Der Lauf der Liebe - Alain de Botton - E-Book
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Der Lauf der Liebe E-Book

Alain de Botton

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Beschreibung

Ein fesselndes Plädoyer für das WAGNIS DER LIEBE. Am Anfang ist jede Liebe leicht. Wie aber geht es mit ihr weiter? Wie gelingt es, zu zweit das Glück zu finden? In seinem neuen Roman durchleuchtet Alain de Botton gnadenlos, aber einfühlsam die Liebesgeschichte von Rabih und Kirsten. Die Wahl der Ikea-Gläser, das Kennenlernen der Schwiegereltern, die Frage, ob die Butter tatsächlich im Kühlschrank stehen soll - all das gibt Anlass für die größten Dramen. Und so wie de Botton mit seinem berühmten Scharfblick erzählt, erkennen wir jene Strukturen der Liebe, die uns allen gleichermaßen Glück und Leid bereiten.

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Seitenzahl: 293

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Alain de Botton

Der Lauf der Liebe

Roman

Aus dem Englischen von Barbara von Bechtolsheim

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungRomantikVerzauberungHeiliger AnfangLeidenschaftSex und LiebeHeiratsantragBis dass der Tod uns scheidetDummheitenSchlechte LaunenSex und ZensurÜbertragungSchuldzuweisungenLehren und LernenKinderLiebeslektionenDas süße KindDie Grenzen der LiebeSexualität und ElternschaftDas Prestige der WäscheSeitensprungLustmolchProContraInkompatible BegierdenGeheimnisseMehr als romantische LiebeBindungstheorieReifeBereit für die EheDie Zukunft

Für John Armstrong –

meinen Mentor, Kollegen und Freund.

Romantik

Verzauberung

Das Hotel liegt auf einem Felsvorsprung eine halbe Stunde östlich von Malaga. Es ist ein Familienhotel und offenbart unwillkürlich, vor allem bei den Mahlzeiten, was für eine Herausforderung das Projekt Familie ist. Der fünfzehnjährige Rabih Khan verbringt hier mit seinem Vater und seiner Stiefmutter die Ferien. Ihre Stimmung ist düster und die Unterhaltung stockend. Drei Jahre ist es jetzt her, dass Rabihs Mutter gestorben ist. Jeden Tag wird auf einer Terrasse mit Blick auf den Pool ein Büfett aufgebaut. Gelegentlich macht seine Stiefmutter eine Bemerkung über die Paella oder über den Wind, der heftig vom Süden herweht. Sie stammt ursprünglich aus Gloucestershire und gärtnert gerne.

Eine Ehe beginnt nicht mit dem Heiratsantrag oder gar mit einer ersten Begegnung. Sie beginnt bereits, wenn die Vorstellung von der Liebe entsteht – oder genauer gesagt der Traum von einem Seelenverwandten.

Rabih sieht das Mädchen zuerst an der Wasserrutsche. Sie ist etwa ein Jahr jünger als er, mit ihrem kastanienbraunen Kurzhaarschnitt, der olivfarbenen Haut und den zarten Gliedern wirkt sie fast wie ein Junge. Sie trägt ein geringeltes Shirt, blaue Shorts und zitronengelbe Flipflops. An ihrem rechten Handgelenk trägt sie ein dünnes Lederbändchen. Sie blickt zu ihm rüber, verzieht das Gesicht zu einem halbherzigen Lächeln und rückt sich wieder in ihrem Liegestuhl zurecht. Die nächsten Stunden schaut sie nachdenklich aufs Meer, lauscht dabei ihrem Walkman und kaut zwischendurch an den Nägeln. Die Eltern liegen neben ihr, auf der einen Seite blättert ihre Mutter in einer Elle, und auf der anderen Seite liest ihr Vater auf Französisch einen Roman von Len Deighton. Wie Rabih später im Gästebuch herausfindet, kommt sie aus Clermont-Ferrand und heißt Alice Saure.

Er hat noch nie etwas Vergleichbares gefühlt. Der Ansturm der Gefühle überfällt ihn geradezu. Alles geht ohne Worte – die sie nie wechseln werden. Es ist, als würde er sie schon ewig kennen, als biete sie eine Lösung für sein ganzes Leben und vor allem für einen unbeschreiblichen Schmerz in seinem Inneren. In den nächsten Tagen beobachtet er sie aus der Entfernung: beim Frühstück, wie sie sich in einem weißen Kleid mit geblümtem Saum einen Joghurt und einen Pfirsich vom Büfett nimmt; auf dem Tennisplatz, wie sie sich mit rührender Höflichkeit in einem Englisch mit starkem Akzent bei ihrem Trainer für ihre Rückhand entschuldigt; und bei einem (offensichtlich) einsamen Spaziergang in der Nähe des Golfplatzes, während sie stehenbleibt, um Kakteen und Hibiskusblüten zu betrachten.

Diese Gewissheit, dass ein anderer Mensch ein Seelenverwandter ist, kann sich ganz plötzlich einstellen. Wir brauchen nicht einmal mit ihm gesprochen zu haben; vielleicht wissen wir nicht einmal, wie er heißt. Objektives Wissen spielt gar keine Rolle. Vielmehr entscheidet die Intuition; ein spontanes Gefühl, das gerade deshalb so genau und zuverlässig wirkt, weil es die üblichen Wege der Vernunft umgeht.

Die Verliebtheit kristallisiert sich um ein paar Elemente: einen gelben Flip-Flop, der lässig von einem Fuß baumelt; ein Hermann-Hesse-Siddhartha-Taschenbuch, das neben der Sonnencreme auf einem Handtuch liegt; markante Augenbrauen; die Zerstreutheit, mit der sie ihren Eltern antwortet, und die Art, wie sie mit der Hand ihre Wange stützt, wenn sie sich beim Abendbüfett Häppchen Schokoladenmousse auftut.

Instinktiv entschlüsselt er aus diesen Einzelheiten eine ganze Persönlichkeit. Während er zu den sich drehenden Holzflügeln des Deckenventilators in seinem Zimmer hochschaut, entwirft Rabih im Kopf die Geschichte seines Lebens mit ihr. Sie wird melancholisch und gewitzt sein. Sie wird ihm vertrauen und über die Spießer lachen. Manchmal ist sie vielleicht auf Partys schüchtern – Anzeichen einer empfindsamen und tiefgründigen Persönlichkeit. Sie wird wohl eine Einzelgängerin sein und bis jetzt niemanden je ganz ins Vertrauen gezogen haben. Sie werden auf ihrem Bett sitzen und spielerisch ihre Finger umschlingen. Auch sie ahnte nicht, dass sich zwei Menschen so zueinander hingezogen fühlen können.

Eines Morgens ist sie dann, ohne Vorwarnung, abgereist, und ein holländisches Ehepaar mit zwei kleinen Jungen sitzt an ihrem Tisch. Sie hat mit ihren Eltern im Morgengrauen das Hotel verlassen, um den Air-France-Flug nach Hause zu nehmen, erklärt der Empfangschef.

Das ganze Ereignis ist unbedeutend. Sie werden sich nie wiedersehen. Er erzählt niemandem davon. Sie wird nie von seinen Gedankenspielen erfahren. Doch wenn die Geschichte hier beginnt, so liegt das daran – selbst wenn Rabih sich noch ändert und im Laufe der Jahre reifer wird –, dass seine Vorstellung von der Liebe jahrzehntelang dieselbe Struktur behalten wird, die in jenem Sommer, als er sechzehn Jahre alt war, im Hotel Casa Al Sur entstand. Er wird weiterhin daran glauben, dass sich zwei Menschen unmittelbar und von ganzem Herzen verstehen können und dass alle Einsamkeit mit diesem gegenseitigen Verständnis endgültig vorbei ist.

Er wird sich ähnlich bittersüß und sehnsüchtig nach anderen verlorenen Seelenverwandten sehnen, die er in Bussen, in Gängen von Lebensmittelläden und in Lesesälen von Bibliotheken ausmacht. Er wird mit zwanzig während eines Semesters in Manhattan genau dasselbe Gefühl für eine Frau haben, die im Zug der Linie C Richtung Norden links neben ihm sitzt, und mit fünfundzwanzig in einem Architekturbüro in Berlin, wo er ein Praktikum macht – und mit neunundzwanzig auf einem Flug von Paris nach London über dem Britischen Kanal nach einem kurzen Gespräch mit einer Frau namens Chloe: das Gefühl, einen vor langer Zeit verlorenen Teil seiner selbst wiedergefunden zu haben.

Für den Romantiker ist es vom flüchtigen Eindruck eines Fremden nur ein winziger Schritt zu der überzeugenden Schlussfolgerung, dass er oder sie eine umfassende Antwort auf die unausgesprochenen Fragen des Daseins bereithält.

Die Heftigkeit des Gefühls mag übertrieben, ja lächerlich wirken, aber diese Wertschätzung des Instinktiven ist kein unbedeutender Planet in der Kosmologie der Beziehungen. Vielmehr ist es die zentrale Sonne, um die sich letztlich alle zeitgenössischen Ideale der Liebe drehen.

Den romantischen Glauben muss es schon immer gegeben haben, aber erst in den letzten Jahrhunderten hat man anerkannt, dass mehr als eine Krankheit dahintersteckt; erst seit jüngster Zeit wird der Suche nach einem Seelenverwandten ähnlich viel Bedeutung wie dem Sinn des Leben beigemessen. Ein Idealismus, der zuvor Göttern und Geistern galt, richtet sich nun auf die Menschen – eine scheinbar großzügige Geste, die doch zugleich mit unerträglichen und herben Konsequenzen einhergeht, denn für niemanden ist es leicht, ein Leben lang den Idealen zu entsprechen, die er oder sie für einen fiktiven Beobachter gegenüber auf der Straße, im Büro oder auf dem Nebensitz im Flugzeug repräsentiert hat.

Es wird Rabih viele Jahre und zahlreiche Versuche in der Liebe kosten, um zu anderen Schlüssen zu kommen, um zu erkennen, dass eben die Dinge, die er für romantisch hielt – intuitive Erkenntnisse, unmittelbare Begierden, Vertrauen in Seelenverwandte –, ihm im Wege stehen, wenn seine Beziehungen gelingen sollen. Er wird ahnen, dass Liebe nur besteht, wenn man den verführerischen Begierden, mit denen alles anfing, untreu wird; und damit seine Beziehungen gelingen, muss er sich von eben den Gefühlen verabschieden, die ihm überhaupt erst den Kopf verdreht haben. Er wird lernen müssen, dass die Liebe keine Schwärmerei ist, sondern vielmehr eine Kunst.

Heiliger Anfang

In ihren ersten Ehetagen und noch viele Jahre danach hören Rabih und seine Frau immer dieselben Fragen: »Wie habt ihr euch denn kennengelernt?« – zumeist mit erwartungsvoller Miene, begleitet von vorgetäuschter Aufregung. Die beiden schauen sich normalerweise an (manchmal etwas betreten, wenn alle bei Tisch innehalten und aufhorchen), um zu entscheiden, wer diesmal dran ist. Je nach Publikum spielen sie es als Witz oder als Zärtlichkeit aus. Sie können die tatsächliche Geschichte in einer Zeile zusammenfassen oder als ganzes Kapitel erzählen.

Dem Anfang wird unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil man ihn nicht für eine Episode unter vielen hält; für den Romantiker ist darin in konzentrierter Form alles enthalten, was die Liebe insgesamt ausmacht. Daher gibt es für den Erzähler bei so vielen Liebesgeschichten, nachdem das Paar eine Reihe anfänglicher Hindernisse überwunden hat, nichts weiter zu tun, als es in eine nebulöse glückliche Zukunft zu entlassen – oder es zu vernichten. Was wir Liebe nennen, ist normalerweise nur der Anfang der Liebe.

Rabih und seine Frau wundern sich, wie selten sie danach gefragt werden, wie es ihnen ergangen ist, seit sie sich begegnet sind, als wäre ihre eigentliche Beziehung nicht interessant genug, um berechtigte Neugier zu wecken. Niemals haben sie vor anderen die eine Frage beantwortet, die sie beide eigentlich beschäftigt: »Wie fühlt es sich an, eine Zeitlang verheiratet zu sein?«

Die Geschichten von Beziehungen, die jahrzehntelang ohne offensichtliches Unglück oder Glück bestehen, bleiben – faszinierend und zugleich irritierend – die Ausnahmen unter den Geschichten, die wir uns über den Verlauf der Liebe zu erzählen wagen.

Der Anfang, dem zu viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, lautet folgendermaßen: Rabih ist einunddreißig und Bewohner einer Stadt, die er kaum kennt oder versteht. Früher hat er in London gelebt, aber vor kurzem ist er wegen der Arbeit nach Edinburgh gezogen. Sein früheres Architekturbüro hatte die Hälfte der Mitarbeiter nach einem unerwarteten Auftragsverlust entlassen, und so zwang ihn die Arbeitslosigkeit, sein berufliches Netz weiter zu spannen, als ihm lieb war – weswegen er schließlich einen Job bei einem schottischen Stadtentwicklungsbüro annahm, das auf Plätze und Straßenkreuzungen spezialisiert ist.

Schon seit einigen Jahren, als die Beziehung mit einer Graphikerin auseinanderging, ist er allein. Er ist Mitglied in einem Fitnessstudio und bei einer Partnerschaftsbörse. Er war bei der Ausstellungseröffnung Keltischer Kunst. Er hat an einigen Veranstaltungen teilgenommen, die mit seiner Arbeit zu tun hatten. Alles umsonst. Manchmal spürte er eine intellektuelle Verbindung zu einer Frau, aber nichts Physisches – oder umgekehrt. Oder schlimmer noch, ein Hoffnungsschimmer, und dann wurde ein Partner erwähnt, der mit dem Gesichtsausdruck eines Gefängniswärters auf der anderen Seite des Raumes stand.

Trotz allem, Rabih gibt nicht auf. Er ist ein Romantiker. Und eines Tages, nach vielen inhaltsleeren Sonntagen, passiert es schließlich, fast so, wie er es – hauptsächlich durch die Kunst – gelernt hat: Die Erwartung wird wahr.

Der Kreisverkehr auf der A720 von Edinburgh nach Süden verbindet die Hauptstraße mit einer Sackgasse in einer Villengegend, die an einen Golfplatz mit einem Teich angrenzt – ein Auftrag, den Rabih weniger aus Interesse annimmt als wegen der Verpflichtungen, die mit seinem bescheidenen Rang in der Hackordnung seiner Firma zusammenhängen.

Der Kunde hatte die Leitung ursprünglich einem Obergutachter des Stadtrats übergeben, aber am Tag vor Beginn des Projektes hat der Mann einen Trauerfall in der Familie – und eine jüngere Kollegin wird an seine Stelle berufen.

An einem bewölkten Morgen Anfang Juni, kurz nach elf, schütteln sie sich auf der Baustelle die Hand. Kirsten McLelland trägt eine Warnschutz-Jacke, einen Helm und schwere Stiefel mit Gummisohlen. Rabih Khan versteht kaum, was sie sagt – nicht nur wegen der unablässigen Kompressorengeräusche, sondern auch, weil Kirsten ziemlich leise spricht, was ihm gleich auffällt, außerdem im Tonfall ihres Invernessdialekts, in dem die Sätze, noch ehe sie vervollständigt sind, verklingen, als fiele ihr währenddessen ein Einwand gegen das, was sie gerade sagt, ein, oder als wende sie sich einfach wichtigeren Dingen zu.

Trotz ihrer Kleidung (oder eigentlich gerade deshalb) fallen Rabih an Kirsten einige psychologische und physische Merkmale auf, für deren Reiz er empfänglich ist. Er beobachtet, wie ruhig und amüsiert sie auf das herablassende Verhalten der muskulösen zwölfköpfigen Bauarbeitertruppe reagiert; wie sorgfältig sie die verschiedenen Punkte auf dem Zeitplan abhakt; wie selbstbewusst sie die Mode ignoriert und wie außergewöhnlich die leichte Unregelmäßigkeit ihrer oberen Schneidezähne wirkt.

Als das Teamtreffen beendet ist, setzen sich die beiden Vertragspartner auf eine nahegelegene Bank, um die Verträge durchzusehen. Aber nach ein paar Minuten beginnt es, in Strömen zu regnen, und weil im Baustellenbüro kein Platz ist, schlägt Kirsten vor, sich auf der Hauptstraße ein Café zu suchen, um dort den Papierkram zu erledigen.

Auf dem Weg dorthin kommen sie unter ihrem Schirm aufs Wandern zu sprechen. Kirsten erzählt Rabih, dass sie versucht, so oft wie möglich aus der Stadt herauszukommen. Tatsächlich hat sie vor kurzem beim Loch Carriagean ihr Zelt in einem einsamen Kiefernwald aufgeschlagen und war dort von der Ruhe und der Weite ganz erfüllt, fernab von anderen Menschen und all den Zerstreuungen und der Hektik des Stadtlebens. Ja, sie war alleine dort, antwortet sie; er stellt sich vor, wie sie unter der Zeltplane ihre Stiefel aufschnürt. Auf der Hauptstraße angekommen, ist kein Café in Sicht, so dass sie im Taj Mahal Zuflucht suchen, ein düsteres, menschenleeres indisches Restaurant, wo sie Tee bestellen und (auf Empfehlung des Inhabers) einen Teller mit Poppadoms, hauchdünnen indischen Fladen. Gestärkt gehen sie die Formulare durch und beschließen, dass es wohl am besten ist, die Zementmischmaschine erst für die dritte Woche zu bestellen und die Pflastersteine in der Folgewoche liefern zu lassen.

Rabih beobachtet Kirsten – um Diskretion bemüht – mit detektivischer Aufmerksamkeit. Er bemerkt zarte Sommersprossen auf ihren Wangen; eine merkwürdige Mischung aus Entschiedenheit und Zurückhaltung in ihrem Ausdruck; dichtes, schulterlanges braunes Haar, das seitlich gescheitelt ist, und die Angewohnheit, Sätze mit einem flotten »Also, die Sache ist die …« zu beginnen.

Mitten in diesem pragmatischen Gespräch gelingt es ihm dennoch, dem Ganzen etwas Privates zu verleihen. Auf seine Frage nach ihren Eltern antwortet Kirsten mit einem Anflug von Verlegenheit in der Stimme, dass sie in Inverness von ihrer alleinerziehenden Mutter aufgezogen wurde, ihr Vater habe schon frühzeitig das Interesse am Familienleben verloren. »Es war für mich kein idealer Anfang, mir im Hinblick auf Menschen große Hoffnungen zu machen«, sagt sie mit einem befangenen Lächeln (er bemerkt, dass der linke obere Schneidezahn etwas schief steht). »Vielleicht war deshalb die Vorstellung von ›glücklich bis ans Ende‹ nie so mein Ding.«

Die Bemerkung empfindet Rabih eigentlich nicht als Zurückweisung, er denkt an den Grundsatz, dass Zyniker letztlich Idealisten mit ungewöhnlich hohem Standard sind.

Durch die breiten Fenster des Taj Mahal sieht er die schnell ziehenden Wolken und in der Ferne eine zaghafte Sonne, deren Strahlen die schwarzen Vulkankuppen der Pentland Hills erhellen.

Er könnte sich damit begnügen, dass Kirsten eine recht nette Person ist, um mit ihr einen Morgen zu verbringen und lästige Probleme der städtischen Verwaltung zu lösen. Er könnte seine Beurteilung darauf beschränken, welche Charaktereigenschaften hinter ihren Überlegungen über das Büroleben und die schottische Politik liegen. Er könnte akzeptieren, dass ihre Seele wohl kaum an ihrer blassen Haut oder der Neigung ihres Halses erkennbar ist. Er könnte sich damit zufriedengeben, dass sie ziemlich interessant ist und er noch fünfundzwanzig Jahre brauchen wird, um sie eigentlich kennenzulernen.

Stattdessen ist er sich ganz sicher, jemanden mit einer ganz außergewöhnlichen Kombination innerer und äußerer Qualitäten entdeckt zu haben – Intelligenz und Freundlichkeit, Humor und Schönheit, Ernsthaftigkeit und Mut; eine Person, die ihm fehlen würde, sollte sie jetzt den Raum verlassen, obwohl sie ihm noch vor zwei Stunden völlig unbekannt war; deren Finger – die gerade mit einem Zahnstocher zarte Linien auf der Tischdecke ziehen – er streicheln und zwischen seinen eigenen spüren möchte; mit der er Kinder haben und den Rest seines Lebens verbringen möchte.

Aus Angst, sie zu kränken, unsicher über ihre Vorlieben, wohl wissend, wie leicht er eine Andeutung missverstehen könnte, zeigt er sich äußerst besorgt und besonders aufmerksam.

»Entschuldigung; möchten Sie Ihren Schirm lieber selber halten?«, fragt er sie auf dem Rückweg zur Baustelle.

»Ach, mir ist das eigentlich egal«, antwortet sie.

»Ich halte ihn wirklich gerne für Sie – oder eben auch nicht«, drängt er.

»Wirklich, wie Sie wollen!«

Er legt jedes Wort auf die Goldwaage. Auch wenn es guttut, sich zu offenbaren, möchte er sich Kirsten gegenüber erst einmal nicht öffnen. Seine wahre Persönlichkeit zu zeigen hat zu diesem Zeitpunkt keinerlei Priorität.

In der nächsten Woche treffen sie sich wieder. Als sie für einen Bericht über das Budget und die Baufortschritte wieder zum Taj Mahal gehen, fragt Rabih, ob er ihre Aktentasche tragen darf, woraufhin sie lacht und meint, er solle nicht so sexistisch sein. Offenbar ist dies nicht der richtige Moment, um ihr zu eröffnen, dass er ihr ebenso gerne beim Umzug helfen würde – oder sie pflegen würde, wenn sie Malaria hätte. Andererseits steigert es Rabihs Faszination für Kirsten, die generell kaum Hilfe zu brauchen scheint – demnach wäre Schwäche am Ende ein reizvoller Zug bei einem starken Menschen.

»Die Sache ist die, dass die Hälfte meiner Abteilung entlassen wurde, so dass ich eigentlich die Arbeit von drei Leuten übernehme«, erklärt Kristen, als sie Platz genommen haben. »Gestern Abend war ich erst um zehn fertig, obwohl das vor allem daran liegt, dass ich, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, alles unter Kontrolle haben muss.«

Weil er befürchtet, etwas Falsches zu sagen, weiß er nicht, worüber er reden soll – aber weil Schweigen ein Zeichen für Langeweile wäre, will er auch keine längeren Pausen zulassen. Schließlich beschreibt er langatmig, wie sich das Gewicht der Brücken auf die tragenden Pfeiler verteilt, und schiebt dann eine Analyse der relativen Bremsgeschwindigkeit von Reifen auf nassen und trockenen Oberflächen hinterher. Zumindest verweist diese Unbeholfenheit auf seine Ernsthaftigkeit: In der Regel sind wir nicht sonderlich befangen, wenn wir jemanden verführen, an dem uns nicht allzu viel gelegen ist.

Unablässig spürt er, wie wenig Anspruch er auf Kirstens Aufmerksamkeit hat. Ihre Freiheit und Selbständigkeit findet er erschreckend und erregend zugleich. Er ist sich dessen bewusst, dass es keinerlei Grund dafür gibt, dass sie ihm jemals Zuneigung entgegenbringt. Ihm ist klar, wie wenig Recht er darauf hat, dass sie ihn mit all seinen Fehlern mit der notwendigen Nachsicht betrachtet. In Kirstens Leben spielt er vorerst eine äußerst bescheidene Rolle.

Nun stellt sich die zentrale Frage, ob das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht, letztlich ein kinderleichtes Thema, das doch endlose Deutungen und ausgiebige psychologische Mutmaßungen impliziert. Sie hat ihm für seinen grauen Regenmantel ein Kompliment gemacht. Sie hat ihn für ihren Tee und das Essen zahlen lassen. Sie hat ihn ermutigt, als er seinen Ehrgeiz erwähnte, wieder in der Architektur Fuß zu fassen. Dreimal versuchte er, das Gespräch auf ihre früheren Beziehungen zu bringen, aber darauf reagierte sie jeweils ziemlich angespannt, ja leicht irritiert. Und sie ging auch nicht auf seinen Vorschlag ein, sich einen Film anzusehen.

Doch solche Zweifel schüren nur das Begehren. Nach Rabihs Erfahrung sind nicht die Menschen am attraktivsten, die ihn gleich akzeptieren (deren Urteil zweifelt er an), oder solche, die ihm keine Chance geben (deren Gleichgültigkeit lehnt er inzwischen ab), sondern jene, die ihn aus unerklärlichen Gründen – vielleicht eine konkurrierende romantische Beziehung oder eine zurückhaltende Art, eine physisch missliche Lage oder ein psychischer Hinderungsgrund, eine religiöse Überzeugung oder eine entgegengesetzte politische Meinung – eine Weile im Regen stehen lassen.

Die Sehnsucht erweist sich auf ganz eigene Weise als faszinierend.

Schließlich findet Rabih in den Unterlagen des Stadtrats ihre Telefonnummer und schreibt ihr eines Samstagmorgens eine SMS, er vermute, später käme die Sonne raus. »Ich weiß«, lautet die fast unverzügliche Antwort. »Wie wär’s mit dem Botanischen Garten? Kx«

Und so betrachten sie drei Stunden später die ungewöhnlichsten Baum- und Pflanzenarten im Botanischen Garten von Edinburgh. Sie sehen eine chilenische Orchidee, sie bewundern die Verästelungen eines Rhododendron, und sie bleiben zwischen einer Schweizer Tanne und einem riesigen kanadischen Redwood-Baum stehen, dessen Zweige in einer leichten Meeresbrise schwingen.

Rabih hat keine Kraft mehr für die üblichen sinnlosen Worte, die solchen Ereignissen sonst vorausgehen. So ergibt es sich aus ungeduldiger Verzweiflung und keineswegs aus Arroganz oder einer Anspruchshaltung heraus, dass er Kirsten mitten im Satz unterbricht – sie liest gerade von einer Informationstafel ab »Alpenbäume sollte man nie verwechseln mit …« –, und ihr Gesicht mit beiden Händen umfasst und seine Lippen sanft auf die ihren drückt, worauf sie die Augen schließt und ihre Arme fest um seine Lenden schlingt.

Von einem Eiswagen in Inverleith Terrace schallt ein furchterregendes Geklingel herüber, eine Dohle kreischt auf dem Zweig eines Baumes, den man aus Neuseeland eingeführt hat, und niemand bemerkt zwei Menschen, etwas versteckt hinter fremdländischen Bäumen, in einem der zärtlichsten und folgenschwersten Augenblicke ihres Lebens.

Dennoch sollten wir betonen, dass dies noch nicht viel mit einer Liebesgeschichte zu tun hat. Liebesgeschichten beginnen nicht dann, wenn wir fürchten, jemand würde uns vielleicht nicht wiedersehen wollen, sondern wenn wir entscheiden, dass wir nichts dagegen haben, uns ständig zu sehen; nicht, wenn wir die Möglichkeit haben, wegzulaufen, sondern wenn wir uns gegenseitig das feste Versprechen geben, ein Leben lang zusammenzuhalten und uns nicht loszulassen.

Unser Verständnis von Liebe wird durch die ersten verführerischen und ergreifenden Augenblicke irregeleitet und getäuscht. Wir lassen unsere Liebesgeschichten viel zu früh enden. Wir wissen definitiv zu viel darüber, wie die Liebe beginnt, und bedenklich wenig darüber, wie es mit ihr weitergeht.

An den Toren des Botanischen Gartens sagt Kirsten Rabih, er möge sie anrufen und, mit einem Lächeln, mit dem sie plötzlich aussieht, wie sie wohl mit zehn Jahren ausgesehen hat, räumt sie ein, in der nächsten Woche jeden Abend Zeit zu haben.

Während er sich auf seinem Heimweg nach Quartermile durch das Samstagsgedränge wühlt, schwebt Rabih so auf Wolke sieben, dass er den nächstbesten Fremden anhalten könnte, um ihm sein Glück zu verkünden. Ohne dass ihm dies so recht klar ist, hat er die drei wesentlichen Herausforderungen höchst erfolgreich gemeistert, die dem romantischen Konzept der Liebe entsprechen: Er hat die richtige Frau gefunden; er hat ihr sein Herz eröffnet, und er ist angenommen worden.

Und doch ist er natürlich noch nirgendwo angekommen. Er und Kirsten werden heiraten, sie werden leiden, sie werden oft Geldsorgen haben, sie werden zuerst ein Mädchen, dann einen Jungen bekommen, einer der beiden wird eine Affäre haben, es wird Zeiten der Langeweile geben, manchmal werden sie sich gegenseitig und gelegentlich sich selbst umbringen wollen. Dies wird die eigentliche Liebesgeschichte sein.

Leidenschaft

Kirsten schlägt einen Ausflug nach Portobello Beach vor, eine halbe Stunde mit dem Rad auf dem Firth of Forth, am Meer entlang. Rabih ist unsicher auf dem Rad, das er bei einem von Kirsten empfohlenen Laden in einer Seitenstraße der Princes Street gemietet hat. Sie hat ein eigenes, ein kirschrotes Modell mit zwölf Gängen und fortschrittlichen Felgenbremsen. Er gibt sein Bestes, um mitzuhalten. Auf halbem Weg den Hügel hinab schaltet er in den nächsten Gang, aber die Kette will nicht, springt ab und dreht sich im Leerlauf um die Nabe. Er ist frustriert und wird wütend. Zu dem Laden wäre es ein weiter Weg. Kirsten aber geht mit dieser Situation ganz anders um. »Schau dich an«, sagt sie, »du riesengroßer Esel, du.« Sie dreht das Fahrrad um, schaltet die Gänge zurück und richtet die Gangschaltung wieder. Ihre Hände sind schnell ölverschmiert, ein Streifen davon landet auf ihrer Wange.

Liebe bedeutet Bewunderung für die Qualitäten des Geliebten, die unsere Schwächen und Defizite ausgleichen; Liebe ist eine Suche nach Ergänzung.

Er hat sich in ihre Ruhe verliebt; in ihr Vertrauen, dass alles gut wird; dass sie sich offenbar nie verfolgt fühlt und Fatalismus nicht zu kennen scheint; dies sind die Tugenden seiner ungewöhnlichen neuen schottischen Freundin, die mit einem so starken Akzent spricht, dass er dreimal nachfragen muss, um das Wort gelegentlich zu verstehen. Rabihs Liebe ist eine logische Reaktion auf die Entdeckung von Kirstens Stärken und Eigenschaften, die er selber gerne hätte. Er liebt aus einem Gefühl von Unvollständigkeit heraus – und aus einer Sehnsucht nach Ganzheit.

Damit ist er nicht allein. Denn auch Kirsten möchte eigene Mängel wettmachen, aber eben in anderen Bereichen. Sie ist erst nach dem Studium aus Schottland rausgekommen. Ihre Verwandten stammen alle aus derselben kleinen Ecke des Landes. Dort herrscht Engstirnigkeit; die Farben sind grau, Selbstlosigkeit zählt, die Atmosphäre ist provinziell. Daher fühlt sie sich zu allem hingezogen, was sie mit dem Süden verbindet. Sie sehnt sich nach Licht und Hoffnung, nach Menschen, die ihren Körper spüren und Leidenschaft und Gefühle zulassen können. Sie betet die Sonne an, während sie ihre blasse Haut und ihre Lichtempfindlichkeit nicht ausstehen kann. Ein Poster von der Medina von Fez hängt bei ihr an der Wand.

Alles, was sie über Rabihs Hintergrund erfährt, fasziniert sie. Dass er der Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter ist, er Ingenieur und sie Stewardess, findet sie aufregend. Er erzählt ihr Geschichten über eine Kindheit in Beirut, Athen und Barcelona, wo es strahlend schöne Augenblicke, aber manchmal auch größte Gefahr gab. Er spricht Arabisch, Französisch, Deutsch und Spanisch; seine Koseworte (spielerisch überbracht) haben viele Facetten. Seine Haut ist olivenfarben, ganz anders als ihre rosig helle. Er schlägt seine langen Beine übereinander, wenn er sitzt, und seine erstaunlich grazilen Hände können Makdous, Taboulé und Kartoffelsalat zubereiten. Er versorgt sie mit seiner Welt.

Auch sie ist auf der Suche nach einer Liebe, die sie ins Gleichgewicht bringt und sie vervollständigt und ergänzt.

In der Liebe geht es auch darum, von den Verletzlichkeiten und Sorgen des anderen berührt zu werden, besonders dann, wenn wir (wie es in den ersten Tagen passiert) dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden. Unseren Liebhaber niedergeschlagen oder in einer Krise zu sehen, in Tränen oder einer Situation nicht gewachsen, gibt uns die Sicherheit, dass er, trotz aller Tugenden, doch nicht so beängstigend unschlagbar ist. Auch er ist manchmal verwirrt und nah am Wasser gebaut, eine Erkenntnis, die uns eine neue, helfende Rolle auferlegt, die unsere Scham über die eigenen Unzulänglichkeiten reduziert und uns im Leiden einander näherbringt.

Die beiden nehmen den Zug nach Inverness, um Kirstens Mutter zu besuchen. Sie besteht darauf, die beiden am Bahnhof abzuholen, obgleich dies für sie eine Bustour durch die ganze Stadt bedeutet. Sie nennt Kirsten ihr »Lämmchen« und umarmt sie auf dem Bahnsteig innig, mit schmerzhaft geschlossenen Augen. Sie reicht Rabih formell die Hand und entschuldigt sich für die jahreszeitlichen Gegebenheiten: es ist halb drei Uhr nachmittags und schon fast dunkel. Sie hat dieselben lebhaften Augen wie ihre Tochter, doch ihre haben zudem noch etwas Unerschrockenes, weswegen er sich ziemlich unwohl fühlt, als sie sich dann auf ihn richten – was sie während ihres Aufenthalts wieder und wieder unvorhergesehen tun.

Ihr Zuhause ist ein schmales, einstöckiges graues Reihenhaus, unmittelbar gegenüber der Grundschule, wo die Mutter seit drei Jahrzehnten unterrichtet. In ganz Inverness gibt es Erwachsene – die inzwischen Läden besitzen, Verträge entwerfen und Blut abnehmen –, die sich an ihre Einführung in die Grundlagen der Arithmetik erinnern und an die Bibelgeschichten, denen sie zu Mrs McLelland’s Füßen gelauscht haben. Genau genommen erinnern sie sich daran, wie deutlich sie allen ihre Zuneigung zeigte, aber auch, wie leicht man sie enttäuschen konnte.

Die drei essen gemeinsam im Wohnzimmer zu Abend, während im Fernsehen eine Quiz-Show läuft. Bilder, die Kirsten im Kindergarten gemalt hat, pflastern in hübschen vergoldeten Rahmen die Wände des Treppenhauses. Im Flur hängt ein Foto von ihrer Taufe, in der Küche ein Bild von ihr in ihrer Schuluniform, im Alter von sieben Jahren, vernünftig dreinblickend und mit Zahnlücke; und auf dem Bücherbord steht ein Schnappschuss von ihr, als sie elf war, hager, zerzaust und unerschrocken, in Shorts und T-Shirt am Strand.

Ihr Zimmer ist offenbar mehr oder weniger unberührt, seit sie nach Aberdeen gegangen ist, um in Jura und Buchhaltung ihren Abschluss zu machen, im Schrank hängen schwarze Kleidungsstücke, und die Regale sind vollgepackt mit zerfledderten Schulbüchern. In die Penguin-Ausgabe von Mansfield Park hat die jüngere Kirsten damals geschrieben, »Fanny Price: die Tugend der außergewöhnlichen Normalen«. Ein Fotoalbum unter dem Bett bietet eine Aufnahme von ihrem Vater, der in Cruden Bay vor einem Eiswagen steht. Sie ist sechs und wird nur noch ein Jahr lang etwas von ihm haben.

Der Familienlegende gemäß hat Kirstens Vater nach zehn Ehejahren eines Morgens das Haus verlassen, mit einem kleinen Koffer, den er, während seine Frau in der Schule war, gepackt hatte. Als einzige Erklärung hatte er auf dem Tisch im Flur einen Zettel hinterlassen, auf den Sorry gekritzelt war. Danach zog er in Schottland umher, verdingte sich hier und da auf einer Farm und blieb mit Kirsten nur in Kontakt, um ihr einmal jährlich zum Geburtstag eine Karte und ein Geschenk zu schicken. Als sie zwölf wurde, kam ein Päckchen mit einer Strickjacke in der Größe für eine Neunjährige. Kirsten schickte es an eine Adresse in Cammachmore zurück mit der freimütigen Notiz, sie hoffe, er werde bald sterben. Seither hat man nichts mehr von ihm gehört.

Wäre er wegen einer anderen Frau gegangen, hätte er lediglich sein Ehegelöbnis gebrochen. Aber Frau und Kind zu verlassen, nur um für sich zu sein und sich noch mehr zu vergnügen, ohne je über seine Motive zufriedenstellend Rechenschaft abzulegen – dies hatte eine viel tiefergreifendere, abstraktere und noch verheerendere Dimension.

Kirsten liegt in Rabihs Armen, während sie ihm all dies darlegt. Ihre Augen sind rot. Dies ist eine weitere Seite an ihr, die er liebt: die Schwäche eines sonst so ausgesprochen kompetenten Menschen.

Sie fühlt ihrerseits genauso für ihn – von seiner eigenen Geschichte gibt es mindestens ebenso traurige Umstände zu berichten. Als Rabih zwölf war, nach einer Kindheit, die von sektiererischer Gewalt, Straßensperren und Nächten in Luftschutzkellern geprägt war, sind er und seine Eltern von Beirut nach Barcelona gezogen. Aber schon ein halbes Jahr, nachdem sie ankamen und sich in einer Wohnung in der Nähe des alten Hafens niedergelassen hatten, begann seine Mutter, über Unterleibschmerzen zu klagen. Sie ging zum Arzt, und vollkommen unvorhergesehen wurde bei ihr ein fortgeschrittener Leberkrebs diagnostiziert, was in dieser Unmittelbarkeit in ihrem Sohn das Urvertrauen zerschlug. Drei Monate später starb sie. Nach einem Jahr war sein Vater wieder verheiratet, mit einer emotional distanzierten Engländerin, mit der er jetzt im Ruhestand in einer Wohnung in Cadiz lebt.

Kirsten möchte den zwölfjährigen Jungen von damals trösten, und dies so leidenschaftlich, dass es sie selbst überrascht. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie immer wieder ein Bild von Rabih und seiner Mutter, zwei Jahre vor ihrem Tod, auf dem Rollfeld des Beiruter Flughafens, mit einer Lufthansa-Maschine im Hintergrund. Rabihs Mutter war auf Flügen nach Asien und Amerika eingesetzt, reichte wohlhabenden Geschäftsleuten im vorderen Bereich des Flugzeugs die Mahlzeiten, stellte sicher, dass die Gurte fest angeschnallt waren, schenkte Getränke aus und lächelte Fremde an, während ihr Sohn zu Hause auf sie wartete. Rabih erinnert sich noch an die aufgeregte Quasi-Übelkeit an den Tagen, wenn er sie zurückerwartete. Aus Japan brachte sie ihm einmal Notizbücher aus Fasern von Maulbeerbäumen mit und aus Mexiko eine bemalte Figur von einem Azteken-Häuptling. Sie sah wie eine Filmschauspielerin aus – wie Romy Schneider, meinten die Leute.

Zentral für Kirstens Liebe ist das Bedürfnis, die Wunde von Rabihs lang verdrängtem, selten erwähnten Verlust zu heilen.

Die Liebe ist dann am innigsten, wenn wir merken, dass unsere Geliebten unsere chaotischen, peinlichen und beschämenden Seiten verstehen, vielleicht sogar besser als wir selbst. Wenn wir uns mit Mitgefühl und Nachsicht verstanden fühlen, entwickelt sich das Vermögen, zu vertrauen und zu geben. Liebe ist die Dividende der Dankbarkeit für den Einblick in unsere eigene verwirrte und gestörte Psyche.

»Du bist wieder in deinem ›wütend-erniedrigten-und-merkwürdig-ruhigen‹ Modus«, diagnostiziert sie eines Abends, als die Autovermietungs-Website, auf der Rabih für sich und vier Kollegen einen Minibus mieten will, auf der allerletzten Seite steckenbleibt und ihn im Zweifel lässt, ob alle seine Eingaben richtig gespeichert wurden und seine Kreditkarte belastet ist. »Ich finde, du solltest schreien, etwas Unanständiges sagen, und dann ins Bett kommen. Ich hätte nichts dagegen. Ich würde sogar die Vermietungsstation morgen früh für dich anrufen.« Seine Unfähigkeit, Wut zum Ausdruck zu bringen, erkennt sie ganz klar; wie er Schwierigkeiten in Apathie und Selbsthass verwandelt, hat sie durchschaut. Ohne ihn bloßzustellen, kann sie den Finger darauflegen und benennen, welche verrückte Formen dies manchmal annehmen kann.

Mit ähnlicher Präzision begreift sie seine Angst, er könnte sich vor den Augen seines Vaters blamieren – und folglich auch vor anderen männlichen Autoritätspersonen. Unterwegs zu einer ersten Begegnung mit seinem Vater im Hotel George flüstert sie Rabih ohne Ankündigung zu: »Stell dir einfach vor, dass es gleichgültig ist, was er von mir hält – oder eben auch von dir.« Rabih hat das Gefühl, als kehre er in freundschaftlicher Begleitung am helllichten Tag in einen Wald zurück, in dem er bisher immer nachts und allein gewesen ist, und merke nun, dass die bösen Gestalten, die ihm früher einen großen Schrecken einjagten, eigentlich immer nur Felsbrocken waren, die merkwürdige Schatten warfen.

Die Liebe ist anfangs von einer enormen Erleichterung geprägt, sich endlich auch mit all dem zeigen zu dürfen, was zuvor anstandshalber versteckt gehalten wurde. Nun können wir zugeben, nicht so respektabel oder so nüchtern, nicht so geschliffen oder so »normal« zu sein, wie die Gesellschaft meint. Wir können kindisch, phantasievoll, wild, hoffnungsvoll, zynisch, zerbrechlich und vielfältig sein – und der Liebende versteht all dies und nimmt uns mit all dem an.

Um elf Uhr nachts gehen sie, nach einem ersten Abendessen, nochmals raus und holen sich bei Los Argentinos in der Preston Street gegrillte Hüftsteaks, die sie dann im Mondschein auf einer Parkbank verspeisen. Sie sprechen in witzigem Akzent miteinander: sie ist eine verlorene Touristin aus Hamburg, die das Museum für Moderne Kunst sucht; er kann nicht wirklich weiterhelfen, weil er als Hummerhändler aus Aberdeen den ungewohnten Tonfall nicht versteht.

Sie werden wieder zu verspielten Kindern. Sie hüpfen auf dem Bett. Sie spielen miteinander Huckepack. Sie lästern. Nach einer Party finden sie unweigerlich an allen anderen Gästen etwas auszusetzen. Ihre gegenseitige Loyalität verstärkt sich, je illoyaler sie gegenüber den anderen werden.

Sie revoltieren gegen jede alltägliche Scheinheiligkeit. Sie befreien sich gegenseitig davon, mit Kompromissen leben zu müssen. Sie meinen, keine Geheimnisse mehr zu haben.

Normalerweise müssen sie auf Namen reagieren, die ihnen vom Rest der Welt gegeben wurden, wie sie in offiziellen Dokumenten und in der Bürokratie gelten, aber die Liebe inspiriert dazu, Kosenamen zu erfinden, die besser zu ihrer Zärtlichkeit passen. Kirsten heißt also »Teckle«, was auf Schottisch umgangssprachlich so viel wie »toll« bedeutet und für Rabih verschmitzt und arglos, geschickt und entschlossen klingt. Er hingegen erhält den Namen »Sfouf«, nach dem trockenen, mit Anis und Ingwer gewürzten libanesischen Kuchen, den er sie in einem Delikatessengeschäft am Nicolson Square kosten lässt – und der für sie perfekt zu der zurückhaltenden Süße und levantinischen Exotik des Jungen aus Beirut mit den traurigen Augen passt.

Sex und Liebe

Für das zweite Date, nach dem Kuss im Botanischen Garten, hat Rabih ein Essen in einem Thai Restaurant auf der Howe Street vorgeschlagen. Er ist zuerst da und wird ins Souterrain zu einem Tisch neben einem Aquarium geführt, in dem sich bedrohlich viele Hummer drängen. Sie kommt ein paar Minuten zu spät, leger gekleidet in alten Jeans und Sweatshirt, ohne Makeup, mit Brille statt ihrer üblichen Kontaktlinsen. Das Gespräch beginnt mühsam. Rabih weiß nicht, wie er an die große Intimität ihres letzten Treffens anknüpfen soll. Als wären sie wieder einfach nur Bekannte. Sie reden über seine Mutter und ihren Vater, über Bücher und Filme, die sie beide kennen. Aber er traut sich nicht, ihre Hände zu berühren, die sie ohnehin meist im Schoß hält. Er hat Angst, sie könnte es sich anders überlegt haben.

Doch als sie später auf der Straße sind, verfliegt die Spannung. »Möchten Sie auf einen Tee zu mir – Kräutertee vielleicht?«, fragt sie. »Es ist nicht weit von hier.«

Also gehen sie ein paar Straßen weiter zu einem Appartementhaus und steigen in den obersten Stock, wo sie eine winzige, aber sehr schöne Ein-Zimmer-Wohnung mit Blick aufs Meer und Fotos von verschiedenen Gegenden in den Highlands an den Wänden hat.