Die Kriminalistinnen. Der Tod des Blumenmädchens - Mathias Berg - E-Book
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Die Kriminalistinnen. Der Tod des Blumenmädchens E-Book

Mathias Berg

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ein facettenreicher zeitgeschichtlicher Kriminalroman . . .. . . und das mitreißende Porträt einer jungen Frau in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Düsseldorf, 1969: Erstmals werden Frauen zu Kriminalbeamtinnen ausgebildet – ein Novum, das Widerstände in der Behörde und der Bevölkerung hervorruft. Die zweiundzwanzigjährige Lucia Specht lässt sich davon nicht abhalten. Sie ist fasziniert vom Beruf der Kriminalistin und fest entschlossen, der Enge ihrer Heimatstadt zu entkommen. Als ein junges Hippiemädchen brutal ermordet wird, nimmt sich Lucia unter Mithilfe ihrer Kolleginnen des Falls an – und beweist, dass sie das Zeug zur Ermittlerin hat.

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Mathias Berg wurde 1971 in Stuttgart geboren und schreibt seit seinem vierzehnten Lebensjahr. Nach dem Studium der Soziologie in Bamberg und London wurde er PR-Redakteur und arbeitete in der Werbung und im Marketing. Mathias Berg ist verheiratet und lebt in Köln.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: finken & bumiller | buchgestaltung und grafikdesign unter Verwendung des Bildmotivs AdobeStock/Maria

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-004-4

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind.

Wir sehen sie so, wie wir sind.

Teil 1

Das Spiel beginnt

1

Montag, 4.August 1969

Der Himmel war ein sattes, großes Blau. Als hätte der Zeichner vergessen, die Wolken zu malen. Ich stand mit meinen fünf Kolleginnen von der Polizei auf dem ausgedörrten Rasen im Düsseldorfer Hofgarten und posierte für den Fotografen. Es war kurz nach neun an diesem Montagmorgen. Die Sonne schien freundlich, und mir war zum Heulen zumute. Genau heute vor zehn Jahren war meine Mutter vor meinen Augen zu Tode gekommen, und immer noch quälte mich die Frage, ob ich es hätte verhindern können. Die Frage nagte an mir, und ich fragte mich, ob das jemals aufhören würde. Und zugleich war ich glücklich, denn ihr Tod wiederum war der Grund, warum ich jetzt hier stand. Wo ich hinwollte.

Ob ich hierhingehörte, sollte sich zeigen.

Eigentlich waren wir alles gestandene Frauen. Bis auf mich. Ich fand, dass ich unfertig war. Mit meinen zweiundzwanzig Jahren war ich die Jüngste in der Truppe. Ich war hungrig nach Wissen, ich wollte in einer Sache richtig gut sein, und das hier war meine Chance. Vom ersten Tag der Ausbildung an hatte ich jede Unterrichtsstunde aufmerksam verfolgt, Fachwissen in mich aufgesaugt, jedes Sachbuch akribisch gelesen und unsere Ausbilder mit Fragen gelöchert. Ich wusste, das war genau das, was ich machen wollte. Ich hatte es zur Polizei geschafft und war verdammt stolz auf mich. Ich wünschte, meine Mutter könnte mich jetzt sehen.

»Lächle doch mal«, hätte sie gesagt. »Schau nicht immer so ernst drein.«

Klick. Klick. Klick.

»Hey, Ladys, noch ein Lächeln an diesem herrlichen Summerday, ja, genau so«, rief uns der jugendliche Fotograf vom STERN mit heller Stimme zu.

Und wir lächelten.

»Gut so, weiter. Und das Kinn heben.«

Wir hoben gleichzeitig das Kinn an. Ich fand es albern, wie wir dastanden, wie eine Riege von Pennälern und so scheußlich zurechtgemacht. Eine freiwillige Feuerwehr hätten sie schöner inszeniert, dachte ich. Aber wie so oft behielt ich meine Gedanken für mich.

Klick. Klick. Klick.

»Stehen Sie ruhig locker, das sind nur Fotos zum Warmwerden«, sagte der Fotograf, als wären es Modeaufnahmen für die Mademoiselle.

Ich hörte das mechanische Klicken des Verschlusses des Fotoapparats und das schnelle Aufziehen nach jeder Aufnahme, aber in meinen Gedanken war ich woanders.

»Danke, eine kurze Pause«, rief der Fotograf und gab dem Reporter ein Zeichen.

Das Wochenmagazin STERN wollte einen Artikel über uns sechs angehende Kriminalistinnen bringen, damit ganz Deutschland wusste, wie besonders wir waren. Gruppenfotos und Einzelporträts. Hier im Park und in den Schulungsräumen im Präsidium, wo wir ausgebildet wurden. Wir sechs Frauen waren besonders, weil wir gemeinsam mit den Männern zu Kriminalbeamten ausgebildet wurden. Ohne jeglichen Unterschied, eine vollkommene Gleichbehandlung. Das war neu und sorgte für Aufregung. Seit dem Tag im März, an dem wir unsere Dienstmarken in die Hand gedrückt bekommen hatten, waren wir von den männlichen Kollegen genau beobachtet worden. Umso erstaunlicher, dass heute keiner hinter den Büschen lauerte und auf uns aufpasste. Für diesen Montagvormittag hatten wir freibekommen, denn Öffentlichkeitsarbeit war der Behörde wichtig.

Der Reporter, er hieß Fred Klein, ein gemütlicher Typ mit Vollbart, zeigte auf mich. Die Kolleginnen kontrollierten ihr Make-up, und er schritt auf mich zu, mit einem gezückten Reporterblock in der Hand, und nahm ruhig die Pfeife aus dem Mundwinkel, die kalt geworden war.

»Warum wollten Sie zur Kripo? Kriminalbeamter ist doch ein typischer Männerberuf. Was war Ihre Motivation als Frau?«, fragte er und taxierte mich dabei.

In Gedanken war ich bei dem Abend im November vor zehn Jahren, als die Polizei zu uns kam. Zu meinem Vater, meinem Bruder und mir, im November 1959, drei Monate nach Mutters Tod. Noch immer hörte ich das Schrillen der Türklingel in meinem Kopf. Ich senkte den Blick, starrte auf meine Schuhspitzen, auf die sich der Staub von der knochentrockenen Wiese gelegt hatte, und widerstand dem Impuls, sie sauber zu wischen.

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich Fred Klein.

Er sah mich erstaunt an. »Wäre Stewardess bei der Lufthansa nicht auch ein schöner Beruf für Sie? Das ist doch ebenso aufregend.«

Ich kniff die Augen zusammen. Beim Bewerbungsgespräch im Präsidium hatten sie mir dieselbe Frage gestellt. Ich hatte in einem züchtigen Kleid wie aufgespießt auf dem Stuhl gesessen und im Brustton der Überzeugung geantwortet: »Weil kein Verbrechen ungestraft bleiben soll und kein Verbrecher ungeschoren davonkommen darf.«

Ich sah den Reporter ernst an und wiederholte laut den Satz aus dem Bewerbungsgespräch. Er kritzelte auf seinem Block herum.

»Und wo sind Sie aufgewachsen?«

»In Essen. Im Arbeiterviertel. Mein Vater und mein Bruder arbeiten in der Zeche. Auf Zollverein.«

»Was ist Ihr Beruf? Was haben Sie gelernt?«

»Sekretärin«, antwortete ich, und Fred Klein nickte, betrachtete seine Notizen.

»Freuen sich Ihre Eltern, dass Sie bei der Polizei sind?«

»Ich habe sie nicht gefragt. Ich bin ja volljährig und kann machen, was ich will.«

»Finden die das nicht ungewöhnlich? Sie, als Frau, mit einer Waffe?« Fred Klein legte den Kopf schief. Er war so ein väterlicher Typ, doppelt so alt wie ich, und mir schien, dass er bereits eine feste Vorstellung davon hatte, wie sein Artikel aussehen sollte.

»Nein, eigentlich nicht. Hatten Sie schon mal eine Waffe in der Hand?«

Er schüttelte kurz den Kopf. »Danke, das genügt mir fürs Erste«, erklärte er.

Ich atmete auf, und er ging weiter zu meiner Kollegin Mieze, die eigentlich Herta hieß und dem Mann direkt ein Kotelett ans Ohr quatschte.

»Ich bin in einer Kneipe groß geworden und kenne die Menschen. Ich sehe einem Typen an, wenn er lügt«, hörte ich sie sagen, während ich mich zu den anderen stellte und an meinen Haaren rumnestelte. Das Schlimmste an diesen Fotos war: Wir mussten alle Perücken tragen, damit uns niemand auf den Fotos erkennen konnte. Schwachsinn, dachte ich.

»Langweilige Fragen, was?«, sagte Ruth, stellte sich neben mich und deutete auf Fred Klein. »Da schicken die uns einen Mann zum Interview. Das kann doch nichts werden.«

Ich schielte auf ihre falschen blonden Haare, die im Sonnenlicht unnatürlich glänzten. »Du siehst merkwürdig aus«, sagte ich zu ihr und deutete auf ihren Kopf.

»Ich tauge nicht zur Blondine«, erwiderte Ruth. »Warte mal, bei dir hängt noch eine Strähne raus.« Mit einem konzentrierten Blick stopfte sie meine echten dunkelblonden Haare unter den braunen Pagenkopf aus Polyester. »Ich hab’s gleich.«

»Meine Mutter würde dir auf die Finger hauen, wie du mit meinen Haaren umgehst«, rutschte es mir raus.

»Hab dich nicht so. Diese Perücken sind furchtbar, die würde ich höchstens zum Karneval tragen«, schimpfte Ruth. »Was haben die sich nur dabei gedacht? Als ob uns niemand mehr erkennen könnte, mit den ollen Fifis aufm Kopp. So, fertig.«

»Schau dir mal Mieze an. An der würde ich glatt vorbeilaufen«, bemerkte ich und deutete mit ausgestrecktem Finger auf sie.

Mieze trug ebenfalls eine brave Blondhaarperücke. Ihre leuchtenden roten Locken waren verschwunden. Sie hatte einen kirschroten Lippenstift aufgelegt und sah aus wie eine miese Kopie von Jayne Mansfield. Sie posierte, kurvig, wie sie war, solo für den Fotografen, der einen Narren an ihr gefressen hatte und vor ihr wie Mick Jagger in schlangenhaften Bewegungen herumturnte.

Wir sahen uns an und lachten.

»Meine Damen, wir würden jetzt gern ein Foto mit Ihrer Dienstmarke machen«, sagte Reporter-Fred.

»Bitte, Ladys, stellen Sie sich vor das Brückengeländer hier«, dirigierte uns der Fotograf. »Und klemmen Sie sich die Dienstmarke wie ein Monokel vor das Auge.«

Ich hatte mir den Namen nicht gemerkt, weil ich ihn uninteressant fand. Ein junger Kerl in hellblauen, engen Jeans, die tief auf seiner schmalen Hüfte saßen, mit blonden, gescheitelten Haaren, die ihm fast bis zu Schulter reichten und ihn wie einen Musiker aussehen ließen. Er war sonnengebräunt, als sei er gestern aus Saint-Tropez gekommen. Ein moderner junger Mann und ganz und gar nicht mein Typ. Ich mochte langhaarige Männer nicht leiden.

»Ihnen würde die Perücke auch gut stehen«, sagte Ruth, und er lachte amüsiert und dirigierte mich mit der ausgestreckten Hand an die richtige Position.

Ich sollte in der zweiten Reihe stehen, links außen, neben der großen Renate, die mir mit leidender Miene zuzwinkerte.

»Sehe ich genauso schlimm aus wie du?«, fragte sie leise, als ich mich neben sie stellte.

Ich hob den Kopf und sah auf ihre Perücke, die wie ein Wischmopp auf ihrem schmalen Kopf thronte.

»Schlimmer«, antwortete ich und gluckste.

Vor uns standen Mieze, Lilli und Petra. Mieze in der Mitte, die anderen beiden links und rechts, mit braunem, glänzendem Plastikhaar. Alle drei trugen das gleiche knielange Baumwollkleid mit einem grünen Schilfblattmuster darauf und einem dünnen Gürtelchen um die Taille. Renate, Ruth und ich in der Reihe dahinter hatten uns auf einen hellen Faltenrock und einen dünnen cremefarbenen Pullover geeinigt. Die Idee war, dass wir relativ einheitlich aussehen sollten, keine sollte durch Individualität auffallen.

»Was für ein Affentheater«, raunte mir Renate zu, als wir uns, wie von Fred geheißen, die Dienstmarke wie ein Monokel ans Auge setzten. Die anderen unterdrückten ein Kichern.

»Die Damen haben gute Laune, das ist doch prächtig«, rief Fred vom STERN, und wir lachten einmal laut auf. Aber aus einem anderen Grund.

Klick. Klick. Klick.

»Immer schön lächeln, Mädels«, soufflierte Ruth, »und das Kinn hochrecken.« Sie summte »Light My Fire« von Erma Franklin, und der Song hallte sofort in meinem Kopf wider. Ich grinste in die Kamera.

Klick. Klick. Klick.

»So viele Aufnahmen braucht der niemals, das ist Verschwendung von Fotomaterial«, sagte Renate, gelernte Fotolaborantin.

»Ich glaube eher, er steht auf Mieze«, sagte Lilli mit hoher Stimme. »Dabei finde ich ihn auch nicht schlecht. So schön gebräunt. Bestimmt nahtlos.«

»Du bist so gut wie verlobt mit deinem Lehrer.« Mieze lächelte den Fotografen verführerisch an, der einen Schritt auf uns zumachte.

»Und du bist fast verheiratet mit deinem Feuerwehrmann«, konterte Lilli und seufzte laut.

»Oh ja, das bin ich«, sagte Mieze und schnurrte dabei wie ein Kätzchen, »und das werden wir auch nicht ändern.«

»Nun haltet mal die Mündeleins, sonst werden wir hier nie fertig. Ich habe einen höllischen Durst.« Petra war die Älteste und Trinkfesteste in der Runde. Verheiratet mit einem Staatsanwalt. Ein Kind. Gelernte Steuerfachgehilfin.

Fred Klein stand mit strenger Miene hinter dem Fotografen und musterte uns, wie wir in Reih und Glied in unseren Einheitsklamotten und mit den falschen Haaren dastanden und dämlich posierten.

»Und Sie jagen also künftig Verbrecher und Ganoven«, meinte er süffisant und lächelte uns belustigt an, nach dem Motto: Das ist doch nicht wirklich euer Ernst. So wie ihr ausseht.

Oh doch. Das war es. Unser voller Ernst.

2

Zehn Jahre zuvor – Essen, 6.November 1959

Als die Türklingel schrillte, hoben wir drei gleichzeitig die Köpfe und sahen zur Wanduhr über dem Kühlschrank. Es war kurz nach sechs. Wir saßen in der Küche, und mein Bruder Henning hörte auf, seine Schmalzstulle zu kauen. In seinem Blick war Ratlosigkeit. Vater leerte seine dritte Pilsflasche. Das Radio spielte leise »Am Tag, als der Regen kam« von Dalida. Es klang so entfernt an mein Ohr, als wäre eine fröhliche Feier eine Straße weiter. Mein Vater ächzte, erhob sich und ging in seinem typischen schwankenden Gang zur Tür. Ich blieb sitzen, während das Blut durch meine Ohren rauschte. Ich hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Dunkle Männerstimmen. Feste Schritte, die näher kamen. Zwei Polizisten in Uniform betraten mit ernster Miene unsere Küche, die Dienstmützen unter den Arm geklemmt. Ein junger Polizist mit einem glatten, freundlichen Gesicht, nicht viel älter als mein Bruder, und ein älterer Beamter mit einem gepflegten, dichten Schnauzbart. Auf den Schultern ihrer grauen Uniformen schimmerten Wassertröpfchen von der nebelfeuchten Abendluft. Sie traten mit ihren schweren Schuhen vorsichtig auf, als wollten sie das Knarren der Bodendielen verhindern.

»Wir müssen Ihnen etwas mitteilen«, sagte der ältere Polizist bedeutungsschwanger. Henning drehte das Radio aus, und der Polizist deutete mit dem Kinn auf mich, nach dem Motto: Das ist nicht für kleine Ohren bestimmt.

»Geht’s um Mama?«, fragte ich wie aus der Pistole geschossen.

»Ab in dein Zimmer«, befahl mein Bruder.

»Ich will aber nicht«, erwiderte ich bockig.

»Geh mir nich auffe Pimpernellen«, rief mein Bruder genervt und gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf.

Mit der flachen Hand schlug ich so fest auf seinen Unterarm, dass es klatschte. Aber er lachte nur. Ich sprang auf.

»Habt ihr das Schwein endlich?«, fragte ich und sah die beiden Polizisten ernst an.

Mir war klar: Vater und Henning wollten die Realität von mir fernhalten. Aber das ging nicht, denn ich hatte es gesehen. Vor meinen Augen. Ich hatte zugesehen, wie sie starb. Ich würde es niemals vergessen. In meiner Trauer war ich ihnen unheimlich geworden. Still und in mich gekehrt belauschte ich heimlich ihre Gespräche in der Kneipe, das Tuscheln in der Trinkhalle oder die kargen Wortwechsel beim Bezahlen an der Kasse. Ich sah die bekümmerten Blicke der Mitmenschen, spürte ihre Hoffnung auf die erlösende Antwort, die nie kam.

Ja, sie haben ihn. Ja, er wird für seine Tat bestraft.

»Habt ihr ihn?«, hakte ich nach und sah in das ernste Gesicht des Schnauzbarts, der mich mitleidig taxierte. »Ich bin fast dreizehn«, schob ich maulig hinterher und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Setz dich, Lucia«, mahnte mein Vater.

Der Schnauzer erhob das Wort. »Wir müssen Ihnen mitteilen, dass wir die Ermittlungen einstellen werden. Es gibt keinen Hinweis mehr, dem wir nachgehen könnten. Schicht im Schacht.«

Der jüngere Beamte sah zu Boden.

»Hömma, dat tut mir leid«, schob der Schnauzer hinterher. »Alles Gute und Glück auf.«

Mein Vater erwiderte nichts. Er ertrug die Nachricht, wie er alles ertrug. Stand auf und machte Anstalten, die beiden Polizisten zur Tür zu begleiten.

»Schon gut. Wir finden den Weg.«

Beide nickten beamtenhaft, setzten ihre Dienstmützen auf und stiefelten mit schweren Schritten zur Wohnungstür, die wenige Sekunden später klappernd ins Schloss fiel.

Wir saßen stumm auf unseren Stühlen.

Mein Vater kramte in der Zigarettenschachtel, zündete sich mit zitternden Händen eine an, sog daran und ließ den Rauch durch Mund und Nase hervorquellen. Henning hatte das Gesicht in den Händen vergraben. An seinem linken Zeigefinger klebte ein Rest Schmalz.

Keiner von uns sagte ein Wort.

Die Wanduhr tickte gleichförmig und zählte die verstreichenden Sekunden. Tick. Tack. Tick. Tack. Das war der Moment, in dem das Schweigen begann und sich geräuschlos wie Kohlenstaub auf uns niederlegte.

Und das war der Moment, in dem ich mir schwor, dass ich ihn finden würde.

Ich würde ihn zur Strecke bringen.

Eines Tages.

3

Nach dem Fototermin mit dem STERN gingen wir sechs Frauen um halb eins in unsere Kantine, wie wir die Gaststätte »Zum Trompeter« nannten. Sie lag wenige Schritte vom Polizeipräsidium entfernt und bot einen günstigen Mittagstisch, der gern von den Düsseldorfer Polizisten besucht wurde. Die Wirtin, Roswitha, genannt Rosi, eine resolute, füllige Endfünfzigerin, sah uns hereinkommen, verscheuchte zwei Streifenpolizisten, die an einem Vierertisch saßen, und winkte uns heran.

»Kommt her, meine Täubchen, für euch ist immer Platz bei Rosi«, rief sie, und ihr ausladender Busen wackelte unter der weißen Schürze. »Heute gibt’s Königsberger Klopse mit Salzkartoffeln und Roter Bete.«

Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Meistens war der Mittagstisch die einzige Mahlzeit am Tag für mich. Nach dem Essen servierte Rosi ihren köstlichen handgebrühten Filterkaffee, und wir rauchten eine Zigarette dazu. Anschließend liefen wir zum Präsidium zurück, und als wir vor dem mächtigen Backsteingebäude standen, sank meine Laune schlagartig. Im Foyer, auf dem Bodenmosaik mit dem preußischen Adler stehend, verabschiedeten wir uns und liefen auseinander. Jede in ihren zugeteilten Bereich. Ich war seit vierzehn Tagen im K1, dem ersten Kommissariat, zuständig für Mord, Totschlag, Vermisstenanzeigen und Brandstiftung. Meine erste Station. Und ich hatte großes Glück, denn ins K1 wollten viele der Aspiranten. Für zwölf Wochen würde ich hier an aktuellen Fällen mitarbeiten, bevor es zu einem Lehrgang an die Polizeischule ging.

Aber die Wirklichkeit sah anders aus.

Die Sommerzeit war in der Mordkommission Saure-Gurken-Zeit. Ein paar Kollegen waren mit ihren Kindern im Urlaub, und es schien, als seien auch die Verbrecher verreist. Die wenigen, die da waren, traten sich nicht gerade auf die Füße. Außer Aktenstudium und Berichte abtippen durfte ich bisher nicht viel machen, während mein junger Kollege Toni, der mit mir angefangen hatte, schon zu ersten Einsätzen mitfuhr. Im Vorzimmer hob Elke Hansen, die Sekretärin des K1 und die Dienstälteste im Kommissariat, den Kopf und sah mich über den Rand ihrer großen Brille an.

»Du wirst bereits vermisst. Vom Chef. Die anderen sind unterwegs, es hat zwei Kollegen von der Streife erwischt. Sind angeschossen worden bei einer Pkw-Kontrolle. Jetzt sind alle in Aufruhr. Wie war’s bei dir?«, fragte sie und versuchte ein aufmunterndes Lächeln.

Elke wusste Bescheid, bei ihr liefen die Fäden des Hauses zusammen. Wenn einer etwas wusste, dann sie. Elke hatte eine Vorliebe für kunstvolle Tierbroschen. Auf dem Revers ihrer gestärkten Bluse kletterte heute ein Tiger in Richtung Hals.

»Elke, es werden schreckliche Fotos. Keine Ahnung, was die Leute von uns denken sollen«, sagte ich und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir werden wie ein sechsköpfiges Kuriosum auf einem Jahrmarkt dargestellt. Hereinspaziert, hereinspaziert.«

»Sei’s drum«, sagte Elke und winkte ab. »Du kannst es sowieso nicht mehr ändern. Lass die Leute denken, was sie wollen. Ob da draußen oder hier drinnen. Getuschelt und getratscht wird immer. Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand.«

»Was wird denn getuschelt?«, hakte ich nach.

»Ich sag mal so. Es gibt Kollegen, die möchten die alte Ordnung behalten und sehen Frauen keinesfalls in diesem ehrwürdigen Haus. Aber lass dir davon keine grauen Haare wachsen.« Sie zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich. »Ihr macht einfach euer Ding. Von nichts kommt nichts. Ich finde das großartig, dass ihr da seid«, sagte sie, öffnete eine Schublade und deutete auf eine Pralinenpackung, die bereits deutliche Lücken aufwies. »Nimm dir eine. Du wirst es brauchen. Lass dir ein dickes Fell wachsen, Lucia. Ich meine es ernst. Und achte auf Potthoffs Krawatte. Die sucht er nach Tageslaune aus. Je dunkler, desto schlechter.«

Ich sah sie fragend an, und sie deutete auf die Pralinen. »Nun nimm schon«, sagte sie, »und dann ab zu Potthoff. Ich habe ihm gesagt, dass dir die Mittagspause zusteht, auch wenn du am Vormittag freihattest.«

»Danke dir«, antwortete ich, und mein Magen krampfte sich bei dem Gedanken an Potthoff leicht zusammen. Ich schnappte mir eine Praline mit einer Walnuss obendrauf und steckte sie in den Mund.

»Und merk dir eins: Hunde, die bellen, beißen nicht«, erklärte Elke, als hätte sie meine Gedanken gelesen, und spannte mit einer schnellen Handbewegung ein Blatt Papier in die Schreibmaschine ein.

Ich wandte mich zum Gehen.

»Warte mal, Lucia. Eine Frage noch. Wie würdest du mich beschreiben? Äußerlich, meine ich.« Sie deutete mit beiden Händen auf ihren Oberkörper. »Ganz spontan.«

Ich stutzte. »Weiblich und … schön … gerundet«, stammelte ich, und Elke strahlte über das ganze Gesicht.

»Das ist gut, das nehme ich. Ich habe da nämlich was vor, aber das erzähle ich dir nachher«, sagte sie und tippte mit einem Grinsen weiter. »Jetzt aber ab mit dir.«

Der Büroraum der Mordkommission war groß und hell mit vielen schmalen Schreibtischen, hohen Regalen mit Aktenordnern, die wie Raumteiler fungierten, und einer breiten Fensterfront, die den Blick auf den weiten Innenhof gewährte. Eine Art Großraumbüro, in dem wir zusammen arbeiteten, weil das Präsidium aus allen Nähten platzte. Dominant war der Geruch, der mir täglich aufs Neue auffiel. In diesem Raum arbeiteten fast nur Männer. So roch es morgens nach den marktüblichen Aftershaves, später nach frischem oder auch kaltem Zigarettenrauch, und am Ende des Tages mischte sich der Schweiß harter Arbeit dazu. Die Wände dünsteten Testosteron aus. Ich riss öfter am Tag die Fenster auf und legte auf der Damentoilette mein Parfüm nach. Elke und ich dufteten um die Wette. Ich nahm Tosca, weil ich mir Chanel unmöglich leisten konnte. Die Schreibtische waren wie in einem Klassenzimmer in Reihen aufgestellt. Auf der linken Seite gab es eine Besprechungsecke mit einer Wandtafel, an der die aktuellen Fälle angebracht waren. Mein Schreibtisch war vorne links vor dem Glaskasten, in dem Potthoff saß, sodass er mich stets beobachten konnte. Oder wahlweise ich ihn.

»Specht!«, rief er durch die offene Tür seines Büros. »Herkommen!«

Ich lief einen Schritt schneller. »Ja bitte?«, fragte ich in höflichem Tonfall und stellte mich in den Türrahmen.

Potthoffs Blick war der eines bissigen Wachhundes. Angriffslustig und scharf. Der Leiter der Mord, Jürgen Potthoff, war Ende vierzig und einer dieser Typen, die nicht sonderlich muskulös waren, aber trotzdem körperlich bedrohlich wirkten. Er war nicht hübsch, sein Gesicht hatte harte Konturen und einen entschlossenen Ausdruck mit scharfen Augenbrauen über grünen Augen. Auf seinem Schreibtisch stand ein silberner Rahmen mit einem Foto seiner Familie, Frau und Sohn. Sie war schmal und spitznasig, in gepflegter Garderobe, den Arm um den Sohn gelegt. Ein Bengel in kurzen Hosen und mit gescheitelten Haaren wie der Vater. Potthoff war konservativ in seinem Kleidungsstil. Hemd, Hose und Krawatte wie bei der Bank, und er sah es gern, wenn die Männer im K1 sich kleideten wie er. Unter seinem etwas zu engen Hemdkragen schlängelte sich eine pochende Halsschlagader empor. Sein grau durchwirktes Haar lag scharf gescheitelt, mit einer langen Furche, die die weiße Kopfhaut zeigte. Er hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt und die Krawatte gelockert.

Sie war heute dunkelgrau.

»Wo waren Sie?«, fragte er mit strengem Blick auf die Uhr. »Sie hatten den Vormittag frei. Von einer Mittagspause war nicht die Rede. Wann Sie Ihren Dienst verrichten, entscheide ich. Künftig stimmen Sie Abwesenheitszeiten ausschließlich mit mir ab.«

Ich deutete hinter mich in Richtung Elke, aber er machte eine wegwischende Handbewegung, die mich verstummen ließ.

»Jetzt, da Sie Ihre Mannequinkarriere beendet haben, können Sie sich wieder auf den Dienst konzentrieren. Haben Sie die Unterlagen zu dem Vermisstenfall zusammengetragen?« Seine Stimme ging am Ende hoch und war militärisch streng.

Ich deutete auf die graue Mappe vor ihm. »Ja, die liegt hier, auf Ihrem Tisch.«

Potthoff hob eine Augenbraue, unschlüssig, ob er meinen Hinweis als Frechheit einstufen sollte. Ich schob meine Finger ineinander und hasste mich für meine sekretärinnenhafte Unterwürfigkeit, aber ich sah noch keinen Weg aus dieser Konstellation. Er spannte mich seit dem ersten Tag genau für jene Arbeiten ein, die ich vorher in Essen gemacht hatte. Briefe tippen. Listen anfertigen. Telefonanrufe tätigen. Termine vereinbaren. Er hielt mich an der kürzesten, langweiligsten Leine.

»Kommen Sie mit den von mir übertragenen Aufgaben klar?« Ich konnte den Hinterhalt schon riechen.

»Ja, natürlich.«

»So eine Ausbildung bei der Polizei ist eben kein Spaziergang.«

»Dessen bin ich mir vollkommen bewusst.«

Nie klein beigeben, stets selbstbewusst sein, hatten wir sechs Frauen uns geschworen. Er sah mich mit grimmiger Miene an, und meine Achseln wurden feucht. Das Telefon auf seinem Tisch klingelte, und er nahm ab, bellte seinen Namen und lauschte mit ernster Miene. Ich wollte mich schon wegdrehen, aber er dirigierte mich mit ausgestrecktem Zeigefinger zurück und bedeutete mir zu bleiben.

»Verstanden«, bestätigte er der Person am anderen Ende und notierte etwas auf dem Block neben dem Telefon. »Wir machen uns auf den Weg.« Potthoff legte auf, und mit einem Mal wechselte sein Gesichtsausdruck. Ein verwegenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

»Ein Brand in einem Wohnhaus. Wir schauen uns die Sache mal an«, sagte er mit Blick auf die leeren Schreibtische. »Ordern Sie einen Wagen aus dem Fuhrpark«, sagte er. »In zehn Minuten vor der Tür.« Er senkte den Kopf und nahm den Hörer erneut ab.

Ich stand einen Moment unschlüssig da.

»Was ist los, haben Sie keinen Führerschein?« Er wählte drei Ziffern.

»Doch, natürlich.«

»Worauf warten Sie dann noch?« Er hielt sich den Hörer ans Ohr.

»Ich soll mit?«

»Ja, was denken Sie denn? Nein, nicht Sie«, rief er in den Hörer.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und eilte zu Elke. Ich hatte keine Ahnung, wo ich einen Dienstwagen bestellen sollte. Das hatten sie uns in den ersten Monaten im Theorieunterricht nicht beigebracht.

Mit beiden Händen hielt ich das Lenkrad fest und versuchte, nicht zu verkrampft zu wirken. Ich steuerte den weißen zivilen Streifenwagen-Käfer zügig durch die Straßen, die Potthoff mir ansagte. In den ersten Wochen der Grundausbildung waren wir im Streifendienst mitgefahren, daher wusste ich das Funkgerät zu bedienen, das im Handschuhfach eingebaut war. Was ich nicht wusste, war der Weg zu der Adresse. Meine Ortskenntnisse waren mies. Ich kannte gerade mal den Weg von meiner Wohnung zum Präsidium, in die Altstadt und zurück. Größer war mein Radius bislang nicht geworden. Potthoff machte sich einen Spaß daraus, Abbiegungen so spät wie möglich anzusagen, in der Hoffnung, dass ich es nicht schaffen würde. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass mein Bruder mir das Autofahren beigebracht hatte; eine seiner wenigen guten Taten. Wenn nicht sogar die einzige.

Potthoff drehte das Radio an, und es erklangen die ersten Töne von »In the Ghetto« von Elvis. Er wippte ein paar Takte mit dem Fuß mit. Es wurde schnell stickig im Inneren, und Potthoffs Aftershave kroch mir in die Nase. So kurbelte ich mein Fenster einen Spalt nach unten, und der hereinwehende Fahrtwind ließ mich aufatmen und trocknete meinen feuchten Nacken.

»Was erwartet uns bei der Adresse?«, fragte ich.

Potthoff drehte das Radio aus. Elvis erstarb. »Der Einsatz all Ihrer Sinne und Ihres Verstandes, wenn Ihr zartes Gemüt das verträgt«, antwortete er und sah aus dem Seitenfenster.

Nach rund einer Viertelstunde parkten wir neben einem Feuerwehrwagen vor einem Wohnhaus in einer einfachen Wohngegend im Stadtteil Volmerswerth.

»Dritter Stock«, sagte Potthoff. »Eine Nachbarin hat die Feuerwehr gerufen.«

Ich sah an der Fassade hoch. Über dem Dach des Hauses war der Himmel blau. Schwalben kreisten in rasantem Tempo über dem Dachfirst. Im dritten Stock waren zwei Fenster weit geöffnet. Aber was mich erstaunte: Da war kein Ruß an der Fassade zu sehen, keine züngelnden Flammen. Am Straßenrand stand keine Horde weinender Menschen, und niemand saß mit rußgeschwärztem Gesicht in eine Decke gehüllt auf dem Gehsteig. Lediglich zwei Jungs mit verrutschten Strümpfen standen neben ihren roten Tretrollern und begafften das Feuerwehrauto. Das Haus war ein ordinäres Mietshaus, dessen Haustür offen stand, als würden die zwei gleich schreiend die Treppen hochstürmen. Offensichtlich war der Brand in der Wohnung bereits gelöscht, denn zwei Feuerwehrmänner verstauten einen Schlauch im Feuerwehrauto.

Ich blieb neben dem Dienstwagen stehen und wartete. In der einen Hand meine Dienstmarke, falls ich mich ausweisen sollte. Potthoff ging zu dem Einsatzleiter der Feuerwehr, der seinen Helm unter den Arm geklemmt hatte. Sie wechselten ein paar Worte miteinander, sahen gemeinsam hoch zu den Fenstern. Jetzt entdeckte ich einen Arzt, der mit seinem schwarzen Arztkoffer am Hauseingang auf uns wartete. Potthoff winkte mich mit einer knappen Handbewegung heran.

»Mitkommen«, rief er und schritt auf den Hauseingang zu. »Tach, Kalle«, sagte er zu dem Notarzt, der den Koffer anhob.

»Moin, Jürgen.«

»Das ist Aspirantin Specht.« Er deutete auf mich.

»Ah ja, eine von den Deerns, hab schon von Ihnen gehört. Moin«, sagte er in norddeutschem Tonfall zu mir.

Ich nickte ihm zu. Die beiden sprachen weiter.

»Alles klar bei dir?«, fragte Potthoff.

»Läuft. Muss ja.«

»Wie geht’s deiner Frau?«

»Dauert nicht mehr lange. Noch vier Wochen, dann ist es so weit.«

»Bevor du zum zweiten Mal Vater wirst, gehen wir aber noch einen trinken, versprochen? Dann wollen wir mal.«

»Jau«, sagte Kalle, »besser jetzt als nie«, und die beiden betraten das Treppenhaus, in dem es verbrannt roch.

Ich folgte den beiden Männern, die die Stufen zum obersten Stockwerk emporschritten, mit etwas Abstand. An der Wohnungstür machten wir halt. Ein blutjunger Kollege in Uniform grüßte schneidig, und die beiden traten ein. Ich wollte folgen, aber der Polizist stellte sich mir in den Weg.

»Stopp. Wer sind Sie?«, fragte er, straffte seine Schultern und schob die Augenbrauen zusammen.

Potthoff blieb stehen und sah sich um. Unsere Blicke trafen sich, aber er machte keinen Mucks. Lächelte.

Ich hielt meine Marke in die Höhe. »Lucia Specht vom K1«, sagte ich mit fester Stimme und sah ihm direkt in die Augen.

Der uniformierte Kollege musterte mich von oben bis unten und sah sich hilfesuchend nach Potthoff um, der ein Nicken andeutete. Erst jetzt trat er zur Seite.

»Schönen Dank«, sagte ich übertrieben höflich und betrat die Wohnung.

Den ersten Eindruck von einem Tatort gibt es nur ein Mal. Es ist der wichtigste Moment. So, wie dieser Ort jetzt aussieht, wird er nie wieder aussehen. Im Unterricht hatten sie uns eingebläut: Beachten Sie jede Auffälligkeit. Hinterfragen Sie jede Selbstverständlichkeit. Nutzen Sie Ihren Verstand. Ich schaltete alle meine Sinne auf höchsten Empfang, denn jede Kleinigkeit könnte das entscheidende Indiz zur Aufklärung sein.

Der kurze Flur der kleinen Wohnung war unversehrt, der Brand hatte es nicht bis hierher geschafft. Es roch wie bei einem Lagerfeuer nach angekokeltem Holz. Der Läufer im Flur war abgetreten. Über dem alten Telefontischchen mit dem orangefarbenen Apparat und dem zerfledderten Telefonbuch von Düsseldorf hing ein Poster mit einem Schwarz-Weiß-Foto von Jimi Hendrix, den kannte ich, auch wenn ich diese Art Musik nicht mochte. Er trug ein aufgeknöpftes gemustertes Hemd und zeigte seine Bauchmuskeln und die leicht behaarte Brust. Mit der einen Hand spielte er an einer Kette, die er um den Hals trug; eine fast weibliche Geste. Die andere Hand hatte er in die Hüfte gestemmt. Er hob das Kinn an, die üppigen Lippen waren leicht geöffnet. Er wirkte selbstbewusst und schüchtern zugleich. Ich hatte eine Idee, was das für eine Wohnung war. Eine Blumenkinderbude. Hippies. Ich konnte mit dieser ganzen Flower-Power-Sache nicht viel anfangen, denn ich nahm keine Drogen, war nicht gern nackt und freizügig, rasierte meine Achseln und war lediglich froh, dass ich dem trüben Ruhrpott entronnen war. Natürlich kannte ich Janis Joplin und die Doors, aber das war einfach nicht meine Musik. Auf meinem Plattenteller lagen die Alben von Dean Martin, den Supremes und den Beatles. Auch wenn ich von ihrem letzten Album, dem »White Album«, nicht alles mochte. Zu experimentell. Und immer wieder hörte ich Nina Simone oder Ella Fitzgerald. Ruth hatte mich ausgelacht, als sie meine Plattensammlung durchgesehen hatte.

»So was hörst du? Das ist nicht gerade modern«, hatte sie belustigt gesagt, denn sie hörte lieber Rock, die Rolling Stones und Jefferson Airplane.

»Ich glaube, ich bin auch nicht so ein moderner Mensch«, hatte ich geantwortet.

»Macht nix, das kriegen wir schon noch hin.«

In dem Flur war eine schmale Tür angelehnt, und ich zog sie auf. Dahinter befand sich ein kleines Badezimmer ohne Fenster. Ich knipste das Licht an. Eine Glühbirne baumelte von der Decke und verbreitete ein hartes Licht. Über dem Waschbecken hing ein Badezimmerschränkchen mit Spiegeltüren zum Aufklappen. Der Klosettdeckel war mit einem lilafarbenen Bezug überzogen, am Boden ein farblich passender Vorleger. Neben der Sitzbadewanne lag ein Kleiderberg. Ich schloss die Tür wieder und betrat den nächsten Raum, das Wohnzimmer, wo es gebrannt hatte. Ein rechteckiger Raum mit einem Doppelfenster, das weit offen stand. Bei der Kommode unter dem Fenster waren die Schubladen aufgezogen und der Inhalt ausgekippt worden. Zwei verbrannte Matratzen, eine lag am Boden, die andere war an die Wand gelehnt, waren vermutlich der Brandherd. Große schwarze Löcher waren in den Stoff gefressen. Die Flammen waren an den Wänden emporgezüngelt und hatten lange schwarze Schlieren hinterlassen. Auf der anderen Seite des Raumes hingen zwei große gebatikte Tücher an der Wand. Feuerfunken hatten kreisrunde Löcher hineingebrannt. Darunter stand ein Bücherregal, dessen Bücher verstreut lagen. Daneben ein alter Barschrank aus braunem Holz mit einem Plattenspieler darauf, auf dessen Abdeckhaube eine Rußschicht zu sehen war. Davor lag eine Gitarre, in die jemand reingetreten war. Auf dem runden Couchtisch in der Mitte des Raumes standen Trinkgläser, ein Kneipenaschenbecher und eine leere VAT-69-Flasche.

»Specht!«, rief Potthoff mich aus dem Nebenraum zu sich. »Was machen Sie denn so lange? Hier spielt die Musik.«

Ich prägte mir die Details ein. Durch den Türstock ging ich in die kleine Küche und zuckte zusammen. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Da lag ein toter Mensch.

Seitenlage. Ein weiblicher Leichnam. Ich sah schnell wieder weg, zu Potthoff, der am offenen Fenster stand, neben dem kleinen Tisch, der mit Krimskrams zugemüllt war. Er deutete auf den Leichnam und wartete mit einem süffisanten Lächeln meine Reaktion ab.

Ich hielt die Luft an. Mein Puls beschleunigte sich.

Ich sah wieder hin. Notarzt Kalle kniete am Boden. Die Tote lag in den Umrissen einer Lache. Der Läufer war übersät mit Flecken, die wie große Teertropfen aussahen. Ihre Füße waren nackt, mit schmutzigen Fußsohlen, sie trug Jeans und ein rotes Batikshirt mit Brandflecken darauf. Was mich verwunderte: Ihr Kopf war mit einem kleinen Tuch abgedeckt. Mein Hirn spulte das Gelernte aus dem Unterricht der letzten Monate ab. Sehen Sie sich den Leichnam genau an. Was fällt Ihnen auf? Was ist ungewöhnlich? Wie wirkt die tote Person auf Sie? Engerer Tatort oder erweiterter Tatort? Ich klammerte mich an mein Theoriewissen, biss auf die Innenseite meiner Wange und schmeckte die aufsteigende Magensäure in meinem Mund.

»Machen Sie uns Notizen«, befahl Potthoff, und ich zückte mechanisch einen Notizblock aus meiner Handtasche. Potthoff machte kaum etwas nach Lehrbuch. Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte neben uns und trug keine Handschuhe.

Er zeigte auf den Leichnam. »Unklare Situation. Hier brannte es in zwei verschiedenen Räumen«, begann er und sprach schnell. »Der Brand konnte sich nicht über den Flur ausbreiten. An mindestens zwei Stellen hat sich Feuer entwickelt, oder es wurde Feuer gelegt. Im Vorzimmer auf Tisch und Matratze. In der Küche rund um den Herd«, ratterte er herunter. »Bin ich zu schnell?«, fragte er.

Ich starrte auf den Herd und die verbrannten Töpfe, sah in den offenen Backofen, in dem ein Haufen Stoff lag. »Nein, ich kann Steno«, erwiderte ich. »Fahren Sie bitte fort.«

Potthoff räusperte sich und sprach weiter. »Ungeklärte Todesursache. Eine mögliche Hypothese: Die Person ist mit brennender Zigarette im ersten Raum eingeschlafen. Ein Kochtopf auf dem Herd wurde vergessen, die Person erwacht, bemerkt den Brand, geht in die Küche, versucht zu löschen, aber aufgrund des fehlenden Sauerstoffs wird sie ohnmächtig und kollabiert. Das würde das Tuch im Gesicht der Person erklären, das sie zum Schutz vor Mund und Nase gehalten hat.«

Er gab Kalle ein Zeichen, der jetzt das Tuch von der Person nahm und das Gesicht freilegte. Ich trat einen winzigen Schritt zur Seite und speicherte den Anblick in meinem Kopf wie eine Fotografie. Ich starrte in das Gesicht meiner ersten Leiche. Der zweite tote Mensch nach meiner Mutter. Mein Puls pochte schwer in meinem Hals, aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich wusste, dass Potthoff nur darauf wartete, dass ich aufschreien oder rausrennen würde. Auf die Knie gehen, mich übergeben oder bewusstlos werden. Dann könnte ich direkt wieder einpacken. Den Gefallen wirst du ihm nicht tun, sagte ich im Stillen zu mir. Ich atmete scharf durch die Nase ein.

»Gehen Sie näher ran«, forderte Potthoff mich auf.

Es war eine junge Frau, schätzungsweise so alt wie ich. Die Augen waren aufgerissen, die Pupillen starr. Ihr Gesicht war unversehrt, keine Verbrennungen, kein Ruß. Keine Wunden. Ein hübsches Gesicht, leicht rundlich, mit einer niedrigen Stirn und buschigen Augenbrauen. Ungezupft. Eine Himmelfahrtsnase. Der geöffnete Mund mit den aufgeworfenen Lippen war verzerrt, als würde sie zur Seite sprechen. Ich konnte die obere Zahnreihe sehen, gerade, mit großen Schneidezähnen wie Würfelzucker. Sie trug ein schmales Schmuckband mit Muscheln um den Hals, darunter war die Haut gerötet. Ihre braunen Haare waren angesengt und knapp schulterlang. Ihre Figur war eher kurvig mit einer ausgeprägten Taille. Kalle begann, den Leichnam zu untersuchen, schob das T-Shirt hoch. Kein Büstenhalter. Die Brüste waren kleiner, als ich es bei dem Körperbau erwartet hätte. Um die Rippen waren dunkle Stellen, wie Prellungen. Ihre Haut war sommerlich gebräunt. Kalle sah sich die Füße und die Hände der toten Frau genau an. An vier Fingern trug sie verschiedene Schmuckringe. Die Fingernägel waren kurz geschnitten. Unlackiert.

»Und, was sehen Sie?«, fragte Potthoff, während Kalle die Körpertemperatur maß.

»Weiblicher Leichnam. Geschätztes Alter zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren. Gesicht unversehrt«, sagte ich, ging leicht in die Knie und war ihr jetzt so nahe, dass ich den Atem anhielt. »Auf den ersten Blick sind keine Wunden sichtbar, keine Einschusswunden, Schnitte oder Ähnliches.«

»Was fällt auf?«

»Die gekrümmte Haltung der Toten. Seitenlage in Richtung Kühlschrank.«

»Was ist daran ungewöhnlich?«

Ich sah Potthoff an. »Die Person liegt verkehrt herum.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Wie meinen Sie das?«

»Wenn es so war, wie Sie sagen, dass sie den Brand in der Küche nicht löschen konnte und mit dem Tuch vor dem Gesicht fliehen wollte, in Richtung Wohnungstür, und bewusstlos zusammenbrach, dann würde sie andersherum liegen, mit dem Kopf zur Tür, nicht von ihr weg. Sie ist so hingelegt worden«, stellte ich fest und erhob mich wieder.

Potthoff sah mich streng an. »Das klingt, als ob Sie den Fall bereits gelöst hätten, Fräulein Specht.«

Ich wurde kleinlaut. »Ich würde die Vermutung anstellen, dass es sein könnte, dass die Person …«, stotterte ich und versuchte meine Annahme zu korrigieren, wie wir es im Theorieunterricht gelernt hatten: Nichts, was Sie sehen, ist zugleich die Wahrheit. Hüten Sie sich vor vorschnellen Annahmen und Erklärungen. Schaffen Sie Fakten. Bleiben Sie bei Hypothesen, Ihre Arbeit wird an Ihrer Beweisführung gemessen.

»Specht, ich bin gespannt, wie Sie das in Ihrem Bericht formulieren werden«, unterbrach er mich. Ich nickte zustimmend. Er fuhr fort. »Hypothese zwei: Die Frau ist Opfer einer selbst gelegten Brandstiftung, möglicher Suizid. Vermutlich finden sich Spuren von Drogen, Medikamenten und Alkohol im Blut der Toten. Hypothese drei: Es war ein Einbruch, sie überraschte den Einbrecher, er schlug sie nieder und legte das Feuer. Momentan gibt es eine Welle von Einbrüchen in Düsseldorf, was typisch für die Ferienzeit ist.«

Ich sah von meinem Block auf. Davon hatte ich in der Zeitung gelesen, eine Serie von Einbrüchen in verschiedenen Vierteln der Stadt.

»Ein Unfall oder vielleicht doch Brandstiftung, das ist die erste Frage, die sich hier stellt«, fügte Potthoff hinzu. »Wo bleibt die Spurensicherung?«

Kalle öffnete den Mund der Toten und leuchtete hinein. Schaltete die Taschenlampe aus.

»Ich kann keine eindeutige Todesursache feststellen, da muss die Rechtsmedizin ran. Die Totenstarre ist noch nicht eingetreten, sie ist nicht lange tot«, erklärte Kalle und erhob sich. Seine Knie knackten. »Die erste Leichenschau ist beendet«, sagte er in meine Richtung. »Jetzt folgt die Obduktion in der Rechtsmedizin. Zur Feststellung der Todesursache und des exakten Todeszeitpunkts.«

Ich nickte dankbar und fragte mich zugleich: Wenn es ein Einbrecher war, wieso hat er ihr Gesicht mit einem Tuch abgedeckt? Scham?

In der Tür erschien ein kräftiger Mann mit glänzender Glatze und roten, fleischigen Lippen, den ich mir auch als Koch vorstellen konnte. Hinter ihm folgte ein deutlich jüngerer Mann mit einem hageren Gesicht und blonden Haaren, die ihm über die Ohren wuchsen. Er sah mich erstaunt an, als würden wir uns kennen. Beide trugen sie modische Kurzarmhemden, wobei es dem Glatzenmann deutlich über der kräftigen Brust spannte, während es dem jungen Mann weit auf den knochigen Schultern hing.

»Ich hoffe, ihr habt nichts angefasst«, sagte Glatze mit dröhnender Stimme. Sein Blick sprang von einem zum anderen.

»Natürlich nicht«, antwortete Potthoff. »Hallo, Herbert, danke fürs schnelle Kommen.«

»Du warst mal wieder schneller am Tatort als ich«, bemerkte Glatze mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton und hob die Hand zum stummen Gruß in Richtung Kalle, der seinen Arztkoffer schloss. »Und wer ist das?«, fragte er und sah mich an.

Potthoff deutete ein Lächeln an und zeigte auf mich. »Anwärterin Specht. Fräulein Specht, das ist die Spurensicherung, unsere Spusi. Kriminaltechniker Herbert Kassner und der junge Kollege Jens Gaude.«

Kassner sah mich freundlich an. Jens nickte einmal schüchtern und schluckte hohl, sein Adamsapfel sprang auf und nieder.

»Sie sind eine der sechs Kriminalistinnen. Eine von Ihnen ist gerade bei uns. Renate Schutt.« Er lächelte. »Ich bin gespannt, wie Sie mit unserem wilden Herrengesangsverein zurechtkommen«, scherzte er.

»Bislang ohne Probleme, ich bin aber auch erst seit zwei Wochen im K1.«

»Von Potthoff können Sie viel lernen, wenn er Sie lässt.« Er zwinkerte Potthoff zu, der keine Miene verzog. »Wenn Sie Fragen haben, kommen Sie vorbei. Und Sie werden viele Fragen haben.«

Es klang fast wie eine Drohung, wenn auch eine freundlich gemeinte.

»Das Angebot nehme ich gerne wahr. Sie werden mich wiedersehen, Herr Kassner«, antwortete ich.

»Sehr gut.« Er sah sich um. »Jens, legen wir los. Wie ich sehe, haben wir hier einen Haufen Arbeit vor uns. Wenn ihr uns entschuldigen würdet.« Er deutete mit seinem ausgestreckten Arm in Richtung Flur. »Ich habe heute Abend noch was vor bei dem schönen Wetter.« Was so viel hieß wie: Verschwindet jetzt.

Potthoff kräuselte die Nase und ging voraus. Ich konnte mir ein Grinsen kaum verkneifen.

»Hippiebude. Furchtbar, dieses junge Gesindel, machen einem nur Scherereien«, schnaubte Potthoff verächtlich. »Befragen Sie die Nachbarn.«

Der Aufpasser nahm Haltung an, als er Potthoff sah.

»Specht, die Zeugenbefragung steht an. Klingeln Sie an allen Türen. Viele werden nicht da sein. Es sind immer noch Schulferien, und wer nicht gerade in Hippieklamotten umherhüpft, geht einer anständigen Arbeit nach. Fragen Sie, was die Personen gehört und gesehen haben. Notieren Sie den vollen Namen und eine Telefonnummer. Jeder Hinweis zählt. Und wenn ich sage, jeder, dann meine ich das auch.«

Für einen Moment war ich geneigt, die Hacken zusammenzuschlagen und mit einem donnernden »Jawohl, Herr General« zu salutieren.

»Kollege Steiner hier unterstützt Sie.« Er deutete auf ihn, der mich jetzt großäugig ansah.

»Sie führt die Zeugenbefragung durch?«, fragte er mit ungläubigem Gesichtsausdruck.

»Haben Sie Bohnen in den Ohren?«

»Nein, Herr Potthoff.«

Ich hielt Potthoff am ausgestreckten Arm die Autoschlüssel entgegen. »Fahren Sie zurück, ich komme mit der Straßenbahn hinterher.«

Er legte den Kopf leicht schief, sein Gesichtsausdruck wirkte, als schwankte er zwischen dem Impuls, laut loszulachen oder mich anzuschreien. Das konnte er gut, diese einschüchternde Miene aufsetzen und sein Gegenüber in Schach halten. Er war mit jeder Faser ein Polizist vom alten Schlag, einschüchternd und auf Härte trainiert. Er schnappte sich den Autoschlüssel mit einer schnellen Bewegung.

»Kommen Sie nicht zu spät«, mahnte er mich. »Sie müssen noch den ersten Bericht tippen und die Ermittlungsakte anlegen.«

Potthoff schnalzte mit der Zunge und lief tänzelnd und pfeifend die Treppe runter. Ich sah ihm nach, bis er verschwunden war. Wandte mich an Steiner.

»Fangen wir an, Herr Kollege. Ich habe heute auch noch was vor.«

Am Nachmittag saß ich an meinem Schreibtisch im K1 und tippte den ersten Bericht, als Toni zu mir kam.

»Ciao, bella. Was tippst du so fleißig?«

Ich hörte auf zu tippen und sah in das Gesicht meines Kollegen Toni. Italo-Toni. Leuchtende grüne Augen, unverschämt braun gebrannt und eine Haut wie Oliven. Ein schwarzer Oberlippenschnäuzer. Er grinste mich frech an und sah auf das eingespannte Blatt Papier zur Erfassung von Zeugenaussagen in meiner Schreibmaschine. Ich starrte auf seine sehnigen Unterarme, die sich an der Tischplatte abstützten. Auf die dunklen Härchen, die auf seinem Handrücken wuchsen, und wurde etwas nervös. Zur Ablenkung fuhr ich mir durch die Haare.

»Eine Zeugenaussage? Sag bloß, der Potthoff hat dich zu einem Tatort mitgenommen.« Er strahlte mich an.

Ich klappte die Ermittlungsmappe mit den Tatortfotos auf, die Renate vor einer halben Stunde gebracht hatte, und schielte mit einem Auge zu Potthoff in seinem Glaskasten. Aber der drehte uns hinter der Scheibe den Rücken zu und telefonierte.

»Mein erster Fall, Toni. Schluss mit grauer Theorie, jetzt geht’s los.«

»Glückwunsch. Er scheint doch mehr in dir zu sehen als eine billige Schreibkraft. Was ist passiert?«

»Ein Leichenfund in einer Wohnung, in der es gebrannt hat. Eine junge Frau lag in der Küche am Boden. Studentin. Ein Hippiemädchen.«

»Is nicht wahr. Erzähl.« Er tippte mich an der Schulter an.

»Jetzt nicht, ich muss noch die Zeugenaussage tippen. Potthoff will sie gleich haben«, antwortete ich und bemerkte, wie nervös ich war.

»Wie viele Zeugen habt ihr?«, fragte er.

»Einen.« Die Antwort war mir peinlich.

»Das ist nicht viel.« Er hob eine Augenbraue.

»Eine ältere Frau, die im Erdgeschoss wohnt. Alle anderen waren nicht im Haus.«

»Pass auf, dass keine Rechtschreibfehler drin sind. Deswegen hat er mich neulich lang gemacht. In meiner Banklehre stand Rechtschreibung nicht an erster Stelle.«

»Das sollte kein Problem sein. Was anderes, weißt du mehr über diese Einbruchserie?«

»Während der Deutsche an der Adria einfällt, werden die Häuser von Dieben aufgebrochen und Beute gemacht. Die nehmen alles mit, was versilbert werden kann. Seit drei Wochen, in verschiedenen Stadtvierteln. Vermutlich steckt eine Bande dahinter.«

»Der Fall des toten Mädchens könnte ein Raubmord sein.«

Toni pfiff durch die Zähne. »Das wäre allerdings eine neue Entwicklung, denn bislang gab es keine Toten bei den Einbrüchen, lediglich ausgeräumte Schubladen und Schränke. Die sind auf Wertsachen aus.«

»So sah es bei diesem Tatort auch aus. Ist das ungewöhnlich?«

»Was ich mich frage: Warum nicht einfach hineinschleichen, keine Spuren hinterlassen, die Wertsachen nehmen und leise wie eine Katze wieder verschwinden?«

»Toni, das ist nicht ›Über den Dächern von Nizza‹, und du bist nicht Cary Grant.«

Er seufzte. »Ja, leider.«

Ich kaute auf dem Bleistift und dachte nach. »Wieso bricht jemand in eine Studentenwohnung ein, wo es nichts zu holen gibt? Außer Batiktücher. Und selbst die hingen noch an der Wand.«

Wir hörten ein Klopfen an der Glasscheibe und sahen auf. Potthoffs Stimme dröhnte gedämpft durch die Scheibe seines Büros.

»Sie werden nicht fürs Quatschen bezahlt«, rief er und rollte mit den Augen.

»Der hat richtig gute Laune. Ich lass dich mal machen, bis später beim Schießtraining.«

Toni zwinkerte mir zu, hob in Richtung Potthoff die Hand zum Gruß und schlenderte zu seinem Schreibtisch zurück. Pfiff die Melodie von »Volare«.

Ich sah ihm einen Moment nach. Toni hatte neben seinem jungenhaften Aussehen etwas, das mir gut gefiel: seine sprühende gute Laune. Aber er war mein Kollege, und es war untersagt, mit einem Kollegen etwas anzufangen. Zugegeben, Toni sah aus wie der Mann, den ich heiraten wollte, als ich elf Jahre alt war: Dean Martin. Wenn meine Mutter und ich zu seiner Musik im Wohnzimmer tanzten, nahm ich danach die Schallplattenhülle in beide Hände, sah in sein italoamerikanisches Männergesicht und war mir sicher, so sähe der Mann aus, den ich einmal heiraten würde. Toni kam der Sache äußerlich recht nah. Er war der Mann der ersten Stunde, als mein neues Leben begann und wir uns bei der Beurkundung kennengelernt hatten. Er hatte vom ersten Augenblick an ein Auge auf mich geworfen. Nur auf mich und auf keine andere Frau in dem Raum. Und ich fragte mich nach wie vor, warum.

Am Tag der Beurkundung im März war ich furchtbar aufgeregt gewesen und froh, als sich Ruth direkt neben mich gesetzt hatte. Wir saßen nach Geschlechtern getrennt, zwölf Frauen und vierzehn Männer, alle Quereinsteiger. Toni beobachtete mich von der Seite. Er hatte glänzende schwarze Haare, die mich an Lakritze erinnerten, und sah aus wie ein waschechter Italiener; mit seiner leicht gebräunten Haut mitten im späten Winter. Nach einer Rede des Polizeidirektors, viel Händeschütteln und dem Anstich eines Fässchens Altbier stießen wir miteinander an.

»Hallo, ich bin Toni.«

Ich verschluckte mich fast. »Nee, ist klar«, sagte ich und nickte zur Bestätigung.

»Okay, ist nur ein Spitzname, eigentlich heiße ich Thomas. Aber so nennt mich keiner.«

»Kommt der Wahrheit aber näher. Oder gibt es italienische Vorfahren?«

»Durchaus, aber die sind unbekannt. Aber schön, dass du dich für mich interessierst«, sagte er und grinste mich frech an.

»Das Büfett ist eröffnet, meine Damen und Herren«, schallte es hinter uns.

Wir stürzten uns auf die Schnittchen, die auf silbernen Platten bereitstanden. Leberwurst mit aufgefächerten Gürkchen. Käse mit Paprikastreifen. Frischkäse mit Radieschenstiften. Frisches Mett mit gehackten Zwiebeln.

Toni stellte sich neben mich, seine Schulter berührte fast meine. »Würde ich an deiner Stelle nicht essen«, raunte er mir zu, als ich mit dem Messer gerade etwas Mett abschneiden wollte.

»Warum? Weil das Mett so lange in der Wärme gestanden hat?« Ich legte das Messer wieder zur Seite. Der Geruch der gehackten Zwiebeln stieg mir in die Nase.

»Nein, weil ich diesen Zwiebelatem beim Küssen hinderlich finde.«