Die Angst, die niemals endet - Alex Smith - E-Book

Die Angst, die niemals endet E-Book

Alex Smith

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Beschreibung

Er sucht die Wahrheit – selbst, wenn sie ihn tötet … Fünf Monate, nachdem DCI Ketts Frau entführt wurde, gibt es endlich eine Spur: Es ist ein Horrorkabinett, das die Ermittelnden in der verlassenen Londoner Villa vorfinden, in der offenbar mehrere Frauen festgehalten und gefoltert wurden. Robert Kett kehrt für seinen persönlichsten und gefährlichsten Fall nach London zurück. Es zerreißt ihn – seine drei kleinen Töchter sind auf ihren Vater angewiesen, doch er hat ihnen auch versprochen, ihre Mutter nach Hause zu bringen. Als er Billies Handy am Tatort findet, zögert er keine Sekunde, sein Leben für das seiner Frau zu geben. Nichts für schwache Nerven – der dritte Teil der Erfolgsserie um DCI Robert Kett.

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Alex Smith

Die Angst, die niemals endet

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Alice Jakubeit

 

Über dieses Buch

Er sucht die Wahrheit – selbst, wenn sie ihn tötet …

 

Fünf Monate, nachdem DCI Ketts Frau entführt wurde, gibt es endlich eine Spur: Es ist ein Horrorkabinett, das die Ermittelnden in der verlassenen Londoner Villa vorfinden, in der offenbar mehrere Frauen festgehalten und gefoltert wurden. Robert Kett kehrt für seinen persönlichsten und gefährlichsten Fall nach London zurück. Es zerreißt ihn – seine drei kleinen Töchter sind auf ihren Vater angewiesen, doch er hat ihnen auch versprochen, ihre Mutter nach Hause zu bringen. Als er Billies Handy am Tatort findet, zögert er keine Sekunde, sein Leben für das seiner Frau zu geben.

 

Nichts für schwache Nerven – der dritte Teil der Erfolgsserie um DCI Robert Kett.

Vita

Alex Smith schrieb sein erstes Buch im Alter von sechs Jahren. Es war nicht gerade gut, aber es kamen übernatürliche Monster darin vor. Später veröffentlichte er Horror-Romane unter seinem vollen Namen Alexander Gordon Smith. Seine drei Töchter inspirierten ihn dazu, über einen Detective zu schreiben, der ebenfalls kleine Kinder hat. In den Thrillern mit DCI Robert Kett geht es wieder um Monster, die sind jedoch menschlicher Natur und daher umso Furcht einflößender. Alex Smith lebt in Norwich mit seiner Frau und seinen Kindern.

 

Alice Jakubeit übersetzt Romane, Sachbücher und Reportagen aus dem Englischen und Spanischen, u.a. Alexander McCall Smith, Greer Hendricks & Sarah Pekkanen, Brian McGilloway und Eva García Sáenz. Sie lebt in Düsseldorf.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024

Redaktion Jan Karsten

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung FinePic®, München

ISBN 978-3-644-01728-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Beki

(und für all die Leute,

die irrtümlich glaubten,

dieses Buch sei ihnen gewidmet.

Es tut mir sehr leid …)

PROLOG

Mittwoch

Irgendjemand hatte Detective Sergeant Adam Ridgway einmal gesagt, London sei die Hölle.

Heute war er sich so sicher wie noch nie, dass das stimmte.

Er lenkte den Ford Focus an den Straßenrand und hielt an, ließ aber den Motor laufen. Die Scheibenwischer schlugen unablässig hin und her wie ein erregt klopfendes Herz, doch selbst auf höchster Stufe konnten sie die Windschutzscheibe nicht regenfrei halten. Den ganzen Tag lang hatte er immer wieder gehört, der Himmel habe seine Schleusen geöffnet. Falls dem so war, dann vielleicht, um endlich den Gestank aus der Stadt zu spülen. Wenn es nur stark genug regnete, würde London womöglich endlich sauber.

Schön wär’s, dachte er.

Mit zusammengekniffenen Augen blickte er durch den Regen auf eine Straße, die einem Märchen zu entstammen schien. Hinter hoch aufragenden Linden und befestigten Mauern prunkten herrschaftliche Häuser, so unnahbar, dass sie nur die Spitzen ihrer Dächer sehen ließen, auf denen sich Dutzende von Schornsteinen wie Geschütztürme auf einem Zerstörer erhoben, die den Regen zurückschlagen sollten. Keins der Häuser hatte eine Hausnummer, was Ridgway eigenartig und zugleich extrem ärgerlich fand.

Er zog einen Zettel aus der Jackentasche. Das Papier fühlte sich fettig an und war schon so oft auseinander- und wieder zusammengefaltet worden, dass es einem Stück Pergament aus einer mittelalterlichen Gruft glich. Die kleinen krakeligen Zeichen darauf sahen aus, als hätte die Hand des Schreibenden heftig gezittert.

Bishop 73.

«Wirst du mich irgendwie weiterbringen oder nicht?», fragte er den Zettel.

Gut möglich, dass die Antwort nein lautete, wie bei jedem anderen Anflug einer Spur, den er bisher entdeckt hatte. Nicht ein einziger Hinweis hatte sie weitergebracht, sie drehten sich immer nur im Kreis. Nicht eine einzige Zeugenaussage – nicht, dass irgendjemand gewagt hätte, mehr als seinen oder ihren Namen anzugeben – hatte ein wenig Licht ins Dunkel dieses beschissenen Falls gebracht. Ridgway war die Aufgabe übertragen worden, Billie Kett und die Männer, die sie entführt hatten, zu finden. Doch genauso gut hätte man ihm befehlen können, den Mond vom Himmel zu holen. Billie zu finden war unmöglich, weil diese Stadt jede wie auch immer geartete Wahrheit gut verbarg.

Die Hölle gab ihre Geheimnisse schließlich nicht preis.

Aber Bishop 73 war nun mal alles, was er hatte, und wenn er dem nicht nachging, wie sollte er seinem alten Freund Robbie dann jemals wieder unter die Augen treten? Er hatte Detective Chief Inspector Kett sein Wort gegeben, dass er ihm helfen würde, seine Frau zu finden, und auch wenn seit diesem Versprechen fünf lange Monate vergangen waren, würde er die Suche noch lange nicht aufgeben.

«Dreiundsiebzig», sagte er, faltete den Zettel wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche seines Sakkos. «Wo bist du?»

Er legte den Gang ein und rollte durch die Straße. Regen trommelte aufs Autodach, es klang wie ein Angriff, so als würden die Menschen hinter diesen hohen Mauern Steine auf ihn werfen. Er war hier nicht willkommen, das war ihm schon klar. Dies war eine unfreundliche Straße. Eine lieblose Straße. Er war erst seit ein paar Jahren Detective bei der Met, der Metropolitan Police, aber er kannte London gut genug, um zu wissen, welche Gegenden die eigentlich gefährlichen waren. Es waren nicht die Hochhaussiedlungen, in denen die Banden ihre Kriege führten, es waren nicht die Ecken, an denen Drogen verkauft wurden. Es waren Straßen wie diese, denn die Häuser hier waren Burgen, sie waren Königreiche, und die Bewohner konnten sich alles erlauben.

Ridgway rollte an einem schmiedeeisernen Tor vorbei, auf dem eine gewaltige Siebenundsechzig prangte. Mehr brauchte er nicht. Er fuhr an zwei weiteren überdimensionierten Häusern vorüber, hielt vor dem nächsten Anwesen und schaltete den Motor aus. Sofort kroch die Kälte in den Wagen, und er rieb sich die Arme. Über einem hohen Tor konnte er trotz des strömenden Regens den oberen Teil eines palastartigen weißen Gebäudes mit acht breiten, dunklen Sprossenfenstern erkennen, die ihn anzustarren schienen. Sie sahen aus wie Spinnenaugen, dachte er, und trotz seiner zweiunddreißig Jahre erschauerte er bei diesem Gedanken.

 

Reiß dich zusammen, Adam, dachte er. Laut sprach er es allerdings nicht aus. Obwohl der Regen auf die Karosserie trommelte, kam ihm die Straße zu still vor, zu leer.

Zu tot.

«Ach, scheiß drauf», zwang er sich zu sagen und schnippte mit den Fingern, um den Bann zu brechen. «Es ist bloß ein Haus.»

Er öffnete die Tür, stieg aus und war innerhalb von Sekunden bis auf die Haut durchnässt. Sein Mantel lag im Kofferraum. Er holte ihn heraus und zog ihn über, während er bereits über den breiten Gehweg zu einer gewaltigen Konifere platschte, die an der zwei Meter fünfzig hohen Mauer wuchs und ein wenig Schutz vor dem Regen bot. Er überlegte, ob er Superintendent Barry Benson anrufen sollte, doch Bingo – wie er von der gesamten Truppe genannt wurde – wollte sicher nicht gestört werden, außer es gäbe etwas Konkretes. Er zog das Telefon hervor und schrieb ihm stattdessen eine Nachricht:

Überprüfe 73 Bishops Avenue, Update folgt.

Der Regen versuchte, ihm das Telefon aus der Hand zu spülen, wollte es mit dem Wasser, das durch den Rinnstein strömte, fortreißen. Das Display war so nass, dass es ihm zunächst nicht gelang, die Nachricht abzusenden. Als das vertraute wusch ertönte, steckte er das Telefon wieder ein.

«Na dann.» Er blies Regentropfen von den Lippen. «Hoffentlich ist es das wert.»

An der Mauer war eine Klingelanlage mit Kamera montiert, aber sie war nicht eingeschaltet, was Ridgway daran erkannte, dass keine Lämpchen leuchteten. Pflichtschuldig betätigte er trotzdem die Klingel.

«Hallo? Hier ist DS Ridgway von der Metropolitan Police. Würden Sie bitte das Tor öffnen?»

Nichts. Keine Antwort, kein Knistern oder Rauschen. Ridgway seufzte, zog den Mantelkragen um den Hals zusammen und trat ein paar Schritte zurück. Die Mauer um das Grundstück war von kunstvollen schwarzen Metallschnörkeln gekrönt, die hübsch aussahen, aber so konstruiert waren, dass man sich daran verletzte, wenn man versuchte, hinüberzuklettern. Das Tor war niedriger und nicht mit solchen Schutzvorkehrungen versehen – die beiden Überwachungskameras links und rechts davon genügten als Sicherheitsmaßnahme. Ridgway winkte ihnen zu und war sich ziemlich sicher, dass niemand da war, der zurückwinken konnte.

Sehnsüchtig blickte er zurück zum Auto und fragte sich, ob er einfach wieder fahren sollte. Dann stellte er sich widerwillig die Frage, von der er gewusst hatte, dass er irgendwann mit ihr konfrontiert würde.

Was würde Robert Kett tun?

Eigentlich hatte Bingo ihm sogar befohlen, sich genau diese Frage niemals zu stellen, denn die Antwort war normalerweise etwas Absurdes, Impulsives und wahrscheinlich Gesetzwidriges.

Aber zugleich meistens etwas, womit der Fall aufgeklärt wurde.

«Was würdest du tun, Robbie?», fragte er. «Was würdest du tun, um deine Frau zu finden?»

Alles, lautete die Antwort. Absolut alles.

Bishop 73 war nicht viel. Der Informant, der diese Angaben gemacht hatte – ein Mann, der so unglaubwürdig wie nur etwas war –, hatte ihm nicht gesagt, woher er sie hatte oder was sie bedeutete. Bishop 73 konnte ein Name sein. Es konnte eine Altersangabe sein. Da bishop im Englischen der Läufer war, konnte es auch einen Schachzug benennen. Es konnte alles Mögliche bedeuten, oder gar nichts.

Oder es konnte eine Adresse sein. Diese Adresse.

Was würde Robert Kett tun?

Ridgway atmete tief durch, dann rannte er zum Tor und sprang so hoch, dass er mit den Händen den oberen Rand packen und einen Fuß auf die Querstrebe stellen konnte. Das Holz war so nass, dass er mit dem Schuh beinahe wieder abgerutscht wäre, und er schrie leise auf, während er nach Halt tastete. Dann stellte er den anderen Fuß ebenfalls auf die Strebe, stieß sich ab und schwang ein Bein übers Tor. Sein Abstieg auf der anderen Seite war nicht gerade elegant, aber mit einigen schnellen Ausweichschritten entging er einem Bad in der gewaltigen Pfütze, die sich dort gebildet hatte. Er hüpfte in Sicherheit und strich die Aufschläge seines Sakkos glatt, um sich wieder zu fassen.

Falls doch jemand im Haus war, der ihn beobachtete, würde derjenige sich jetzt vor Lachen bepinkeln.

Es spielte keine Rolle. Sein Dienst war fast zu Ende. Wenn er hier fertig war, hatte er Feierabend, was nur gut war, denn er war bereits spät dran. Er würde sich nur rasch umsehen, dann konnte er nach Hause fahren, sich aus dem durchnässten Anzug schälen und mit seiner Frau zu Abend essen – die ihm wegen seiner späten Heimkehr Vorhaltungen machen und ihn dann trotzdem abküssen würde. Sein neunjähriger Sohn Cal, eine echte Nervensäge, würde selbstverständlich auch da sein, aber man konnte nicht alles haben.

Ridgway lächelte und tadelte sich im Stillen dafür, dass er es Cal so schwer machte. Natürlich liebte er den Jungen über alles. Und ihn jeden Abend am Wohnzimmerfenster auf ihn warten zu sehen, wenn er mit dem Wagen in die Einfahrt fuhr, war der Höhepunkt seines Tages.

Ich komme etwas später, sagte er den beiden, schleuderte es quer durch die Stadt in der Hoffnung, dass er irgendwie telepathische Fähigkeiten erworben hätte. Aber ich komme.

Er platschte durch die gewaltige, in einem kunstvollen Muster mit Klinkersteinen gepflasterte Einfahrt zu einer Haustür, die sich auch im Buckingham Palace heimisch gefühlt hätte. An der Klingelanlage brannte kein Lämpchen, daher klopfte er so fest an, dass er den Schmerz in seinen Knöcheln spürte, obwohl seine Hände vor Kälte ganz taub waren.

«Polizei», rief er. «Machen Sie auf!»

Das Haus hielt den Mund, doch seine dunklen Augen schienen ihn wütend anzufunkeln. Er klopfte erneut und wartete einen Augenblick, dann trat er zurück. Es war kein Haus, wie man es mit dem Namen Pig Man, Schweinemann, in Verbindung bringen würde. Falls der Mann, der Billie entführt hatte, überhaupt so hieß. Robbie hatte diese Information den letzten Worten eines pathologischen Lügners, Entführers und Mörders namens Raymond Figg entnommen – nicht unbedingt die vertrauenswürdigste Quelle.

Doch Ridgway hatte sonst nichts. Niemand hatte etwas. Falls es den Pig Man überhaupt gab, schien nur eine einzige Person etwas über ihn zu wissen, und diese Person hatte nur einen Namen und eine Zahl preisgegeben.

Bishop 73.

Ridgway strich sich das vorzeitig ergrauende Haar nach hinten, doch der Regen spülte es ihm sofort wieder in die Augen. Er ging zum nächstgelegenen Fenster und sah hindurch in einen völlig kahlen Raum. Durch das Fenster daneben bot sich der gleiche Anblick, nur schien sich dort innen an der Fensterscheibe Efeu emporzuranken. Das Haus stand leer, was Ridgway nicht überraschte – die Hälfte der Anwesen an dieser Straße, deren Wert jeweils im zweistelligen Millionenbereich lag, waren als Investitionen gekauft und dem Verfall überlassen worden.

Erst als er ums Haus herumging und dahinter einen erstaunlich kleinen Garten vorfand, der neben den ihn säumenden hohen Bäumen noch kleiner wirkte, fand er einen Zugang ins Haus. Und er war auch nicht der Erste, der ihn benutzte. Die doppelflügelige Terrassentür war aufgebrochen worden – überall auf dem mit Sandsteinplatten gepflasterten Terrassenboden lagen Glasscherben. Schmutzige Samtvorhänge blähten sich in einem Wind, den Ridgway vorn an der Straße gar nicht bemerkt hatte.

«Hallo?», rief er. «Ist jemand da? Hier ist die Polizei.»

Immer noch nichts, aber es war eine gruselige Art von nichts. Es fühlte sich zu sehr nachnichts an. Fast sah er Kett neben sich stehen wie immer damals, als sie Partner gewesen waren. Und fast hörte er ihn sagen:

Dieses Haus ist nicht verlassen.

«Polizei», rief Ridgway ein weiteres Mal, so kleinlaut wie noch nie.

Er tat einen Schritt in Richtung Terrassentür, und unter seinen Schuhen knirschte das Glas. Da erst wurde ihm etwas klar: Die Scherben lagen vor dem Haus. Jemand war ausgebrochen. Der Vorhang blähte sich und schnappte nach ihm wie ein Wachhund. Er schob ihn beiseite und trat ein.

Das Erste, was ihm auffiel, war die Dunkelheit. Es war viel dunkler, als es ohne Fensterläden oder Jalousien eigentlich sein dürfte, selbst bei Regen und bedecktem Himmel. Er begriff es nicht, – es kam ihm so vor, als hätte etwas das Licht aus dem Raum gesaugt. Er zog sein Telefon hervor und schaltete die Taschenlampe ein, doch gegen diese Dunkelheit richtete sie nicht viel aus.

«Hallo?», rief er. «Hier ist die Polizei. Falls jemand da ist, zeigen Sie sich!»

Ein Ächzen lief durchs Haus, als wollte es ihm antworten. Um ein Haar hätte Ridgway aufgeschrien, und er musste sich die Hand auf den Mund schlagen, damit der Schrei ihm nicht entfuhr. Er stöhnte, dann hörte er das Geräusch noch einmal.

Bloß der Wind, du Schwachkopf! Der Scheißwind. Wie alt bist du eigentlich? Neun?

Wobei das wirklich nicht fair war, denn Cal war neun, und sein Sohn hätte keine Angst gehabt. Er wäre durch dieses Haus gerannt wie durch die Spielecke eines Möbelhauses.

Fast hätte Ridgway noch einmal gerufen, doch dann ließ er es bleiben. Wenn jemand mit ihm hätte sprechen wollen, hätte derjenige ihm längst geantwortet. Das bedeutete wahrscheinlich, dass hier niemand war. Das Haus stand schließlich eindeutig leer – im Inneren regnete es fast so stark wie draußen, und die teuren Eichendielen hatten sich längst verzogen. Der Efeu im anderen Raum war nicht allein – die Wände waren schimmelig, und von den freiliegenden Deckenbalken hing etwas herab, das wie Farn aussah. Es war so unwirklich, als wäre die Welt untergegangen, und Ridgway hätte es jetzt erst bemerkt.

Er war schon halb durch den Raum, als ihm noch etwas auffiel: der Geruch. Klar, da war der modrige Gestank eines sich selbst überlassenen Hauses. Aber Ridgway nahm noch etwas wahr, etwas Süßlicheres. Als er den Kopf in den breiten Flur streckte, erkannte er, worum es sich handelte. Räucherstäbchen. Seine Frau verwendete sie im Bad, obwohl er sie anflehte, es nicht zu tun, weil der Geruch sich in seiner Kleidung festsetzte und die Drogensuchhunde durchdrehen ließ, sobald er in ihre Nähe kam. Er räusperte sich.

«Hallo? Polizei.»

Vom Flur gingen vier Türen ab, allesamt geschlossen bis auf die, durch die er soeben gekommen war. Die Dunkelheit wurde mit jedem Schritt tiefer und dichter, als verschluckte sie ihn, beförderte ihn mit peristaltischen Bewegungen durch ihre Speiseröhre. Die Taschenlampe seines Telefons gab ihr Bestes, wirkte aber ebenso eingeschüchtert wie er selbst. Ihr Licht schien förmlich zu schrumpfen.

Ich überprüfe nur ein paar Zimmer, sagte er sich und nickte. Bloß um sicherzugehen.

Das erste Zimmer war gar kein Zimmer, sondern ein Schrank – bis auf ein paar Rattenkötel völlig leer. Die nächste Tür führte in einen kleinen Hauswirtschaftsraum, und hier runzelte Ridgway die Stirn, denn an einer Wand stand eine Waschmaschine, eine neue, teure, leise.

Und sie lief gerade.

Das waren sicher Hausbesetzer. Die Straße musste voll von ihnen sein, denn wer würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, in solchen Häusern zu wohnen, selbst wenn sie verfielen? In der Regel waren Hausbesetzer harmlos, aber nicht immer. Er drehte das Telefon, um Bingos Nummer zu wählen, und blendete sich dabei versehentlich selbst. Der Chef nahm wie immer nach dem zweiten Klingeln ab.

«Detective Sergeant», sagte er mit seinem unverwechselbaren Bariton. «Hab Ihre Nachricht bekommen. Ist das mein Update?»

«Das Haus ist verlassen, aber nicht vollständig», erwiderte Ridgway und blinzelte, während er zur nächsten Tür ging, weil er noch immer bunte Muster sah. «Es gibt Strom, und es muss jemand hier sein. Eine Waschmaschine läuft. Hausbesetzer, denke ich.»

Bingo seufzte und schwieg einen Moment.

«Ich schicke Ihnen ein Team», sagte er schließlich. «Bloß, um auf der sicheren Seite zu sein.»

Ridgway öffnete den Mund, um zu widersprechen, dann schloss er ihn wieder. Dieses Haus hatte etwas an sich, das ihm Angst machte – eine Heidenangst –, und da würde er ein bisschen Gesellschaft nicht zurückweisen.

«Mein Rat: raus da, bis sie bei Ihnen sind. Irgendwelche Anzeichen für illegale Aktivitäten?»

«Außer der Hausbesetzung?», fragte Ridgway.

«Sie wissen schon, richtig illegal. Irgendeine Spur von Billie Kett? Oder dem Pig Man? Hat Ihr Hinweis etwas ergeben?»

Der Superintendent klang nervös, und Ridgway konnte sich nicht vorstellen, warum. Er drehte den Knauf der letzten Tür und schob sie auf. Dunkelheit schien an ihm vorbeizuhuschen wie eine Rattensippe, und eine neue Welle dieses scheußlichen modrigen Gestanks nach Verfall schlug ihm entgegen. An den Fenstern hier mussten Vorhänge sein, oder sie waren zugenagelt, denn es fiel kaum ein schmaler Lichtstreifen herein. Es war völlig still, sogar der Regen draußen schien weit, weit weg zu sein. Ridgway hatte das Gefühl, in einem Kokon zu stecken oder wie eine Mumie in Stoffbahnen gehüllt zu sein, und bei dieser Vorstellung hätte er am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre geflüchtet.

Das tat er natürlich nicht. Er war Polizist. Das wäre unter seiner Würde.

«Adam?», fragte Bingo am Telefon, und wieder hätte Ridgway vor Schreck beinahe aufgeschrien.

«Einen Moment, Sir», erwiderte er, und man hörte seiner Stimme an, wie wild sein Herz pochte. «Ich bin jetzt auf dem Weg hinaus. Ich wollte nur nachsehen …»

Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in die Dunkelheit und trat einen Schritt vor. Die Dielen knarrten, dann spürte er, wie der Boden unerwartet vor ihm abfiel. Er nahm das Telefon vom Ohr und richtete den Lichtstrahl auf etwas, das einmal eine riesige Küche gewesen sein musste, jetzt aber eher wie ein Kriegsschauplatz wirkte. Beinahe der gesamte Boden fehlte, ein Krater aus undurchdringlicher Finsternis klaffte von Wand zu Wand.

Er hielt sich am Türrahmen fest und beugte sich so weit vor, wie er es wagte. Hinter ihm ging die Waschmaschine in den Schleudergang.

«Hallo?», fragte er.

Er richtete den Lichtstrahl in den Krater.

«O Gott», stöhnte er. Die Worte fielen ihm wie Klumpen aus dem Mund. «Ach du Scheiße!»

Er hörte Bingo seinen Namen rufen, konnte sich aber nicht dazu überwinden, das Telefon zu heben. Er wollte nicht sehen, was er da sah, und konnte doch den Blick nicht davon losreißen.

Er konnte es einfach nicht.

Der zitternde Strahl seiner Taschenlampe beleuchtete einen Keller: Dielenboden, teurer Teppich, kunstvoll gestaltete grüne Tapete. Auf einem Couchtisch aus Walnussholz standen Räucherstäbchen, und hinter den davon aufsteigenden Rauchfähnchen hingen surreale Fleischskulpturen an den Wänden. Der Raum hatte etwas leicht Unwirkliches, zumal hier in diesem halb verfallenen Haus. Er war zu perfekt, wie ein Diorama – oder ein Puppenhaus.

Die Puppen waren auch da.

Auf dem Teppich in der Mitte des Zimmers lagen drei Frauen so dicht nebeneinander, dass ihre Ellbogen sich berührten. Sie trugen elegante rote Kleider und, wie es aussah, billige Tiermasken für Kinder, die ihre Gesichter verbargen: ein Löwe, eine Giraffe und ein Affe. Ihre Beine waren ausgestreckt, die Hände über dem Herzen gefaltet – wie bei Leichen im Sarg.

Aber sie waren nicht tot. Jedenfalls nicht alle.

Denn die Frau in der Mitte sah Ridgway durch die Sehschlitze in ihrer Giraffenmaske an, und obwohl die Öffnungen nur klein waren, konnte er ihren Blick mühelos deuten.

Sie war völlig verängstigt.

«Halten Sie durch!», rief Ridgway ihr zu. «Scheiße, halten Sie bitte durch!»

Er hob das Telefon ans Ohr, und Dunkelheit strömte zurück in den Keller wie eine Tintenflut.

«Schicken Sie sofort sämtliche verfügbaren Einsatzkräfte her, wir haben drei Frauen im Keller, ich glaube, sie sind gefesselt. Tiermasken. 73 Bishops Avenue. Ich bin …»

Unvermittelt drang das Heulen der Waschmaschine hinter ihm in sein Bewusstsein, und da war noch etwas – vielleicht ein Geräusch, vielleicht auch nur ein Instinkt, bei dem sich seine Nackenhaare aufrichteten. Er drehte sich um, und der Strahl der Taschenlampe fiel auf einen Mann, der mitten im Flur stand. Er schien nur mit einer Schlafanzughose bekleidet zu sein, sein korpulenter Oberkörper war nackt und von einem Schweißfilm überzogen. Sein Brusthaar war gelockt und sein Gesicht hinter einer Maske verborgen.

Hinter einer Schweinemaske.

«Scheiße, Scheiße, Scheiße!», sagte Ridgway, und alle Körperwärme sickerte aus ihm heraus. «Er ist es!»

«Hauen Sie da ab!», befahl Bingo. «Rennen Sie, Adam!»

Rennen wohin? Hinter ihm gähnte das Loch im Küchenboden, und vor ihm hob der Pig Man die Arme und stieß ein groteskes Quieken aus. In seiner Hand blitzte etwas auf, etwas Scharfes, aber Ridgway blieb keine Zeit, um genauer hinzusehen, denn schon donnerten die nackten Füße des Mannes über den Boden auf ihn zu, und dabei schwankte sein ganzer Körper von einer Seite zur anderen.

«Halt …» Weiter kam Ridgway nicht. Der Pig Man raste in ihn hinein, und der Tod glitt ihm in einem Stoß kalter Hitze zwischen die Rippen.

Da war kein Schmerz. Offen gesagt war da überhaupt kaum etwas. Ridgway spürte, dass er nach hinten fiel und in die Tiefe stürzte, immer weiter – viel zu tief für einen Keller, sein Sturz schien ins Bodenlose zu gehen, bis direkt in die Hölle. Unvermittelt fing der Boden ihn auf, und zwar alles andere als sanft. Er versuchte zu atmen, doch sein Körper hatte vergessen, wie das ging. Er schien überhaupt alles vergessen zu haben. Die Taschenlampe war dicht neben ihm gelandet, ihr Licht fiel auf ein Schweinegesicht, das über ihm hing und ihn beobachtete.

Ridgways Kopf rollte zur Seite, und da sah er, dass die drei Frauen jetzt standen und geordnet hintereinander aus dem Raum gingen. Die Erste öffnete die Tür und verschwand in der Dunkelheit. Die Zweite blieb stehen, um die Dritte vorbeizulassen, und als sie sich umdrehte, sah er Tränen in ihren Augen.

Ich kenne diese Augen, dachte er. Da bin ich mir sicher.

Sie sah ihn noch einen Moment an, dann ertönte oben ein Schnauben, und auch sie verschwand im Dunkeln.

«Adam?», schallte ein Stimmchen aus dem Telefon, das immer leiser wurde. «Adam?»

Ridgway schloss die Augen und sah seine Frau am Tisch und seinen Jungen am Wohnzimmerfenster sitzen und auf ihn warten.

Ich komme etwas später, sagte er ihnen. Es tut mir leid.

Stille. Sein letzter Rest Bewusstsein schwand.

Ich komme etwas später.

KAPITEL EINS

Mittwoch

Sie wissen, was Ihrer Frau zugestoßen ist.

DCI Robert Kett fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten, oder vielmehr, als hätte ihn eine Abrissbirne in den Solarplexus getroffen. Er beugte sich übers Waschbecken im Gäste-WC unter der Treppe und schnappte nach Luft, aber die schien überhaupt keinen Sauerstoff zu enthalten. Ihm verschwamm alles vor Augen, sein Abbild im staubigen Spiegel war so unscharf, dass es geisterhaft wirkte – als spukte er in seinem eigenen Haus.

Atme, befahl er sich. Er schnappte ein weiteres Mal verzweifelt nach Luft und umklammerte den Rand des Waschbeckens so fest, dass er fürchtete, es könnte zerbrechen – oder aber seine Finger. Atme, Robbie. Atme.

Er atmete ein, langsamer diesmal. Dann drehte er den Wasserhahn auf und ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Nachdem er sich auch etwas Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, war wieder Sauerstoff im Raum, und die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen.

Sie wissen, was Ihrer Frau zugestoßen ist.

Jemand klopfte sanft an die Tür und räusperte sich.

«Robbie?», ließ sich Superintendent Colin Clares schroffe Stimme vernehmen. «Alles in Ordnung?»

«Nein!», ertönte draußen ein empörter Schrei anstelle von Ketts Antwort: Moira. Gleich darauf schlugen kleine Hände gegen die Tür. «Pätchen!»

Kett drehte den Wasserhahn zu und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sein Abbild war nicht mehr verschwommen, aber er sah noch immer wie ein Gespenst aus. Er war kreidebleich, die Erschöpfung ließ ihn zehn Jahre älter als seine zweiundvierzig Jahre aussehen. An seinem letzten Fall wäre er beinahe zerbrochen, körperlich wie emotional. Seine Haut war ein Teppich aus hässlichen Hämatomen, so als hätte man die Kinder mit Pinseln und Wasserfarben auf ihn losgelassen, und er fühlte sich, als würde er nur von Nähten und Verbänden zusammengehalten und könnte bei der ersten falschen Bewegung auseinanderbrechen. Alles schmerzte – sein Kopf, seine Arme, sein Magen. Alles.

Doch nichts schmerzte so sehr wie sein Herz.

Sie wissen, was Ihrer Frau zugestoßen ist.

Es lag jetzt fünf Monate zurück – ein Herzschlag, ein ganzes Leben –, dass Billie auf einer Londoner Straße von zwei Männern mit Tiermasken entführt worden war. Er hatte sich das grobkörnige Video mit den Überwachungsbildern tausendmal angesehen, er kannte es auswendig: Nach einem Treffen mit einer Freundin lief seine Frau mit Moira im Buggy Richtung Gospel Oak. Dann ein neutraler weißer Transporter, zwei Männer mit Kindertiermasken, quietschende Reifen, als der Wagen davonraste. Nach drei Sekunden war alles vorbei, keine Billie mehr, nur Moira, die mit gespenstischem Gesicht schrie und schrie und schrie. Kett hatte auf der Suche nach Billie die ganze Stadt auseinandergenommen, aber sie blieb verschwunden. Keine Anhaltspunkte. Keine Verdächtigen. Keine Ahnung, ob sie überhaupt noch lebte.

Bis jetzt.

«Robbie?», fragte Clare erneut. «Brauchen Sie irgendwas?»

«Pätchen!», brüllte Moira.

Kett atmete tief durch, dann öffnete er die Tür – behutsam, um seine Tochter nicht umzustoßen. Clare wich zurück. In diesem engen Flur wirkte er absurd groß. Seine sonst säuerliche Miene war ausnahmsweise weich und sein Blick beinahe väterlich besorgt. Von seinem Telefonat mit Bingo vor wenigen Minuten hielt er noch das Telefon in seiner riesigen Hand. Kett schien es stundenlang her zu sein. Tagelang.

Denn alles hatte sich geändert.

«Arm!», sagte Moira und streckte ihm die pummeligen Fingerchen entgegen. Kett bückte sich und hob sie stöhnend hoch.

«Hey, meine Schöne», sagte er und schloss die WC-Tür. «Entschuldige. Ich hole dir ein Plätzchen.»

Er ging in die Küche, wo Alice am Tisch saß. Vor ihr war das iPad aufgestellt, und ein YouTube-Video plärrte. Sie sah nur kurz zu ihm, ohne etwas zu ahnen, dann zuckte ihr Blick zurück zum Display.

«Ich hab Hunger», verkündete sie.

«Ja, ja, Plätzchen für alle», erwiderte Kett, setzte Moira auf einem Stuhl ab und öffnete den Küchenschrank. Dort fand er eine halb volle Packung Oreos und schüttelte einen heraus, bevor er die Packung seiner ältesten Tochter reichte. «Heb auch ein paar für Evie auf.»

Er reichte Moira den Keks, dann sah er Clare an, der ihm in die Küche gefolgt war.

«Können Sie kurz auf sie aufpassen?», fragte er.

«Natürlich», sagte Clare. Dann hob er die Hände. «Aber bevor Sie irgendetwas tun, nehmen Sie sich einen Moment Zeit. Bingo hat mich angerufen, weil er nicht wollte, dass Sie Dummheiten machen.»

Wortlos drängte sich Kett an ihm vorbei und ging zur Haustür. In diesem Augenblick trampelte Evie die Treppe herab. Die Dreijährige musste hellseherische Fähigkeiten haben, denn sie rannte in die Küche und kreischte dabei so laut, dass eigentlich die Fenster zerspringen müssten: «Plätzchen!». Detective Inspector Pete Porter folgte ihr. Er sah aus, als hätte er gerade ein schweres Trauma erlitten.

«Das war das größte Aa, das ich je gesehen habe», sagte er. «Wie kann jemand so Kleines etwas so …»

«Ach, hören Sie doch auf», fuhr Police Constable Kate Savage ihm über den Mund. Sie erschien hinter ihm. «Sie mussten doch gar nichts tun. Ach, Robbie, die Hündin liegt auf Ihrem Bett, ist das okay? Ich habe sie eingesperrt, damit sie Alice keine Angst macht.»

Kett ignorierte sie alle und trat hinaus in die warme Abendluft. Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss, der Lärm blieb im Haus zurück. Dann stand er einen Augenblick da, ließ einen Teil seiner Besorgnis aus sich heraussickern und nahm einfach die Stille in sich auf.

Irgendwie ahnte er, dass es sehr lange nicht mehr so still sein würde.

Er zog sein Telefon aus der Tasche, dankbar dafür, dass die Spurensicherung es in Pollyanna Crafts Haus wiedergefunden hatte. Seither hatte er es ein Dutzend Mal gereinigt, aber es roch noch immer nach Verwesung, Fäulnis, Tod. Er wählte Bingos Nummer und beobachtete eine Amsel, die vom Dach seines Autos aufflog und zwitschernd in einem Gebüsch im Nachbarsgarten landete. Er schloss die Augen und sah Billies Gesicht vor sich – mittlerweile nicht mehr so deutlich wie früher, nicht mehr so klar.

Es klickte, und Bingo seufzte so theatralisch, dass es klang, als jagte ein Hurrikan durch die Telefonleitung.

«Robbie», sagte er. «Mein lieber Junge. Ich habe nicht so schnell mit Ihnen gerechnet.»

«Clare war bei mir, als Sie ihn angerufen haben. Sagen Sie mir, was Sie wissen.»

Kett vernahm einen doppelten dumpfen Aufprall: Bingo hatte seinen Stuhl nach hinten gekippt und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Dann strich er sich über den Schnurrbart. Kett konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, ihn anzuschreien, er solle voranmachen.

«Ihnen ist doch klar, warum ich zuerst ihn angerufen habe», sagte Bingo. «Ich kann nicht zulassen, dass Sie einfach mitten in einen Tatort hineinplatzen, jedenfalls nicht in diesen Tatort. Offen gesagt, will ich Sie nicht mal in der Nähe haben.»

«Sagen Sie es mir einfach, Bingo», sagte Kett. «Wo ist sie?»

«Wir haben Billie nicht gefunden. Es tut mir leid, Robbie. Das will ich von Anfang an klarstellen. Wir wissen nicht, wo sie ist, wir wissen nicht, ob sie noch lebt. Aber wir glauben, wir haben den Ort gefunden, an dem sie gefangen gehalten wurde.»

«Adam, oder? Eine seiner Spuren hat etwas ergeben.»

Ein weiterer Seufzer.

«Ich habe eine traurige Neuigkeit. DS Ridgway wurde am Tatort angegriffen. Er …»

Kett richtete sich auf. Mit einem Mal herrschte auf der Straße arktische Kälte.

«Er hat es nicht geschafft, Robbie. Er wurde erstochen.»

«Er war da allein?» Kies knirschte unter Ketts Füßen, als er zu der niedrigen Vorgartenmauer ging. Er musste eine Hand auf die kalten Ziegel legen, um sich aufrechtzuhalten.

«Es war eine Eingebung», sagte Bingo, und seine Betroffenheit schwang in jedem Wort mit. «Er hatte gar nicht damit gerechnet, dass es zu irgendetwas führen würde. Einer seiner Informanten hatte ihm eine Info gegeben. Bishop 73. Das war alles. Hätte ein Name sein können, ein Code, eine Bibelstelle. Adam meinte, es sei eine Adresse, und er hatte recht. Bishops Avenue.»

Kett fluchte leise.

«Woher wissen Sie, dass es der richtige Ort war?», fragte er. «Woher wissen Sie, dass es etwas mit Billie zu tun hat?»

«Weil ich ihn gerade am Telefon hatte, als er …» Bingo brach ab, und gab ein Geräusch von sich, als schluckte er einen ganzen Burger herunter. «Kurz bevor er angegriffen wurde, sagte er, es seien drei Frauen dort, alle trügen Masken und seien gefesselt.»

Es war zu viel. In seinem Kopf wurde es blendend hell, als ob mitten in seinem Schädel eine Supernova explodiert wäre. Zugleich war ihm eiskalt, und er zitterte heftig, konnte das Telefon kaum festhalten. Er drückte es so fest ans Ohr, dass es wehtat. Ganz allmählich wich die Panik, und er hörte Bingos Stimme wieder.

«Ob sie noch lebten, hat er nicht gesagt, aber als sieben Minuten später eine bewaffnete Einheit eintraf, war niemand mehr da. Das Haus war verlassen. Das ist nicht viel Zeit, um drei Leichen wegzuschaffen.»

«Es sei denn, sie wären gar nicht tot, sondern auf eigenen Füßen weggegangen», sagte Kett, und seine Stimme tönte gruselig hohl durch seinen Schädel.

«Es sei denn, sie wären auf eigenen Füßen weggegangen», bestätigte Bingo.

«Wann genau war das?», fragte Kett.

«Heute. Vor etwas mehr als einer Stunde. Wir sichern noch Spuren, aber es ist ein ganzes Team im Haus, und sie werden die ganze Nacht dort sein.»

«Ich muss da hin», sagte Kett.

«Geben Sie uns ein bisschen Zeit, Robbie. Das ist …»

«Ich muss da hin.» Jedes Wort war ein separates aggressives Knurren.

«Okay», sagte Bingo resigniert. «Dann kommen Sie her. Aber Robbie, das muss offiziell sein. Sie können nicht in diesen Fall platzen und anfangen, Löcher in die Stadt zu boxen wie letztes Mal. Hören Sie mich? Keine gebrochenen Regeln und keine gebrochenen Nasen. Sie müssen uns unsere Arbeit machen lassen, und Sie müssen Sie uns vorschriftsmäßig machen lassen.»

Eine Böe fegte durch die Straße, zupfte Blätter von den Bäumen und ließ sie tanzen. Die Amsel flog davon, stumm diesmal, als spürte sie, dass ein Unwetter aufzog.

«Was ist dort mit ihnen passiert?», fragte Kett. «In diesem Haus?»

«Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich fahre morgen hin, um es mir anzusehen. Kingsley ist schon da, sie übernimmt, jetzt, wo Adam … wo er nicht mehr da ist.»

Kett war so um Billie besorgt gewesen, dass die Neuigkeit über Ridgways Tod erst allmählich zu ihm durchdrang. Sie waren nicht lange Partner gewesen, aber er war ein guter Mann gewesen und ein guter Polizist. Unvermittelt empfand er den Verlust wie einen körperlichen Schmerz, so als wäre er derjenige, der den Messerstich erlitten hätte.

«Scheiße. Adam. Weiß Zara Bescheid? Was ist mit Cal? Er ist erst neun, Bingo.»

«Ich fahre jetzt gleich hin», sagte Bingo. «Besser, sie erfahren es von mir.»

«Scheiße», sagte Kett nochmals.

Das ist meine Schuld, wollte er sagen. Ohne mich wäre er niemals dort gewesen.

Aber das stimmte nicht. Nichts davon war Ketts Schuld. Das war alles er.

Der Pig Man.

«War es unser Mann?», fragte Kett und hockte sich auf die Mauer. «Wer ist er?»

«Wir wissen es nicht. Wir warten auf die Kriminaltechnik. Aber es sieht so aus, ja. Die Spurensicherung hat Masken wie die auf den Überwachungsbildern gefunden. Ich bin mir fast sicher, dass es der Pig Man ist, wer auch immer er sein mag.»

Diesmal war da keine Traurigkeit, keine Panik, nur Zorn. Er brannte lichterloh in Kett und überwältigte ihn beinahe.

«Das bedeutet nicht, dass wir ihn finden», sagte Bingo. «Womöglich ändert es gar nichts, und ich möchte, dass Sie das in Betracht ziehen, bevor Sie eine Entscheidung treffen. Ihre Anwesenheit hier wäre nicht hilfreich.»

«Wir sehen uns morgen in diesem Haus», sagte Kett. Bingo setzte an zu widersprechen, doch Kett beendete das Telefonat, öffnete Google Maps und gab ein: 73 Bishops Avenue, London.

Da war es, ein großer weißer Wal von einem Haus, hinter hohen Mauern und Bäumen gestrandet. Ein Herrenhaus, eine Festung.

Ein Gefängnis.

War Billie dort festgehalten worden? Hatten die maskierten Männer sie in dieses Haus gebracht, nachdem sie sie gepackt und in den Transporter gezerrt hatten? War sie noch heute dort gewesen, bis vor wenigen Stunden? Weitere Fragen folgten, befrachtet mit Schuldgefühlen. Warum hatte er dieses Haus nicht auf dem Radar gehabt? Und warum war er nicht derjenige gewesen, der es durchsuchte, anstatt Adam?

Er hörte es am Wohnzimmerfenster klopfen und entdeckte Evie, die mit weit geblähten Wangen gegen die Scheibe prustete. Von Moira sah er nur den Kopf, aber er hörte die Schreie der Kleinen, während sie versuchte, neben ihrer Schwester auf die Fensterbank zu klettern. Er winkte ihnen zu, aber wie man lächelte, schien er vergessen zu haben.

Kett warf einen letzten Blick auf das Haus an der Bishops Avenue, dann steckte er das Telefon weg und ging wieder hinein. Zu seiner Überraschung warteten alle im kleinen Wohnzimmer auf ihn – Clare stand am Kamin, Savage saß mit Alice auf dem Sofa, Pete hockte auf der Fensterbank und half Moira hinaufzuklettern.

«Addy!», rief seine Jüngste lachend und schlug gegen die Scheibe. «Da! Fenta!»

Sonst sprach niemand. Es war nicht nötig. Sie musterten ihn lediglich und ahnten, was er gleich sagen würde.

«Ich muss nach London», sagte er leise. «Ich muss da hin.»

Clare nickte und kratzte sich an einem haarigen Ohr.

«Ich kapier’s, Robbie. Wirklich. Aber Sie sind nicht in der Verfassung für einen neuen Fall. Der letzte hat buchstäblich einen hohen Blutzoll von Ihnen gefordert.»

«Mir bleibt keine andere Wahl.» Unwillkürlich betastete er die Verbände an seinem Arm und spürte die Schmerzen dort.

Und das war die Wahrheit, oder? Ihm blieb keine andere Wahl. Er sah Alice an, die die Stirn runzelte. Sie schien direkt in seinen Gedanken zu lesen.

«Mum?»

Nein, ihm blieb keine andere Wahl.

«Ich stehe dir bei», sagte Porter.

«Ich auch», fügte Savage hinzu.

Clare stieß ein freudloses Lachen aus.

«So nobel Ihre Absichten auch sein mögen», sagte der Super, und seine finstere Miene kehrte zurück, «ich gebe Ihnen auf keinen Fall die Erlaubnis, in London herumzuscharwenzeln, egal, wieso. Porter, Sie arbeiten am Fall Carnegie.»

Porter stöhnte wie ein Schuljunge.

«Und Savage, Sie haben Dienst, und Sie müssen sich auf Ihre Prüfungen vorbereiten. Tut mir leid, Kett, aber Sie sind auf sich allein gestellt.»

Das spielte keine Rolle. Er würde es zu Ende bringen, so oder so.

«Fahren wir nach London?», fragte Alice.

«London?», echote Evie, und ihre großen blauen Augen blickten verunsichert. «Nach Hause? Ich mag es hier.»

«Es ist nicht für immer», erklärte Kett. «Nur für ein paar Tage. Ist das okay?»

Keines der Mädchen antwortete, und er konnte es ihnen nicht verdenken. Erst vor wenigen Wochen hatte er sie aus ihrem alten Zuhause, ihrem alten Leben gerissen und nach Norwich geschleift. Und jetzt, wo sie sich allmählich eingewöhnten, stellte er ihnen wieder Schrecken und Kummer in Aussicht. Aber was sonst konnte er tun? Er kannte hier niemanden, der sich um sie kümmern könnte.

«Ich rufe Hiro an», sagte er. «Mal sehen, ob er Zeit hat.»

Daraufhin brachen Alice und Evie in Jubel aus. Evie sprang von der Fensterbank, rannte zu ihrer älteren Schwester und warf zur Feier des Tages die Arme um sie. Moira wollte ihr hinterher, und Porter wäre beinahe nicht schnell genug gewesen, um sie aufzufangen. Er stellte sie auf den Boden, und sie watschelte zum Sofa, um mitzujubeln.

«Sind Sie sicher, dass das der richtige Schritt ist?», fragte Savage.

Kett nickte. Die Mädchen waren seine Familie, aber seit fünf Monaten war diese Familie unvollständig. Er musste das beheben. Er musste einen Weg finden, diese Wunde zu heilen.

«Ja. Ich habe versprochen, sie zu finden. Ich habe versprochen, sie nach Hause zu holen. Ich habe gesagt, ich gehe dafür auch durch die Hölle, wenn es sein muss, Kate.»

Er dachte an das Haus auf der Bishops Avenue. Er dachte an die Masken. Er dachte an Adam, seinen alten Freund, und an das Arschloch, das ihn umgebracht hatte – den Pig Man.

Ich habe gesagt, ich gehe dafür auch durch die Hölle.

Irgendwie ahnte er, dass er genau das tun würde.

KAPITEL ZWEI

Donnerstag

Es war, als versänke man in einem längst vergessenen Traum, wo nichts ganz real, sondern alles gedämpft und sirupzäh war – und wo die Aussicht auf einen Albtraum dicht unter der Oberfläche lauerte.

Kett lenkte den betagten Volvo in seine alte Straße, eine Sackgasse, und war unvermittelt geblendet von dem gleißenden Sonnenlicht, das über die Dächer fiel. Er klappte die Sonnenblende herunter und blinzelte, weil er lauter Pünktchen vor Augen hatte, dann rollte er in die gekieste Einfahrt ihrer Doppelhaushälfte mit den drei Schlafzimmern, die im Schatten der Bögen des Bahndamms lag. Es war eine herrlich ruhige Fahrt gewesen, denn die Kinder waren schon eingedöst, bevor er auf die M11 gefahren war – was unter anderem damit zu tun hatte, dass er sie um fünf Uhr morgens aus dem Bett geholt hatte. Jetzt war es kurz vor acht, und die Straße war erfüllt von Geräuschen, die ihm nicht ganz real erschienen: zuschlagende Haustüren, anspringende Automotoren, lachende Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule.

Am liebsten hätte er die Mädchen bei laufendem Motor im Auto weiterschlafen lassen, aber selbst am helllichten Tag und umgeben von anderen Familien vertraute er nicht darauf, dass es sicher für sie war. Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor erstarb. So leise wie möglich öffnete er die Tür. Sie quietschte wie eine Banshee, aber vom Rücksitz kam kein Mucks. Behutsam schloss er sie wieder, ging über den mit Unkraut überwucherten Kies und zog seine alten Hausschlüssel aus der Tasche.

Die Tür ließ sich nicht auf Anhieb öffnen, das Holz hatte sich verzogen, und das Schloss war schwergängig. Er half mit einem Tritt nach, und da öffnete sich die Tür widerwillig. Ein Schuhhaufen verhinderte, dass sie gegen die Wand prallte. Der Anblick dieser Schuhe – ein Berg aus leuchtend roten Kickers und grellrosa Skechers, polierten Schulschuhen und Billies Gummistiefeln, einer aufrecht, der andere umgefallen – verschlug ihm den Atem. Sie gehörten einer anderen Ära an, einer anderen Familie, und er hatte beinahe das Gefühl, bei jemandem einzubrechen, anstatt in sein eigenes Haus zurückzukehren.

Fast hätte er es nicht über sich gebracht einzutreten und wusste gar nicht, wieso, bis ihm wieder einfiel, dass dieses Haus zuletzt gar kein richtiges Zuhause mehr gewesen war, sondern eher einem Tatort geglichen hatte.

Stöhnend stieg er über den Haufen Post im staubigen Flur hinweg und fragte sich, ob er gleich Billies Stimme hören würde, die ihn willkommen hieß – fragte sich, ob das alles vielleicht irgendeine Halluzination gewesen war, ein Fiebertraum. Doch das Haus war verlassen, das spürte er sofort. Es war, als beträte man einen vor Jahrhunderten aufgegebenen Tempel; die Stille wirkte fast heilig.

Kett sah rasch nach den Mädchen, dann ging er in die geräumige Wohnküche im hinteren Teil des Hauses. Morgenlicht strömte durch die Terrassentür herein und bildete große Lichtpfützen auf den Boden. Der Küchentisch war unter zusammengeklappten Umzugskartons und Paketband begraben. Er hatte nicht einmal daran gedacht, das alles wegzuräumen, nachdem die Umzugsfirma wieder fort gewesen war. Eine Teetasse von Emma Bridgewater stand ungespült neben der Spüle und ließ ihn an das Geisterschiff Mary Celeste denken. An den Tag ihrer Abreise konnte er sich kaum erinnern, denn er hatte ihn verdrängt.

Er hatte ihn verdrängt, weil es der Tag gewesen war, an dem er aufgegeben hatte. An dem er Billie aufgegeben hatte.

«Tut mir leid», sagte er, an die Kücheninsel gerichtet, wo sie jeden Morgen gestanden hatte, das Sonnenlicht wie Flämmchen auf dem honigfarbenen Haar; an die Nudelbilder und Schulzeichnungen gerichtet, die Billie gerahmt und aufgehängt hatte; an den hässlichen Stuhl gerichtet, wo sie gesessen und Moira gefüttert hatte, während im Hintergrund Radio 2 lief. Billie war überall hier, sogar jetzt noch, und so von der Sonne geblendet konnte Kett sie fast sehen, konnte fast sehen, wie sie sich umdrehte und ihn anlächelte.

«Scheiße!», knurrte er und packte die Arbeitsplatte, als die Macht dieser Bilder drohte, sein Innerstes nach außen zu kehren.

Er drehte den Wasserhahn auf, damit das abgestandene Wasser abfloss, dann ging er am gemütlichen Wohnzimmer vorbei, das niemand je wirklich genutzt hatte, zurück zur Haustür. Diesmal hob er die Post vom Boden auf – da er daran gedacht hatte, einen Nachsendeantrag zu stellen, war es nicht allzu viel, hauptsächlich Werbung für Kebab-Lokale und Fitnessstudios – und ließ sie auf den Telefontisch fallen. Er warf einen Blick zum Auto.

«Ach du Scheiße!»

Kett stürmte nach draußen. Alice und Evie tobten hinterm Steuer herum. Evie hatte die Hände auf dem Lenkrad und hüpfte fröhlich gackernd auf dem Sitz auf und ab. Alice neben ihr stampfte gebückt auf den Pedalen herum. Kett riss die Fahrertür auf und wurde von schallendem Gelächter und dem ohrenzerfetzenden Schluchzen der auf dem Rücksitz gefangenen Moira empfangen.

«Dann seid ihr also alle wach, ja?»

«Wir fahren!», verkündete Evie und kicherte völlig überdreht. Sie hopste weiter auf dem Fahrersitz herum und purzelte fast aus dem Auto, als Alice ebenfalls wieder dort hinaufkletterte.

«Schalt den Motor ein!», verlangte Alice. «Ich will in echt fahren.»

Kett öffnete den Mund, um ihr zu sagen, dass es nicht seiner Vorstellung von Vergnügen entsprach, mit dem Auto durch die Hauswand zu brechen, verkniff es sich dann aber. Tatsache war, er hatte nicht gewusst, wie die Mädchen auf die Rückkehr nach Hause reagieren würden, und es hätte viel schlimmer kommen können.

«Na kommt, ihr zwei Torfnasen», sagte er, hob Evie vom Sitz und stellte sie in der Einfahrt ab. Alice folgte, preschte an ihm vorbei und rannte direkt ins Haus, wo sie über die Schuhe an der Tür stolperte. Kett öffnete die hintere Tür und blickte in ein verschwitztes, sehr trauriges Gesicht. Blinzelnd sah Moira zu ihm hoch, während sie an ihrem Gurt herumfummelte und –zerrte, und mit einem Mal erkannte Kett, dass sie ihrer Mutter immer ähnlicher wurde. Bei dem Gedanken, ein kleines Stück Billie nach Hause zu bringen, hätte er selbst heulen können.

«Hey, Moo-moo», sagte er, befreite Moira, nahm sie auf den Arm und strich ihr übers Haar, während sie schluchzte und hickste. «Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Bringen wir dich rein.»

 

Die Kinder verhielten sich, als wären sie gar nicht fort gewesen. Noch bevor Kett die Haustür hinter sich schloss, trampelten Alice und Evie schon wie Rhinozerosse durchs Obergeschoss. Moira versuchte, sich ihm zu entwinden. Er setzte sie auf der untersten Stufe ab und ging hinter ihr her nach oben, wo der Treppenabsatz gnädig im Schatten lag. Der Großteil ihrer Habseligkeiten hatte es nach Norfolk geschafft, aber die Möbel waren noch hier, und die beiden älteren Mädchen benutzten sein und Billies altes Bett als Trampolin.