Der Teegarten - Elisabeth Herrmann - E-Book
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Der Teegarten E-Book

Elisabeth Herrmann

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Beschreibung

Bremen, 1874. Schon als kleines Mädchen träumt Bettina Vosskamp davon, ihrem Elternhaus zu entfliehen. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, zu ihrer geliebten Großmutter Lene nach Indien zu reisen, die dort eine Teeplantage besitzt. Als sie »Brennys Garden« in Darjeeling viele Jahre später erbt, ist sie entschlossen, Lenes Lebenswerk zu bewahren. Doch sie ahnt nicht, dass sie vor einer fast nicht zu bewältigenden Herausforderung steht: wirtschaftliche Nöte, ein Erdbeben, das droht, die Felder zu vernichten, und der Kampf, sich in einer harten Männerwelt zu behaupten, verlangen ihr alles ab. Aber Bettina lässt sich nicht entmutigen – und kämpft dafür, nicht nur das Vermächtnis der Vosskamps zu bewahren, sondern endlich auch ihr eigenes Glück zu finden …

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Buch

Bremen, 1874. Schon als kleines Mädchen träumt Bettina Vosskamp davon, ihrem Elternhaus zu entfliehen. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, zu ihrer geliebten Großmutter Helene nach Indien zu reisen, die dort eine Teeplantage besitzt. Als sie »Brenny’s Garden« in Darjeeling viele Jahre später erbt, ist sie entschlossen, Helenes Lebenswerk zu bewahren. Doch sie ahnt nicht, dass sie vor einer fast nicht zu bewältigenden Herausforderung steht: wirtschaftliche Nöte, ein Erdbeben, das droht, alles zunichtezumachen, und der Kampf, sich in einer harten Männerwelt zu behaupten, verlangen ihr alles ab. Aber Bettina lässt sich nicht entmutigen – und setzt alles daran, nicht nur das Vermächtnis der Vosskamps zu bewahren, sondern endlich auch ihr eigenes Glück zu finden …

Weitere Informationen zu Elisabeth Herrmann sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Elisabeth Herrmann

Der Teegarten

Roman

OriginalausgabeDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe September 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Gettyimages/Nazman Mizan; FinePic®, München

CN · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24058-5V001

www.goldmann-verlag.de

Für Shirin

Ein Wort vorab …

Dieses Buch spielt in den 1870er- bis 1880er-Jahren, es ist fiktiv und jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist nicht beabsichtigt.

Nicht fiktiv sind die politischen und gesellschaftlichen Umstände, die das Leben sowohl im Bremen der Kaiserzeit als auch im Indien unter der britischen Kolonialherrschaft prägten.

Es werden in diesem Roman umgangssprachliche Begriffe verwendet und Situationen geschildert, die in heutiger Zeit absolut inakzeptabel sind.

Es wäre jedoch bigott und verfälschend, diese zu ersetzen, gänzlich zu vermeiden oder aus moderner Sicht einzuordnen.

Ich habe mich entschieden, für diesen Roman die Wortwahl zu verwenden, die damals üblich war, sofern dies unumgänglich notwendig für den Inhalt ist. Allerdings werden Sie viele Fußnoten finden, die diese einordnen und erläutern.

Es ist mir bewusst, dass wir für unsere Vergangenheit Verantwortung tragen. Deshalb bedeutet die Verwendung solcher Begriffe keinerlei Tolerierung.

Elisabeth Herrmann2023

Erster Teil

Prolog

Bremen, 18. April 1874

Die Tür schlug hinter ihr ins Schloss. Es gab kein Zurück mehr.

Bettina Vosskamp, elf Jahre alt, stand frierend im Seiteneingang des schönsten Hauses am Bremer Markt: dem Teepalast. Schlagartig machte ihr die Kälte dieses Vorfrühlingstages klar, dass das Abenteuer begonnen hatte. Ein steter, frostiger Wind trieb Wolken vor sich her, die nichts Gutes verhießen.

Sie verknotete ihr Kopftuch unter dem Kinn und lugte vorsichtig zum Standbild des Bremer Roland. Ja, er lächelte. Mild und großzügig, dieser riesige steinerne Mann, der mit Ritterschwert und Schild Wacht hielt über die Freiheit der Stadt.

Ich will auch frei sein, dachte sie. Du verstehst mich. Dann wandte sie sich ab und lief in die schmale Gasse hinter dem Schütting Richtung St. Ansgarii. Vorne, auf dem Marktplatz, herrschte reges Treiben. Aber nur ein paar Schritte weiter, in den Schatten der kleinen Gassen, warteten zerlumpte Gestalten auf das Mittagsläuten vom nahen Dom. Sie hatten sich hinter dem Gildehaus der Kaufleute zusammengefunden, um die Ersten zu sein, wenn der Teepalast die Pforte an der Rückseite des Hauses für sie öffnen würde. Dann gab es Tee für die Armen – heiß und süß –, und das übrig gebliebene Gebäck vom Vortag.

Doch damit könnte es bald vorbei sein. Unnütze Geldausgabe, hatte Bettinas Vater Joost behauptet. Sie mussten Geld einnehmen und nicht zum Fenster hinauswerfen. Der Teepalast war ein Restaurationsbetrieb mit Ladengeschäft und nicht der vaterländische Frauenverein vom Roten Kreuz.

Hartherzigkeit hatte Großmutter Helene ihrem Sohn vorgeworfen. Es war der letzte Streit der beiden Starrköpfe gewesen. Nur einer von vielen, aber er musste zu diesem Bruch geführt haben. Helene war nach Indien zu ihrer Teeplantage aufgebrochen, und alle vermuteten, dass sie nie mehr zurückkommen würde.

Bettina vermisste ihre Großmutter so sehr, dass es wehtat. Ihre Eltern waren sicher gute Christenmenschen, aber Helene war viel mehr: gütig, liebevoll, großzügig, und etwas, das sie besonders machte und sich nur hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert wurde – frivol. Bettina hatte nur eine vage Vorstellung davon, was das sein könnte. Aus dem Mund ihrer Eltern klang es wie etwas Schlechtes. Aber wenn die Damen, die nachmittags in den Teepalast auf eine Tasse Brenny’s kamen, in den Modezeitungen blätterten und den neuesten Klatsch und Tratsch austauschten, hatte das Wort einen fast bewundernden Klang. Frivol.

Vielleicht war das, was Bettina vorhatte, auch frivol. Ihr Vater würde es wohl Fisimatenten nennen, ihre Mutter war härter. Buurdeern – du benimmst dich wie ein Bauernmädchen. Fluddertrine. Hast Grappen in’n Kopp.Da kriggt man jo dat Gräsen, wenn ich dich seh! Nein, liebevoll war Bettinas Mutter nicht. Und bei den Beschimpfungen, die bei der geringsten Kleinigkeit auf Bettina herunterprasselten, gab sie sich auch gar nicht erst die Mühe, hochdeutsch zu reden, wie sie das sonst mit den feinen Damen im Teepalast machte, sondern verfiel ins Hamburger Platt ihrer Heimatstadt. Grote Klappe un keen Bodder up’n Kopp. Große Klappe und nichts dahinter. Frech. Aufsässig. Gefräßig. Am Schlimmsten war, dass sie Bettina nach diesem letzten großen Streit um den Tee für die Armen strikt verboten hatte, hinauf zu ihrer Großmutter zu gehen.

Und so war Helene abgereist, ohne ihre Enkelin noch einmal in den Arm zu nehmen. Bettina musste schlucken, als sie daran dachte, wie die Kutsche vor dem Haus gehalten hatte und ihre Großmutter eingestiegen war. Vor vier Wochen war das geschehen, an einem Tag, der sich noch grauer und eisiger präsentiert hatte als der heutige. Durch die verregneten kleinen Fensterscheiben hatte sie nur schemenhafte Umrisse erkennen können. Ein paar kleine Kisten und Koffer waren verladen worden, dann hatte sich die Gestalt noch einmal umgedreht und zu ihr hinaufgesehen.

»Endlich ist sie aus dem Haus!«, hatte ihre Mutter hinter ihrem Rücken gesagt und sich zufrieden über ihren Stickrahmen gebeugt. »Jetzt kehrt Ruhe ein, ein für alle Mal. Ihr böses Blut wird dich jetzt nicht mehr vergiften.«

Bettina hatte sich auf die Lippen gebissen, um nicht loszuheulen. Und den Entschluss gefasst, dieses Haus zu verlassen. Das böse Blut, Helenes Erbe, brodelte in ihr. Wenn sie schon verderbt bis in die Tiefen ihrer Seele war, dann würde ihr Verschwinden ja eher Freude als Bestürzung auslösen.

Sie sind froh, wenn sie mich los sind, dachte sie und trat entschlossen hinaus auf die Straße. Sie wusste, dass sie das Richtige tat.

Ein schmaler, hoch aufgeschossener Junge in viel geflickter Kleidung löste sich aus der Gruppe der Bettler, sah sich vorsichtig um und eilte dann auf sie zu. Seine Mütze saß schräg auf dem Kopf, und obwohl er sie fast wütend anblitzte, fiel ihr bei seinem Anblick ein Stein vom Herzen.

»Da bist du ja endlich!«, herrschte er sie an.

»Ich musste erst Fräulein Mitzi ablenken!«

»Eure Katze?«

»Meine Gouvernante.«

Er schnaubte verächtlich. Sie kannten sich seit Kindertagen. Bettina Vosskamp, die Tochter aus gutem Hause, und Finn ohne Nachnamen, der Laufbursche, der sie immer zum Lachen gebracht hatte. Mal jonglierte er mit Bäcker Susewinds Schmalzkrapfen, mal lockte er sie vor die Türe, wenn er wieder einmal ein Spatzenkind gefunden hatte und es für ihn eine Frage der Ehre war, es durchzufüttern, bis es flügge wurde. Spannenlanger Hansel, nudeldicke Dirn, sagte Mamsell Schwicke dann immer, wenn sie Bettina zurück ins Haus zog und dem Jungen eine Kopfnuss verpasste.

Bettina war nicht dick, aber im Vergleich zu dem mageren Burschen ziemlich wohlgenährt. Er hatte ein offenes Gesicht und ein lausbübisches Grinsen, und die Kombination aus schmalen blauen Augen und breitem Mund erinnerte an ein Wiesel, was durch seine abstehenden Ohren noch betont wurde.

»Na, die wirst du so schnell nicht mehr brauchen. Hast du es?«

Sie nickte und fuhr mit der Hand in die Tasche ihres Rocks. Das kühle Gold ließ ihr einen Schauer den Rücken hinunterrieseln. Aber vielleicht war es auch nur die Kälte.

»Lass sehen.«

Sie holte die Taschenuhr hervor. Er schnappte schneller danach als eine Elster.

»Und die funktioniert?«

Mit klammen Fingern zeigte sie ihm, wie der Deckel aufsprang. Es war neun Uhr zweiundfünfzig.

»Und die ist echt?«

»Ja.«

»Und was ist das?« Er wies auf den kunstvoll gearbeiteten Deckel und einen tiefgrünen, funkelnden Stein.

»Ein Smaragd.«

Den hat mir einmal ein Maharadscha geschenkt.

Warum?

Er war in mich verliebt. Aber ich nicht in ihn. So hat er mir den Stein zum Abschied gegeben, und ich habe diese wunderschöne Uhr daraus machen lassen. Siehst du die goldenen Blütenblätter, die den Stein umranken und gleichzeitig halten? Das ist eine Chrysantheme, mit einem Herz aus kleinen Diamanten. Eines Tages wirst sie mit eigenen Augen sehen. Eines Tages …

Die Uhr gehörte ihrer Großmutter, die sie bestohlen hatte.

Nein, nicht bestohlen. Die wird einmal dir gehören, mein Kind. An dem Tag, an dem du deine große Liebe heiraten wirst.

Aber so lange konnte sie nicht warten. Da wäre sie ja schon uralt.

Finn beäugte die Kostbarkeit von allen Seiten. »Und was ist das drum herum?«

Er meinte die Blütenzweige aus Gold.

»Eine Chrysantheme«, sagte sie in schulmeisterlichem Ton, als ob das jeder auf den ersten Blick erkennen würde.

»Und was ist eine Kri-krisante?«

Bettina musste ein Kichern unterdrücken.

»Chry-san-the-me«, verbesserte sie ihn. »Eine Blume«, setzte sie schnell hinzu, weil nicht davon auszugehen war, dass Finn sich mit so etwas auskennen würde und sie sich auch nicht über ihn lustig machen wollte. »Aus ihr wird Tee gemacht.«

Jetzt eine Tasse Brenny’s, mit Sahne und Kluntjes … Noch konnte sie sich eine Erklärung ausdenken, warum sie allein auf die Straße gegangen war. Einfach umkehren und zurück in die warme Stube oder in der Küche verschwinden, in der die Köstlichkeiten zubereitet wurden, die die Vosskamps den Damen zum High Tea servierten. Törtchen. Kuchen. Dieses fluffig-buttrige Gebäck aus England, das man Scones nannte. Sie konnte sich eines vom Backblech stibitzen und sich dann von Fräulein Mitzi erwischen und zurück an die Tafel in ihrem Lernzimmer bringen lassen. Keiner würde etwas merken.

Sie wollte gerade sagen, gib sie mir wieder, aber da hatte Finn die Uhr schon zugeklappt und eingesteckt. Dass sie so schnell von ihrer Hand in seine Tasche gewandert war, gefiel ihr nicht. Aber sie traute sich auch nicht zu protestieren. Die Bettler, die sich gegen die eiskalte Zugluft in den Kellereingang des Gildehauses zurückgezogen hatten, spähten schon die ganze Zeit in ihre Richtung.

»Wir müssen los. Ist das alles?«

Bettina hielt ein kleines Bündel unter den Arm geklemmt. In ihm befanden sich dicke Strümpfe, die letzten Osterkekse, ein paar Pfennige aus ihrer Spardose und etwas Wäsche. Sie hatte keine Ahnung, was man in Indien brauchte, aber das würde sich irgendwie ergeben. Spätestens, wenn sie Helene und die Teeplantage Brenny’s Garden in Darjeeling gefunden hatte.

Das Märchenland. Der Ort, an dem ihre Großmutter glücklich war.

»Ja. Und du? Hast du nichts dabei?«

Er grinste sie an und tippte sich an die Stirn. Vierzehn war er oder vielleicht schon fünfzehn? Auf jeden Fall ein welterfahrener Bursche, der schon einmal in Bremerhaven gewesen war. Behauptete er zumindest. »Da ist alles drin, was ich brauche. Abmarsch. Wir müssen den Zug erwischen und vorher noch die Uhr verkaufen.«

Er schnappte sich das Bündel und lief los, die Gasse zur Weser hinunter. Bettina folgte ihm, was in ihren feinen Lederschuhen gar nicht so einfach war. Kaum hatte sie den Windschatten des Gebäudes verlassen, erwischte sie eine Bö mit voller Wucht. Während sie zähneklappernd das Wolltuch eng um die Schultern schlang und hinter Finn hereilte, überkamen sie erneut Zweifel. Sie hätte das Cape mitnehmen sollen. Den Pelzkragen. Den wollenen Rock anziehen, aber alles, was sie von Indiens Klima wusste, war, dass es dort ziemlich heiß sein sollte. Also hatte sie sich entschieden, nicht zu viel Ballast mitzunehmen, und bereute es keine zwanzig Meter von ihrem Zuhause entfernt. Wenigstens die Handschuhe hätte sie anziehen können.

Finn bog schon in die Martinistraße ein. Der hatte auch nichts dabei. Warum lief er denn so schnell und drehte sich kein einziges Mal nach ihr um? Sie beschleunigte das Tempo, aber bevor sie sich ebenfalls nach links ans Ufer des Flusses wandte, hielt sie inne und sah noch einmal zurück zum Marktplatz.

Die Altstadt, umgeben von uralten Mauern, war wie ein Nest gebaut, das sie nun verlassen würde.

Ein letztes Mal blieb ihr Blick am Teepalast hängen. Ihr Zuhause. Drei Stockwerke, gekrönt von einem barock anmutenden Staffelgiebel und opulenten Beschlagwerken in Ohrmuschelform. Unten kehrte die Bremer Gesellschaft ein und aus, ließ sich den besten Tee, Kaffee und Kakao servieren, darüber lebten die Vosskamps auf zwei Etagen, und unter dem Dach hatten die Dienstboten ihre Kammern. Gleich würde Mamsell Schwicke den Zehn-Uhr-Tee servieren. Ihre Mutter würde dafür die Lektüre des neuesten Romans von Eugenie Marlitt unterbrechen, der in der Gartenlaube abgedruckt wurde und von dem sie keine Fortsetzung verpasste. Fräulein Mitzi dürfte gerade die Karten für den Geografieunterricht aufhängen und frühestens in einer Viertelstunde misstrauisch werden, wenn Bettina noch nicht zurückgekehrt wäre. Ihr Vater war im Contor, ihr Bruder Paul hatte Fechtunterricht.

Es war die letzte Chance zurückzukehren in das warme Haus, sich an einen der Kachelöfen zu schmiegen oder eine heiße Schokolade zu holen. Aber dann fiel ihr wieder ein, was ihr Vater ihr angedroht hatte, wenn sie noch einmal die Absicht äußern würde, lieber bei Helene in Indien zu sein, statt hier die Nase in die Schulbücher und den Handarbeitskasten zu stecken. Hausarrest. Klosterschule. Und, wenn sie immer noch keine Ruhe gäbe, der Rohrstock.

Sie wusste nicht, warum ihr Vater die Frau so vehement ablehnte, die ihm und ihrer Familie Reichtum und Wohlstand brachte: seine eigene Mutter. Bettina liebte Helene, nicht nur, weil sie sich bei ihr geborgen fühlte, sondern auch, weil diese schöne alte Dame so viele Geheimnisse zu umschweben schienen, die verlockender waren als jeder Unterricht oder, Gott bewahre, die Aussicht darauf, eines Tages einen der Söhne der Bremer Pfeffersäcke zu heiraten. Helene hatte nie geheiratet! Und im Winter, wenn man halb erfroren von der Kirche zurückkehrte und die Eisblumen über die Fenster wuchsen, verschwand sie einfach in ein sagenumwobenes Land und kehrte Monate später zurück. Frivol braun gebrannt, mit strahlenden Augen und fremden Schätzen.

Und eines Tages wirst du sie mit eigenen Augen sehen.

Jemand packte sie so grob am Arm, dass sie zusammenzuckte.

»Kommst du endlich?«, fauchte Finn. »Der Zug wartet nicht, und das Schiff auch nicht!«

Gemeinsam eilten sie die Martinistraße hinunter Richtung Kaiserbrücke und dem Weserbahnhof. Bettina kannte die Gegend allenfalls aus Durchfahrten mit der Kutsche. Nie hatte sie auch nur einen Fuß auf das buckelige Kopfsteinpflaster gesetzt, nie Halt gemacht an einem der Straßenstände oder den vielen Läden, in denen Colonialwaren verkauft wurden. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, an den Litfaßsäulen stehen zu bleiben und die Anschläge zu begutachten, die von höchst zweifelhaften Theater- und Varietévorstellungen kündeten, von Bekanntmachungen und, Kind, mach die Augen zu!, Miedergeschäften … Kurz verschwand sie hinter Finns Rücken, als ihnen der Commis1 Casper Groth entgegenkam, auf dem Weg ins Contor ihres Vaters, wo er die Bücher führte. Bürodiener, wurde er leicht verächtlich von ihren Eltern genannt. Helene hingegen schien große Stücke auf ihn zu halten.

Mit gebeugtem Rücken hastete er an ihnen vorbei. Hätte er sie gesehen, wäre er bestimmt stehen geblieben, um sich nach dem Woher und Wohin zu erkundigen und dann in den Tiefen seiner Jacke nach einem Zuckerplätzchen zu suchen, in Papier eingewickelt und mit Orangenwasser oder Zimt parfümiert. Die reichte er ihr immer mit einem Lächeln und einer Frage aus dem großen Einmaleins. Beantwortete sie sie richtig, bekam sie das Plätzchen, das im Teepalast Bonbon genannt wurde. War die Antwort falsch, drückte er es ihr natürlich auch in die Hand. Sie mochte Casper und seine leicht verhuschte, liebevolle Zuneigung. Als er hinter der nächsten Ecke war, schämte sie sich, als hätte sie ihn persönlich hintergangen.

Aber durch Glück oder Fügung blieb das die einzige Begegnung mit einem bekannten Gesicht. Je näher sie dem Bahnhof kamen, desto belebter wurden die Straßen. Frauen mit Bauchläden boten Reiseproviant an – Äpfel, Brot, Käse. Hemdsärmelige Zeitungsjungen riefen das Bremer Montagsblatt und das Volksblatt aus, beides Publikationen, die ihr Vater Joost als »gerade gut genug, um Fische einzuwickeln« schmähte. Und immer mehr hilfreiche Männer boten sich an, ihnen Tickets für jeden Zug, jedes Schiff und jedes Reiseziel zu besorgen.

»Aus dem Weg!«, rief Finn, wenn sie zudringlich wurden. »Das sind Schlepper. Wenn du denen dein Geld anvertraust, siehst du es nie wieder.«

Einer der Abgewiesenen grinste sie mit schiefen Zähnen an und verzog sich zurück in einen dunklen Verschlag, nicht ohne sich vorher spöttisch an die Schiebermütze zu tippen.

»Wir gehen zu einer Agentur«, beantwortete Finn ihre unausgesprochene Frage. »Aber erst einmal müssen wir die Uhr zu Geld machen.«

Er blieb vor einem staubigen Schaufenster stehen, über dem in schiefen Lettern »Leihhaus« stand. »Komm.«

Sie betraten ein düsteres, enges Ladenzimmer mit vollgestopften, deckenhohen Regalen. Die Bretter bogen sich unter Geschirr, Zinn, Büchern, Kupfertöpfen und Kleiderbündeln. Jedes Teil war mit einem kleinen, handbeschriebenen Anhänger versehen. Es roch nach Mottenpulver und Staub. Im hinteren Teil des Raums, verborgen von einem Gebirge aus Nachttöpfen, Nähtischen und aufeinandergetürmten Möbeln, rührte sich etwas.

»John? Bist du da?«

Ein Mann erschien, klein und verwachsen wie ein Kobold, mit abstehenden Haaren, die ihm aus Kopf, Ohren und Nase gleichermaßen zu wachsen schienen.

»Ah, Finn. Du bist das.«

Mit der Behändigkeit eines Eichhörnchens kletterte er über einen Stapel Fußschemel und löchrige Eimer und baute sich, die knotigen Fäuste in die Hüften gestemmt, vor Bettina auf. Er war mindestens einen halben Kopf kleiner als sie. Dennoch wich sie einen Schritt zurück. Ihr Herz schlug bis zum Hals.

»Und wen hast du mir da mitgebracht? Für so ein mageres Ding kriege ich noch nicht mal mehr einen Taler, geschweige denn eine neue Mark!«

Entsetzt ruckte ihr Kopf zu Finn.

»Das ist eine Freundin. Lass sie in Ruhe«, sagte er bestimmt.

Der Kobold verzog sein grobes Gesicht zu einem Lächeln. »Dann pass gut auf sie auf. Ist keine Gegend für ein hübsches Kind. Was wollt ihr?«

Finn zog Helenes Taschenuhr hervor. Bettinas Herz pochte erneut heftig, als sie daran dachte, wie sie sie am Morgen heimlich aus dem großen Schrank, der Wunderkammer in Helenes Schlafzimmer, gestohlen hatte.

Geliehen, redete sie sich immer wieder ein. Nur geliehen. Großmutter wird das verstehen. Sie hat ja selber so viele Abenteuer erlebt, da wird sie stolz auf mich sein, dass ich jetzt mein erstes eigenes wage.

John, der Kobold, griff nach der Uhr, die im Halbdunkel geheimnisvoll schimmerte.

»Ist das Gold?«

»Natürlich. Was denkst du?«

»Und das?«

Ohne die Uhr aus den Augen zu lassen, holte er eine kleine Lupe aus seiner Hosentasche und begutachtete den Stein, soweit das im Dämmerdunkel möglich war.

»Ein Smaragd«, sagte Finn. »Und das drum herum sind Diamanten mit Krisantezweigen.«

Bettina öffnete den Mund, um ihn zu verbessern. Chry-san … Aber sie kam nicht dazu, denn John ließ die Lupe sinken und hatte einen Ausdruck im Gesicht, als hätten sie ihm etwas geradezu Unerhörtes ins Haus gebracht.

»Wisst ihr eigentlich … woher habt ihr die?«

Finn sah zu Bettina. Die spürte, wie sie knallrot anlief. »Von meiner Großmutter, Helene Vosskamp.«

»Vosskamp?« John betrachtete das Mädchen, das ihm das Glück oder die Vorsehung in seinen heruntergekommenen Verschlag geweht hatte, genauer. Ihm fielen die teuren Lederschuhe auf, die Strümpfe aus dicker Wolle, der gute Rock, das gewebte Tuch. Vielleicht auch die runden Wangen und die ordentlich gekämmten, zu Zöpfen geflochtenen Haare unter dem Tuch. Die sauberen Hände. Das schlechte Gewissen.

»Du meinst die am Markt? Der Teepalast und das Handelscontor?«

Ihr hilfesuchender Blick glitt zu Finn. Es war nicht das erste Mal, dass sich das Verhalten der Leute änderte, wenn sie erfuhren, welchen Namen sie trug. Für die einen war sie ein Reiche-Leute-Kind. Für die anderen ein Bastard aus einer Familie von mehr als zweifelhaftem Ruf, gegen den ihr Vater ankämpfte, seit sie denken konnte.

»Ist doch egal«, sagte Finn. »Was gibst du uns dafür?«

John klappte die Uhr auf und hielt sie sich an sein buschiges Ohr. Dann musterte er sie noch einmal. Vor allem der große grüne Stein hatte es ihm angetan. Er sah auch wunderbar aus, grün schimmernd wie das Meer an einem Sommertag und so geschliffen, dass er selbst in diesem Halbdunkel noch funkelte.

»Wartet.«

Er stieg über die Fußschemel zurück und rief: »Ottilie? Ottilie! Komm runter! Kundschaft!«

Bettina zupfte Finn am Ärmel und flüsterte: »Ich mag ihn nicht.«

»Keiner mag Pfandleiher. Aber wir können die Uhr sonst nirgendwo verkaufen.«

Er nahm von einer schiefen Kommode ein Körbchen hoch, in dem sich ein Sammelsurium von Heiligenbildchen befand. Eines nach dem anderen nahm er heraus und betrachtete stirnrunzelnd die verschiedenen Torturen, denen die frommen Männer ausgeliefert waren.

»Und wenn er sie stiehlt?«

Schwere Schritte von Holzpantinen erklangen vom Dielenboden über ihnen, die anschließend die Treppe hinunterkamen. Unter Fluchen und Stöhnen tauchte in der schmalen Öffnung zum Hinterzimmer die Silhouette einer Frau auf. Bettina stellte sich wieder schutzsuchend hinter Finn. Der stellte das Körbchen schnell zurück.

»Tach auch«, brüllte sie. »Wer stiefelt denn hier rin?«

»Kundschaft!«, war von noch weiter hinten zu hören. »Mach ’n lütteschen Tee!«

Die Frau trat so weit in den Raum, wie es die Nachttöpfe zuließen. »Ah, feine Leut.«

Sie musterte Bettina, dann fiel ihr Blick auf Finn.

»Und einen Beschützer hast du dir auch mitgebracht. Schiet dir nich in de Büx, wir tun dir nix.«

Damit drehte sie sich um und verschwand in der düsteren Enge des Hauses. Wenig später kehrte sie mit zwei Bechern zurück, in denen lauwarmes Wasser schwappte. Zumindest schmeckte es so, denn mit dem Tee, den Bettina gewohnt war, hatte es nichts zu tun.

Finn setzte sich auf eine Seemannskiste, über die eine mottenzerfressene Decke gebreitet war. Bettina stellte sich sittsam neben ihn und nippte an ihrem »Tee«. Nun tauchte auch der Kobold wieder auf und scheuchte seine Frau zurück ins Hinterzimmer.

»Tscha«, sagte er, als sie unter sich waren, und kratzte sich am Kopf. »Jetzt mal Butter bei die Fische. Wo habt ihr die Uhr her?«

»Sie gehört mir«, sagte Bettina. Ihre Stimme zitterte. »Meine Großmutter hat sie mir geschenkt.«

»Die Lene …« Der Pfandleiher lächelte, und es war, als ob hinter einem zerklüfteten Gebirge die Sonne aufgehen würde. »Die war öfter hier.«

»Ja?«, fragte Bettina und versuchte das Befremden, das diese Bemerkung ausgelöst hatte, halbwegs zu verbergen.

»Um Sachen auszulösen. Für ihre Leut, wenn der Lohn nicht gereicht hat, den ihr Sohn ihnen bezahlt hat, und sie zu uns kommen mussten.« Er musterte die beiden Besucher mit einem rätselhaften Blick. »Hat sie heimlich gemacht und nie gewollt, dass jemand es erfährt.«

Bettina atmete auf. Das sah Helene ähnlich: still in die Pfandhäuser zu gehen und die Schulden anderer zu bezahlen. Die Scham auf ihren Vater wuchs im selben Maß wie der Stolz auf diese großartige Frau.

»Aber was hergebracht hat sie nüschts. Wo ist sie gerade?«

»In Indien«, sagte Bettina, weil sie so erzogen worden war, auf höfliche Fragen zu antworten. Zu spät erkannte sie, dass sie in die Falle getappt war.

»Dann weiß sie nicht, dass ihr hier seid?«

Finn stand auf. Er war um so vieles größer, jünger und stärker als der verwachsene Pfandleiher, aber das schien dem Mann egal zu sein.

»Habt ihr die Uhr gestohlen?«

»Nein!«, rief Bettina.

Finn baute sich neben ihr auf. »Gib sie zurück. Wir gehen woandershin, wo man uns nicht behandelt wie Verbrecher.«

»Wohin denn, werte Herrschaften?«

Der Kobold setzte vorsichtig einen Fuß hinter den anderen, um sich rücklings auf das Hinterzimmer zuzubewegen. Vielleicht gab es dort einen zweiten Ausgang – ganz sicher gab es den.

»Zu den Halsabschneidern in den Speichern? Am Zollwerk? Bei den Schiebern am Doventor oder den Tagedieben rund um den Weserbahnhof? Beim Takelzeug2 der Neustadt, wo sie in Schweineställen leben und für einen Teller Grütze ihre Mutter verkaufen?«

»Gib uns die Uhr zurück.«

Finn trat drohend einen Schritt auf den kleinen Mann zu, der wich noch weiter nach hinten aus und kam an die Nachttöpfe, die vom Stapel fielen und Bettina vor die Füße kollerten.

John hob die Hände. Die Uhr war verschwunden. »Gemach, gemach, die Herrschaften. Man wird wohl noch Fragen stellen dürfen.«

Blitzschnell drehte er sich um und war hinter dem Gepolter von weiteren herabfallenden Gegenständen verschwunden.

»Halt!«

Finn setzte ihm nach. Bettina, die das Gefühl hatte, in ihren Adern würde ein Feuerwerk des Schreckens explodieren, folgte ihm. Der Kobold schlängelte sich durch einen schmalen Gang, vorbei an getragenen Wollmänteln, alten Schuhen, Körben voller Krimskrams und unter Büchern ächzenden Regalen, wobei er alles, was er Finn in den Weg werfen konnte, hinter sich schleuderte. Aber der Junge war schneller. Gerade als John die Hand nach dem Riegel einer niedrigen Tür ausstreckte, hatte er ihn schon am Kragen gepackt.

»Gib mir die Uhr!«, schrie er und schüttelte den kleinen Mann, außer sich vor Wut. Mit flinken Bewegungen tastete er ihn ab und wurde im Hosensack fündig. Triumphierend holte er die Kostbarkeit hervor. »Ich hab dir vertraut!«

Er schubste den Pfandleiher an eines der Regale. Beide atmeten schwer. Der kleine Mann wischte sich den Mund mit dem Ärmel seiner Jacke ab.

»Ihr rennt ins Unglück, alle beide. Habt ihr denn nur Stroh im Kopf? Ihr endet schneller mit durchschnittener Kehle hinterm Wall, als ihr bis drei zählen könnt!«

»Und da bestiehlst du uns lieber?«

Finn steckte die Uhr ein und griff nach Bettinas Arm, die das alles in stummem Entsetzen mit angesehen hatte. »Gehen wir. Wir versuchen es woanders.«

Er zog sie aus dem Hinterzimmer hinaus in den Ladenraum. Die Glocken der Kirche St. Stephani läuteten. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, aber Bettina sog die frische Luft tief in ihre Lunge. Sie hatte das Gefühl, diesen Geruch aus Kampfer und Schimmel nie mehr aus ihren Kleidern zu bekommen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. So nah war sie dem Leben außerhalb des Teepalasts noch nie gekommen.

»Wohin gehen wir?«

Finn wandte sich nach links, Richtung Weserbahnhof.

»Ich kenn noch einen. Der zahlt nicht so viel, aber dieses Mal sind wir vorbereitet.«

»Auf was vorbereitet? Ich will …«, nach Hause, hätte sie um ein Haar gesagt.

Fräulein Mitzi musste ihr Fehlen bald bemerken. Sie würde hinunterlaufen und sie in der Küche des Teepalasts suchen. Dann ihre Mutter fragen. Vermutlich wäre dann das ganze Haus auf den Beinen, um sie zu finden. Für eine glaubhafte Erklärung war es zu spät. Finn blieb stehen und drehte sich zu ihr um.

»Was willst du? Alles abblasen? Das geht jetzt nicht mehr. Los! Sonst gehe ich alleine.«

Bettina fuhr zusammen. Der durchdringende Ton einer Trillerpfeife zerschnitt ihr fast das Trommelfell. Finns Augen weiteten sich. Er sah hinter sie, hastig fuhr sie herum. Schutzmänner in grünen Uniformen tauchten auf, mit gezogenen Knüppeln fielen sie wie ein Hornissenschwarm in die Straße ein. Passanten suchten hastig Schutz in den Hauseingängen und pressten sich an die Häuserwände, um der Horde nicht im Weg zu stehen. Es war klar, auf wen es die Polizei abgesehen hatte: auf Finn und sie.

Ein zweiter Pfiff und ein lautes »Stehen bleiben!« kam von der anderen Seite der Straße.

Finn sah sie an. Bettina öffnete den Mund, aber sie brachte kein Wort heraus. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle ab.

Die Tür zum Pfandhaus öffnete sich, und der Kobold trat mit verschränkten Armen heraus und postierte sich im Eingang.

»Hier!«, rief er den Männern zu. »Hier sind die Diebe!«

Es war aus und vorbei. In tiefster Schande und untilgbarer Schmach. Bettina wollte sterben. Auf der Stelle. Aber Finn gab nicht auf. Er wandte sich ihr noch einmal zu, rief: »Wir sehen uns in Indien! Beim Krisantentee!« und lachte aus vollem Halse.

Was sagte er da? Sie nahm nur noch wahr, wie der Junge in allerletzter Sekunde zu einem Sprung ansetzte und sich am Ladenschild des Pfandleihers festhielt. Dem ersten Schutzmann versetzte er einen Tritt, dann hangelte er sich hoch zum Fensterbrett im ersten Stock und von dort aus zur Fahnenstange, von der eine traurige preußische Flagge herabhing.

»Komm runter, Bursche!«, brüllte der Polizist und blies wieder in seine Trillerpfeife. Aber Finn grinste breit übers ganze Gesicht und deutete einen Gruß an seiner Mütze an.

»Tut mir leid, Betty!«

Und damit war er verschwunden. Und mit ihm all ihre Träume und Märchengespinste, ihre Fahrkarte nach Bremerhaven und das Ticket für ein Schiff übers Meer, weit, weit weg von hier und dem bodenlosen Elend, das sie erwartete.

Und mit Helenes Uhr.

»Nehmt sie mit«, knurrte der Kobold. »Und du, min Deern, sei froh, dass es so gekommen ist.«

Einer der Schutzmänner packte sie am Arm und schob sie, vorbei an den Schaulustigen, die sich wieder aus ihren Ecken heraustrauten, die Straße entlang. Sie hasste den Kobold so tief und glühend, wie sie nur konnte.

Sie hasste ihn lange.

So lange, bis sie begriff, welcher viel schlimmeren Gefahr sie gerade noch entkommen war. Sie hätten Indien nie erreicht. Und so wandelte sich über die Jahre der Hass in Bedauern und schließlich in eine müde, resignierte Dankbarkeit.

Die Züchtigung war bald vergessen. Und das Gefühl von damals, hinaus auf die Straße in die Freiheit zu treten, verbarg sie tief in ihrer Seele. So tief, dass sie irgendwann glaubte, es wäre nicht mehr da.

Von Finn hörte sie nie wieder etwas.

1 Kontorist, Handelsgehilfe

2 Pöbel

Der Untergang

Lebong, Darjeeling, Juli 1886 The Elgin Club

Feinster Damast bedeckte die lange Tafel, an der sich ein gutes Dutzend Herren und Damen niedergelassen hatten. Die Gläser funkelten im Licht der Kerzen, Gaslampen an den Wänden beleuchteten die Seidentapeten und die großen Landschaftsgemälde. Weiß gewandete indische Diener traten diskret heran und schenkten Wein nach, und vor der geöffneten Tür hatte sich bereits das Servierpersonal mit Tabletts aufgereiht, auf denen unter silbernen Hauben die Köstlichkeiten des nächsten Ganges warteten.

Der Duft von Reis, Gewürzen und scharf gebratenem Fleisch stieg in Bettinas Nase. Vor ihr stand eine winzige Suppentasse mit einer Art Bouillon, die sie mit einem Schluck leeren könnte. Ihr Magen knurrte so laut, dass ihre Tischnachbarin, ein junges, fast elfenhaftes Wesen, kichernd die Hand vor den Mund hielt. Wahrscheinlich ernährte sie sich von Tautropfen und Hochnebelschwaden.

Das Separee im Elgin Club schirmte die Gesellschaft von den anderen Gästen des Hotels ab, die draußen in der Empfangshalle Zeitung lasen, auf Kutschen warteten, ihre Dienstboten zusammenstauchten oder mit riesigen Koffern an- und abreisten. Bettina wäre viel lieber dort gewesen, um bei einem Sandwich von britischen Ausmaßen die Garderobe der Damen zu bestaunen oder einen Blick durch die Drehtür hinaus auf die Higher Mall zu erhaschen, von der immer mal wieder fremde, Neugier erweckende Geräusche hereindrangen. Glockenklang, Hufschlag, laute Stimmen, einmal hatte sie geglaubt, von weit her das Trompeten eines Elefanten zu hören. Gab es die hier in der Stadt überhaupt?

Alles vor der Tür war fremd, spannend, verlockend und schien nur darauf zu warten, entdeckt zu werden. Indien. Darjeeling. Bunt, exotisch, geheimnisvoll. Nie Gerochenes, nie Gesehenes. Nie Gegessenes, dachte sie, und versuchte, das winzige Bröckchen in ihrer Suppe zu identifizieren. Wahrscheinlich Huhn … Aber ihr Vater wollte diesen Besuch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Was sie von dem Land bisher gesehen hatte, waren Eisenbahnabteile, Kutschen, dieses Hotel und ihre Teeplantage. Brenny’s Garden.

Noch immer kam es ihr unwirklich vor, Besitzerin eines eigenen Tea Garden zu sein. Am besten gewöhnte sie sich gar nicht erst an den Gedanken. Ihr Vater hatte mehr als verdeutlicht, dass diese Erbschaft zu nichts anderem diente, als sie so schnell wie möglich zu Geld zu machen. Dafür saßen sie nun an diesem Tisch mit einer hastig ausgewählten Schar an Interessenten zusammen, die bunt zusammengewürfelt schienen und nur einen gemeinsamen Berührungspunkt hatten: an diesem Abend ein Geschäft zu tätigen.

Mit ihrem Erbe. Sie wusste, dass ihre Großmutter Helene ihr damit etwas ans Herz hatte legen wollen. Sie hatte auch erfahren, dass der Grund für die monatelangen Reisen der alten Dame keinesfalls nur die »frische Luft« in den Bergen Darjeelings war. Hergeführt hatte sie ihre letzte große Liebe, deren Vermächtnis nun Bettina zugefallen war.

Ihr Vater musste das geahnt haben. Anders war seine kategorische Weigerung, die Plantage zu behalten, nicht zu verstehen. Am Vorabend hatten sie wegen des Monsuns dort übernachtet. Aber wenn sie geglaubt hatte, dass das wunderschöne Herrenhaus, der herrliche Garten oder die Aussicht auf eine ertragreiche Ernte ihn umstimmen würden, sah sie sich getäuscht. Am Morgen erwartete sie dieselbe versteinerte Miene, mit der er sich am Abend in sein Gästezimmer zurückgezogen hatte.

»In zwei Stunden sind wir zurück im Hotel. Dann prüfe ich die Bücher, und wenn es Interessenten gibt, wird Brenny’s Garden verkauft. Keine Widerrede.« Seine mächtige Stimme hatte schon wieder eine Tonlage erreicht, bei der nicht im Traum an eine Erwiderung zu denken war. »Das ist der letzte Scherz, den deine Großmutter sich mit uns erlaubt hat. Dem wird ein Riegel vorgeschoben, unwiderruflich.«

Erschrocken hatte sie über den Tisch hinweg zu Scott Ewan gesehen. Der Manager der Plantage, ein hochgewachsener, rothaariger Engländer mit unübersehbaren Sommersprossen in seinem braun gebrannten Gesicht, hatte so getan, als würde er Joosts Bemerkung überhören und sich mit herzhaftem Appetit seinem Frühstück widmen. Oder was auch immer das sein sollte, was die Briten hier in sich hineinschaufelten. Bohnen, Spiegelei und Porridge, alles zusammen serviert und verzehrt. Als er mit vollen Backen wieder hochgesehen hatte, glaubte sie, ein Zwinkern in seinen Augen zu erkennen. Fragend hatte sie die Augenbrauen hochgezogen, aber er grinste sie nur an, soweit das mit zwei Pfund gebackenen Bohnen im Mund möglich war.

Wahrscheinlich hatte er schon längst eine andere Stellung in Aussicht. Der neue Besitzer würde seinen eigenen Manager mitbringen. Bettina hatte an ihrem Toast geknabbert und nicht gewagt, die Sprache noch einmal auf die Plantage zu bringen.

Beim Abschied hatte Ewan einen Handkuss angedeutet und sie zur Kutsche geleitet. Bevor sie einstieg, ließ er allerdings eine leise Bemerkung fallen.

»Wir sollten reden.«

Ihr Vater stapfte gerade durch die Pfützen auf die andere Seite des Wagens. Noch bevor sie etwas erwidern konnte, fügte Ewan hinzu: »Nicht jetzt. Heute Abend.«

Aber der Abend im Elgin Club schritt immer weiter voran, und es sah nicht so aus, als gäbe es auch nur den Ansatz einer Möglichkeit, Ewan unter vier Augen zu treffen. Er scherzte zur Linken und lachte zur Rechten. Zwischendurch hob er das Glas und prostete einem weiter entfernt sitzenden Gast zu. Wahrscheinlich hatte er seine Worte vom Morgen schon wieder vergessen, denn er würdigte sie bei all der Liebenswürdigkeit, die er über den Tisch warf wie eine bunt bestickte Decke, keines Blickes.

»Was ist das?«, fragte sie ihre Tischnachbarin und deutete auf die Suppentasse.

In diesem Land sollte man wissen, was man zu sich nahm.

Ewan, im Gespräch mit einem aufgeplusterten Mann, der entfernt an eine Bulldogge erinnerte, geruhte nun doch einmal, in ihre Richtung zu sehen.

»Das ist eine Lady Curzon mit Sperlingsgras3«, sagte er einmal quer über den Tisch, damit wohl alle mitbekamen, welch ein Dorftrottel mit ihnen an der Tafel saß. »Schildkrötensuppe. Nehmen Sie einen Löffel Sahne dazu, dann werden Sie es überleben.«

Ein Diener trat von hinten an sie heran und hielt ihr eine Schüssel mit Schlagsahne entgegen, die sie dankend ablehnte. Sie kannte das Gericht, aber was der erste Löffel mit ihrer Kehle anstellte, ließ vermuten, dass man hierzulande statt Schildkröten eher Feuerquallen und Schlangengift verwendete. Mit hochrotem Gesicht griff sie nach ihrem Weinglas und stürzte den Inhalt hinunter. Eine Sekunde später war es wieder aufgefüllt.

Ewan hatte sich schon wieder abgewandt und erläuterte einer älteren Dame zwei Plätze weiter irgendetwas über die Herstellung von Holzkohle. Bettinas Kenntnisse auf diesem Gebiet waren beschränkt. Die der Dame offenbar auch, dennoch lauschte sie atemlos seinen Ausführungen und stieß zwischendurch allenfalls gackernde Bewunderungsrufe aus.

Bettina beugte sich über ihre Tasse und versuchte, den Löffel mindestens so geziert zu halten wie die blasse Elfe neben ihr. Auf der Plantage war er höflich und zuvorkommend gewesen. Hier im Club war er wie ausgewechselt. Scherzte mit jedem, nahm dem verblüfften Diener die Karaffe ab und schenkte sich selbst ein, und wenn er eine Anekdote zum Besten gab, hingen alle an seinen Lippen. Nur ihr Vater saß mit einem Gesicht bei Tisch, als hätte man ihm Regenwürmer serviert. Er war und blieb ein hanseatischer Kaufmann, ob in Bremen oder in Darjeeling. Geschäft und Vergnügen hatten einander auszuschließen.

Immerhin: Wenn die Plantage zu einem guten Preis den Besitzer wechselte, würden sie noch ein paar Tage in Calcutta anhängen. Den Zoo besuchen, den Botanischen Garten, in einem der neuen, schönen Hotels mit eigenem Badezimmer logieren. Zu Gast sein bei einigen Handelspartnern ihres Vaters, der das vosskampsche Teecontor in Bremen leitete. Und dann ging es zurück nach Hause, in die öde Zukunft einer heiratsfähigen Frau, die langsam begann, sich in nasskalten Farben vor Bettina auszubreiten.

Scott Ewan schlug mit der Gabel an sein Glas. Die Gespräche verstummten, und alle wandten sich ihm erwartungsvoll zu. Er stand auf und sah erst einmal jedem Einzelnen in die Augen. Als er bei Bettina anlangte, vertiefte sich sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er weiterglitt. Ihre Tischnachbarin zog kaum hörbar die Luft ein. Ewans Verhalten fiel auf. Nicht jedem, aber der jungen Dame neben ihr.

»Zunächst möchte ich unseren Besuch aus dem jungen Deutschen Reich begrüßen. Ich hatte die Freude, Sie, Mr Vosskamp, und Ihre bezaubernde Tochter schon gestern kennenzulernen. Ich hoffe, der Besuch auf Ihrer Plantage hat Ihnen für die Schönheit und die Profitabilität Ihres Besitzes gleichermaßen die Augen geöffnet.«

Er hob sein Glas, und Bettina entging nicht die kleine steile Falte zwischen den Augenbrauen ihres Vaters. Der nahm Scott Ewans Trinkspruch zum Anlass, nun auch ein paar Worte an die Anwesenden zu richten. Steif und etwas ungelenk, wie es seine Art war, erhob er sich ebenfalls und fuhr sich in den Kragen, um die Fliege etwas zu lockern. Er trug denselben Anzug, den er auch in Bremen bei gesellschaftlichen Anlässen ausführte und der seinen Rücken noch gerader und seine Haltung noch steifer erschienen ließ. Allerdings herrschten dort andere Temperaturen. Bevor Joost begann, tupfte er sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Vielen Dank für die freundliche Aufnahme und Ihnen, Mr Ewan, für die Zeit, die Sie uns gewidmet haben. Lassen Sie es mich so sagen: Schönheit ist wie die Steine eines Mosaiks, Profitabilität allerdings der Mörtel, der es zusammenhält.«

Der Vergleich hinkte etwas, genauso wie Joosts Englisch, aber alle wussten, was er meinte. Brenny’s Garden war keine Goldgrube. Davon hatten sie sich bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft überzeugen können. Ewan hatte wohl sein Bestes getan, aber die anderen Plantagen arbeiteten wesentlich effizienter.

»Immerhin: Ein großer Teil der Ernte landet ja schon seit Jahrzehnten im vosskampschen Speicher. So auch jetzt.« Joost griff in die Westentasche und holte ein zusammengefaltetes Telegramm heraus, das er mit einem Schlenker öffnete. »Während wir hier sitzen, ist schon ein Dampfschiff im Auftrag des ehrenwerten Reedervereins Bremens von Calcutta in die Heimat unterwegs: die Schonerbark Hera, die über Madras, Colombo und den Sueskanal in Rekordzeit unseren Tee und andere Colonialwaren über London nach Bremerhaven bringen wird. Die alten Kaufmannsreeder sehen damit der Zukunft gut aufgestellt entgegen.«

Bettina hörte das zum ersten Mal. Hieß das, die Zeit der eigenen Schiffe war vorüber? Oder konnten sich die Vosskamps das einfach nicht mehr leisten? Als ihre Großmutter Helene noch die Zügel im Teepalast und im Contor in der Hand gehalten hatte, war ihre Familie an vier Schiffen beteiligt gewesen. Aber wenn Bettina ehrlich war, hatte sie davon schon seit einigen Jahren nichts mehr gehört. Die Zeit raste in Dampfmaschinengeschwindigkeit, und überall veränderte sich der Takt. Schneller. Weiter. Höher. Die Klipper lieferten sich Wettrennen über den großen Teich, und ein Carl Benz aus der Nähe von Karlsruhe hatte schon ein erstes »selbstbewegendes Fahrzeug« auf die Straßen geschickt, ein Automobil. Die neuen Sozialgesetze führten bei ihrem Vater in regelmäßigen Abständen zu Tobsuchtsanfällen, und immer mehr Menschen verließen Dorf und Feld, um in Spinnereien und Bergbau, Eisengießereien und Maschinenfabriken ihr Glück zu suchen.

An Bettina rauschten diese Entwicklungen vorbei. Zu Hause hatten sie ab und zu Gäste aus dem Schütting, der Bremer Kaufmannschaft. Die Gespräche dieser Männer drehten sich fast immer um Fracht- und Lagerkosten, Löhne, und … ja, gelegentlich auch um den Transport von Tee und Kolonialwaren. Ihr Bruder Paul hatte mit großen Ohren zugehört, er sollte schließlich die Familientradition weiterführen und wartete darauf, dass auf dem Firmenschild endlich der Zusatz »Vosskamp & Sohn« erschien. Bettina war froh, wenn sie sich nach diesen Abenden zügig verabschieden konnte, bevor sie am Tisch einschlief.

»Statt eigene Schiffe auf die Weltenmeere zu entsenden, werden wir uns mehr und mehr aufs Kerngeschäft konzentrieren. Trinken wir also auf eine glückliche Ankunft der Hera!«

Alle fielen ein und prosteten sich zu. Zufrieden ließ sich Joost wieder auf den Stuhl fallen.

»Hört, hört!«

Der Mann, der ihr gegenübersaß, hieß Timothy Shelby. Tea Manager wie Ewan, aber, so hatte sie aus dem Geplauder vor Beginn des Dinners herausgehört, offenbar auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Er musste Mitte dreißig sein, ein kräftiger Mann, mittelgroß, mit drahtigen, abstehenden Haarbüscheln. Seine Augenbrauen erinnerten an Kehrbesen, und die stechenden grauen Augen, die er ziemlich häufig auf ihr Dekolletee richtete, ruhten in einem von Ausschweifungen zerfurchten Gesicht.

Nun hatte sie schon die einfachsten Reisekleider mitgenommen – was nicht zwangsläufig bedeutete, dass es auch die schönsten waren. Aber natürlich befanden sich in den beiden Schrankkoffern, die den weiten Weg von Bremen nach Indien gemacht hatten, auch einige Teile für gesellschaftliche Anlässe. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, vermutlich mit der langsam versiegenden Hoffnung, unterwegs einen Gentleman damit zu beeindrucken, der ihre schwer vermittelbare, weil eigenwillige, komplizierte, trotzige und anspruchsvolle Tochter doch noch für eine Ehe in Betracht ziehen könnte.

Shelby würde es jedenfalls nicht sein. Sie hob ebenfalls das Glas und wich seinem Blick aus. Schon der Gedanke, sich allein mit ihm in einem Raum aufzuhalten, ließ sie frösteln. Sie hätte das Granatcollier nicht anlegen sollen, über das er ihr pausenlos Komplimente machte, nur um seinen Blick immer wieder in ihren Ausschnitt wandern zu lassen.

Die übrigen Gäste waren nicht so zudringlich. Vermutlich, weil sie andere Interessen verfolgten. Der Direktor der örtlichen Bank of England, ein weiterer Plantagenbesitzer, Reginald Plumrose, der von seiner Frau Matilda und seiner Tochter Margret, der Elfe, begleitet wurde. Dann zwei Trader aus London – Vater und Sohn, Lord Jasper Bigett und Liam Bigett, wortkarg der Alte, scheu und wohl auf seiner ersten Handelsreise der Junge, der jedes Mal knallrot anlief, wenn er eines seiner wenigen Worte an Bettina richtete. Ein Advokat, vermutlich engagiert, um den Verkauf der Plantage in die Wege zu leiten. Der Direktor der Eisenbahnlinie. Zwei weitere Plantagenbesitzer, deren Namen sich Bettina nicht hatte merken können und die sich wohl ein Bietergefecht um Brenny’s Garden liefern würden. Und dann ein junger Mann indischer Abstammung, der hinter Ewan stand und ihm ab und zu etwas ins Ohr flüsterte. Er trug einen europäischen Anzug, hatte aber einen Turban um sein Haar geschlungen, was ihm ein geheimnisvolles, exotisches Aussehen verlieh.

»Das ist Jacob, der Munshivon eurem Teemanager.« Margret, die links neben ihr saß, hatte sich zu ihr gebeugt und die Stimme gesenkt.

»Dark, tall and handsome4, wie es in den romantischen Liebesromanen heißt.«

Die blauen Augen des Mädchens funkelten amüsiert. Ihre Haare changierten zwischen rötlich und blond, was sie in diesen Breiten noch mehr wie ein Wesen von einem anderen Stern erscheinen ließ. Allerdings schien sie einen irdischen Sinn für Humor zu besitzen.

Bettina nahm den zweiten und letzten Löffel Suppe.

»Was ist das – ein Munshi?«

»Ein Sekretär. Er führt die Bücher und die Korrespondenz und übersetzt. Wahrscheinlich kennen sich unsere Munshis besser mit den Geschäften aus als wir alle zusammen. Eigentlich darf er gar nicht hier sein. Der Aufenthalt auf der Mall draußen und im Hotel ist nur Dienern oder Coolies5 gestattet. Scott Ewan hat aber einen Narren an ihm gefressen, er nimmt ihn überall mit hin. Haben Sie ihn nicht kennengelernt?«

»Nein, dafür war keine Zeit.« Bettinas Hunger war nun erst recht angefacht, nachdem die Gewürze ein wahres Feuerwerk in ihrem Magen gezündet hatten.

»Um ehrlich zu sein, ich habe die Plantage noch nicht einmal zu sehen bekommen. Dafür hat es zu viel geregnet. Wir waren nur im Haupthaus und haben dort übernachtet.«

»Unter einem Dach mit Scott Ewan? Oder im Gästebungalow?«

Margret war entzückend. Ein zartes, herzförmiges Gesicht unter den Korkenzieherlocken, die allerdings in der Luftfeuchtigkeit langsam ihre Form verloren. Sie trug ein hellblaues Seidenkleid mit Rüschen und Zierschleifen, das in diesen Breiten auf eine verzweifelte Weise romantisch wirken sollte. Bei Timothy Shelby verfehlte es seine Wirkung nicht. Wenn sein Blick nicht gerade Bettinas Ausschnitt abtastete, ließ er ihn mit einem leicht anzüglichen Ausdruck auch über Margrets zierliche Gestalt wandern.

Bettina fühlte sich in ihrer Anwesenheit wie ein Schlachtross neben einem Reh. Vielleicht sollte sie ihre Essgewohnheiten doch noch einmal überdenken.

»Er ist sehr charmant«, fuhr Margret fort, nachdem sie lange genug auf eine Antwort gewartet hatte.

»Der Sekretär?«, kam es verblüfft zurück.

»Nein. Ich meinte Ihren Tea Manager, Mr Ewan. Übrigens ist er nicht verheiratet, falls das für Sie von Interesse ist. Leider ohne Vermögen, er wird es also nie zu einer eigenen Plantage bringen.«

Das klang etwas bedauernd.

»Er müsste sich eine erheiraten.«

»Sich eine was?«, fragte Bettina perplex.

Ewan sah zu ihnen. Ahnte er, dass er gerade Thema war? Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, und griff nach dem Weinglas, um diese Reaktion zu verbergen oder abzulenken oder auf den Wein zu schieben oder um einfach nur etwas zu tun, das sie nicht nervös machte. Das Gefühl, dass alle hier von dem schnellen Notverkauf wussten, verunsicherte sie. So kannte sie sich nicht.

»Er müsste die Tochter eines Plantagenbesitzers heiraten, um selbständig arbeiten zu können«, flüsterte Margret. »Hat er schon so etwas angedeutet?«

Bettina bekam den Wein in die falsche Kehle und verschluckte sich. Und zwar derart, dass nun alle am Tisch kurz zu ihr sahen. Sie wartete mit der Antwort, bis sie wieder Luft bekam.

»Nein!«, zischte sie.

»Wirklich nicht? Jedenfalls wird die Nachricht von Ihrer gemeinsamen Nacht wie ein Lauffeuer durch Darjeeling rasen.«

Alarmiert sah sich Bettina um. War das vielleicht der Grund, weshalb sie von den einen so unverhohlen gemustert und den anderen komplett ignoriert wurde? Auch wenn Bettina sicher war, dass sie nie wieder einen Fuß in diese Stadt setzen würde, wollte sie doch nicht als Ewans letzte vertane Chance in Erinnerung bleiben.

»Von mir aus«, gab sie zurück und merkte selbst, wie rechtfertigend das klang. »Mein Vater war schließlich auch dabei.«

»Oh mein Gott! Die ganze Nacht?«

Bettina zog scharf die Luft ein.

»Das war ein Scherz.« Margrets Elfenmündchen verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Sind Sie immer so empfindlich?«

Margrets Mutter Matilda, eine etwas aus den Fugen geratene Person mit schmalen Augen unter schweren Lidern, sah kurz zu ihnen. Empfindlich … es sollte ihr egal sein, was Margret von ihr hielt. Sie würde sie nie wiedersehen. Trotzdem ärgerte sie sich.

»Ich bin nur müde von der langen Reise und den vielen neuen Eindrücken«, antwortete sie im schönsten Teepalast-Plauderton. Knie zusammen, Rücken gerade, Schultern zurück. Alles an sich abprallen lassen. »Die Sitten und Gebräuche in den Kolonien sind mir fremd. Vor allem, wenn es um die der britischen Krone geht.«

»Nun, immerhin sind unsere Kolonien exotischer als die Ihren. Und, soweit ich weiß, auch friedlicher. Gibt es nicht immer wieder Aufstände in Deutsch-Südwest?«

»Und wurde hier nicht vor Kurzem der indische Nationalkongress gegründet?«, konterte Bettina und dankte dem Himmel für die zerlesenen Exemplare der Calcutta Times in der Bahn. »Um unabhängig vom britischen Empire zu werden?«

»Indien ist und bleibt die Perle in der Krone der britischen Königin«, erwiderte Margret schnippisch. »Und Lord Dufferin ist sein Vizekönig. Daran wird sich auch durch Aufstände von Anarchisten nichts ändern. Dieses Land gehört uns. Wir waren es, die Wohlstand, Handel und Zivilisation hierhergebracht haben. Aber man sagt ja, dass Ihre Großmutter da etwas anderer Ansicht gewesen war.«

»So?«, fragte Bettina spitz.

Margret beugte sich näher zu ihr und senkte die Stimme. »Einmal ist sie mit ihrem Pferd hier hereingeritten. Hier, in diesen Raum! Weil sie Mitglied im Planters’ Club werden wollte und man ihr das verweigert hat, natürlich. Der Club ist pukka, also erstklassig und über jeden Zweifel erhaben. Wo kämen wir denn hin, wenn Frauen der Zutritt erlaubt würde?«

Bettina, die sich noch nie Gedanken darüber gemacht hatte, fragte: »Wohin kämen wir denn?«

Die junge Frau hob nun auch ihr Glas, nippte ein wenig und blinzelte sie über den Rand hinweg an. »Sie stellen seltsame Fragen. Aber das geht vielen so, die gerade angekommen sind. Sie denken, in diesem fremden Land gelten andere Gesetze. Aber das stimmt nicht. Wir befinden uns auf britischem Boden. Wer anderes behauptet, begeht Hochverrat. Also fangen Sie nicht an, von Dingen zu reden, von denen Sie keine Ahnung haben. Und vor allem nicht«, ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, »vom Zutritt für Frauen in Clubs und vom indischen Nationalkongress.«

Sie wandte ihren Blick wieder zu Scott Ewan, der sich gerade angeregt mit dem Bankdirektor unterhielt. Ihre Stimme kehrte zur normal zwitschernden Tonlage zurück.

»Er ist der begehrteste Junggeselle in Darjeeling. Zumindest bei den Damen, die nicht wegen des Geldes heiraten müssen. Und wenn man den Gerüchten Glauben schenken mag, gehen seine Vorzüge weit über die eines Angestellten auf leitender Ebenehinaus.«

»Was Sie nicht sagen«, gab Bettina zurück. Das Gespräch begann sie zu langweilen. Sollte Margret sich an jemand anderem abarbeiten. »Sie nähren die Gerüchte hoffentlich nicht mit eigener Erfahrung?«

Margret starrte sie erschrocken an und brach dann in ein hilfloses Kichern aus, das ihre Mutter dazu brachte, ein mahnendes Zischen auszustoßen. Dieser Punkt ging an Bettina. Mit einem leisen Lächeln lehnte sie sich zurück, als ein Diener an sie herantrat, die Suppentasse abräumte und ein zweiter ihr von seiner silbernen Platte etwas servierte, das sie noch nie gesehen, geschweige denn gekostet hatte.

»Das ist ein Curry aus Huhn«, erklärte ihre Tischnachbarin. »Sehr schmackhaft, aber seien Sie vorsichtig. Hier verwendet man viele Gewürze. Sie brauchen viel Tee und jederzeit einen Nachttopf in der Nähe.«

»Margret!«

Ihre Mutter Matilda schüttelte missbilligend den Kopf. »Das sind keine Konversationen bei Tisch! Wie benimmst du dich eigentlich?«

Bettina probierte vorsichtig das Gericht. Es schmeckte mild, nach Zimt und Kurkuma, doch dann entfaltete es auf ihrer Zunge einen Flächenbrand. Hastig griff sie nach dem Brot und kaute so lange auf dem Bissen herum, bis das Schlimmste vorüber war.

Ihr Gespräch war von den anderen weitgehend unbemerkt geblieben. Nur Liam, der Sohn des Lords, der auf Bettinas rechter Seite saß, hob kurz den Kopf, zwinkerte ihr zu und senkte sofort wieder den Blick. Das war so schnell passiert, dass sie fast an eine Sinnestäuschung glaubte.

Wer um Himmels willen hatte diese Tischordnung zusammengestellt? Wahrscheinlich Ewan. Er hatte diese Runde aus Kaufinteressenten, Tradern und Anwälten ziemlich eilig einberufen, auf den nachdrücklichen Wunsch ihres Vaters, der niemanden in Darjeeling kannte. Die Tischgespräche drehten sich um den Monsun, die britischen Eroberungen in Burma und Segen und Fluch der Dampfeisenbahn. Nicht um Frauen, nicht um den indischen Nationalkongress. Und sie würde den Teufel tun und daran etwas ändern.

Ewans Blick traf sie über dem blumengeschmückten Tafelaufsatz. Es war, als ob er eine unausgesprochene Frage stellen würde.

Für eine Sekunde hielt sie diesem Blick stand, dann sah sie hinunter auf ihre im Schoß verschränkten Hände. Hoffentlich fühlte er sich nicht ermuntert. Heute Abend. Was um Himmels willen wollte er von ihr?

Margrets Frage ließ sie hochschrecken. »Wie lange bleiben Sie denn? Ich würde Sie gerne zum Tee auf unsere Plantage einladen.«

»Ich weiß es nicht. Das ist nicht meine Entscheidung.«

Die Elfe nickte. Sie war wieder das süße junge Mädchen, das ein harmloses Gespräch führte. »Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt. Als es hieß, die Erbin von Brenny’s Garden käme persönlich nach Darjeeling, hatte ich tatsächlich befürchtet, sie wären ihr ähnlich.«

Das klang schon fast wieder nach einer Beleidigung, verpackt in eine sanfte Stimme und eingewickelt in honigsüße Freundlichkeit.

»Warum?«, fragte Bettina trotzdem. Alles, was Helene betraf, interessierte sie brennend.

»Miss Vosskamp war eine beeindruckende Frau. So voller Tatkraft und Elan und mit einem großen Herzen.« Das klang immerhin ehrlich. »Jedes Mal, wenn sie hier ankam, hat sie ein großes Fest auf der Plantage gegeben. Sie glauben nicht, wie viele Ehen dem Einfluss Ihrer Großmutter zu verdanken sind.«

»Glückliche, hoffe ich.« Bettina legte das Besteck auf dem Teller ab – sie brachte keinen weiteren Bissen hinunter. Das Essen musste in der Hölle gekocht worden sein. »Und … haben Sie auch Mr Stirling gekannt? Robert Stirling?«

Helenes letztes Geheimnis … eine Liebe in Indien. Jahrzehnte musste sie gedauert haben. Immer dann, wenn ihre Großmutter dem »Schietwetter« in Bremen den Rücken kehrte und für Monate in wärmere Gefilde reiste. Dschihu, der alte chinesische Teemeister von Brenny’s Garden hatte ihr am gestrigen Abend einiges erzählt. Aber der Verdacht blieb, dass er wohl mehr ausgespart hatte.

»Oh ja.« Margrets Augen begannen zu leuchten. »Robert Stirling! Ein echter Haudegen. Selbst im Alter strotzte er noch vor Kraft und Durchsetzungsvermögen. Wir vermissen ihn alle sehr. Er war oft unser Gast und hat von seinen Abenteuern in China erzählt. Er war ein begnadeter Teedieb, wussten Sie das?«

In solchen Momenten kam es Bettina vor, als wären das Leben und die Lieben ihrer Großmutter ein überlebensgroßes Wandgemälde. Ein reich bestickter Gobelin in sprühenden Farben, der tausend Geschichten erzählte. Niemals würde sie an diese einzigartige Frau heranreichen. Im Vergleich zu ihr war sie ein … Taschentuch. Etwas, das man versteckte und nur herausholte, wenn man es brauchte.

»Ja, das wusste ich«, antwortete sie.

Ich bin nicht so stark wie sie, dachte Bettina. Sie ist als junges Mädchen aus Friesland geflohen und hat sich bis China durchgeschlagen. Sie hat aus dem Nichts ein Tee-Imperium aufgebaut, und sie hat der ganzen Welt die Stirn geboten. Sie hat mit diesem Robert Stirling zusammengelebt und ihn sogar nach indischem Ritus geheiratet. Kein Wunder, dass sie uns nichts davon erzählt hat. Niemand von uns hat sie verstanden.

Für den Rest des Essens versuchte sie, den leisen Schmerz zu ignorieren, den diese Gedanken in ihr auslösten.

Endlich wurde die Tafel aufgehoben. Die Herren gingen für eine Zigarre in den Smoking Room, die Damen zogen sich zum Likör in einen luxuriös ausgestatteten kleinen Salon zurück.

Der Elgin Club, ein Hotel erbaut im Stil eines britischen Landsitzes in den Bergen von Darjeeling, gehörte einst dem Maharadscha von Cooch Behar, um reichen englischen Familien während ihrer Besuche im Hochland ein standesgemäßes Domizil zu bieten. Mittlerweile war die Stadt in den Bergen ein beliebtes Ziel für die Sommerfrische der Briten, wenn es in Calcutta zu heiß wurde. Die reizvolle Verschmelzung von gediegenem europäischem Interieur und exotischer Prachtentfaltung trug viel dazu bei, sich innerhalb dieser Wände und in dem zauberhaften Garten wie zu Hause zu fühlen, aber dennoch mit allen Sinnen die Fremdheit dieses Landes auf ziemlich ungefährliche Weise zu genießen.

»Willkommen im Hühnerhaus«, sagte Margret spöttisch.

In dem Salon saßen nur Frauen.

»Das hier ist das moorghi kaahna, so wird dieser Wartesaal genannt. Lassen Sie sich nicht von Bezeichnungen wie Salon oder Tea Room irreführen. Hier dürfen wir uns aufhalten, bis die Herren endlich bereit sind aufzubrechen.«

Matilda Plumrose stieß einen empörten Zischlaut aus, um ihre Tochter zur Ordnung zu rufen.

»Hat Margret Sie schon gefragt, ob Sie zu uns zum Tee kommen?«, fragte sie und wies mit einer Handbewegung den Diener ab, der ihr ein zweites Glas Pimm’s Cup servieren wollte.

»Ja, vielen Dank. Aber ich fürchte, das wird sich nicht mehr einrichten lassen«, antwortete Bettina. Sie hatten sich in die Sessel am Kamin gesetzt. Abends wurde es in dieser Höhenlage empfindlich kühl. »Sobald mein Vater unsere Angelegenheiten erledigt hat, werden wir wieder zurückfahren.«

Nervös drehte sie ihr Glas in den Händen. Sogar ihr Englisch, auf das sie in Bremen so stolz gewesen war, kam ihr in der Gesellschaft dieser beiden Damen schwerfällig und plump vor. An jeder unbedeckten Stelle von Matildas üppigem Körper glitzerte, funkelte und klapperte etwas. Margret trug, wie es sich für junge, unverheiratete Mädchen gehörte, nur eine hauchzarte Silberkette und zwei kleine Ohrringe. Jede ihrer Bewegungen war grazil und anmutig, darauf angelegt, sich von ihrer vorteilhaftesten Seite zu zeigen.

Bettina war beigebracht worden, den Mund zu halten, irgendwann einen Haushalt zu führen und, was die öffentliche Präsenz anging, eher zu unter-, als zu übertreiben. Natürlich war sie auch die Einzige, die sich ein Shortbread von dem Diener reichen ließ, während Margret und Matilda ablehnten.

»Dann ist das ja ein sehr kurzer Aufenthalt für Sie.« Matilda senkte ihren Kopf auf ein beachtliches Doppelkinn.

Mit etwas Fantasie konnte man ahnen, wie ihre Tochter in dreißig Jahren aussehen würde – drall, rosig, etwas verschwitzt und sich unablässig die Stirn mit einem Taschentuch abtupfend. »Nun, eine Konkurrenz weniger.«

Es klang unverfänglich, und doch schwang ein Unterton mit, der vor allem Margret erreichen sollte. Bettina fiel Ewans Blick bei Tisch ein, in dem sie sich für einen Moment länger, als es schicklich gewesen wäre, verfangen hatte. Gab es da etwas, das sie nicht wusste? Irgendwelche zarten, noch gar nicht richtig geknüpften Bande, in denen sie sich gerade verhedderte und ins Stolpern geriet?

Der Rest der Unterhaltung verlief wieder in den geordneten Bahnen von Wetter, Mode und all den mildtätigen Organisationen, denen sich die Plumroses angeschlossen hatten. Bettina war gerade so weit, bei der nächsten kleinen Pause des sowieso etwas zähen Gesprächs die Verabschiedung einzuleiten, als einer der Diener mit einem Schild durch die Halle lief und »Mr Vosskamp!« rief.

»Telegram! Mr Vosskamp Sahib!«

Ihr Vater meldete sich nicht. Vermutlich war er mitten in den Verhandlungen mit den anderen Plantagenbesitzern und bekam gar nicht mit, was sich vor den Türen des Rauchsalons tat.

»Sie entschuldigen mich?«

Mutter und Tochter nickten gnädig, und Bettina eilte aus dem Kaminzimmer hinaus in die kühle Halle. Der Diener machte an der zweiflügeligen Tür zum Garten kehrt und kam wieder zurück.

»Ich bin Miss Vosskamp«, sagte sie und folgte dem Mann zu einem kleineren Raum, über dem in goldenen Lettern »Bureau« stand. Dort wurde ihr von einem älteren Herrn ein gefaltetes Papier ausgehändigt.

»I am so sorry«, sagte er.

Offenbar nichts Geschäftliches. Oder doch? Er wusste, was sie gleich lesen würde. Trotzdem wollte sie das Papier nicht vor seinen Augen entfalten, nahm es an sich und eilte durch die Halle hinaus in den Garten.

Fackeln beleuchteten das tropische Paradies. Ein Springbrunnen mit zwei lebensgroßen Löwen aus Stein lud zum Verweilen ein. Bettina vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, und faltete besorgt das Blatt auseinander.

Was sie las, ließ ihr Blut zu Eis gefrieren.

»MSHera in den Sandbänken des Hooghly-Delta6 mit britischem Segelschiff havariert. Stop. Mittschiffs getroffen und gesunken. Stop. Passagiere und Besatzung gerettet, Ladung verloren. Stop. Gez. Papendeik Bremer Dampfschiffahrts-Gesellschaft.«

Sie las es noch mal. Und noch mal.

Die Hera war gesunken und mit ihr die Ladung der Vosskamps, auf die ihr Vater sein ganzes Vermögen gesetzt hatte.

Und das Letzte, was sie noch besaßen, war eine heruntergekommene Teeplantage in Indien.

3 Spargel

4 Englisch: Dunkel, groß und gut aussehend

5 Tagelöhner des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts

6 Der Hooghly River ist ein Seitenfluss des Ganges, er ist die Lebensader von Calcutta Richtung Meer.

Ein unmoralisches Angebot

Die Plantagenbesitzer und der Advokat kamen in den Garten und steckten sich Zigarren an. Bettina faltete das Papier hastig zusammen und ließ es in ihrem kleinen Beutel verschwinden. Offenbar waren die Verhandlungen durch eine Pause unterbrochen worden.

Gut so, dachte sie. Dann kann ich Vater noch rechtzeitig vorwarnen.

Sie stand auf und wollte zurück ins Haus, als die hochgewachsene Gestalt Scott Ewans erschien. Lässig warf er den Herren ein paar kurze Grußworte zu und tat dann so, als würde er Bettinas Anwesenheit jetzt erst bemerken. Die eine Hand in der Hosentasche kam er auf sie zugeschlendert. Im Licht der Gaslampen leuchteten seine Haare wie Kupfer, und die kleinen Fältchen um seine Augen ließen ihn nicht mehr ganz so jugendlich wirken.

»Genießen Sie den Abend?«

»Ja, sehr«, sagte sie und wollte an ihm vorbei, um zurück ins Haus zu gelangen.

»Warten Sie, bitte.«