Der Preis der Rache - Mathias Berg - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Preis der Rache E-Book

Mathias Berg

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

RAF-Terror, abgetrennte Füße und ein verschwundenes Kind: Start einer faszinierenden Cold-Case-Krimi-Reihe mit einem besonderen Ermittler-Team Gleich an ihrem ersten Tag beim LKA Düsseldorf wird die junge forensische Psychologin Lupe Svensson mit einem besonderen Fall konfrontiert: Als Praktikantin des erfahrenen Ermittlers Otto Hagedorn soll sie den Fund eines fast 30 Jahre alten Skeletts untersuchen, dem ein Fuß fehlt. Otto hatte bereits 1975 in drei Mordfällen ermittelt, bei denen den Opfern jeweils ein Fuß abgetrennt worden war, zu einer Verhaftung war es damals nicht gekommen. Kann der Cold Case nun doch noch gelöst werden? Die Ermittlungen führen Lupe und Otto zurück in eine faszinierende Ära der jüngeren deutschen Vergangenheit und zu einer ungewöhnlichen Mordserie … »Der Preis der Rache« ist der erste Teil einer Krimi-Reihe von Mathias Berg: Gemeinsam mit ihrem Partner Otto Hagedorn löst die junge forensische Psychologin Lupe Svensson Cold Cases in NRW. Dabei setzen die beiden sowohl auf Ottos Erfahrung und Lupes Spürsinn als auch auf moderne Kriminaltechnik.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 556

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mathias Berg

Der Preis der Rache

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Gleich an ihrem ersten Tag beim LKA Düsseldorf wird die junge forensische Psychologin Lupe Svensson mit einem besonderen Fall konfrontiert: Als Praktikantin des erfahrenen Ermittlers Otto Hagedorn soll sie den Fund eines fast 30 Jahre alten Leichnams mit untersuchen, dem ein Fuß abgetrennt wurde. 1975 hatte Otto bereits Jagd auf den »Fußmörder« gemacht, ohne Erfolg. Kann der alte Fall nun doch noch gelöst werden? Die Ermittlungen führen Lupe und Otto zurück in eine faszinierende Ära der jüngeren deutschen Vergangenheit und zu einer ungewöhnlichen Mordserie …

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologTAG EINSKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13TAG ZWEIKapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19TAG DREIKapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28TAG VIERKapitel 29TAG FÜNFKapitel 30TAG SECHSKapitel 31Kapitel 32TAG SIEBENKapitel 33TAG ACHTKapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40TAG NEUNKapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48TAG ZEHNKapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57TAG ELFKapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67TAG ZWÖLFKapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72TAG VIERZEHNKapitel 73Kapitel 74TAG FÜNFZEHNKapitel 75TAG NEUNZEHNKapitel 76TAG ZWANZIGKapitel 77Kapitel 78TAG ZWEIUNDZWANZIGKapitel 79Kapitel 80Kapitel 81NachsatzDanksagung
[home]

 

 

 

 

Für Lina

Mögen die guten Mächte stets mit dir sein.

[home]

 

 

 

 

I was wrapped in black fur and white fur and you undid me and then you placed me in gold light and then you crowned me, while snow fell outside the door in diagonal darts.

Anne Sexton, Us

[home]

Prolog

Damit hatte er nicht gerechnet. Das Erste, was der Polizist in dem stickigen Raum sah, war ein lebloses kleines Kind am Boden. Für einen Moment war er unfähig, sich zu bewegen. Das Kind lag von ihm abgewandt, auf der Seite. Mit dem Gesicht zum Fenster. Auf einer fleckigen Matratze mit einem zerwühlten grünen Handtuch darauf. Ein paar seiner feinen, dunklen Haare an der Schläfe bewegten sich im Lufthauch, den die Tür verursachte, die jetzt hinter ihm ins Schloss fiel. Das Kind trug nichts außer einer Windel. In seiner zur Faust erstarrten kleinen Hand hielt es einen Zipfel des Handtuchs fest.

In dem Raum war es so unerträglich warm, dass der Polizist fast nicht atmen konnte. Durch das Wellblechdach spürte er förmlich das nahende Gewitter, das grollend heranzog. Hier drinnen roch es nach Köter und Fäulnis. Nach Kot und Urin. Und nach altem, morschem Holz. Der Polizist ließ schnell seinen professionellen Blick schweifen und sammelte in seinem Kopf die Fakten, eine Kette von Schlagwörtern. Er prägte sich alles genau ein. Dieses Bild würde er in seinem Leben nicht mehr vergessen, da war er sich sicher.

Vor dem Fenster am Boden: eine Puppe. Abgenutzte Holzklötze. Bunt. Das Fenster: verschmiert. Abdrücke einer Hundeschnauze. Orangefarbene Vorhänge: aufgezogen. Rechts in der Ecke ein Hundekorb mit roter löchriger Wolldecke. Fressnäpfe aus Metall. Blank geleckt. Links. Eine blau gestrichene Kommode mit drei Schubladen. In der Mitte des Zimmers, auf dem Boden, die Kinderbettmatratze. Mit Flecken übersät. Kein Bett. Keine Bilder. Kein Fernseher. Kein Radio. Keine Liebe. Keine Geborgenheit. Kein Schutz.

Nur blankes Entsetzen.

Der Schweiß brach ihm aus. Er stieg über das tote Kind am Boden, trat ans Fenster, schob eine Spinnwebe zur Seite und ruckelte am Griff. Er klemmte. Mit aller Kraft zerrte er daran, dann sprang das Fenster auf. Der Polizist spürte den Lufthauch, der hereinwehte, und atmete auf. Staubpartikel tanzten im Licht.

Er kniete vor dem Kinderleichnam nieder. Auf den ersten Blick konnte er nicht sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, geschweige denn, wie alt das Kind war. Es fehlte ihm an Erfahrung. Gewiss, er hatte schon einige tote Menschen gesehen. Erst letzte Woche einen Mann, der Selbstmord begangen hatte. Auch Opfer von Schießereien oder im Januar einen Junkie, der es unter der Brücke übertrieben und sich mit einem goldenen Schuss ins Jenseits katapultiert hatte. Aber ein totes Kind hatte er bislang noch nicht gesehen.

Es schmerzte ihn zutiefst. Er blickte betrübt auf das kleine Wesen nieder, auf sein aschgraues Gesicht. Auf die kleinen, viel zu langen Fingernägel und das verklebte Haar. Die dunklen Augenbrauen. Er sah sich nach etwas um, womit er den Leichnam bedecken konnte, fand aber nichts. Dann eben so, dachte er und streckte die Hände aus, um den kleinen, dünnen Körper aufzuheben und nach draußen zu bringen.

In dem Moment bemerkte er, dass sich der Brustkorb ein wenig hob. Oder hatte er sich getäuscht?

Er starrte auf die magere Brust, zählte die Sekunden und stellte mit einem rauschhaften Glücksgefühl fest, dass das Kind nicht tot war.

Es atmete schwach. Sehr schwach.

Er griff mit beiden Händen nach dem Kind. Es war wider Erwarten warm und seine Haut von einem schmierigen Film überzogen.

Als das Kind die Berührung spürte, riss es die Augen auf. Der kleine Körper regte sich träge wie eine schlafende Schlange, die geweckt worden war. Das Kind sah den Polizisten an, aber sein Blick verdunkelte sich schlagartig.

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

Dann öffnete das Kind den kleinen Mund, die rissigen Lippen, und aus seiner Kehle kam ein unheilvolles, lang gezogenes Knurren.

[home]

TAG EINS

Kapitel 1

Der Vorarbeiter weiß es sofort: Das, was dort in der Grube zum Vorschein kommt, gehört da nicht hin.

Genau um 8:11 Uhr an diesem 3. August 2003 stößt der Baggerführer mit seiner großen Schaufel, die wie eine gigantische Gabel in den Himmel ragt, in die Grube, die zuvor den Treibstofftank der alten Tankstelle beherbergt hat. In die einem Swimmingpool nicht unähnliche Betonwanne schlägt er schnell Löcher und beginnt, die gezackten, unförmigen Bodenplatten abzuräumen, die wie Eissplitter eines gefrorenen Sees aussehen.

Der Vorarbeiter beobachtet die Aktion, doch es dauert einen Moment, bis er versteht, was da plötzlich zum Vorschein kommt. Was da zwischen Staubwolken und Betonbrocken hervorblitzt. Er schiebt den Sicherheitshelm aus seiner Stirn und sieht genauer hin.

Sein Hirn analysiert in wenigen Sekunden, was da aus dem Beton ragt.

Schon reckt er hektisch die Hand in die Höhe und ruft dem Baggerführer etwas zu, doch vergebens. Erst als er wild mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelt, bemerkt der Baggerführer ihn, zieht die Gabel des Baggers von der Stelle weg und schaltet den Motor aus.

Der Vorarbeiter springt in die Grube, reißt sich dabei den Helm vom Kopf und läuft auf die Stelle zu. Schweiß brennt in seinen Augen, er wischt ihn rasch mit dem Ärmel weg. Zwei Schritte vor diesem Etwas bleibt er stehen und geht in die Knie.

Die anderen Arbeiter strömen herbei.

Für einen Moment fragt er sich, ob es echt ist. Oder ob das, was er da sieht, ein schlechter Scherz ist. Doch es stimmt. Seine Augen haben sich nicht getäuscht.

Im aufgerissenen Betonboden steckt ein Leichnam.

Aber nicht etwa ein Skelett, es sieht eher wie eine Mumie aus, mit lederner Haut, braun und wie eingetrocknet. Allerdings liegt die Person nicht da wie eine friedlich schlafende Mumie im Museum. Bis zur Brust steckt der Körper im Beton, merkwürdig verdreht. Das Schlimmste ist der Anblick des Schädels.

»Meine Güte«, sagt er leise.

Der Schädel ist zur Seite geneigt, der Kiefer weit aufgeklappt. Er kann die Zähne erkennen. Es sieht aus, als würde der Schädel schreien.

Die anderen Arbeiter stehen nun im Kreis um den Fund herum und reden aufgeregt durcheinander. Einer streckt die Hand aus und will den Leichnam berühren.

»Nicht anfassen!«, ruft der Vorarbeiter.

Einer fragt, wie dieses Etwas hierhergekommen ist. In diese alte Tankstelle, die sie abreißen sollen. Ein anderer bekreuzigt sich. Der Vorarbeiter kann den Blick nicht von dem Fund abwenden. Was er da sieht, ist echt. Da ist er sich ganz sicher. Und es sieht grausam aus.

Endlich geht ein Ruck durch seinen Körper.

Er zieht sein Handy aus der Hosentasche, wendet sich ab und informiert seinen Chef, der mit einer Faust in der Tasche die Polizei ruft und seine Mannschaft nach Hause schickt. Zumindest für heute.

Kapitel 2

Heute ist ein großer Tag für mich. Ein ganz großer sogar. Besser als Geburtstag. Besser als der erste Urlaubstag am Meer. Besser als eine zweite Achterbahnfahrt oder ein unverhofft spendierter Drink. Heute ist der Tag, dem ich seit Wochen entgegenfiebere, und er fühlt sich an wie mein erster Schultag. Natürlich bin ich viel zu früh dran, aber ich will nicht länger in meiner brütend heißen Dachgeschosswohnung warten. Also setze ich meine Sonnenbrille auf und trete aus dem Haus in die laue Morgenluft, stelle mich an die Straße und beobachte den morgendlichen Verkehr. Sehe immer wieder in die Richtung, aus der Raffa gleich angefahren kommen wird.

Die Sonne steht noch niedrig und scheint wie ein riesiger Scheinwerfer zwischen den Häuserschluchten hindurch. Im Laufe des Tages wird die Sonne wieder wie ein gnadenloser Wärmestrahler in den Himmel aufsteigen und das Thermometer über die Dreißig-Grad-Marke treiben. Bis wieder alle schwitzen und stöhnen und die Ventilatoren im Dauerbetrieb hin und her schwingen. So geht das seit Tagen. Wochen. Momentan mag ich den großen Stern da oben nicht wirklich leiden. Ich will krachende Gewitter und kühle Regentage. Doch dieser Sommer ist ein backofenheißer und unerbittlicher Sommer. Es hat seit Wochen nicht geregnet, und gestern haben die Meteorologen im Fernsehen bereits den Jahrhundertsommer prophezeit.

Dabei ist dieses Jahrhundert gerade mal drei Jahre alt.

Heute ist der erste Tag meines Praktikums beim LKA, und ich habe Raffa gebeten, mich zu fahren, weil ich mir vor Aufregung fast in die Hose mache. Ich hätte natürlich selbst fahren können, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Also bin ich über meinen Schatten gesprungen und habe ihn gefragt. Raffa hat mich mit einem merkwürdigen Blick angesehen und dann ohne Murren zugestimmt. Seine Gefälligkeit bedeutet für ihn drei Stunden weniger Schlaf, denn seine erste Vorlesung wäre eigentlich erst um 12:00 Uhr. Aber er tut es für mich, und ich weiß, warum.

Ich tippe mit einem Bein einen kräftigen Beat auf den Asphalt und widerstehe dem Impuls, mir eine Zigarette anzustecken. Ich rauche ohnehin zu viel und will es mir abgewöhnen. Außerdem wird Raffa mit seinem Auto garantiert in genau dem Moment um die Ecke biegen, wenn ich mir eine anzünde. Altes Rauchergesetz. Also: keine Zigarette. Durchhalten. Durchatmen. Ein. Aus. Fertig.

Kurz darauf biegt Raffa mit seinem alten Volvo um die Ecke und steuert auf mich zu. Auf ihn ist Verlass. Das mag ich an ihm. Er hält genau neben mir. Das Seitenfenster ist runtergekurbelt, und er beugt sich über den Beifahrersitz und drückt mir die Tür von innen auf.

»Übertreib’s nicht«, murmle ich und schwinge mich rein. Stelle meine Tasche zwischen die Beine auf den Boden und schnalle mich an. Wir stehen immer noch. Der Motor wummert im Leerlauf, und ich sehe ihn fragend an.

»Was ist? Fahr los.«

»Guten Morgen erst mal«, sagt er und sieht mich mit einem durchdringenden Blick an.

Ach je, stimmt. Vergessen.

»Sorry«, sage ich, lehne mich zu ihm hinüber und küsse ihn auf die Lippen. Seine linke Hand greift sanft nach meinem Kiefer, und seine Zunge ist flink wie bei einem Reptil. Er schmeckt nach Zahnpasta.

Ich ziehe meinen Kopf zurück.

Raffa grinst mich an. »So machen das Menschen, die sich mögen.«

»Danke, dass du nicht lieben gesagt hast.« Ich zupfe an meinem Ohrläppchen. In Sachen Nähe kann ich von Raffa noch einiges lernen, da bin ich echt unterentwickelt.

»He, du bist ja richtig aufgeregt«, stellt er fest, und es liegt Erstaunen in seiner Stimme. Er kennt mich kühler. Souveräner. Kontrollierter.

»Dafür kriegst du keinen Punkt«, protestiere ich. »Das war leicht zu erraten.«

Raffa legt den ersten Gang ein und fährt an. Schiebt eine CD in den Player. Marvin Gaye erklingt.

Gute Wahl. I love Marvin. Ich singe leise mit zu What’s going on.

Raffa greift nach hinten und holt eine Thermoskanne hinter dem Sitz hervor. »Du hast bestimmt nicht gefrühstückt«, meint er.

»Ich bekomme nichts runter«, sage ich schnell. Bei dem Gedanken an Essen würgt es mich.

»Aber einen Schluck Kaffee trinkst du schon.« Er drückt mir die metallene Kanne in die Hand. »Milch und zwei Stück Zucker sind schon drin.«

Ich strahle ihn an. Ist er nicht toll? Schnell beuge ich mich rüber und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Weil man das so macht. Das weiß ich. Hab ich gelernt.

»Den Fahrer während der Fahrt nicht belästigen«, sagt er mit gespielt strenger Miene und steuert den Wagen durch den dichten Morgenverkehr raus aus Köln. Auf die Autobahn in Richtung Düsseldorf. Ich lehne den Kopf ans Fenster, beobachte die Menschen auf den Gehwegen und trinke aus dem kleinen Becher von dem süßen Kaffee.

Raffa behauptet: Menschlich gesehen sei ich eine Primzahl. Nur durch eins und mich selbst teilbar. Und bis auf die Zwei bin ich stets ungerade. Lange Zeit konnte man keinen praktischen Nutzen aus mir ziehen. Erst seit den Rechenmaschinen spiele ich bei der Kryptografie eine zentrale Rolle.

Kryptos: altgriechisch für »verborgen, geheim«.

Numerus primus: die erste Zahl.

Das hat mir Raffa am Wochenende auf einer Party ins Ohr gehaucht. Kurz nach Mitternacht. In der Küche mit den beschlagenen Scheiben, der angebrannten Pizza im Ofen und dem Haschgeruch, der vom Flur hereinwaberte. Keine Ahnung, wie lange er an diesem Kompliment gefeilt hat, denn er weiß, dass ich Komplimente nicht gut abkann. Aber ich fand’s ganz süß. Weil ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, habe ich ihn geküsst.

Wir kommen auf der A57 ganz gut vorwärts, es ist immer noch Ferienzeit. Ausgedörrte Felder fliegen an mir vorbei. Das Gras am Rand der Autobahn sieht aus wie Stroh. Die Blätter der Bäume sind bräunlich und schreien nach Wasser. Wie so oft in letzter Zeit wünsche ich mir, es würde kräftig gewittern, mit schwarzblauen Wolken und prasselndem Regen. Ich brauche dieses dauernde Sommerwetter nicht. Raffa liebt es.

Ich linse zu ihm rüber.

Das mit Raffa geht nun seit genau fünf Monaten und sieben Tagen. Als ich Raffa, der eigentlich Rafael heißt, kennenlernte, fand ich ihn spontan gut und wollte seine Freundin sein. Einfach so. Bumm. Ist mir vorher noch nie passiert. Sonst stehe ich eher auf böse Buben. Die Bad Boys. Die Typen, denen man nicht trauen kann. Vielleicht liegt es ja daran, dass Raffa auch ein Adoptivkind ist. Aber im Gegensatz zu mir ist bei ihm schnell klar, dass ein weißes deutsches Ehepaar kein Kind mit nugatfarbener Haut und lustigen Afro-Haaren zeugen kann. Raffa erzählt es auch jedem ungefragt: Mutter aus dem Senegal, Vater unbekannt. Er kam zu einer Bonner Pflegefamilie, als er drei war. Er hat eine Stiefschwester, mit der er sich gut versteht. Raffa ist Sonnenschein und blauer Himmel zugleich. Unbekümmert. Er macht aus seiner Herkunft kein Drama. Seine Geschichte ist allerdings auch total anders als meine.

Seine ist hell und strahlend.

Meine ist dunkel und verschattet.

Meine Adoption sieht man mir beileibe nicht an; ich sehe mit meinen schwarzen Haaren und den grünen Augen nicht herausragend anders aus als meine Eltern. Außer vielleicht, dass ich einen Kopf größer bin als der Durchschnitt der Frauen. Ansonsten fällt nur auf, dass ich misstrauisch bin und etwas unnahbar wirke. Meine Geschichte will ich auch niemandem auf die Nase binden, weil sie, ehrlich gesagt, auch keinen was angeht.

Raffa reißt mich aus meinen Gedanken. »Bist du sicher, dass du dieses Praktikum wirklich machen willst?«, fragt er.

»Bist du irre? Natürlich!«, rufe ich aus.

Ich weiß, dass er nur Spaß macht und mich aufzieht. Raffa fährt von der Autobahn ab. Ab morgen muss ich jeden Tag mit dem Zug fahren. Nur heute gibt’s den Chauffeurservice. Ich rutsche auf dem Sitz hin und her und trete mit meinen Sneakers in die Gummimatte.

»Warum ausgerechnet zur Polizei?«, fragt Raffa. »Erklär es mir noch mal.«

Er spürt meine Unruhe, will mich in ein Gespräch verwickeln. Während wir über die breite Brücke fahren und den Rhein überqueren, kann ich von oben den geringen Wasserstand und das von der Sonne ausgebleichte Kiesbett sehen.

Ich zähle auf: »Mord. Totschlag. Serientäter. Tatrekonstruktion. Persönlichkeitsmerkmale. Abnormität. Sozialstudien. Muster. Täterprofile …«

Raffa unterbricht mich. »Kranker Kram also, schon gut. Und welches Wort darfst du beim LKA nicht sagen?«

»Profiler. Weil dann alle lachen«, erkläre ich.

»Warum?«

»Weil das nur in amerikanischen Filmen vorkommt.«

»Sondern es heißt?«

»Fallanalytiker. OFA. Operative Fallanalytik.«

»Gut.«

Ich sehe zum dritten Mal auf die Uhr. »Du, ich glaub, ich muss mal.«

»Jetzt nicht, wir sind schon am Südfriedhof, da kann ich nirgends halten.«

»Mir wird schlecht.«

Raffa drückt kurz mein Knie. »Du bist nervös, das geht vorbei. Wenn du den ersten Tag hinter dich gebracht hast, ist alles entspannter. Du wirst sehen. Gehen wir das Ganze noch mal durch. Was musst du tun?«

Er sieht mich kurz erwartungsvoll an. Los, sagen seine Augen, raus damit.

Ich stöhne auf. Wiederhole, was wir besprochen haben. Dabei ziehe ich meinen Pferdeschwanz am Hinterkopf fester.

»Aufmerksam sein. Den Menschen in die Augen sehen. Über ihre Witze lachen, auch wenn ich sie nicht lustig finde. Andere ausreden lassen. Daran denken, dass andere Hirne langsamer funktionieren als meins. Oder gar nicht. Oder anders. Meine Kollegen fragen, ob sie etwas brauchen, wenn ich mir Mittagessen hole.«

»Geht doch. Du wirst bestimmt nette Kollegen haben. Wart’s ab.«

»Na, ich weiß nicht«, sage ich. »Ich mache ein Praktikum bei der Polizei und nicht im Phantasialand.«

»Wie meinst du das?«

»Das ist was anderes bei der Polizei. Das sind Machos. Patriarchen. Chauvinisten. Da gibt’s Anzüglichkeiten. Sprücheklopfer. Automatenkaffee. Überstunden. Schreibkram. Formalia.«

»Und wieso machst du das dann?«

»Raffa, ich brauche das. Zu viel Harmonie macht mich rammdösig. Ich werde bekloppt, wenn jeden Tag die Sonne scheint. Ich mag ja auch meine schweren Jungs aus der Forensischen, aber ich will mehr. Ich mag das Finstere. Das Hässliche, das Böse. Ich will wissen, was hinter den Taten steckt. Bei der Polizei arbeiten Typen, die das auch mögen. Die sind wie ich. Es ist wie ein Schlachtfeld. Alle sind Krieger. Im Phantasialand würde ich mich am dritten Tag aufhängen.« Ich muss einmal laut lachen.

»Deswegen die schwarze Jeans und das weiße T-Shirt.«

»Was heißt denn das jetzt? Soll ich mich anziehen wie für einen Ball?«

Raffa stöhnt. »Nein, ich meine, du bist nicht …«, er lässt seine Hand in der Luft rotieren und sucht nach einem Wort, »… nicht adrett angezogen«, sagt er schließlich.

Ich sehe ihn grimmig an. Doch er starrt geradeaus auf die Straße.

»Natürlich nicht«, erwidere ich. »Ich will schließlich ernst genommen werden. Wenn ich mich anziehe wie eine Konfirmandin, kann ich gleich wieder gehen.«

Ich lasse den Armreif an meinem rechten Handgelenk mehrfach über dem Totenkopftattoo kreisen.

»Wir sind gleich da, es ist nicht mehr weit«, verkündet Raffa mit hoher Stimme, als wir an der Ampel neben einer Waschstraße stehen.

»Halt da vorne an, ja? Hier an der Ecke. Ich gehe das letzte Stück zu Fuß«, sage ich.

Raffa sieht mich erstaunt an. Es dauert einen Moment, dann hat er es kapiert.

»Du denkst echt an alles, oder?«

Ich nicke langsam. Das sind die Momente, die ich fürchte. In denen er mich ansieht und ich diese Distanz spüre. Die in diesem Du-bist-komisch-Blick liegt. Als Bestätigung fürs Anderssein. Fürs Nicht-ins-Schema-Passen.

Ich klappe den Spiegel runter und überprüfe, ob meine Wimperntusche verschmiert ist. Nein, passt. Den Lippenstift lasse ich heute weg. Ich steige aus und gehe dann schnell ums Auto herum, weil ich das mit dem Küssen um ein Haar wieder vergessen hätte. »Danke«, flüstere ich.

Er zwinkert mir zu. Seine Augen sagen immer, was er fühlt. Ich schnaube ein kleines Lachen, drehe mich auf dem Absatz um und marschiere los. Nehme die schwarze Sonnenbrille aus meiner Tasche und setze sie auf.

»Und, ähm … Lupe?!«, ruft er mir aus dem offenen Fenster hinterher.

Ich bleibe stehen und sehe über meine Schulter zu ihm hinüber.

»Ja?«

»Nicht rennen«, sagt Raffa, schmunzelt und gibt Gas, dass der Motor aufröhrt wie ein blökender Elch.

Kapitel 3

Jetzt geht’s los, denke ich.

Meine Hände sind feucht, und mein Nacken kribbelt. Ich stehe im dritten Stock. Klopfe einmal mit dem Fingerknöchel an die Tür mit der Nummer 46 und drücke sie auf. Otto Hagedorn, bei dem ich mich melden soll, steht am Fenster. Er hält eine weiße Gießkanne in der Hand und wässert einen Bogenhanf.

Er dreht sich nicht zu mir um.

»Ich habe nicht ›Herein!‹ gerufen«, sagt er eine Spur zu laut und konzentriert sich weiter auf seine dämliche Pflanze.

Na gut, denke ich, wie er will. Ich gehe wieder raus, ziehe die Tür zu. Klopfe zweimal hintereinander und versuche dabei, nicht zu energisch zu wirken.

Stille.

Ich lege mein Ohr ans Holz und horche. Aber ich höre nur meinen absurd schnellen Herzschlag. Der Hagedorn lässt mich echt eiskalt auflaufen. Am ersten Tag. Ich fasse es nicht! Ich stemme die Hände in die Seiten. Eine Frau in Motorradmontur mit viel Hüfte und Kurzhaarschnitt kommt energischen Schritts den Gang entlang. Sie bleibt stehen.

»Isser noch nicht da?«, fragt sie mich.

Ich sehe sie irritiert an. »Wer jetzt?«

»Der Hagedorn.« Sie mustert aufmerksam mein Gesicht.

Meine Wangen werden warm. »Er hat noch nicht ›Herein!‹ gerufen«, erkläre ich und deute mit einer Hand auf die geschlossene Tür.

»Ach so«, meint sie. Dann ballt sie die Hand zur Faust und lässt sie zweimal gegen die Tür donnern.

»Jetzt klappt’s. Der hört schlecht.« Sie hebt die Hand zum Gruß und verschwindet den Gang hinunter.

Durch die geschlossene Tür tönt ein freundliches, aber lautes »Herein!«.

»Läuft«, murmle ich und trete ein.

Otto Hagedorn sitzt jetzt hinter seinem Schreibtisch und sieht mir direkt in die Augen. Es ist nicht gerade der Blick, den der freundliche Fleurop-Mann erntet, wenn er unerwartet Blumen bringt.

»Ich bin Lupe Svensson. Guten Tag …«

»Schließ die Tür«, sagt er wieder eine Spur zu laut. »Setz dich.«

Kein Händeschütteln. Er deutet auf den Schreibtisch ihm gegenüber. Blitzblanke graue Platte. Dunkelgrüne, leicht speckige Schreibunterlage. Ein Notizblock. Darauf mittig ein Kuli. Monitor. Tastatur. Schwarzes Telefon.

Ich ziehe den Bürostuhl zurecht und nehme Platz. Stelle meine Tasche auf dem Boden ab. Dann stütze ich meine Unterarme auf die Tischplatte und sehe ihn an.

»Bereit«, sage ich.

»Gehörte meinem Kollegen, dem Karl«, sagt er laut und deutet mit dem Kinn auf meinen Schreibtisch. »Starb an Krebs. Die Beerdigung war vor vier Wochen.«

Ich denke kurz nach und krame in meiner Gutes-Sozialverhalten-Schublade.

»Mein Beileid.«

Er winkt mit angewiderter Miene ab.

»Spar dir das«, sagt er. »Mitleid interessiert keinen bei der Polizei.«

»Ich sagte Beileid, nicht Mitleid.«

Seine linke Augenbraue schnellt nach oben. »Das kann ja heiter werden«, brummt Hagedorn, und ich habe das blöde Gefühl, dass wir womöglich keine Freunde werden. Er sieht auf seinen Monitor und tippt etwas in die Tastatur. Ich schaue ihn mir genau an: Er ist ein Daddy-Typ, so ein gemütlicher. Mit einer kräftigen Figur, die von viel Sport (früher) und viel Pasta und Bier (jetzt) zeugt. Grauer Vollbart, der für meinen Geschmack etwas gestutzt werden könnte. Die Haare auf dem Kopf sind nur noch kurze graue Stoppeln, wie auf einem abgeernteten Weizenfeld. Im Sitzen wölbt sich der Bauch unter seinem schwarzen Poloshirt. Seine Hände sind fleischig. Die Unterarme breit und behaart. Auf der Nase thront, leicht schief, eine schwarze Lesebrille, wie man sie in den Ständern im Drogeriemarkt findet. Ich schätze ihn auf Ende fünfzig. Ein paar Jahre hat er noch. Dann ist Schluss. Rente. Schicht im Schacht.

»Du bist erst mal bei mir geparkt«, erklärt Hagedorn und nimmt die Lesebrille ab.

»Geparkt?«

»Ja, die OFA, wie wir uns neuerdings nennen, ist momentan nicht in voller Besetzung da. Sagt dir der Begriff was?«

»Ja. Operative Fallanalyse«, antworte ich schnell.

»Wenigstens etwas«, brummt Hagedorn.

»Wie viele Mitarbeiter sind in der Abteilung?«

»Sechs. Aber eine hat Rücken. Und einer hat Urlaub, ist ja Sommer. Bleiben vier. Einer davon bin ich.«

»Das habe ich bemerkt.«

Sein linkes Augenlid zuckt.

Ich sollte es mir nicht mit ihm verscherzen, nicht am ersten Tag, deshalb setze die unschuldige Miene auf, die ich vor dem Spiegel geübt habe.

»Das bedeutet?«, frage ich freundlich.

»Das bedeutet, dass wir nichts zu tun haben, weil Sommer ist. Es gibt kaum Fälle. Weil im Sommer auch die Täter mal Pause machen. In den Urlaub fahren und so weiter. Das bedeutet es.«

»Und was machen wir jetzt?«, frage ich.

Er schnaubt. »Wir werden schon eine Tätigkeit für dich finden.« Er dreht das Handgelenk und sieht auf seine Armbanduhr, so eine flache, runde mit abgewetztem Lederarmband.

»In zehn Minuten ist Besprechung. Ich zeig dir kurz die Abteilung. Außerdem brauch ich einen Kaffee.« Er schnappt sich Block und Kuli und steht auf.

Ich mache ein freudiges Gesicht, um ihm das Gefühl zu vermitteln, dass ich mir meine ersten Minuten genauso vorgestellt habe. Mutiere zu einer Ölhaut, an der alles abperlt, aber innerlich könnte ich laut fluchen.

Wir gehen den Flur runter, und Hagedorn bleibt bei den verschlossenen Bürotüren stehen und erklärt mir, wer dort sitzt und ob die Person Rücken oder Urlaub hat oder da ist. Die Teeküche ist ein kleiner fensterloser Raum, ausgestattet mit Kühlschrank, Münz-Kaffeeautomat, Wasserkocher und Geschirrschrank inklusive gruseliger Tassen mit lustigen Sprüchen darauf wie ICH BIN HEUTE SO MÜDE.

Wir stehen etwas näher beieinander. Unter sein Paco-Rabanne-Eau-de-Toilette, das ich von einem Ex-Kollegen kenne, mischt sich ein leichter Alkoholatem. Seine hellblauen Augen sind eine Spur glasig. Ich tippe auf Rotwein am Vorabend. Neben dem rechten Auge hat er eine rund vier Zentimeter lange, senkrechte, rötliche Narbe, die von einem tiefen Schnitt herrührt, der hastig zugenäht wurde. Hagedorn greift in seine Hosentasche und wirft 80 Cent in den Schlitz der Maschine. Stellt eine saubere Tasse unter den Ausflusshahn und drückt auf den Knopf mit der Aufschrift CAFÉ CREMA.

Die Maschine orgelt und spuckt den Kaffee aus.

»Für dich auch?« Er deutet auf das Regal mit den hübschen Tassen.

»Danke, aber ich hatte heute schon einen halben Liter. Sollte fürs Erste reichen.«

Er nickt, und wir gehen an den Postfächern und dem Kopierraum vorbei, und während er lautstark seinen Kaffee schlürft, erklärt er mir in wenigen Worten, wie die Post hierherkommt, wann ich sie holen soll und wie der Kopierer zu bedienen ist. Jeder Fall, der bearbeitet wird, hat eine Nummer, die in das Display des Geräts eingetippt werden muss. Fremdkopien sind nicht erlaubt. Und, ganz wichtige Regel: Nichts verlässt das Haus.

»Verstanden?«

»Aye, aye, Käpt’n.«

Dann bugsiert er mich in den Besprechungsraum, ein längliches Zimmer mit einem rechteckigen Tisch und zwölf Stühlen. Die Fenster sind gekippt, die Jalousien zur Hälfte runtergelassen. In der Ecke stehen ein Flipchart und ein Standventilator, der vor sich hin surrt. An der Wand hängt ein großes Chart, an dem mehrere Ausdrucke und zwei schlecht belichtete, vergrößerte Fotos von einer Überwachungskamera angebracht sind.

Ein groß gewachsener, hagerer Mann mit dürrem Hals und vogelartigem Kopf sieht von seinen Papieren hoch, registriert mich und senkt den Kopf wieder. Neben ihm lümmelt ein jüngerer blonder Mann breitbeinig auf der Tischkante und deutet mit einem Stift auf eine Stelle in den Papieren. Strubbelige Haare. Mit Wachs gebändigt. Er ist ein bisschen älter als ich, Mitte dreißig, schätze ich. Trägt ein weißes Hemd, dessen Ärmel über die Ellbogen akkurat hochgekrempelt sind, und eine Krawatte. Viel Spaß bei dem Wetter. Von der trainierten Figur her tippe ich auf Kampfsport; mal sehen, wie er sich bewegt.

Er sieht auf und taxiert mich. Seine Augen scannen meine Figur, meine nicht gerade üppige Oberweite und meine recht definierten Oberarme. Auf meinen Trizeps bin ich richtig stolz. Er sieht mir einen Moment zu lang in die Augen, aber ich weiche seinem Blick nicht aus.

»Nimm schon mal Platz, bitte«, sagt er und redet weiter mit Vogelkopf.

Die Frau von vorhin auf dem Flur kommt auf mich zu und strahlt mich an. Hält mir die Hand hin.

»Ich bin Sina, ähm … du musst mir deinen Namen noch mal sagen.«

»Lupe.«

Sie sieht mich fragend an.

Ich erklär ihn – mal wieder. »Kurzform von Guadalupe. Spanischer Name. «

»Lupe, verstehe, wie die Lupe.« Sie deutet ein Vergrößerungsglas vor ihrem Auge an. »Na, das passt ja«, scherzt sie. »Willkommen bei uns.«

Ich bedanke mich artig, und Sina schließt die Tür des Konferenzraums.

Krawatte klatscht einmal in die Hände. »Legen wir los«, sagt er mit sportlichem Schwung.

Er ist einer dieser Siegertypen, die alles erreichen wollen und sich richtig reinhängen. Die aber auch viel Bestätigung brauchen. Wir setzen uns alle hin. Nur er bleibt stehen. Wiegt die Hüften hin und her. Sieht an sich herunter und streicht mit der Hand über seinen flachen Bauch.

Hagedorn sitzt neben mir und raunt mir zu: »Frank Bernbach, Leiter der OFA.« Ich nicke zur Bestätigung.

»Guten Morgen, in dieser Woche sind wir nach wie vor aufgrund von Urlaub und Krankheit dünner besetzt. Aber wir haben ein neues Mitglied in der Runde.«

Er deutet auf mich. »Wenn du dich bitte kurz vorstellst.«

Ich räuspere mich. Vorstellungsrunden liegen mir nicht. Mein Puls steigt immer explosionsartig an, und ich merke, dass ich rot werde. Trotzdem ist meine Stimme fest.

»Ich bin Lupe Svensson. Achtundzwanzig. Studium der Psychologie in Köln und in Oxford bei Professor Dutton. Schwerpunkt Forensische Psychologie. Ich habe drei Jahre in der forensischen Psychiatrie in Köln gearbeitet und die Fachausbildung zur Therapeutin absolviert. Momentan suche ich nach einem Thema für meine Dissertation. Daher das Praktikum.«

Alle sehen mich aufmerksam an.

»Kurz genug?«

Lachen. Das Eis ist gebrochen. Sina nickt aufmunternd.

Krawatte neigt den Kopf zur Seite. »Ich bin Frank«, sagt er und klopft sich auf die Brust. »Das ist«, er deutet auf Vogelkopf, »Jonas Menschig.« Jonas hält die Hand grüßend hoch. Nicht gerade ein Sympathieträger, eher der Nerd, der Mann fürs Spezielle. Krawatte fährt fort: »Lupe ist die Tochter von Christer Svensson«, erklärt er der Runde. »Dem Psychiater. Er hat schon öfter Gutachten für uns erstellt. Zuletzt beim Fall der kleinen Marlies.«

»Ach, so eine bist du«, sagt Vogelkopf mit gelangweiltem Tonfall und wackelt mit dem Kopf. »So ’ne Protegierte.«

Sina knufft ihn in die Seite. »Nun wollen wir mal nicht am ersten Tag patzig werden, Herr Kollege.«

»Wir sind ein gut aufgestelltes Team in der noch recht jungen OFA hier. Uns gibt’s erst seit elf Monaten«, erklärt Krawatte mit weit ausholenden Armbewegungen wie ein Coach auf einer Bühne. »Jeder hat einen anderen Background. Jeder bringt eine besondere Fähigkeit mit. Die Mischung macht’s. Was uns zusammenhält, sind die Teamarbeit und das gemeinsame Ziel, ein Verbrechen aufzuklären und den ermittelnden Kollegen zu unterstützen. Hier jagt keiner nach persönlichen Lorbeeren.«

Außer dir, denke ich. Du willst die goldensten und schönsten haben. Definitiv. Das sehe ich dir bereits nach vier Minuten an.

»Daher, Lupe Svensson, willkommen im Team für die nächsten sechs Monate. Schön, dass du mit von der Partie bist.«

Clever gemacht. Ich nicke, sage artig »Danke« und sehe in Gesichter, die mir noch fremd sind. Aber ich kann die allgemeine Zurückhaltung verstehen. Ich bin die Tochter eines bekannten Psychiaters, die auch noch in seine Fußstapfen tritt, mehr oder weniger jedenfalls. Schon in der forensischen Einrichtung war das ein Theater. Ich musste ihnen zeigen, dass ich was kann und mein eigenes Ding mache. Und eben nicht nur die Tochter des bekannten Psychiaters bin. Aber auch da habe ich mich durchgebissen. Und ich wette, Polizei ist nicht viel schlimmer.

»Vielen Dank«, sage ich und blicke freundlich drein. »Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.«

Sina zwinkert mir zu. Vogelkopf wackelt nervös mit dem Kopf, und Krawatte schaut zufrieden aus. Ich sehe ihm an, dass er sich gerade überlegt, ob ich eine der Praktikantinnen sei, die er mal abends auf einen Drink einladen könnte.

Probier’s ruhig aus, sagt mein Blick. Lade mich ein. Du wirst schon sehen, was du davon hast.

Das Team geht den aktuellen Fall durch, der an der Wand hängt. Mord an einem Taxifahrer, der mit aufgeschlitzter Kehle gefunden wurde. Die Sache sah zunächst nach der Affekttat eines Fahrgasts aus. Nun zeigt sich, dass es weit mehr war, nämlich eine Fehde zwischen zwei kurdischen Gruppen. Gewürzt mit Drogenhandel. Das Opfer war also kein Zufallsopfer.

Jemand klopft. Eine Frau mit hochrotem Kopf tritt ein und übergibt Krawatte stumm ein Blatt Papier.

»Ich habe doch darum gebeten …«, fängt er an, dann wandern seine Augen über das Blatt. Die Frau verschwindet nahezu geräuschlos aus dem Raum.

»Die Kollegen aus Köln bitten um Mithilfe. Leichenfund. Nach erster Prüfung liegt der Tote dort schon länger. Die Forensik ist bereits informiert und auf dem Weg.«

»Wo wurde die Leiche gefunden?«, fragt Hagedorn.

»Im Fundament einer Tankstelle in Köln, die gerade abgerissen wird. Otto, du übernimmst«, sagt Krawatte und deutet mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf ihn. »Und nimm Lupe mit.«

Er zwinkert mir zu. »Da hilft zwar kein Psychologiestudium, aber irgendwo musst du ja beginnen.«

Trottel, denke ich. Und grinse breit.

Kapitel 4

Über der Fundstelle der Leiche ist ein weißes Faltdach aufgebaut, das im Sonnenlicht leuchtet; darüber steht flirrend die Hitze. Wir betreten die Grube über eine Behelfstreppe mit fünf Stufen. Ein breitschultriger Mann mit verspiegelter Sonnenbrille und zurückgegeltem schwarzem Haar löst sich aus der Gruppe unter dem Dach und kommt wiegenden Schritts auf uns zu.

»Hallo, Otto, danke, dass ihr so schnell kommen konntet.« Sonore, leicht aufgekratzte Stimme. Akzent. Sieht türkisch aus.

»Schon gut«, brummt Hagedorn. »Das ist Lupe Svensson.« Er zeigt auf mich.

»Tag, ich bin Erkan«, sagt er mit einer weit ausholenden Geste. Wir schütteln uns die Hände. Ich spüre die Schwielen an seinen Fingern von den Hanteln, die er oft bearbeitet. Er grinst frech, nimmt lässig seine Sonnenbrille ab und entblößt eine Reihe unverschämt weißer Zähne. Erkan ist nicht sonderlich groß, in etwa so wie ich, vielleicht zwei, drei Zentimeter größer, aber doppelt so breit und erinnert mich fatal an einen Autoverkäufer: viel Fitnessstudio, zu knappes Kurzarmhemd, breites Grinsen, penibel geschnittene Haare, akkurater Bart und formvollendete Augenbrauen.

»Wer sind Sie?«, frage ich nach.

»Wer ich bin?«, fragt er erstaunt, als sei er ein Popstar, den jeder kennen müsste. Dabei mustert er mich einmal von oben bis unten und funkelt mich mit seinen traubendunklen Augen an. Er spannt seinen Bizeps an.

»Ich bin Erkan, der Kommissar vom K11, dem Polizeipräsidium in Köln.«

»Ah, okay, verstanden«, sage ich unbeeindruckt.

Hagedorn schaltet sich ein.

»Es ist ihr erster Tag, sie ist neu bei uns im LKA. Praktikantin. Erkan ist der Kollege, der hier den Fall aufgenommen hat und bearbeitet. Wir von der OFA unterstützen ihn. Können wir uns jetzt den Leichnam ansehen?«

Er seufzt. Hagedorn hatte schon auf der Fahrt wenig Lust auf den Termin, wie mir schien, und im Auto wenig geredet. Also habe ich ebenfalls die Klappe gehalten. Ich glaube, er wäre gern im kühlen Büro geblieben und hätte mit seinen Zimmerpflanzen gespielt.

Wir treten unter das Dach, und es gibt eine kurze Vorstellungsrunde für mich. Hier duzen sich alle. Nur ich sieze Otto. Dann ist die Rechtsmedizinerin dran, eine kleine Frau im Laborkittel mit einer Schutzbrille auf der Nase wie im Chemieunterricht. Li Yang ist mit zwei Kollegen dabei, den Leichnam, der bis zur Brust aus dem Beton ragt, komplett freizulegen.

Hagedorn zückt einen Notizblock und hebt das Kinn.

»Das ist mal was anderes. Es ist eine Wachsleiche«, sagt Li. »Geschlecht nicht bekannt. Wird auch Fettleiche genannt. Wir kennen solche Fälle aus Funden in Mooren oder auf Friedhöfen, die extrem feuchten, lehmigen Boden haben. Das Fehlen des Sauerstoffs, wie hier durch den Beton, unterbricht den natürlichen Verwesungs- und Fäulnisprozess. Die Körperfette werden zu einer wachsähnlichen Schutzschicht. Sogenannte Fettwachse. Das ist das Ergebnis.«

Wir starren darauf.

Der Leichnam sieht für mich aus wie bräunliches Trockenfleisch, Beef Jerky, aus dem jedes Fett herausgetropft ist. Nur noch magerstes Fleisch. Der Körper ist faltig wie eine Rosine, und die Haut spannt sich über das Skelett wie eine Membran.

»Kennt ihr die Leichname der Bewohner von Pompeji?«, fragt Li. »Sie sehen so ähnlich aus, nur dass die von einem Ascheregen überrascht wurden«, fährt sie fort.

»Und von wem wurde diese Person hier überrascht?«, fragt Erkan.

»Das ist deine Aufgabe, Erkan«, sagt Li.

»War die Person bereits tot, als sie einbetoniert wurde?«, will Hagedorn wissen.

Li betrachtet den Leichnam. Ich folge ihrem Blick. Die Person sieht selbst als Leichnam so aus, als würde sie kämpfen. Der Schädel ist komplett erhalten, es sind sogar ein paar Haare daran. Eingetrocknet. Die Gesichtszüge sind erkennbar. Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, kann ich nicht sagen. Der Kopf ist zur Seite geneigt, der Kiefer weit aufgeklappt. Der Oberkörper verdreht. Die Arme liegen nicht links und rechts am Körper an, wie bei einem Toten, der bestattet wurde, sondern stemmen etwas Schweres zur Seite. Die Handflächen sind flach und senkrecht abgewinkelt.

»Nein«, murmle ich. »Die Person hat gelitten.«

Li sieht mich an. Ich erschrecke kurz, weil ich merke, dass ich laut gesprochen habe. Lis Gesicht ist rundlich, ihre mandelförmigen Augen sind groß und wunderschön.

»Ich bin ganz deiner Meinung«, raunt sie mir zu und wirft Hagedorn einen Blick zu, den ich nicht zu deuten weiß.

»Was kannst du zum Alter sagen?«, fragt Hagedorn, zückt sein Handy und macht Fotos von der Leiche aus verschiedenen Perspektiven.

»Wir haben schon alles fotografiert«, wirft Erkan ein.

»Ich weiß«, sagt Hagedorn und fotografiert ungerührt weiter. Geht näher an den Schädel heran und fotografiert ihn in Großaufnahme.

»Nicht viel. Wir werden den Leichnam vorsichtig ausgraben und einige Untersuchungen durchführen, um zu ermitteln, wie lange er sich schon dort befunden hat. Und das Alter der Person zum Zeitpunkt ihres Todes können wir dabei auch bestimmen. Zudem gibt’s Zahnabdrücke, Körpergröße, ein paar medizinische Details, ob Knochenbrüche oder Ähnliches vorhanden waren, und dann machen wir uns an eine Gesichtsrekonstruktion, da der Schädel recht gut erhalten ist. Außerdem haben wir Haare am Hinterkopf und könnten mit etwas Glück eine DNA extrahieren. Das volle Programm. Viel Arbeit. Aber bei dem Wetter will ja eh keiner vor die Tür, oder?«

Erkan lacht als Einziger.

»Wie lange ist die Person schon tot? Schätz mal.« Hagedorn bemerkt Lis Blick gen Himmel. »Ich nagle dich nicht fest; nur einen Anhaltspunkt, bitte.«

Li neigt den Kopf zur Seite. »Das hier«, sie stampft einmal mit dem Fuß auf den Boden auf, »ist Beton. Wenn wir mal annehmen – und das nur hypothetisch, bitte –, dass diese Person hier starb oder kurz nach ihrem Tod begraben wurde, hat der Beton durch den Lufteinschluss perfekte Konservierungsbedingungen geschaffen. Kurzum, sie kann sich hier bereits viele Jahre, ja vielleicht sogar Jahrzehnte befunden haben. Reicht das?«

»Na ja. Sonst noch was?«, fragt Hagedorn und kritzelt hektisch auf seinem Block herum.

»Ja, wir haben was gefunden.« Sie greift nach einem durchsichtigen Plastikbeutel, auf dem eine Nummer notiert ist, und hält ihn in die Höhe. Darin liegt etwas Funkelndes.

»Was ist das?«, fragt Erkan erstaunt.

»Ein Plastikbeutel«, antwortet Li, sichtlich amüsiert.

Erkan schnaubt wie ein Pferd. Öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber Li ist schneller.

»Eine Halskette mit einem Amulett. Lag auf dem Brustkorb. Die Kette ist durchtrennt. Daran war ein Anhänger.« Li drückt mir den Beutel in die Hand. »Das werdet ihr sicherlich haben wollen.«

Reflexartig nehme ich den Beutel an mich.

Li klatscht einmal in die Gummihandschuhhände. »Okay, danke. Wir melden uns, wenn wir weiter sind. Und jetzt schlage ich vor, ihr geht Kaffee trinken und lasst uns arbeiten, damit wir bald Ergebnisse liefern können.«

Sie gibt ihren beiden Assistenten ein Zeichen, und die knien sofort nieder und fahren fort, den Leichnam aus dem Beton zu hämmern.

Ich bücke mich, greife nach einem kleinen Brocken Beton und stecke ihn in meine Hosentasche. Wir verabschieden uns und gehen Richtung Auto. Erkan springt um uns herum und macht auf wichtig. Er redet wie ein Wasserfall und berichtet, was er schon alles recherchiert hat. Zu der Tankstelle. Wann erbaut, wem sie zuletzt gehörte und so weiter.

»Sehr gut, Erkan«, sagt Hagedorn mitten im Satz und klopft ihm anerkennend auf die Schulter. »Schick mir alles per E-Mail, ja?«

Erkan strahlt über beide Ohren und strafft seine Schultern.

»Tschüss, Schönheit!«, ruft er mir zu und verabschiedet sich mit einem angedeuteten militärischen Gruß.

»Ciao, Erkan«, sage ich gelangweilt und versuche, keine Miene zu verziehen. Ich kann es ihm nicht zu leicht machen.

Hagedorn und ich gehen stumm nebeneinanderher zurück zum Auto. Er zückt den Autoschlüssel, aber bevor er auf den Knopf drückt, dreht er sich noch einmal um. Einen Moment lang lässt er die Szenerie auf sich wirken.

Rechts neben dem Zelt steht noch ein schmaler Rest des ehemaligen Tankwarthäuschens, alles andere ist bereits zum staubigen Schuttberg mutiert. Dort, wo mal die Zapfsäulen waren, ragen noch Halterungen wie Zahnstümpfe aus dem Boden. Nur das ovale Dach, das sich früher über die Zapfsäulen spannte, steht noch da, auf dünnen Stelzen, die wie Strohhalme aussehen. Angefressen vom Zahn der Zeit.

Ich nehme mein Handy und mache lautlos ein paar Fotos davon.

»Ich kenne diese Tankstelle«, sagt Hagedorn plötzlich, und sein Blick bekommt etwas Nostalgisches. Dann nickt er ein paarmal, als spreche er innerlich mit sich selbst.

Ich spiele mit dem Betonbrocken in meiner Hosentasche.

»Lass uns einen Kaffee trinken«, sagt er schließlich und entriegelt die Autotüren.

Machen wir, Herr Hagedorn.

Kapitel 5

In der Nähe der Tankstelle ist eine Bäckerei. Mit zwei Stehtischen vor den Fenstern, unter einer gelb-weiß gestreiften Markise, wo sich die Hitze schön staut. Hagedorn bestellt einen Cappuccino und ein Fleischwurstbrötchen. Ich nehme eine Laugenbrezel und ein Wasser. Mich juckt es in den Fingern zu rauchen, aber ich reiße mich zusammen.

»Du hast dir keine Notizen gemacht«, bemerkt Hagedorn, nachdem wir uns am Stehtisch etabliert haben. Er lässt Zucker in seinen Kaffee rieseln und sieht zu, wie er langsam im Milchschaum versinkt.

»Brauche ich nicht. Ich kann mir Einzelheiten gut merken«, sage ich und tippe an meine Stirn. »Und so viel war es jetzt auch nicht.«

»Ich fände es gut, wenn du genau zuhörst und dir Notizen machst. Ich kann nicht immer alles verstehen und will nicht ständig nachfragen.« Er zeigt auf sein Ohr.

»Ach so, okay, geht klar, ich schreibe es Ihnen nachher auf«, antworte ich und lege den Plastikbeutel mit der Kette auf den Tisch.

»Und hör auf mich zu siezen«, brummt er. »Sag einfach Otto zu mir.«

Na bitte. Ich nicke und schiebe ihm den Plastikbeutel rüber. Dann heißt er eben ab jetzt Otto. Otto zieht den Beutel kurz zu sich heran und stiert darauf.

»Geht in die Kriminaltechnik«, sagt er und schiebt ihn zu mir zurück. »Warum hast du den Betonbrocken mitgenommen?«, will er wissen und beißt in sein Brötchen. Kaut.

Ich sehe ihn einen Moment erstaunt an.

»Na, wenn die Person einbetoniert wurde, muss der Beton ja vorher in irgendeiner Form flüssig gewesen sein. Und bis Li herausfindet, wie alt die Person ist, könnten wir unterdessen den Beton bestimmen lassen. Oder nicht?«

»Nicht übel«, sagt er und kaut dabei. Ich muss immer wieder auf die rötliche Narbe sehen, die sich wie ein gezacktes Flussbild neben seinem Auge nach unten zieht. Ich würde zu gern wissen, woher er sie hat, hüte mich aber, diese Frage zu stellen.

Otto sieht mich mit seinen hellblauen Augen an. »Ich habe wirklich schon viele gesehen. Tote, meine ich. Sogar mal ohne Kopf. Aber eine Leiche in einem Betonboden ist auch für mich neu. Diese Tankstelle hat in den Siebzigerjahren ein Mann namens Peter Kurz betrieben. Ich war Stammkunde. Habe hier die Straße runter gewohnt, bis ich 1975 umgezogen bin. Die Straße führte damals aus Köln raus, in westlicher Richtung.«

»Was ist mit Peter Kurz passiert?«

Otto zuckt mit den Schultern. »Das kannst du ja dann mal rausfinden, wenn wir wieder im Büro sind.«

Ich beiße in die Brezel und kaue. Bemerke, dass ich Hunger habe. Mittlerweile ist es halb zwölf.

»1974 war ich als frischgebackener Kommissar in Köln. Habe lange zur Untermiete gewohnt. Nach einem Jahr habe ich mir eine kleine Zweizimmerwohnung geleistet. Damals hast du als Polizist sofort eine Wohnung bekommen. Da stand der Hausmeister stramm.«

Womit er meine Feststellung bestätigt: Ältere Menschen lieben es, von früher zu erzählen, von den alten Zeiten, die noch gut und unbeschwert waren. Was allerdings ein Trugschluss ist. Otto grinst einen Moment. Die Falten um seine Augen explodieren. Gut sieht er aus, wenn er lacht. Für einen winzigen Moment blitzt der junge Otto durch. Aber sein Blick verdunkelt sich schnell wieder.

»Heute werden wir beschimpft und angepöbelt. Die Leute haben oft keinen Respekt mehr vor der Polizei. Die Zeiten ändern sich.«

Ich verdrehe die Augen. »Die Zeiten ändern sich immer. Das ist das Wesen von Zeit«, erkläre ich. Es klingt altklug, aber es ist nun mal so. Ich kann das Gelaber der Leute nicht ab, die ständig erzählen, dass früher alles besser war. Otto verengt seine Augen zu Schlitzen.

»Was weißt du schon«, sagt er spöttisch.

Typisch. Die ewige Midlife-Crisis. Der frustrierte Mann. Aber ich komme schon noch dahinter, woran Otto krankt. Mein Vater wird auch bald sechzig, und er ist nicht frustriert und schwelgt auch nicht permanent sehnsüchtig in Erinnerungen. Er gewinnt der Zeit, in der er gerade lebt, etwas ab und ist der Meinung, dass Leute, die nur rückwärts leben, sich längst aus dem Leben verabschiedet hätten. Und ich finde, damit hat er verdammt recht.

»Wie alt bist du?«, fragt Otto.

»Achtundzwanzig«, antworte ich. »Willst du das Sternzeichen auch wissen?«

»Nö.« Otto seufzt. »Meine Güte.« Er macht ein schwärmerisches Gesicht.

»Achtundzwanzig«, wiederholt er, und ich weiß, dass er jetzt gerade im Kopf seinem achtundzwanzigjährigen Ich begegnet und es schmerzhaft vermisst. Er verscheucht die Erinnerung wie eine lästige Fliege, die um seinen Kopf schwirrt.

»Und du? Wie alt bist du, Otto?«

Auf Ottos Stirn schimmern kleine Schweißperlen. Kein Wunder, es hat mindestens 30 Grad unter der Markise, und der Cappuccino drückt durch die Poren. Er sieht mich streng an, als hätte ich mit dem Fußball eine Glasscheibe zerdeppert.

»Sechzig«, sagt er schließlich und schluckt einmal hohl. »So ’ne Scheiße«, schiebt er hinterher, als könnte er die Pforte zur Hölle schon sehen.

»Somit hätten wir das geklärt«, sage ich. »Sechzig ist ja eigentlich auch noch ganz annehmbar.« Schnell schiebe ich mir das letzte Stück Brezel in den Mund, damit ich nicht weitersprechen kann, denn das wäre schließlich unhöflich.

Otto betrachtet den Plastikbeutel, der immer noch zwischen uns liegt.

»Warum betoniert einer einen Menschen ein?«, fragt er.

»Damit niemand ihn findet, vermute ich.«

»Und warum ohne Kleidung? Ist dir aufgefallen, dass trotz der guten Konservierung nicht ein Fetzen Stoff übrig war?«, fragt Otto.

»Vielleicht, damit man anhand der Kleidung nicht auf die Identität schließen kann?«

Otto nickt. »Oder ein Sexualverbrechen. Aber das ist nur eine Möglichkeit.«

Er trinkt seinen Kaffee aus und knallt die Tasse auf den Unterteller.

»Weiter geht’s«, verkündet er laut und wischt sich die Handinnenflächen am Polohemd ab. »Opa Otto und Praktikantin Lupe fahren jetzt wieder arbeiten«, sagt er und geht flott drei Schritte vom Stehtisch weg.

Ich sehe ihn erstaunt an.

Er dreht sich auf dem Absatz um. »Nun komm schon. Dass ihr jungen Leute immer so trödeln müsst«, fügt er hinzu und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Außerdem ist es grauenhaft heiß unter der Markise.«

Kapitel 6

Mein Vater hat mir etwas äußerst Praktisches beigebracht, wofür ich ihm sehr dankbar bin: mit zehn Fingern tippen. Nachdem wir wieder im Büro sind, hacke ich alle Infos zum Fall in eine der Vorlagen, die Otto mir am Rechner aufgerufen hat, und ergänze die Daten aus Erkans E-Mail. Zudem recherchiere ich im Internet. Otto sieht immer mal wieder über den Rand seines Bildschirms zu mir herüber.

Ich glaube, ich bin ihm ein wenig unheimlich.

Schließlich drucke ich die Seiten aus, stehe auf, komme um den Schreibtisch herum und lege sie Otto vor die Nase. Ich stehe neben ihm, während er den Kopf nach vorn reckt und den Text überfliegt. Dann dreht er die Seiten mit der Schrift nach unten um.

»Sag es mit deinen eigenen Worten«, fordert Otto mich auf.

Ich räuspere mich und komme mir ein wenig vor wie in der Schule an der Tafel.

»Also: Die Tankstelle wurde 1967 gebaut. Im Sommer 1975 wurde sie saniert, und die Kraftstoffwanne wurde gegen eine größere ausgetauscht, denn die Tanke lief gut. Der Inhaber war Peter Kurz. Dann kam das Problem: Die Straßenplaner wollten damals die A61 ausbauen und einem weiteren südlichen Autobahnkreuz anschließen. Die Straße, an der die Tankstelle lag, war dadurch nicht mehr wichtig. Der Verkehr wurde durch den Bau einer neuen Straße umgeleitet, die parallel verlief. Das war 1979. Also dörrte die Tankstellen-Straße aus wie ein Flussbett. Die Tankstelle lag nicht mehr an der Hauptverkehrsader, und die Kunden wollten aus Bequemlichkeit keinen Umweg fahren.«

Otto nickt stumm.

»Peter Kurz führte die Tankstelle weiter. Sie hielt sich bis in die Neunzigerjahre, dann starb Peter Kurz 1996 am Ostersonntag plötzlich an einem Hirnaneurysma. Seine Witwe beschloss, den Betrieb nicht weiterzuführen. Trotz aller Bemühungen fand sich kein Nachfolger als Pächter. In der Folge beherbergte die Tankstelle einen Oldtimerhandel, eine Mietstelle für Filmautos und einen Blumenladen, der jedoch 1999 pleiteging. Anlässlich der Millenniumsfeierlichkeiten wurde aus der ehemaligen Tankstelle dann eine Bar mit Tanzmöglichkeit. Das feiernde Publikum verärgerte allerdings die Nachbarschaft, sodass die Location schließlich aufgrund massiver Beschwerden geschlossen werden musste. Die Anzeigen liegen in Kopie vor.« Ich deute auf den Stapel.

»Weiter«, sagt Otto tonlos.

»Ein Investor aus Berlin kaufte 2001 schließlich das Grundstück, bekam aber erst zwei Jahre später die Genehmigung, dort ein Mehrfamilienhaus in Niedrigenergiebauweise mit zwei Penthouse-Wohnungen zu bauen. Übrigens mit Domblick. Am 17. Juli 2003 wurde schließlich der Startschuss zum Abriss gegeben. Und heute Morgen wurde der Leichnam gefunden.«

»Bedeutet?«

»Dass die Leiche bei der Erbauung 1967 oder bei der Erweiterung 1975 einbetoniert wurde.«

»Was macht dich so sicher? Vielleicht hat ja der Oldtimerhändler eine Leiche verschwinden lassen?«

Ich stemme die Hände in die Hüften. »Ich bin mir sicher, die Person wurde lebendig begraben, als die Tankstelle eine Baustelle war. Sonst hätte dein Oldtimerhändler sehr tief graben müssen.«

Otto steht auf und geht einen Schritt auf mich zu.

»Pass mal auf, Lupe. Du musst bei den Fakten bleiben. Jede Möglichkeit durchspielen. Löse dich von dem, was du persönlich meinst. Das ist nur geraten. Eine Hypothese. Eine einzige, mickrige Hypothese. Du musst aber alle Möglichkeiten sehen und in Betracht ziehen. Alles prüfen. Verstehst du?«

Er schnaubt. Wir sehen uns an, und er zuckt mit dem linken Auge, dem neben der Narbe.

»Was sagt dir das über den Täter?«, fragt er und setzt sich wieder hin.

»Das klingt wie im Fernsehen. Wir spielen jetzt aber nicht so eine amerikanische Profiler-Serie nach, oder?«

»Nein. Ich will es wirklich wissen.«

»Das ist doch Quatsch.«

»Komm schon, Lupe. Du bist die Psychotante, zeig mir dein Wissen.«

Ach, daher weht der Wind. Otto hat Probleme mit der Psychologin in mir. Vermutlich musste er schon mal zu einer gehen. Psychotante. Der Begriff ist abwertend, aber zugleich fordert er mich heraus, nach dem Motto: Gib mir was, damit ich dich respektieren kann. Diese Arbeit hier ist anders als der direkte Kontakt mit den Jungs in der Forensischen. Da saßen die Täter vor mir; ich konnte eine Beziehung zu ihnen aufbauen und ihnen Fragen stellen. Versuchen zu verstehen, was passiert ist, was sie antreibt. Jetzt ist es anders. Jetzt muss ich es mir ausdenken.

Nun, Otto, dann lass dir von der Psychotante jetzt mal was verklickern.

»Wenn ein Täter jemanden lebendig begräbt, dann ist es eine Art Opferung beziehungsweise Bestrafung. Gibt es seit dem Mittelalter. Nonnen, die unkeusch waren, wurden beispielsweise lebendig eingemauert.«

»Also will er die Person leiden sehen«, stellt Otto fest.

»Nein, das will er eben nicht«, entgegne ich. »Wenn er sie leiden sehen will, muss er sie töten und dabei zusehen. Aber ihr Leiden findet nur in seinem Kopf statt, in der Vorstellung, denn er sieht ihren Todeskampf nicht. Jemanden lebendig zu fesseln und in frischen Beton zu gießen ist zwar kaltschnäuzig, aber einfacher, als einen Menschen zuerst zu töten.«

Otto sieht mich nachdenklich an. »Okay, das klingt logisch«, sagt er. »Ich frage mich, was das Motiv war. Aber dazu haben wir zu wenige Anhaltspunkte. Was ist hiermit?« Er deutet auf den Inhalt des Plastikbeutels.

»Ein christliches Medaillon. Der heilige Christophorus, Schutzheiliger der Reisenden. Trug das Jesuskind …«

»Ja, ja, das weiß ich«, unterbricht mich Otto. »Sprich, das gibt es tausendfach. Irgendeine Gravur oder Inschrift darauf? Irgendein Hinweis?«

»Nichts. Nicht mal ein Silberstempel.«

»Billiges Zeug also. Eher von ideellem Wert. Was sagt uns das über das Opfer?«

»Die Person war gläubig, zumindest bedeutet das Amulett ihr etwas. Sie braucht Schutz und trägt es deshalb. Vielleicht ist es auch nur Gewohnheit«, mutmaße ich.

»Glaubst du an Gott?«, fragt Otto unvermittelt.

Ich antworte wahrheitsgemäß: »Nein, das wird nichts mit mir und dem lieben Gott.«

»Geht mir genauso«, sagt Otto. »Jetzt bring deinen Betonkrümel und den Anhänger zur Kriminaltechnik ins Untergeschoss zu Hans Pfennig. Und beeil dich, ich habe Hunger und will in die Kantine.«

Kapitel 7

Die Kantine des LKA ist, wie alle Kantinen in Deutschland, schmucklos, fad und auf gewisse Weise erbarmungswürdig. Für mich als Vegetarierin ist dort stets die Stunde der Wahrheit gekommen, denn meist wird nur Gemüse mit Sauce hollandaise angeboten. Oder der freundliche Koch sagt: »Nehmen Sie doch die Linsen mit Spätzle und Würstchen; ich fische Ihnen das Würstchen gerne heraus. Wie wär’s?«

Otto geht voran, und als wir am Eingang an der farbigen Tafel vorbeigehen, die den Wochenplan anzeigt, bleibe ich kurz stehen. Wie erwartet: Die Jungs hier sind Fleischfresser. Definitiv. Es gibt täglich ein vegetarisches Gericht und drei mit Fleisch oder Fisch. Dafür wird jeden Tag noch hausgemachte Pizza angeboten. Um das schmale Salatbüfett scharen sich ein paar Sekretärinnen und bedienen das Klischee des Grünzeug vertilgenden Weibchens, das ewig auf Diät ist.

Ich schnappe mir ein graues Tablett und folge Otto, der sich für »Frontalcooking« entschieden hat. Der Koch kennt Otto, die beiden begrüßen sich, reden belangloses Zeug, und Otto bekommt ein Scheibchen extra von den Schweinemedaillons in Rahmsoße. Ich nehme den Kartoffel-Hokkaido-Auflauf, da ich mich nicht auf die Stufe der Salatweiber stellen will. Sonst habe ich gleich am ersten Tag verschissen.

Wir setzen uns an einen länglichen Tisch am Fenster zu Krawatte und Vogelkopf, die uns heranwinken. Sina ist nicht dabei. Hinter uns am Tisch hat sich eine Gruppe junger Beamter in Uniform niedergelassen, die sich lautstark unterhalten.

Ich setze mich neben Otto, direkt gegenüber von Krawatte.

Krawatte schaut auf meinen Teller. »Mahlzeit«, sagt er und drückt Unmengen Senf auf seine Frikadelle.

»Mahlzeit«, antworte ich.

»Heute kein Fleisch?«, fragt er.

»Heute nicht und morgen auch nicht. Nicht mal an Weihnachten, wenn die Mutti gekocht hat«, erkläre ich ihm.

»Na dann«, sagt er und stopft sich die Backen voll.

Otto isst mit gutem Appetit. Er scheint generell gern zu essen. Vogelkopf verspeist seinen Hering mit Kartoffeln und beobachtet mich aus den Augenwinkeln. Ich binde meine Haare fester am Hinterkopf zusammen und beginne zu essen. Es schmeckt, wie zu erwarten war, und ich stochere lustlos auf meinem Teller herum.

»Schmeckt’s?«, fragt Vogelkopf nach den ersten Bissen und sieht mich herausfordernd an. Otto ist in seine Schweinemedaillons vertieft. Krawatte schaut mich belustigt an.

»Das Erste, was ein Kind im Kochkurs in der Schule lernt, ist, Kartoffeln zu kochen«, sage ich, seziere mit meiner Gabel den Auflauf und lege die Schichten frei. »Man braucht dazu nur einen Topf mit Wasser und Salz. Man lässt die Kartoffeln kochen, und wenn der Gabeltest positiv ist, ist die Kartoffel gar.«

Krawatte gluckst schon.

»Ganz ehrlich? Wenn wir nicht beim LKA wären, würde ich den Koch erschießen.« Ich lege die Gabel neben den Teller und lehne mich zurück. »Kann mir jemand seine Waffe leihen?«

Vogelkopf lacht und wackelt aufgeregt mit dem Kopf. Krawatte schmunzelt mich an und erklärt mir, wie diese Kantine zu nutzen ist. »Du wirst dich daran gewöhnen. Was geht, sind Eintöpfe; alles, was lange kochen darf. Und nimm nie die Soßen; die sind aus dem Eimer und schmecken grausam.«

Er schielt rüber zu Otto, der konzentriert einen See aus Bratensoße von seinem Teller löffelt.

Wir grinsen uns kurz an.

»Ich hole mir ’nen Wackelpudding. Sonst noch jemand?«, frage ich und sehe in Gedanken Raffa, der mit erhobenem Daumen anerkennend grinst.

Die drei schütteln den Kopf, und ich stehe auf und gehe an dem Tisch der Beamten entlang. Zwei tuscheln und deuten mit dem Kinn auf mich. Ehe ich es mich versehe, steht einer der beiden neben mir am Dessertregal. Blonde Meckifrisur. Etwa mein Alter, vielleicht Mitte zwanzig. Zwei Köpfe größer.

Ich angele mir zwei grüne Wackelpuddings aus dem Kühlregal, und er stellt sich mir in den Weg. Schnappt sich eine dieser fiesen, aufgeschäumten Cremes. Er sieht mich an, sein Blick schweift von meinen Brüsten zum Totenkopftattoo an meinem Handgelenk.

»Na, heute keinen Appetit?«, sagt er.

»Was willst du?«, frage ich ihn ohne Umschweife.

Mir macht diese Art Anmache nichts. Das sind alles nur Spiele, und ich weiß, wie die gehen. Ich war in der Forensischen. Und dort kommen Kriminalität und psychische Krankheit zusammen. Die Jungs, mit denen ich dort gearbeitet habe, hatten heftige Taten begangen. Körperverletzung, Sexual- und Tötungsdelikte. Und ihre Erkrankungen reichten von Störungen mit psychotischen Elementen, Drogenabhängigkeit bis zu schweren Persönlichkeitsstörungen. Das machte die Arbeit nicht leicht. Schiss hatte ich nie vor denen. Am Anfang testen sie dich, wollen wissen, mit wem sie es zu tun haben. Da war Hanno, der den Freund seiner Mutter niedergestochen hat, na ja, sagen wir eher, niedergemetzelt mit vierunddreißig Messerstichen in Gesicht und Oberkörper. So stand es in der Gerichtsakte. Und warum? Weil er seine Mutter beschützen wollte und glaubte, der Freund sei der Teufel. Das ist eine gequälte Seele. Er erzählte mir alles im Detail, sah mir direkt in die Augen und wollte wissen, ob es mich beeindruckt und ich Angst vor ihm hätte. Als er merkte, dass ich die nicht hatte, wurde er offener, und ich konnte mit ihm arbeiten. Wenn ich also mit denen klarkam, dann werde ich mit den Jungs hier schon dreimal fertig.

»Ich hab gesehen, dass du deinen Teller nicht aufgegessen hast«, sagt Meckifrisur vorwurfsvoll.

»Schön. Willst du ihn haben?«

»Nein.«

»Du bekommst ihn trotzdem. Sobald ich zurück an meinem Platz bin, serviere ich ihn dir. Vor deinen Freunden.«

Er ist irritiert und grinst dämlich. »Und mehr bekomme ich nicht?«

Ich sehe auf sein Namensschild. »Pass mal auf, Hechmann«, sage ich. »Ich bringe dir nachher ein Buch vorbei. Es heißt: Wie man Frauen richtig anmacht. Teil eins. Wenn du das gelesen hast, reden wir weiter.«

Er öffnet den Mund und will etwas sagen. Aber ich komme ihm zuvor. »Und ganz ehrlich: Langweil mich nicht.« Ich lasse Hechmann stehen und gehe zur Kasse. Trage meinen Nachtisch zum Tisch. Der Jungs-Tisch folgt mir mit auffälligen Blicken, und Hechmann setzt sich kleinlaut wieder an seinen Platz.

Krawatte ist amüsiert. »So sind die Männer hier«, sagt er. »Viel Testosteron.«

»Das sind keine Männer«, sage ich und löffele genüsslich den Wackelpeter. »Das sind Kinder. Und Kinder muss man wie Kinder behandeln.«

Ich grinse ihn an, und Otto stupst mich in die Seite.

»Aber hüte dich vor Erkan, der baggert wirklich alle an«, brummt Otto.

»Der ist harmlos«, sage ich zu ihm. »Der will gelten. Groß sein. Etwas darstellen. Der braucht Lob und Anerkennung.«

Krawatte schiebt sein Tablett zur Seite. Eine Augenbraue schnellt nach oben.

»Seid ihr eigentlich alle so, ihr Psychologen?«