgendwo ins Nichts oder wie man es nennen soll.

19.45

Warum? Weil du nicht einfach ein Arschloch bist, das sich mit dem unbefriedigenden Zustand der Welt abgefunden hat und mit den täglichen Gemeinheiten, weil du nicht die Absicht hast, bis ans Ende deiner Tage irgendwem an die Gurgel zu gehen wegen des Fraßes, den sie da abgepackt haben. Weil du endlich was Wichtiges zu sagen hast, vorausgesetzt es fragt dich einer, das reicht doch, denkt Dog, natürlich denkt er in diesem Zustand nichts dergleichen, aber wenn er jetzt denken könnte, glaube ich, würde er genau das denken, deshalb kriecht er am Balken hinauf, der das Dach stützt, preßt sich an das kalte Rohr und schürft dabei alte grüne Farbe und trockene Vogelkacke ab, vorsichtig setzt er die Füße in die Metallstreben und zieht sich hoch, kriecht genau über die Köpfe der Wachtmeister, die ihn für den Moment vergessen haben, über die Köpfe seiner ganzen nassen und betrunkenen Bekannten, über die glücklichen Köpfe von Wowa und Wolodja. Er erkennt sie und hält über ihnen an, betrachtet sie von oben, denkt, wie super, wenn ich die Hand ausstrecke, dann kann ich die beiden hier hochholen, und er streckt die Hand nach ihnen aus und sagt etwas, dabei merkt er gar nicht, wie schlecht er aus dem Mund riecht.

Da bolzen unsere Jungs den Ball ins Tor, und die nassen Kehlen brüllen – To-o-o-o-o-o-o-r!!! – To-o-o-o-o-o-or!!! – brüllen sie, und von diesem Gebrüll werden hunderte und tausende müde Tauben aus dem Schlaf gerissen und fliegen von ihren mit Federn, Erde und Lotterielosen gepolsterten Sitzen auf wie Granaten, fliegen als Welle in den nassen Himmel, und diese Welle trifft Dog Pawlow, der kann sich nicht halten und fliegt runter, fliegt seine paar Meter durch die Luft und knallt auf die Bank, neben Wowa und Wolodja, die erinnern sich endlich an ihren Kumpel, drehen sich zu ihm um und sehen, er ist da, wo er hingehört.

– O Dog, – ruft Wowa.

– Dog, wir haben ein Tor geschossen, – schreit Wolodja.

– Geil, – sagt Dog und lächelt. Übrigens zum ersten Mal in den letzten drei Tagen.

19.50-8.00

Wowa und Wolodja haben keine Böcke, ihren Ausweis zu zeigen, deshalb läßt man sie nicht zu Dog, sie erklären, daß sie seine Freunde sind, Verwandte sogar, entfernte zwar, trotzdem Verwandte, aber man sagt ihnen, daß man sich solcher Verwandter wie Dog schämen muß, man legt ihn – betrunken und schläfrig – auf die Trage, dann schiebt man ihn in den Unfallwagen, irgendwie denken alle, daß Dog verletzt ist und nicht betrunken, das ist seine Rettung, sie erschlagen ihn also nicht an Ort und Stelle, wie das die Verhaltensmaßregeln für Wachtmeister, Feldwebel und Bootsmänner vorschreiben in bezug auf die heldenhafte Verteidigung von Sportkomplexen und anderen Orten der Massenerholung von Werktätigen während der Durchführung von Fußballspielen, politischen Versammlungen und anderem sportlich-aufklärerischem Halligalli. Ein mitfühlender Wachtmeister geht sogar zum Fahrer des Rettungswagens, schreibt dessen Koordinaten auf, hinterläßt seine dienstliche Telefonnummer, befiehlt, den schwerverletzten Dog unverzüglich einzuliefern und seinen zusammengeflickten Körper, wenn der Ernstfall nicht eintritt, morgen aufs Revier zu bringen zwecks weiterer laboratorischer Untersuchungen, dann werden sie auch klären, was für ein Gagarin ihnen da auf den Kopf geknallt ist. Der Fahrer grüßt mit dem Finger, ihr wißt schon wie, und der Rettungswagen verschwindet hinter den grünen Toren des Stadions, treibt mit seinen Sirenen die nassen Fans auseinander, deren fröhlicher Strudel auch Wowa und Wolodja erfaßt hat – denn auf Sieg folgt unausweichlich Zusammenrottung zu einer frohen kollektiven Masse, Feuerwerk und harmonischer Chorgesang, und nur auf Niederlage, bittere persönliche Niederlage folgen betrunkene Sanitäter und ein Beatmungsgerät, das noch dazu nicht funktioniert, vielmehr – es funktioniert, aber niemand weiß wie.

Bis zum Morgen kotzt Dog alle Decken voll, in die man ihn gewickelt hat, und ruft beim Personal Ekel und Abscheu hervor. Eine Krankenschwester nach der anderen versucht, irgendwen anzurufen und die entfernten Verwandten zu finden, die diesen Abschaum noch im Stadion mitnehmen wollten, aber niemand kennt die Nummer, Dog hat außer einem Veteranenausweis auf den Namen Pawlowa Wira Naumiwna keinerlei Dokumente bei sich, alle betrachten den Ausweis – abgegriffen und an den Rändern versengt – aber, verdammt, Dog nimmt man die Pawlowa Wira Naumiwna nicht ab, für alle Fälle schauen sie in ihrer Kartei nach und stellen verwundert fest, daß nach ihren Aufzeichnungen eben diese Wira Naumiwna schon vor dreieinhalb Jahren zu Gott eingegangen ist, in diesen Karteien ist alles möglich, sagt die älteste diensthabende Krankenschwester, lehnt es aber ab, endgültig zuzugeben, daß sie nicht Pawlowa Wira Naumiwna vor sich hat, sondern einen nicht identifizierten Wichser, am Morgen rufen sie den Fahrer des Rettungswagens an, der eben seine Schicht beendet und aus diesem Anlaß die ganze Nacht getrunken hat, der also nicht gleich versteht, um wen es geht, und sagt, daß er gestern keine Wira Naumiwna aus dem Stadion abgeholt hat, versichert, daß er verheiratet ist, mit seiner Frau sei alles in Ordnung, sogar Sex haben sie manchmal, wenn er nicht Nachtschicht hat, na, aber dann rafft er, was Sache ist, und gibt den Krankenschwestern die Telefonnummer des Wachtmeisters, der sich gestern für das weitere Schicksal des von ihm eingelieferten Dog interessiert hat. Die Krankenschwestern rufen den Wachtmeister sofort an, sagen, also, ein Drama, Genosse Wachtmeister, hier bei uns liegt so eine vollgekotzte Mißgeburt, was? fragt der Wachtmeister mit morgendlicher Munterkeit in der Stimme und beginnt alles zu notieren, ich notiere, sagt er, voll-ge-kotzt, und? also, sagen die Krankenschwestern, nicht genug daß er vollgekotzt ist, er hat auch keinen Paß, ja-ja-ja, antwortet darauf der Wachtmeister, nicht so hastig – nicht-genug-daß-er-voll-ge-k, hören Sie, fragt er plötzlich, was geht mich das an, vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung? hat er nicht – sagen die Schwestern – keine Erschütterung und kein Gehirn, überhaupt ist das irgend so ein Deserteur, hat fremde Dokumente bei sich, aha, freut sich der Wachtmeister, fremde, und außerdem hat er uns hier alles vollgekotzt, können sich die Schwestern nicht beruhigen, na, es reicht, sagt der Wachtmeister streng, bringen Sie ihn her, aber dalli, um neun ist mein Dienst zu Ende, und meine Ablösung hat wohl kaum Lust, sich mit ihm zu befassen – hoher Blutdruck. Alles klar, sagen die Schwestern, Blutdruck.

Sofort rufen sie den diensthabenden Fahrer, nimm, sagen sie zu ihm, diesen Abschaum, der uns hier alles vollgekotzt hat, und bring ihn aufs Revier, mit seinen Dokumenten stimmt was nicht, aha, sagt der Fahrer, ich schmeiß alles hin und fahre euren Abschaum, damit er seine Dokumente in Ordnung bringen kann, am besten bringe ich ihn gleich auch noch aufs Standesamt? hab wohl nichts besseres zu tun, na, im Prinzip hat er gerade seine Schicht begonnen und hat wirklich nichts zu tun, red keinen Scheiß, sagt die älteste diensthabende Krankenschwester, deren Schicht eben zu Ende geht, bring ihn weg und komm sofort zurück, hier gibt es einen Haufen Arbeit, ja ja, sagt der Fahrer, einen Scheißhaufen, angeekelt packt er den geschwächten und demoralisierten Dog am Arm und führt ihn runter, öffnet die hinteren Türen des Rettungswagen, los, sagt er zu Dog, rein mit dir, setz dich da auf die Trage oder besser noch leg dich hin, sonst fällst du in der nächsten Kurve um und zerbrichst irgendein Glas oder schneidest dich oder schmeißt die Farbe um, was für Farbe? fragt Dog, Farbe halt, sagt der Fahrer, los, leg dich hin, vielleicht bleib ich besser sitzen? fragt Dog ängstlich, mach bloß keine Mätzchen, sagt der Fahrer und setzt sich ans Steuer. Dog versucht, sich hinzulegen, aber sofort wird ihm schlecht, und er fängt an zu kotzen – auf die Trage, die Wände, einen Eimer Farbe, ihr wißt schon. Der Fahrer bremst verzweifelt, rennt nach hinten zu den Türen, öffnet sie, kriegt seinen Teil Kotze ab und schmeißt den halbverreckten Dog auf den morgendlichen Charkiwer Asphalt, dann kehrt er schimpfend und fluchend ins Krankenhaus zurück, wo er, um ehrlich zu sein, nicht wirklich dringend gebraucht wird.

Prolog Nr. 2

9.00

– Und was das Schärfste ist – ich wußte nicht, daß sie zu zweit waren. Die andere war auf dem Balkon.

– Hm.

– Also, ich komme rein, sie ist alleine. Ich hatte doch keine Ahnung, kapiert? Und sie liegt fast nackt da, nur Slips, BHs.

– Was – mehrere BHs?

– Nein, also, verschiedene Unterwäsche halt.

– Wie das?

– Na, verschiedene Farben, klar?

– Besser nicht dran denken . . .

– Sag ich doch. Ich mag Unterwäsche sowieso nicht. Bei Frauen, meine ich.

– Logo.

– Also, ich seh, daß sie geladen hat, und fang auch an, mich auszuziehen. Ich wußte doch nicht, daß sie schon den ganzen Morgen . . . Also zuerst irgendeinen Mist geschluckt, dann mit Wodka runtergespült, stellt euch vor. Voll bis oben hin. Und ich steh da mit meiner Erektion.

– Echt?

– Da kommt die Kuh vom Balkon, die zweite. Kriegt einen Riesenschreck, logo.

– Logo . . .

– Die im Zimmer nicht, die kannte das.

– Was?

– Mich. Hat mich schon so gesehen, mit Erektion, meine ich.

– Scheiße.

– Sag ich ja. Und vom Balkon die war absolut besoffen, haben den ganzen Morgen gebechert, die zwei. Wenn’s nach mir ginge, dürften Frauen überhaupt nicht saufen. Versteht ihr?

– Ja, Weiber. Ich hab einen Nachbarn, der geht morgens raus und kauft zwei Liter Wodka.

– Zwei Liter?

– Echt.

– Stell ich mir lieber gar nicht erst vor.

– Ich frag – wozu brauchst du zwei Liter, Mann? Schaffst du doch gar nicht allein. Und was sagt er?

– Hm?

– Wenn ich getrunken habe, also, die erste Flasche, hab ich Angst davor, rauszugehen. Will aber trinken, kann mich nicht zurückhalten.

– Echt?

– Und wieso hat er Angst?

– Hm, weiß nicht, macht sich halt in die Hose. Kriegt Schiß vom Wodka. Aber saufen will er. Darum nimmt er gleich zwei Liter. Sitzt da und pichelt.

– Also Moment, er tankt eine Pulle, dann die zweite, Scheiße – haut alles weg. Was dann?

– Wie – dann?

– Er will doch weitersaufen?

– Klar.

– Hat aber Angst rauszugehen?

– Nee, also wenn er seine zwei Liter intus hat . . .

– Zwei Liter!