Ein Schrei, den niemand hört - Alex Smith - E-Book

Ein Schrei, den niemand hört E-Book

Alex Smith

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Beschreibung

Der Nr.-1-Amazon-Bestseller Der einzige Fall, den er nicht lösen kann, bringt ihn an den Abgrund … Nach dem spurlosen Verschwinden seiner Frau lässt Detective Robert Kett alles hinter sich und zieht mit drei kleinen Töchtern von London ins Städtchen Norwich. Vierzehn Wochen sind seit Billies Entführung vergangen, doch noch immer gibt es keine Spur. Es soll eine Auszeit werden, denn seine Kinder brauchen ihn. Doch bei seiner Ankunft wird er mit einem Vermisstenfall konfrontiert: Die 11-jährige Maisie, die sich ihr Geld mit Zeitungsaustragen verdient, ist von ihrer letzten Tour nicht zurückgekehrt. Kett hat schon einmal einen entführten Jungen gesund wieder nach Hause gebracht und nimmt die Ermittlungen auf. Sofort steckt er tief drin in einem der schlimmsten Fälle seiner Karriere. Ein Fall, der die düstersten menschlichen Abgründe offenbart … Ein düsterer Pageturner – diese Crime-Thriller-Serie macht süchtig!

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Seitenzahl: 345

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Alex Smith

Ein Schrei, den niemand hört

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Alice Jakubeit

 

Über dieses Buch

Der einzige Fall, den er nicht lösen kann, bringt ihn an den Abgrund …

Nach dem spurlosen Verschwinden seiner Frau lässt Detective Robert Kett alles hinter sich und zieht mit drei kleinen Töchtern von London ins Städtchen Norwich. Vierzehn Wochen sind seit Billies Entführung vergangen, doch noch immer gibt es keine Spur. Es soll eine Auszeit werden, denn seine Kinder brauchen ihn. Doch bei seiner Ankunft wird er mit einem Vermisstenfall konfrontiert: Die elfjährige Maisie, die sich ihr Geld mit Zeitungsaustragen verdient, ist von ihrer letzten Tour nicht zurückgekehrt. Kett hat schon einmal einen entführten Jungen gesund wieder nach Hause gebracht und nimmt die Ermittlungen auf. Sofort steckt er tief drin in einem der schlimmsten Fälle seiner Karriere. Ein Fall, der die düstersten menschlichen Abgründe offenbart …

Vita

Alex Smith schrieb sein erstes Buch im Alter von sechs Jahren. Es war nicht gerade gut, aber es kamen übernatürliche Monster darin vor. Später veröffentlichte er Horror-Romane unter seinem vollen Namen Alexander Gordon Smith. Seine drei Töchter inspirierten ihn dazu, über einen Detective zu schreiben, der ebenfalls kleine Kinder hat. In den Thrillern mit DCI Robert Kett geht es wieder um Monster, die sind jedoch menschlicher Natur und daher umso Furcht einflößender. Alex Smith lebt in Norwich mit seiner Frau und seinen Kindern.

 

Alice Jakubeit übersetzt Romane, Sachbücher und Reportagen aus dem Englischen und Spanischen, u. a. Alexander McCall Smith, Greer Hendricks & Sarah Pekkanen, Brian McGilloway und Eva García Sáenz. Sie lebt in Düsseldorf.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © 2019 by Alex Smith

Redaktion Jan Karsten

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung FinePic®, München

ISBN 978-3-644-01726-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für meine eigenen, ebenso wundervollen, ebenso nervigen Töchter.

Hab euch lieb!

PROLOG

Dienstag

Alle erinnerten sich an diesen Regen. Sie erinnerten sich daran, weil es makellos schöne, beinahe unerträglich heiße Tage gewesen waren. Die Straßen waren zu aufgeheizt, um darauf zu laufen, daher waren die Kinder in Scharen auf zwei Rädern unterwegs. Ihre Reifen surrten über den Asphalt, und ihr Lachen trug, wie es das eigentlich nur im Sommer tut.

Dann wurde der Himmel schlagartig so dunkel wie ein blauer Fleck, und er öffnete seine Schleusen. Es ging so schnell, dass selbst die Wetterfrösche überrascht wurden und ihre Mittagsberichte beinahe entschuldigend vortrugen. Eigentlich hätte das Unwetter das Land gar nicht treffen dürfen, sagten sie, sondern draußen vor der Ostküste vorbeiziehen müssen, wo es sich dann über der Nordsee totgelaufen hätte. Stattdessen hatte es Norfolk ins Visier genommen und war mit solcher Wucht darüber hereingebrochen, dass die Fenster erbebten und die Bäume sich bogen. Keine Menschenseele war an diesem Tag draußen gewesen, außer jemand hatte keine andere Wahl. Norwich hatte sich in eine Galerie gespenstischer Gesichter verwandelt, die durch beschlagene Fenster den Wolkenbruch betrachteten.

Alle erinnerten sich hinterher an diesen Regen, so hieß es in jeder Stellungnahme und in jeder Sendung. Sie hätte nicht arbeiten dürfen. Ihre Mutter muss verrückt gewesen sein, sie vor die Tür zu lassen. Der Regen war so stark, dass er sie ins Meer geschwemmt haben muss.

Alle erinnerten sich an diesen Regen. An den Regen, der die ganze Stadt zu Hause festgehalten hatte.

Keine Menschenseele war an diesem Tag draußen gewesen, keine Menschenseele bis auf dieses eine arme Mädchen.

Und den Mann, der sie verschleppte.

***

«Mum, bitte!»

Mit elf – bald zwölf – war Maisie Malone eigentlich zu alt, um mit dem Fuß aufzustampfen, aber ihr waren einfach die Alternativen ausgegangen. Sie hatte immer wieder neue Argumente ins Feld geführt, bis ihre Mutter sich tatsächlich die Finger in die Ohren gesteckt hatte, von einem Fuß auf den anderen getänzelt war und ganz laut «La, la, la» geträllert hatte. Sie hatte es bereits damit versucht, sich in ihrem Zimmer einzuschließen, doch da hatte ihre Mutter damit gedroht, ihr das Handy wegzunehmen. Sie hatte es mit der Drohung versucht, die sie immer einsetzte: wegzulaufen und niemals zurückzukommen. Aber ihre Mutter hatte bloß die Achseln gezuckt und sie nicht ernst genommen, denn in diesem bescheuerten Streit ging es ja schließlich darum, dass Maisie nicht nach draußen wollte. Wohin sollte sie also weglaufen? In den Schrank unter der Spüle?

Was also blieb ihr anderes übrig, als mit dem Fuß aufzustampfen?

«Guck doch einfach mal raus, Mum, es regnet in Strömen!»

Das stimmte. Von einem Moment zum anderen war der Sonnenschein einem Monsunregen gewichen, und es goss so stark, dass ein regelrechter Fluss den Hang hinabströmte.

«Ich weiß, wie Regen aussieht, Maisie», sagte ihre Mutter und verließ die winzige Küche. Obwohl es bereits Mittag war, trug sie Schlafanzug und Morgenmantel. In der Hand hielt sie ein Päckchen Mayfair und das gelbe Einwegfeuerzeug, das schon in ihrem Besitz sein musste, solange Maisie lebte. «Aber ich weiß auch, dass er einem nichts anhaben kann. Außer man ist ein Gremlin.»

Sie musterte Maisie von oben bis unten.

«Wobei, vielleicht bist du ein Gremlin. Das würde einiges erklären.»

«Mum!»

Ihr war danach, das Haus zusammenzuschreien, aber einen Wutanfall hinzulegen, war die beste Garantie dafür, dass ihre Mutter ausrastete. Maisies Telefon war ein brandneues iPhone 7 – na ja, für sie war es brandneu; ihre Mutter hatte es billig im Facebook Marketplace bekommen, weil das Display einen Kratzer hatte –, und sie hatte es schon einmal abgeben müssen, weil sie sich geweigert hatte, beim Staubsaugen zu helfen. Sie durfte nicht riskieren, es noch einmal hergeben zu müssen, nicht jetzt, wo sie endlich herausbekommen hatte, wie man die Minecraft-App installierte.

«Bitte, ich mach es morgen», bettelte sie. «Mr Walker stört es bestimmt nicht, wenn wir zu spät dran sind.»

«Doch, es stört ihn», sagte ihre Mutter und zündete sich eine Zigarette an. Maisie sah sie bitterböse an und wedelte sich den Rauch aus dem Gesicht. «Und es geht auch gar nicht um ihn, es geht um seine Kunden. Sie erwarten ihre Zeitung pünktlich. Wäre nicht sehr sinnvoll, sie erst nach einer Woche zu bekommen, oder? Dann stünden ja keine Neuigkeiten mehr drin, sondern Altigkeiten.»

Sie lachte über ihren eigenen Witz, und Maisie ächzte.

«Es ist die Gratiszeitung. Die liest doch eh kein Mensch.»

Ihre Mutter inhalierte den Rauch tief und behielt ihn lange in der Lunge. Schließlich drehte sie sich um und stieß ihn in die Küche aus – eigentlich der einzige Raum, in dem sie sich eine anzünden durfte –, aber der Qualm breitete sich trotzdem überall aus, so stark, dass Maisie Kopfschmerzen bekam. Sämtliche Wände im Haus waren gelb, und sie fragte sich, ob ihre Lunge wohl genauso aussah.

«Was habe ich dir gestern gesagt, Maisie?», fragte ihre Mutter aufreizend ruhig.

Maisie zuckte die Achseln, aber sie wusste es nur allzu gut.

«Ich habe dir gesagt, du sollst deine Zeitungen austragen, oder? Ich habe gesagt, wenn du es aufschiebst, wirst du es bereuen. Und hier stehen wir nun, um Viertel nach drei am Dienstagnachmittag, und – bereust du es? Ja. Du wolltest diesen Job, du wolltest das zusätzliche Geld. Niemand hat dich dazu gezwungen, und wenn du kündigen möchtest, kannst du Mr Walker gleich jetzt anrufen.»

Wieder stampfte Maisie mit dem Fuß auf, erreichte damit aber nur, ihrer Mutter ein selbstgefälliges Grinsen in die Visage zu zaubern. Kurz erwog sie, genau das zu tun: Mr Walker anzurufen und ihm zu sagen, wo er sich seinen Job hinstecken konnte. Doch er zahlte ihr drei Pfund die Stunde, und der Zehner, der pro Woche dabei herauskam, half ihr, sich all das zu kaufen, wofür Mums Stütze nicht reichte.

Ganz zu schweigen von dem zusätzlichen Geld, das sie dafür bekam, dass sie noch anderes verkaufte.

Außerdem hatte ihre Mutter recht, es war bloß Regen.

Sie seufzte und sah zur Tür.

«Bitte?», versuchte sie es noch einmal.

Zu ihrer Überraschung legte ihre Mutter die Arme um sie und zog sie an sich, die Zigarette hoch über den Kopf erhoben, damit sie ihr nicht ein Auge ausbrannte.

«Ich bin stolz auf dich, Maisie, mein Faultierchen», sagte ihre Mutter. «Du wächst so schnell heran, du bist schon ein richtig großes Mädchen.»

Sie ließ sie los und gab ihr einen Klaps auf den Po.

«Na los, bring’s hinter dich. Ich schiebe ein paar Fischstäbchen in den Ofen, dann können wir uns Sandwiches machen, wenn du wieder da bist. Okay?»

Maisie seufzte noch einmal.

«Na gut.»

 

Es war gar nicht so schlimm – nach den ersten Sekunden. Der Regen war nicht kalt, sondern fast angenehm warm, so als stünde man unter der Dusche. Er war auch so stark wie eine Dusche, womöglich sogar stärker, verglichen mit ihrem eigenen verkalkten Ding, aus dem nur ein klägliches Rinnsal floss. Tausende von Regentropfen peitschten ihr ins Gesicht, aber nach dem anfänglichen Schock genoss Maisie das Gefühl sogar fast.

Die Fahrt durch die Siedlung führte beinahe die ganze Zeit bergab, aber sie hatte eine Hand an der Bremse, damit sie nicht ins Rutschen geriet. Das Wasser strömte in die Gullys und bildete an einigen Stellen so tiefe Pfützen, dass sie wie kleine Strudel waren. Jedes Mal, wenn sie durch eine Pfütze radelte, spritzte das Wasser auf den verlassenen Gehweg, und bei dem Gedanken, imaginäre Menschen nass zu spritzen – ihre Mutter allen voran –, hätte sie fast gelacht. Die Zeitungstasche hing tonnenschwer an ihrer Schulter, aber sie war daran gewöhnt und nahm die Kurven vorsichtig, damit es sie nicht vom Rad schleuderte.

Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, beinahe im Zeitlupentempo und mit hell leuchtenden Scheinwerfern, obwohl es mitten am Tag war. Ein paar Leute winkten ihr zu, ein paar andere zeigten auf sie und lachten. Eine alte Dame ließ sogar das Fenster herunter und fragte sie, ob sie mitfahren wollte. Maisie antwortete ihr nicht, sie hütete sich, mit Fremden zu sprechen – selbst wenn sie freundlich waren und geblümte Kleider trugen. Sie stellte sich einfach in die Pedale und kämpfte sich auf der anderen Seite der Siedlung den Hügel hinauf, bis sie in die erste kleine Sackgasse auf ihrer Tour schnaufte.

Die Straße war so verlassen, als wäre irgendeine Zombie-Apokalypse über sie hereingebrochen – was eigentlich gar keine so abwegige Vorstellung war, wenn man bedachte, dass alle, die hier wohnten, circa hundert Jahre alt waren und sich genau wie Zombies bewegten. Maisie stellte ihr Fahrrad vor dem ersten Häuschen ab und kämpfte mit dem Gartentor. Dann rannte sie so schnell, dass sie auf den Steinen ausrutschte, durch den strömenden Regen zur Tür. Sie schlug sich die Fingerknöchel am Holz an und zuckte zusammen, so weh tat es. Kurz drückte sie die Knöchel an die Lippen. Die Zeitung war nass, sowie sie sie aus der Tasche zog, doch es gelang ihr, sie durch den widerspenstigen Briefschlitz zu stecken. Eine Ecke ragte noch hervor, und sie drückte sie weiter hinein, bis die Zeitung drinnen zu Boden fiel.

Für die erste Straßenseite benötigte sie nicht einmal acht Minuten, für die andere ein wenig länger, weil es in Nummer vier einen gemeinen alten Hund gab und sie immer Angst hatte, er könne ihr den Daumen abbeißen. Dann schnappte sie sich ihr Fahrrad, radelte die Hauptstraße entlang und in die nächste Sackgasse, die fast genauso aussah wie die erste. Hier und da entdeckte sie ein paar runzlige Gesichter hinter den Scheibengardinen und winkte ihnen halbherzig zu. Falls sie zurückwinkten, sah sie es nicht. Der Regen strömte ihr in die Augen und verwandelte die Welt in ein Kaleidoskop aus verschwommenen Formen und Farben.

Nachdem sie mit dieser Straße fertig war, stellte sie sich an einer Bushaltestelle unter, strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und blies die Regentropfen von ihren Lippen. Der Wolkenbruch trommelte wie mit Fingern aufs Dach, prasselte unablässig auf die Straße und schloss sie in einen Käfig aus Glas und herabfallendem Wasser ein. Sie trocknete sich so gut es ging die Hände ab und zog ihr Telefon aus der Jeans. Als sie sah, wie nass das Display war, blieb ihr fast das Herz stehen. Doch es funktionierte noch und zeigte ihr, dass eine halbe Stunde vergangen war, seit sie von zu Hause aufgebrochen war. Wieder ging ihr dieser reizvolle Gedanke durch den Kopf: Sie konnte jetzt auf der Stelle Mr Walker anrufen, diesen doofen Job kündigen, die Zeitungen liegen lassen und nach Hause fahren.

Aber dann würde sie auch ihre Samstagstour verlieren. Die Tour, die sie nach Mousehold Heath führte, ein Naherholungsgebiet, teils Heide, teils Wald. Wo sie richtig Geld verdiente. An manchen Tagen zwanzig Ocken.

Maisie schüttelte den Kopf und steckte das Telefon in die wasserdichte Zeitungstasche, um es zu schützen. Sie hatte nur noch drei Straßen vor sich, und noch nasser konnte sie ja nicht werden.

Sie atmete tief durch, trat wieder hinaus in den Regen und überquerte die verlassene Straße. Das Wasser reichte ihr bis zu den Knöcheln, lief ihr in die Sneakers und machte sie unglaublich schwer. So platschte sie zum ersten Haus und lehnte das Rad an die abbröckelnde Ziegelmauer. Auf halbem Weg zur Haustür, die Zeitung schon in der Hand, blieb sie stehen.

Die Haustür stand offen. Und zwar nicht nur einen Spalt, sondern sperrangelweit. Von da, wo sie stand, konnte Maisie sehen, dass sich auf dem Teppich im Flur bereits eine Pfütze bildete. Regentropfen fielen auf einen Telefontisch aus Holz. Es war absurd dunkel im Haus, und als sie zu den beiden großen Fenstern sah – eins vermutlich das Wohnzimmer, das andere das Schlafzimmer –, stellte sie fest, dass die schweren Vorhänge zugezogen waren.

Sie ging ein paar Schritte weiter. Die Zeitung in ihrer Hand war schon klatschnass. In ihrem Kopf schlug irgendetwas an – nicht direkt ein Geräusch, eher ein Gefühl. Es war ein Warnsignal, instinktiv, unverkennbar. An diesem Haus war etwas komisch. Hier stimmte etwas nicht. Maisie wischte sich das Wasser aus den Augen und merkte, wie mühsam es war zu blinzeln. Die Straße hinter ihr lag still und verlassen da, fast wie eine Theaterkulisse, die jeden Moment zusammenklappen konnte. In diesem wütenden Unwetter fühlte sich nichts richtig echt an. Das Haus wartete einfach.

Es ist nur ein Haus, sagte sie sich. Und damit verschwand das mulmige Gefühl. Wenn sie noch länger stehen blieb, würde die Zeitung sich noch komplett auflösen, also rannte Maisie zur Tür, warf sie ins Haus und wollte gleich wieder zur Straße zurückrennen.

Doch eine Stimme hielt sie auf. Eine Stimme von drinnen. Eine dünne, verzweifelte Stimme.

«Bitte.»

Es war, als wäre sie mit Regenwasser vollgelaufen, das nun gefror. Einen beängstigenden Augenblick lang war Maisie unfähig, sich zu rühren. Dann trat sie einen Schritt zurück. Ihre Haut kribbelte, ihre Kopfhaut schien sich so schnell zusammenzuziehen, dass sie sich fragte, ob ihr das Haar ausfallen würde.

«Bitte?» Die Stimme klang alt, uralt.

Mit einem Mal schämte Maisie sich dafür, dass sie einfach hatte gehen wollen. Vielleicht war da jemand gestürzt und kam nicht mehr hoch? Alte Leute fielen ständig hin und brachen sich etwas, das wusste sie, weil sie mit ihrer Mutter immer die Krankenhausserie Casualty guckte.

«Ähm …», sagte sie und stockte. «Hallo? Brauchen Sie Hilfe? Ich, ähm, ich habe ein Telefon.»

Sie griff in die Zeitungstasche und tastete danach. Aus dem Haus kam keine Antwort – oder falls doch, hörte sie sie im prasselnden Regen nicht –, und so ging sie zur Tür, streckte den Kopf hinein, wagte sich aber nicht weiter als nötig vor. Drinnen roch es komisch, stärker noch als die vom Regen aufgeweichte Erde. Es roch nach Verdorbenem, so als hätten sie mitten im Sommer den Müll nicht rausgetragen, aber irgendwie auch nach Krankenhaus. Der Geruch setzte sich in ihrem Hals fest.

«Hallo?», rief sie, lauter diesmal. Drinnen war nichts zu erkennen, es war einfach nicht hell genug. Die Welt hätte auch in der Mitte dieses Flurs zu Ende sein können. «Ich rufe einen Krankenwagen, Moment.»

Nichts.

Sie fand ihr Telefon und hätte beinahe einen Triumphschrei ausgestoßen. Ihre Hände zitterten, und ihr Daumen war so nass, dass es ihr nicht gelang, es zu entsperren.

«Einen Augenblick», sagte sie und gab ihre PIN ein. «Alles wird gut.»

Immer noch keine Antwort.

«Komm schon, verdammt», knurrte sie ihr Telefon an. Endlich war es entsperrt. Sie besah sich die Hausnummer aus Kupfer neben der Tür und überlegte, nach welcher Blume diese Sackgasse benannt war. Hieß sie Geranium Close? Gerbera Close? Sie war so nervös, dass ihr ganz kurz nicht einmal die Nummer des Notrufs einfiel.

Es ist 999, du Idiotin!

Sie wählte, hielt sich das Telefon ans Ohr und hörte es läuten.

Na, macht schon!

Im Haus rührte sich nicht das Geringste, da war nur eine schwere, stille Dunkelheit, bei der sie ein mulmiges Gefühl im Bauch bekam. Angestrengt versuchte Maisie, irgendetwas zu erkennen, einen Umriss oder einen Rand, an dem sich ihr Blick festhalten konnte.

Da – war da nicht doch etwas? Ein noch dunklerer Schatten, der sich vor der allgemeinen Dunkelheit abzeichnete? Groß, dünn. Eine Uhr vielleicht? Ein Garderobenständer? Sie fixierte den Schatten, während es läutete und läutete und …

Auf einmal bewegte sich der Schatten, und zwar schnell. Es war, als ob da plötzlich ein Zug durch einen Tunnel auf Maisie zuraste, ein Ansturm von Finsternis, so schnell und so unvermittelt, dass der Schrei sich aus ihr herausbrannte, noch bevor sie auch nur wusste, dass er kam. Diese Finsternis stürmte wie eine Wand auf sie zu, füllte den Türrahmen aus, und eine Hand legte sich wie eine Klammer über ihren Mund.

Im Telefon ertönte ein Klicken, jemand fragte, um was für einen Notfall es sich handele, aber sie schaffte es nicht mehr zu antworten.

Eine zweite Hand packte ihr Haar, verdrehte ihr den Kopf und zerrte sie ins Haus. Und dort, verborgen vom prasselnden Regen, wurde Maisie schwarz vor Augen.

KAPITEL EINS

Mittwoch

«Sind wir bald da?»

Es verlangte Robert Kett jedes noch verbliebene Quäntchen Geduld ab, nicht auf die Bremse zu treten, auszusteigen und schreiend davonzurennen. Zugegebenermaßen war ihm schon seit drei Stunden danach – seit sie ihr Haus in Stepney verlassen und sich mit dem zehn Jahre alten, taubenscheißegrünen Volvo auf die nervenaufreibende Fahrt nach Nordosten gemacht hatten. Alle zehn Minuten stellten zwei der drei Kinder auf der Rückbank dieselbe Frage. Das dritte war erst achtzehn Monate alt, zu klein, um in ganzen Sätzen zu reden, doch sein unaufhörliches Geschrei machte das mehr als wett.

Die Welt draußen glühte. Das gestrige unvorhergesehene Sommerunwetter schien dem Himmel jedes Tröpfchen Flüssigkeit entzogen zu haben, und die Sonne brannte gnadenlos herab. Sie lag wie eine Flüssigkeit auf Ketts Windschutzscheibe und verwandelte den Asphalt in eine flirrende Fata Morgana. Er kniff schon so lange angestrengt die Augen zusammen, dass es sich anfühlte, als steckte seine Stirn in einem Schraubstock.

«Dad? Sind wir bald da?»

Er überholte einen Lastwagen und zog wieder hinüber auf die linke Spur der A11, ehe er in den Rückspiegel blickte. Alice sah ihn finster an. Ihre Wangen blähten sich, während sie auf dem Kaugummi kaute, den sie schon seit Beginn der Fahrt im Mund hatte. Als ein weißer Lieferwagen sie überholte, fiel ein blendend heller Blitz aus Sonnenlicht ins Auto, und für einen Moment sah die Siebenjährige exakt aus wie ihre Mutter, so als säße Billie dort hinten auf dem Rücksitz. Es war eine so eindringliche Vision, dass Kett ganz schwindlig wurde. Es fühlte sich an, als trudelte sein Gehirn vollkommen losgelöst durch seinen Schädel, und er umklammerte das Lenkrad wie ein Astronaut in der Schwerelosigkeit sein Halteseil.

Kett richtete den Blick wieder auf die Straße und schluckte, doch sein Mund war staubtrocken.

«Dad?», fragte Alice.

«Dad? Ich hab Hunger», fügte ihre dreijährige Schwester Evie hinzu.

«Dad?»

«Äd», machte die Kleinste, bevor sie ein weiteres hupengleiches Wutgeheul ausstieß. Es war so laut, dass Kett kurz die Augen schließen musste und dabei fast die Ausfahrt verpasst hätte. Er blinkte, fuhr ab, und jetzt fiel ihm die Sonne zum Glück über die Schulter. Sofort schien es im Wagen zehn Grad kühler zu werden.

«Ich hab Hunger!», quengelte Evie. «Ich muss Aa.»

«Sind wir bald da?», fragte Alice.

«Ja», sagte er, und zum ersten Mal an diesem Tag war das nicht gelogen. «Sind wir. Nur noch zehn Minuten. Versprochen.»

Allerdings würde es wohl doch etwas länger dauern, weil er sich nicht mehr genau erinnerte, wie er fahren musste. Er hatte die ersten zwölf Jahre seines Lebens hier verbracht, aber das lag jetzt dreißig Jahre zurück, und die Straßen hatten sich seitdem ziemlich verändert. Er erwog, anzuhalten und das Navi einzuschalten, bloß bestand die Möglichkeit, dass die Mädchen dann mit oder ohne seine Erlaubnis aus dem Auto kletterten und die Intensität von Moiras Geschrei sich vervierfachte.

Er suchte den Schilderwald vor sich ab, entdeckte einen Wegweiser in den Norden der Stadt und wechselte abrupt die Spur. Dabei schnitt er ein anderes Auto, und der Fahrer lehnte sich auf die Hupe. In einem Anfall blinder Wut erwog Kett, auszusteigen, den Fahrer aus dem Auto zu zerren und gleich hier auf der Standspur festzunehmen.

Bloß bist du nicht mehr im Dienst, rief er sich in Erinnerung. Streng genommen. Der Sinn dieses Umzugs ist es doch, von allem wegzukommen.

Von London. Von seiner Arbeit. Von allem, was ihn an Billie, seine Frau, erinnerte.

Nur um den Mann hinter sich zu ärgern, bremste er unvermittelt ab und kroch auf die Ampel vor sich zu. In dem Moment, als sie auf Rot schaltete, trat er aufs Gaspedal, und der alte Volvo brauste über die Ampel auf die Ringstraße. Im Rückspiegel sah er, dass der andere Wagen quietschend zum Stehen kam und ihm ein rotes Gesicht wütend hinterherstarrte.

Er mochte nicht im Dienst sein, aber nichts hinderte ihn daran, ein Arschloch zu sein.

«Ich kann Aa rauskommen fühlen», sagte Evie.

«Um Himmels willen», knurrte er. «Halt es ein, wir sind gleich da.»

Glücklicherweise war es zwischen Mittagessen und Schulabholung, und die Straßen waren relativ frei. Er raste die Ringstraße entlang und sah auf eine Stadt, die er zum großen Teil vergessen hatte – und die ihn komplett vergessen hatte. Abgesehen von der in goldenes Sonnenlicht getauchten Kathedrale, auf deren Turm er kurze Blicke erhaschte, konnte er sich an nichts aus seiner Kindheit mehr erinnern. Hin und wieder begegnete ihm ein Streifenwagen, dann winkte er den Kollegen automatisch zu, und als einmal ein Rettungswagen in vollem Konzertmodus an ihm vorbeiraste, musste er den Impuls bezwingen, ihm hinterherzujagen. Er bewahrte die Ruhe und fuhr in gleichmäßigem Tempo weiter den Hügel hinauf.

«Evie hat Aa gemacht», sagte Alice mit einem höhnischen Lachen.

«Hab ich nicht! Du warst das!», konterte Evie.

«Du hast dir in die Hose gemacht!»

«Ich mache dir in die Hose!», kreischte Evie.

Das brachte Kett beinahe zum Lächeln. Er fuhr langsamer, las die Straßenschilder, fand das gesuchte und bog von der Hauptstraße ab. Erst als er ein Stück voraus ihr neues Haus entdeckte, gestattete er sich aufzuatmen, und es fühlte sich an wie der allererste Atemzug des Tages. Erleichterung überkam ihn. Die Mädchen schienen das zu spüren, denn sie verstummten alle drei.

Auf beiden Seiten der belebten Straße standen die Autos dicht an dicht, und Kett musste eine Weile suchen, bis er einen Parkplatz fand. Er fuhr hinein und stellte den Wagen halb auf dem Gehweg ab. Dann schaltete er den Motor aus, und einen glückseligen Augenblick lang war das einzige Geräusch, das er hörte, das sanfte Wispern des Windes in den Bäumen.

«Ist es das?», kreischte Alice mit tausend Dezibel. «Sind wir endlich da?»

Er nickte, und sie brachen in ein Jubelgeschrei aus, bei dem eigentlich jedes Fenster in der Nähe hätte zerspringen müssen. Moira gab einen Laut von sich, der sowohl Freude als auch Panik bedeuten konnte – Kett war sich da nicht sicher. Er öffnete seine Tür, und sie knarrte fast genauso wie seine Gelenke, als er ausstieg und sich aufrichtete. Alice hatte ihren Sicherheitsgurt bereits allein gelöst und kletterte auf den Beifahrersitz.

«Nein!», brüllte Evie und kämpfte mit ihrem Kindersitz. «Warte auf mich!»

Kett schloss die Augen und unterdrückte eine jähe Anwandlung von Panik. Was würde er nicht dafür geben, jetzt Billie bei sich zu haben, ihre besänftigende Stimme, ihr Lächeln. Sie hätte die Mädchen im Handumdrehen beruhigt.

Aber sie ist weg, rief er sich in Erinnerung. Sie ist weg.

Er öffnete die Augen, und das grelle Sonnenlicht brannte sich in seinen Kopf.

«Na kommt», sagte er und half Alice aus dem Auto. «Lasst uns unser neues Leben beginnen.»

KAPITEL ZWEI

Wie sich herausstellte, wollte ihr neues Leben nicht so ohne Weiteres beginnen.

«Komm schon, du verflixtes Ding.» Kett ruckelte mit dem Schlüssel im Sicherheitsschloss. Moira wand sich auf seinem Arm, so kräftig wie ein Bärenjunges. Mit ihren pummeligen Händchen traf sie ihn mehrfach im Gesicht, was ihm das Aufschließen unnötig erschwerte. Hinter ihm saß Alice auf der niedrigen Mauer des Vorgartens, und Evie versuchte nach Kräften, zu ihr hinaufzuklettern.

Der Schlüssel ließ sich einfach nicht drehen. Kett fluchte und wechselte Moira auf den anderen Arm.

«Daddy, ich muss wirklich dringend Aa», sagte Evie, ließ von der Mauer ab und hielt sich den Po.

«Ich arbeite daran, Schätzchen», erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen. «Gib mir noch eine Sekunde. Halt es ein und sag: Du kannst nicht vorbei!»

Er ging ums Haus herum. Es war eine Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern, grauem Kieselrauputz und Fensterrahmen, an denen die Farbe abblätterte, als hätten sie Schuppen. Irgendjemand, vermutlich jemand von der Vermietungsagentur, hatte die Sträucher notdürftig gestutzt, aber Kett hätte trotzdem eine Machete brauchen können, um durch das klapprige Tor in den Garten hinter dem Haus zu gelangen. Er hielt es den Mädchen auf, die gleich darauf wie aufgedreht im Kreis über den vergilbenden Rasen rannten und wie Hunde bellten.

Da es ihm hier einigermaßen sicher erschien, setzte er Moira auf dem Rasen ab, und sie watschelte ihren Schwestern hinterher. Hier hinten war eine weitere Tür, die vermutlich in die Küche führte, und er probierte den Griff, wohl wissend, dass das ein bisschen zu optimistisch gedacht war. Und natürlich, die Tür war abgeschlossen. Allerdings erbebte das ganze Ding im Rahmen, als er daran rüttelte.

«Daaaaddy!», schrie Evie, offensichtlich in großen Nöten.

Kett zog sein Telefon aus der Tasche, ignorierte das Foto auf dem Sperrbildschirm – es zeigte Billie und ihn selbst, wie sie ihn auf der Hochzeit eines Freundes zwei Jahre zuvor grinsend auf die Wange küsste, in blauer Seide, ein Gänseblümchen im honigfarbenen Haar – und suchte in seinen E-Mails nach der Telefonnummer der Vermietungsagentur. Hinter ihm schrie Moira jetzt wieder, und Evie stimmte rasch mit ein. Der Lärm trieb die Nadel auf seiner Stressskala auf elf hoch, und ehe ihm bewusst wurde, was er da tat, trat er vor, hob den Fuß und pflanzte seinen Polizeistiefel Größe fünfundvierzig neben dem Schloss auf die Tür.

Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen, sondern schlug drinnen so heftig gegen die Wand, dass das alte Holz splitterte, und prallte dann wie ein angeschlagener Boxer zurück. Kett sah sich um. Alle drei Mädchen beobachteten ihn mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern. Lachen sprudelte aus ihm heraus, und es tat ihm gut.

«Das ist nie passiert», sagte er. «Kommt.»

Er nahm die Kleinste auf den Arm und hielt Alice und Evie die Tür auf. Im Haus war es erfreulich kühl. Die Rollos in der Küche waren halb heruntergelassen, und die Luft roch abgestanden. Er war im Lauf der Jahre in vielen Häusern gewesen und wusste instinktiv, dass dieses schon seit einer ganzen Weile vor sich hin schlummerte. Die Oberflächen waren abgewischt und der Boden gefegt worden, doch auf den Schrankgriffen lag Staub, so lange waren sie nicht benutzt worden, und an der Kette des Rollos hingen alte Spinnweben. Es war seit Wochen nicht hochgezogen worden.

Dennoch, es war trocken. Es war leise.

Es war ein Zuhause.

«Schnell, Daddy!» Evie wand und krümmte sich.

«Na, dann kommt, sucht die Toilette.»

Er drehte den Hahn an der Spüle auf, damit das abgestandene Wasser aus dem Rohr laufen konnte, und sah Alice und Evie hinterher, die aus der Küche in den Flur stürmten. Moira strebte erneut nach Freiheit, aber er hielt sie fest, während er mit seinem Telefon kämpfte, bis er schließlich die Nummer der Vermietungsagentur fand. Als es läutete, verließ er ebenfalls die Küche und entdeckte einen kurzen Flur, von dem aus eine Treppe hinauf ins Sonnenlicht führte. Alice und Evie waren im Wohnzimmer und hüpften die Couch zu Klump.

«Vorsichtig», sagte er, doch sein Wort hatte genauso viel Gewicht, wie er befürchtet hatte. Die beiden hüpften einfach weiter, und Kett ging wieder hinaus. Unter der Treppe fand er eine kleine Toilette. Das Haus war winzig, und er verfluchte sich dafür, dass er den Fotos geglaubt hatte, die er online gesehen hatte. Die Tricks, mit denen sie bei Immobilienangeboten arbeiteten, waren die reinste Zauberei, alles aus der Froschperspektive und gut ausgeleuchtet. Das war schon fast kriminell.

«Evie», rief Kett. «Toilette, komm schon! Ich will nicht, dass dir im neuen Haus ein Malheur passiert.»

«Ich muss nicht mehr», rief sie zurück.

«Natürlich nicht», knurrte er. «Verfluchte …»

«Shackley’s, guten Tag, Dawn am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?»

Dem schönen Namen –  – zum Trotz klang die junge Stimme unfassbar gelangweilt. Moira hörte sie auch und quiekte Kett ein «Hi!» direkt ins Ohr. Er gab sich geschlagen und setzte sie ab.

«Hallo», sagte er. «Hier spricht Robert Kett, ich habe eines Ihrer Häuser gemietet. 8 Morgane Street.»

«Haben Sie die Postleitzahl?», fragte Dawn.

«Nein, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie keine zwei Häuser mit der Adresse 8 Morgane Street haben. Mein Schlüssel funktioniert nicht.»

Dawn ließ eine Kaugummiblase platzen.

«Okay. Eigentlich müsste er funktionieren.»

«Mir ist sehr wohl bewusst, dass er eigentlich funktionieren müsste», erwiderte er, bemüht, nicht die Geduld zu verlieren. «Das tun Schlüssel normalerweise, was sollte man sonst mit ihnen anfangen? Aber dieser hier tut es nicht.»

«Ich kann Ihnen noch heute einen Schlüsseldienst schicken.»

«Wir sind schon im Haus», sagte er. «Aber Sie werden jemand herschicken müssen, der die Tür repariert.»

«Sie dürfen sich nicht selbst Zugang verschaffen.» Dawn klang so monoton wie eine Computerstimme. «Sie müssen warten, bis …»

«Dawn», unterbrach Kett sie. «Ich will mich noch einmal vorstellen, und diesmal richtig. Ich bin Detective Chief Inspector Robert Kett von der Metropolitan Police.» Die Kaugeräusche verstummten, und Kett fuhr fort. «Das Haus muss bis heute Abend sicher sein. Der Zustand dieser Tür … Sie haben da eindeutig Ihre Pflichten als Vermietungsagentur vernachlässigt. Wenn Sie wollen, kann ich das melden, vielleicht auch ganz allgemein mal die Sicherheit Ihrer Mietobjekte untersuchen lassen?»

«Ähm …», sagte Dawn. «Ich sorge dafür, dass innerhalb einer Stunde jemand bei Ihnen ist.»

«Davon gehe ich aus», sagte er.

Während sie noch eine Erwiderung stammelte, beendete er das Telefonat. Er hasste es, seine Position auszuspielen, doch manche Menschen brauchten einfach hin und wieder einen Schuss vor den Bug, und die gelangweilte Dawn gehörte definitiv dazu.

«Hey», sagte er, als er merkte, dass Moira die Treppe hinaufkletterte. «Wir haben noch jede Menge Zeit, das Haus zu erforschen, Kleine.»

Er nahm sie auf den Arm. Da klingelte sein Telefon, und er nahm den Anruf an, ohne aufs Display zu blicken.

«Ich hoffe, Sie wollen sich nicht mit mir anlegen, Dawn», knurrte er.

«Nicht doch», erwiderte eine raue Stimme, die Kett Haltung annehmen ließ. «Nicht einmal die Morgenröte selbst würde sich mit Ihnen anlegen wollen, DCI Kett.»

«Sir.» Beinahe hätte Kett die sich windende Moira fallen lassen. Er setzte sie wieder ab, und sobald er sie losließ, krabbelte sie wie eine Aufziehpuppe Richtung Wohnzimmer. Superintendent Barry «Bingo» Benson lachte dröhnend, und das machte Kett eigenartig nostalgisch.

«Noch unterwegs?», fragte Bingo.

«Nein, gerade angekommen.» Kett dehnte für einen Augenblick den Rücken. «Kommt mir vor, als wären wir drei Wochen unterwegs gewesen.»

«Wundert mich nicht, Norwich liegt am Arsch unserer altehrwürdigen Nation, nicht wahr? Der runzlige Anus am Rumpfe Großbritanniens.»

«Das ist ein bisschen hart.» Kett ging zur Haustür und sah durch die Milchglasscheibe. «Wir haben hier zwei Kathedralen und etwa hundert Pubs.»

«Dann wären die Grundbedürfnisse ja abgedeckt.»

Kett hörte seinen Stuhl knarren und sah vor sich, wie Bingo sich zurücklehnte und die Füße auf den Schreibtisch legte. Superintendent Benson hatte diesen Spitznamen, seit er eines Samstagabends zu einem Dreifachmord nach Angel Islington gerufen worden war und vergessen hatte, die Fliege und das Mikro abzulegen, die er als Conférencier beim Bingo trug. Wie sich herausstellte, war das seine Art, sich zu entspannen, und sein Bariton war perfekt für Bingohallen. Anscheinend liebten ihn die alten Damen, und da waren sie nicht die Einzigen. Was Superintendents betraf, war er einer der besten.

«Geht’s den Kindern gut?», fragte Bingo. Kett hielt das Telefon in Richtung Wohnzimmer, aus dem Geschrei herüberdrang. Bingo lachte. «Ich könnte nicht sagen, ob sie Spaß haben oder gefoltert werden.»

«Sie haben Spaß. Ich werde gefoltert. Aber sie halten sich wacker. Ich glaube, der Umzug wird ihnen guttun. Er muss ihnen guttun.»

Bingo seufzte.

«Das wird er», sagte er. «Den Kindern und Ihnen. Sie haben Sonderurlaub, Robbie, Sie brauchen diese Zeit für sich und damit Ihre Familie heilen kann. In London geht das nicht.»

Kett nickte.

Frag nicht, sagte er sich. Frag nicht, befahl er sich noch einmal, aber dann tat er es doch.

«Irgendwas Neues?»

«Sie wissen so gut wie ich, dass Sie der Erste wären, den ich anrufe, sollten wir etwas Neues erfahren.» Bingo räusperte sich. «Wenn sie irgendwo da draußen ist, finden wir sie.»

Das war eine aufschlussreiche Formulierung, dachte Kett. In den ersten Tagen hatte es geheißen: Wir bringen sie nach Hause. In den darauffolgenden Wochen: Keine Sorge, sie wird schon wieder auftauchen. Kett hatte gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Wörtchen «wenn» fiel, er hatte nur nicht so bald damit gerechnet. Vierzehn Wochen waren keine lange Zeit.

Und doch war es eine Ewigkeit.

Bingo schien seinen Fehler zu bemerken.

«Wir finden sie», sagte er. «Überlassen Sie Billie uns. Sie kümmern sich um sich und die Mädchen.»

Kett hörte es rascheln und vermutete, dass sein Vorgesetzter über seinen dichten Schnurrbart strich, wie immer vor einer wichtigen Ankündigung. Es verriet ihn. Bingo mochte ein guter Bingo-Conférencier sein, aber er war einer der schlechtesten Pokerspieler der Welt.

«Was?», fragte Kett

«Ich meine es ernst, dass Sie in diesem Urlaub nicht arbeiten sollen», sagte Bingo. «Aber da Sie schon mal da oben sind, müssen Sie mir einen kleinen Gefallen tun.»

Er sprach weiter, doch seine Worte verloren sich in dem Getöse, mit dem die Mädchen aus dem Wohnzimmer marschiert kamen. Die drei zogen hysterisch kichernd in einer Polonaise zur Treppe. Kett hob die Hand und lenkte sie in die Küche um.

«Verzeihung, Sir, Sie müssen noch mal von vorn anfangen.»

Bingo lachte, aber es klang nicht allzu freudig.

«Ich sagte, ich brauche Ihre Hilfe. Seit gestern werden in Norwich zwei Mädchen vermisst.»

Kett runzelte die Stirn. Zwei vermisste Mädchen waren kein Stoff für Schlagzeilen und nichts, womit die örtliche Kripo nicht fertigwürde.

«Beides Zeitungszustellerinnen», fuhr Bingo fort. «Beide sind elf, und beide wurden auf ihren Zustelltouren entführt.»

Kett spürte ein unangenehmes Kribbeln über sein Rückgrat laufen, und ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus.

«Entführt?»

«Das glauben wir jedenfalls.» Bingo seufzte. «Der Superintendent, der die Ermittlungen leitet, ist hochkompetent – er ist ein … ein interessanter Mann –, aber das hier liegt jenseits von allem, womit sein Team es bisher zu tun hatte. Norwich ist eine ruhige Stadt. Er braucht Hilfe.»

«Ich dachte, ich hätte Urlaub», sagte Kett und sah vor sich, wie Bingo die Achseln zuckte.

«Ihre Unterlagen liegen noch auf meinem Schreibtisch», erwiderte der Superintendent. «Bin irgendwie noch nicht dazu gekommen, sie einzureichen. Bitte, Robbie, schauen Sie da einfach mal vorbei, stellen Sie sich ihm vor. Er wird es zu schätzen wissen.»

Kett atmete langsam aus und schnalzte mit den Lippen. Er spähte am Treppenpfosten vorbei und sah die Kinder durch die Küche marschieren. Moira versuchte, mit ihren pummeligen Beinchen auf einen Stuhl zu klettern. Es gab eine Million Gründe, Nein zu sagen, und drei davon befanden sich direkt vor seiner Nase. Der vierte war der letzte Vermisstenfall, an dem er gearbeitet hatte, der einzige in seiner Laufbahn, den er nicht hatte aufklären können.

Der Fall, der ihn gebrochen hatte.

Was soll ich tun, Billie?

Er brauchte ihre Antwort nicht zu hören. Er wusste bereits, was er sagen würde. Schließlich wurden zwei Mädchen vermisst. Zwei Mädchen, die ihn brauchten.

«Klar», sagte er. «Mach ich.»

KAPITEL DREI

Donnerstag

«Ist es auch wirklich in Ordnung?»

Kett war nur gedämpft zu hören, denn er hatte Moiras Latzhose im Gesicht. Sie versuchte gerade, ihm auf den Kopf zu klettern. Ihre Hände lagen auf seinen Ohren, und so war er nicht nur blind, sondern auch taub und hörte die Antwort nicht, doch nachdem er Moira von seinem Gesicht geklaubt hatte, sah er, dass die Frau nickte.

«Sie ist uns herzlich willkommen, Mr Kett.» Sie deutete durch die Tür in den Kindergarten hinter ihr, ein kleines, gedrungenes grünes Gebäude, das auf dem Pausenhof von Alice’ neuer Grundschule stand. Drinnen machten zwanzig Kinder Lärm für hundert. Evie stand neben Kett, eine Hand auf seinem Bein, und spähte halb aufgeregt, halb angstvoll hinein. Sie ertappte ihn dabei, dass er sie beobachtete.

«Das wird schon», sagte er. «Denk dran, es ist nur für einen Vormittag. Deine Schwester ist gern reingegangen.»

Das stimmte fast. Am Morgen hatte es einen Mini-Ausraster gegeben, weil Alice in den Koffern, die sie mitgebracht hatten, ihren neuen Schulpullover nicht hatte finden können. Aber es war heiß, und Kett hatte sie als Kompromiss ohne Pullover gehen lassen.

«Alice würde staunen, was für ein großes Mädchen du schon bist.»

Evie antwortete nicht, sie stand bloß da, die kleinen Fäuste so fest geballt, dass es Kett das Herz zerriss. Sie hatte so viel durchgemacht, und in gewisser Weise hatte Billies Verschwinden sie tiefer getroffen als die anderen beiden. Alice war älter, aber sie war ein bisschen anders programmiert als die meisten Menschen, die er kannte. Auf ihrer letzten Schule hatten sie immer wieder von ASS und ADHS gesprochen, und sie standen auf der Warteliste für einen Termin beim Facharzt, doch die Wahrheit war, dass sie einfach Alice war, an manchen Tagen entzückend einzigartig, an anderen ein frustrierender Plagegeist. Eigenwillig war das Wort, mit dem sie am häufigsten beschrieben wurde. Außer natürlich, man war Robert Kett, dann war das häufigste Attribut nervig.

Evie dagegen nahm alles auf, beobachtete alles, dachte nach. Im Moment blinzelten ihre großen blauen Augen nicht einmal, und Kett wusste, dass sich in ihrem Kopf gerade die Gedanken überschlugen.

«Nur ein paar Stunden», sagte er. «Ich kaufe dir Smarties.»

Welche Befürchtungen sie auch gehegt haben mochte, die Aussicht auf Smarties fegte sie einfach hinweg. Mit einem strahlenden Lächeln reichte sie der Frau die Hand, und die ergriff sie mit einem amüsierten Glucksen.

«Smarties», sagte Kett. «Crack für Kinder, was?»

Die Frau runzelte missbilligend die Stirn, aber nur für einen Augenblick. Dann sah sie Moira an, die erneut versuchte, Ketts Kopf zu erklimmen wie ein Bergsteiger den Everest.

«Keine Mrs Kett?», fragte sie, zum Glück so leise, dass Evie es nicht hörte.

«Ich bin ganz bald wieder da», sagte Kett und ignorierte die Frage. «Hab dich lieb, meine Schöne.»

«Hab dich auch lieb, Dad», rief Evie zurück und zerrte die Erzieherin praktisch hinter sich her. Kett wartete, bis die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, dann klaubte er sich Moira aus dem Gesicht und hielt sie vor sich.

«Zwei von dreien ist nicht schlecht», sagte er zu ihr. «Hoffentlich mögen die Kollegen in Norwich kleine Kinder.»

 

Die Kollegen in Norwich hassten kleine Kinder.

Sie hassten sie mit einer Inbrunst, die deutlich wurde, sobald Kett durch die Tür der Wache geschlendert kam.

«Sie machen Witze», röhrte ein Mann. Glücklicherweise meinte er nicht Moira. Seine Wut richtete sich gegen eine junge Frau, deren kleines Kind im Empfangsbereich auf dem Boden lag, alle viere von sich gestreckt, und versuchte, allein mit der Kraft seiner Stimme ein Loch in die Decke zu bohren. «Sie wissen schon, dass das hier keine Krabbelgruppe ist, ja? Sie wissen, dass Sie sich in einer Polizeiwache befinden?»

Die Frau – eigentlich eher ein junges Mädchen, sie konnte kaum älter als sechzehn sein – zuckte zusammen, als hätte der Mann sie mit einem Schlagstock angegriffen. Mit Tränen in den Augen nahm sie das plärrende Kind auf den Arm. Kett war empört. Moira hatte sich ein bisschen beruhigt, doch sie zappelte wie ein Sack Aale. Er verfluchte sich dafür, dass er den Buggy nicht aus dem Auto geholt hatte. Noch immer, nach all den Wochen, ging er davon aus, dass Billie es tat. Er schnappte sich das Kind, Billie den Buggy. So hatten sie es immer gemacht.