Die Enten, die Frauen und die Wahrheit - Katja Lange-Müller - E-Book

Die Enten, die Frauen und die Wahrheit E-Book

Katja Lange-Müller

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Beschreibung

»Katja Lange-Müller ist eine Meisterin des Understatement.« Katharina Döbler, NZZ Das Leben steckt voller Geheimnisse – Katja Lange-Müllers Erzählungen aus den letzten acht Jahren sind Kabinettstücke der genauen Beobachtung. Lakonisch und komisch berichten sie von »biotopischen Zuständen« im Alltag. Katja Lange-Müller hat sich hineinbegeben in das Leben, hingesehen und zugelangt – und dann darüber geschrieben. Entstanden sind Texte der besonderen Art, die einem ihrer Lieblingsobjekte gleichen – den Pilzen: Sie wölben sich am Hut, stülpen sich aus und lassen sich sammeln, doch in der Tiefe bilden sie ein verzweigtes Geflecht, das sie zusammenhält und das weiter wächst. In ihren kunstvollen, von Fabulierlust vorangetriebenen Erzählungen geht es um Artverwandtes und -fremdes, um Tiere im Zoo und in freier Wildbahn, um Städte und Wälder, um amerikanische Baseballstadien, südamerikanische Strände und Berliner Bezirke, vor allem aber um die Wesen, die diese Orte bevölkern. Ihnen ist Katja Lange-Müller auf der Spur, mit Liebe zum Detail, Gefühl für Stimmungen und einer außergewöhnlichen Sprachpräzision, die den Leser hineinzieht in die Exotik des Alltags. Dabei führt sie die hohe Schule der Erzählkunst vor: Storys in klassischer Manier, nach dem Modell des Hemingwayschen Eisbergs, bei denen das Entscheidende unter der Oberfläche bleibt.

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Seitenzahl: 227

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Katja Lange-Müller

Die Enten, die Frauen und die Wahrheit

Erzählungen und Miniaturen

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Katja Lange-Müller

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Moskau, Fährten und GefährtenAn einem StrandBiotopische Zustände: Von städtischer Fauna und FloraBesuchDie Enten, die Frauen und die WahrheitLeidenschaftenMensch, KatzeZum Kursker BahnhofWinterlöcherAusflugSie sind so viele und überallEine Legende aus dem nahen OstenSklavendreieckKommen und gehen: Berliner MiniaturenFrühlingMarkthalleParis-BarProst MahlzeitArtistenPlötzenseeGesellschaftsspieleBordell HaseDer SeiltänzerBackenbrecherLudwichSilvesterfeuerIm EisblockBoston im Osten: Kurzes aus einem langen WinterFliegende RaucherSocial Security NumberBuckminster HotelDie Markise von B.Red Sox und kosher Hot DogsVom OriginalErinnerung an ein unbeendet herumliegendes StückZugfahrenDie Ente in der Flasche
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Moskau, Fährten und Gefährten

Schwierig ist es, aber schön – durch Moskau zu laufen, besonders im Winter. Ein Abenteuer für die nicht mehr nüchterne (nirgends schmeckt der Wodka besser als hier und nie besser als im Winter), nicht mehr junge, aus mindestens diesen beiden Gründen nicht mehr gleichgewichtssichere Frau auf den profillosen Sommersohlen ihrer Halbschuhe. Sie, also diesmal ich, kann aufs Maul fallen jeden Moment; unter dem auch gerade gefallenen Schnee kann dünnes Eis sein über einer großen Pfütze in einem tiefen Asphaltloch, einem pflastersteinlosen Tal im Bürgersteig, einem Baugrübchen, wer weiß wie alt, in der viel getretenen, dennoch zu einem schiefen Grinsen verzogenen Visage der einen oder anderen Straße. – Doch, die Gehwege sind die Visagen der Moskauer Straßen, denn die müssen die Fußgänger oder Fußgängerinnen im Auge behalten bei jedem ihrer Schritte, von denen nämlich droht die größte Gefahr, womöglich die einzige.

So, laufend, schlitternd, strauchelnd und immer fröhlich gefaßt auf Platzwunde oder Gipsarm, manövriere ich mich zu einem der Eingänge der Metro-Station Novvokusnetzkaja; ich will zum Zoo heute, weil ich nicht mehr Straßenvisagen sehen will, sondern die von Menschen, jenen Menschen, die Tiere sehen wollen.

In den Gängen zu den Perrons laufen Menschen vorüber oder nicht vorüber an Menschen, die Bildchen verkaufen oder Blumen oder ausgelesene Hefte oder junge Katzen. Andere Menschen gehen vorbei an anderen Menschen, die auch dastehen, dasitzen, daliegen, obwohl sie nichts zu verkaufen haben. Sie bemühen sich allein um ein paar Rubel oder lassen sich von Hündchen helfen beim Betteln oder beim Geben. Und einen sehe ich, einen Mann ohne Beine, der hat etwas, was ich noch nie gesehen habe, einen zahmen Spatzen. Spatzen, glaubte ich bis zu jenen Sekunden im Vorübergehen, seien nicht domestizierbar. Erstaunt verlangsame ich meinen Schritt, ziehe einen Schein aus der Jackentasche und muß Durs Grünbein recht geben, der schrieb, das Gesicht einiger Moskauer Spatzen erinnere an das des Genossen Lenin. Und in Moskau, da müßte nun Durs mir zustimmen, leben viel mehr Spatzen als in Berlin. Und ja, Durs, all die Spatzen sehen Lenin ähnlich – wie ich jetzt weiß, aber du vielleicht nicht –, selbst die in Berlin. Könnte es denn sein, daß sämtliche Spatzen auf unserer ganzen großen Erdkugel Lenins Züge tragen? Und wenn, was hätte das zu bedeuten?

 

Warum komme ich hierher? Ich kann Zoos nicht ausstehen, am wenigsten die in den Hauptstädten. Zoos sind die Ziele familiärer Ausflüge, dahin bringen Mütter und Väter ihre Kinder, Großeltern ihre Enkel.

Was zieht die Leute in den Zoo? Haben die wirklich nur Tomaten auf den Augen und Schuppen auf den Seelen, wenn sie die Kinder animieren, über die drolligen Pinguine zu lachen? Oder verbergen sie hinter ihren interessierten Gebärden das fieseste allen Mitleids: Mir, Ozelot, geht es schlecht, ich habe einen Mann, den ich so wenig ausstehen kann wie er mich. Doch schau, einsamer Ozelot, ich habe von ihm diese liebe Tochter, die dich für eine riesige Mieze hält. Und mein Mann, verstehst du, er trinkt wohl ein bißchen viel, aber er ernährt uns, gibt uns Geld, damit wir ins Kino gehen können oder dich besuchen. Du, Ozelot, könntest uns nicht besuchen. Ohnehin kämst du nur, um uns zu beißen, zu fressen vielleicht. Bilde dir bloß nichts ein; die Kleine würde dir und mir sowieso nicht glauben, daß du sie fressen willst oder mich. Und vielleicht willst du das auch gar nicht, vielleicht hast du längst vergessen, daß du ein Ozelot bist, womöglich hast du ja nicht einmal mehr Zähne. Jedenfalls kannst du uns nicht beißen, nicht jetzt, nicht bald, nie mehr, denn du bist eingesperrt, dafür, daß du ein Ozelot bist. Ach, Ozelot, armes Schwein, nichts kannst du. Ich, weißt du, sehe auch bloß aus wie ich, doch ich bin wenigstens Mutter. Aber du, Ozelot, du erinnerst nur an einen Ozelot, der sich an nichts erinnert. Du bist nichts als eine Metapher für die Gefangenschaft, eine Metapher unter vielen hier im Zoo.

Ich kann keine Gedanken lesen. Was ich der üppigen Frau, die neben mir ein Mädchen umarmt, auf die Zunge lege, sind Worte, die ich soeben gedacht habe.

Das Mädchen trägt eine rote Kappe, aber keinen Korb mit Kuchen und Wein, und der Ozelot ist weder ein Ozelot noch der Böse Wolf. Wir stehen vor dem etwa fünf mal fünf Meter großen Gehege des Schneeleoparden, immerhin einem nahen Verwandten des Ozelot und auch des Leoparden, des Löwenpanthers. Der Schneeleopard ist eins der wenigen Tiere, die sich blicken lassen an diesem für Moskauer Verhältnisse nicht einmal sonderlich kalten Dezembertag. Und wie er sich blicken läßt! Er tut nichts anderes als alle Leoparden in allen Zoos der Welt, jedenfalls denen, die ich bislang besuchte, er tigert mechanisch hin und her, sechs Schritte nach links, sechs Schritte nach rechts, lässige Schritte, die er graziös abrollt auf großen, weichen Pfoten. Doch diesen hier hält nicht ein Gitter von uns fern oder Eisengeflecht, durch das er uns zumindest riechen könnte; nein, der haust hinter einer Glasscheibe, die beschlagen, stumpf, ja blind ist – in Höhe seiner Stirn, weil er immerfort seinen Schädel daran entlangschiebt. Ganz fest preßt der Schneeleopard sein dampfendes Maul an die Schaufensterscheibe, die uns trennt; ganz deutlich sehen wir seine rosige Nase, seine Ohren, seine Augen mit den klaren, aber blicklos ins Nichts starrenden elliptischen Pupillen, mal das rechte Ohr und das rechte Auge, dann wieder das linke Ohr und das linke Auge. Alle sechs Schritte, wenn der Schneeleopard kehrtmacht, um zurückzulaufen oder vor, gibt er der Glasscheibe mit der einen oder der anderen Schläfe einen kleinen, fast spielerisch wirkenden Schubs, kaum heftiger stößt eine Hauskatze ihren Kopf gegen die Waden des Menschen, von dem sie ihr Fressen erwartet, und doch schwingt die Scheibe ein wenig davon; ich höre sie sogar summen, als ich für einen Moment meine Wange an das kalte Glas lege. An einer Stelle ist die Glasscheibe, offensichtlich eine, deren Konsistenz der von Autofrontscheiben ähnelt, ein wenig versehrt. Um einen konvexen Trichter, der womöglich ein kleines Loch werden sollte, ziehen sich feine, kreuzspinnennetzartige Risse, wie auf dem Abbild eines Wasserspiegels, den soeben ein Steinchen getroffen hat, und ich glaube nicht, daß der Schneeleopard derjenige war, der das bewirkte. Dennoch weichen wir, jetzt, da wir von dem Scheibenschaden wissen, ein Stück zurück, das Mädchen, das wie Rotkäppchen aussieht, die rundliche Frau, der ich meine Gedanken geliehen habe, und ich, die mit der Zoo-Aversion.

 

Der nicht allzu große Moskauer Zoo will einer Märchenfestung ähneln, was nicht verwundert in dieser Stadt. Eine geschwungene Betonbrücke, deren hohe Einfassung einige Tierplastiken zieren oder zieren sollen, verbindet die beiden Teile der Anlage miteinander. Zwischen künstlichen Felsen, in denen sich Volieren befinden und die Winterquartiere des nicht frostsicheren lebenden Inventars, liegt ein künstlicher, nierenförmiger See, auf dem, wie zu erwarten war, Enten herumwatscheln, denn der See ist zugefroren, was auch keine Überraschung ist. Um den See herum führt ein Weg vorüber an Gehegen und an Buden für alles mögliche, Limonade, Konfekt, Piroggen, Hot dogs, Zigaretten und jede Menge Tiere darstellendes Spielzeug. Die Zahl der wollenen, hölzernen oder in Kunststoff gegossenen Viecher hinter den beschlagenen Scheiben der Kioske und unter den Markisen der Verkaufsstände dominiert bei weitem die der Originale, die für all die mehr oder weniger lustigen Figuren die Modelle abgegeben haben. – Größer kann ein Kontrast kaum sein als der zwischen dem bunten Krempel in Bären-, Hunde-, Affen-, Tiger- oder Vogelgestalt auf der einen Seite des Weges und den winterfellweißen oder eher grauen oder mehr braunen, entweder sinn- und ziellos an den Innenkanten ihrer Verschläge entlangschnürenden oder stoisch im Geäst der kahlen Bäume hockenden Kreaturen auf der anderen. Die Tiere, die falschen und die echten, gehören antagonistischen Lagern an, wie Schachfiguren, die aber weder nur von hellstem Hell noch nur von dunkelstem Dunkel sind und weder richtig tot noch wirklich lebendig, denke ich, zwischen ihnen wandelnd, und einen König oder eine Königin haben sie auch nicht. Ich erwerbe eine Elefantenmarionette Made in Taiwan, mit der ich nie spielen, die ich nicht einmal zu verschenken wagen werde. Weil ich weiß, daß kaum noch Wodka in meinem Flachmann ist, hätte ich lieber etwas zum Auffüllen genommen, aber Schnaps gibt es keinen im Moskauer Zoo.

Wo sind sie geblieben, Rotkäppchen und seine Mama? Wir folgen ein paar Menschen, mein Elefant und ich, und gelangen zu einem der Betonhügel, vor ein orientalisch geschwungenes Tor, das mich hoffen läßt, wir fänden uns gleich in einer »Sesam öffne dich!«-Attrappe wieder und nicht in einem potemkinschen Kyffhäuser. Aber schon schlägt uns Stallwärme entgegen und ein ätzender Geruch. Und als ich über den uns abgewandten Köpfen der traubenweise herumstehenden Leute die Wipfel von Plastikpalmen entdecke und seltsame Schreie das allgemeine Volksgemurmel durchdringen, weiß ich, wir sind im Tropenhaus, bei den Affen.

Auf dem breiten Brett einer Schaukel hockt eine Grüne Meerkatze, die intensiv damit beschäftigt ist, einen Granatapfel zu zerlegen. Doch sie frißt nicht, sondern wirft die roten, klebrigen Kerne, und ebenso die Granatapfelschalenstücke, nach einer Schnurrbart-Meerkatze, die – mit Kernen und Schalen von mehr als dem einen Granatapfel bestreut – in Embryoposition auf dem Lattenrost des Käfigs schläft – oder sich, wie die zuckende Spitze ihres langen Schwanzes vermuten läßt, bloß schlafend stellt und uns ihren blanken, schwieligen, blauviolett verfärbten Hintern präsentiert. Sie ist also ein paarungsbereites Weibchen, doch eins ohne einen Artgenossen oder wenigstens eine Geschlechtsgenossin von ihrer Art. Am Meerkatzen-Schaukasten prangt ein rundes Schild: »Sponsored by NIVEA.«

Im Nachbargehege sitzen, vor einer mit Dschungelblüten, Bergen, Himmel bemalten Betonwand, drei Berberaffen nebeneinander auf einem kahlen Buchenast, wie Hühner auf der Stange, und zeigen uns auch nichts als die kalten Schultern. Ein etwa vierzehnjähriger Junge pocht an die Scheibe, leise, wohl weil er die Affen nicht erschrecken, aber doch dazu animieren will, daß sich wenigstens einer von ihnen einmal umdreht. Obgleich der Junge sich vergeblich bemüht und nun – unleidlich werdend – mit den Fingern beider Hände ein wildes Stakkato gegen das Glas trommelt, gebietet ihm niemand Einhalt, denn irgendwie sind die Menschen alle sauer auf diese so gar nicht kommunikativen, ja verächtlichen Tiere. Da hat man nun Eintritt bezahlt, trotz der Stiefel kalte Füße bekommen, sich strikt an das alle drei Meter schriftlich erteilte Fütterverbot gehalten, nur um Tiere zu gucken, und was geschieht? Nichts. Die Tiere würdigen ihr Publikum keines Blickes oder verstecken sich sogar. Wahrscheinlich, denke ich, bilden sich die meisten von uns nur ein, sie kämen hierher, um Tiere anzusehen, aber wirklich wollen wir, daß die uns bewundern, unsere schönen Kinder, unsere rosigen Wangen, unsere putzigen Mützen und unsere warmen Pelzmäntel.

Ein einziger nur, einer aus der einzigen hier deponierten Primatenfamilie, einer von den insgesamt vier Angehörigen einer Orang-Utan-Gruppe, benimmt sich anders als alle anderen. Es ist, wie ich mit viel Geduld und Neugier schließlich ermittle, ein noch junges Männchen, vor dessen Zwinger eine solche Menge Schaulustiger steht, daß, von dem Auflauf magisch angezogen, immer noch mehr hinzukommen, die dann lange warten müssen in dritter, vierter, fünfter Reihe, bis weiter vorn einmal ein Platz frei wird, einer, von dem aus man sehen kann, was die anderen so fesselt. Während die drei übrigen Mitglieder seiner Bande, den allgemeinen Konventionen unter den hiesigen Tieren folgend, sich weggedreht im Hintergrund halten, liegt, nein, lümmelt dieser halbstarke Orang-Utan in der linken vorderen Ecke des Kastens. Nur die etwa zwei Zentimeter dicke Spezialglasscheibe ist zwischen seiner muskulösen, gelbbraun behaarten Schulter und den Frauen- und Kinderhandflächen, die von der anderen Seite gegen das Glas drücken. Die Menschen rufen einander Bemerkungen zu und lächeln, denn der Orang-Utan spielt für sie ein Spiel, das sie womöglich kennen; in meiner Sprache heißt es Blindekuh. Der Menschenaffe, den ein Mädchen Sascha nennt und Saschenka, hat sich die Banderole eines Mineralwassers namens Borshomi über die Augen gelegt. Er schiebt seine sehr bewegliche Unterlippe weit vor und pustet ganz behutsam gegen den Papierstreifen, bis das Papier ein wenig zu flattern beginnt und eines der kleinen Orang-Utan-Augen freigibt, das die eingemummten Kollegen oder besser Vorgesetzten da draußen auch nicht anschaut, aber so merkwürdig funkelt für diesen Moment. Dann, als die Borshomi-Banderole ins Rutschen kommt, greifen die Finger seiner rechten Hand schnell danach und schieben sie zurück, mitten in sein Gesicht; Sascha, wenn er denn wirklich so heißt, liegt wieder da, als markiere er den Angeödeten oder den Kater-Kranken, bis er erneut die Unterlippe spitzt. Der Orang-Utan ist ein wirklich großartiger Mime und sein Spiel, so oft er es auch wiederholt, nie gleich; geringfügig von der jeweils vorherigen Demonstration abweichende Variationen einer Geste, einer Grimasse, eine langsamere oder weniger geschickte Handbewegung, ein paar Falten mehr auf der Stirn, ein kurzes Zähneblecken, lassen es differenziert und ambivalent erscheinen, mal autistisch ernst, mal abweisend arrogant, mal eher listig und kokett. Ich frage mich, wie oft Sascha das macht und seit wann heute, aber weil ich rauchen will, verlasse ich die Vorstellung.

Hinter der Brücke, in einem weitläufigen Gehege voller kleiner Tannen, entdecke ich noch einige Füchse, zwei hübsche weiße Polarfüchse, drei rote und einen gescheckten. Denen, denke ich, geht es gut. Sie pflügen mit ihren Stupsnasen den Neuschnee oder jagen einander um die Bäumchen oder die eigene Schwanzspitze. Manchmal springt einer hoch, auf allen vier Pfoten, versucht einen Salto, landet wieder im Schnee und rollt sich da, bis ein anderer Fuchs diese Einladung zu einer kurzen Balgerei endlich annimmt.

Die Wölfe, deren Areal an das der Füchse anschließt, haben magere Flanken und eingezogene Bäuche; aus gelben Mandelaugen schauen sie melancholisch, aber falsch – oder gelangweilt und devot – in unergründliche Fernen. Auch einer von den Wölfen gräbt mit der Schnauze im Schnee, doch bei dem sieht es aus, als geschehe dies nur, weil der den Kopf hängen läßt, ebenso Ohren und Rute. – Ob sie hier schon waren, das Rotkäppchen und seine Mutter?

Ich werfe noch drei, vier müde Blicke auf Schneeule, Schneehühner, Schneegänse. Neben einem Schneemann trinke ich meinen Flachmann leer und steure den Ausgang an; knapp davor befindet sich eine letzte, Voliere, in der, anscheinend völlig freiwillig, nur Sperlinge sind, Hunderte und Aberhunderte von lärmenden Spatzen. Doch wie, Durs Grünbein, gelangten diese »kleinen gefiederten Lenins« wohl hinein in den käseglockenförmigen, aus feinem Draht gewirkten Großkäfig? Die ersten von ihnen könnten sich, vielleicht aus Furcht vor den begehrlichen Blicken all der eingesperrten Adler, Bussarde und Habichte ringsum, oder angelockt von dem Futter, das eine Menschenhand auf den Boden des Riesenbauers gestreut hatte, als frisch geschlüpfte Vögelchen durch die Maschen gezwängt haben, und dann war es ihnen, weil sie sich mittlerweile groß gefressen hatten, nicht mehr möglich, auf demselben Wege wieder zu entweichen; die nächsten Generationen dürften in dieser kommoden Gefangenschaft bereits geboren worden sein. Und nun, Durs? Was, bei Lenin, dessen Gesicht unsterblich ist, solange es Spatzen gibt, haben sie nun vor, falls sie etwas vorhaben? Als ich uns das frage, erinnere ich mich an ein paar Zeilen aus einer alten irischen Ballade: »Hinter Bergen, schwarz und ungenau/ Liegt das Land, das den Jumbleys lieb/ Ihre Augen sind kalt, ihre Federn sind grau/ Und sie stachen in See per Sieb.«

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An einem Strand

A. in N., wie schön, dachte Asta, und fragte sich nicht einmal, was daran nun eigentlich so schön sein sollte.

Asta, ihre Freundin Marianne und deren Freund Jürgen hatten eine lange, zermürbende Reise hinter sich. Drei große Koffer, die sie gemeinsam mit dem Nötigsten, aber vor allem mit Unmengen von Schokoladenostereiern für die nicaraguanischen Kinder vollgestopft und in Berlin aufgegeben hatten, waren nicht angekommen; die würden sie also, wenn das Kopfschütteln des gähnenden oder grinsenden, bis an die Zahnstummel bewaffneten »Managua-Airport«-Beamten nicht bloß Ausdruck seiner miesen Laune gewesen war, in der anderen Bedeutung dieses, wie Asta jetzt erst bemerkte, ohnehin verdächtig doppelsinnigen Wortes, wohl tatsächlich aufgeben müssen. Der – vielleicht ja doch verfrühte – Ärger darüber hatte Asta, Marianne und Jürgen bis zu ihrer nächtlichen Weiterfahrt nach El Trufino zum Streit um eine Flasche Rum versammelt; auf der Heckbank des schrottreifen Überlandbusses hatten sie eine zweite geöffnet, es aber nicht mehr geschafft, auch die noch auszutrinken oder sich wenigstens wieder zu vertragen.

Doch seit den Morgenstunden, seit sie zum ersten Mal in ihrem Leben am Pazifischen Ozean saß, wurden Asta die verlorenen Ostereier mit jeder abgelaufenen Minute gleichgültiger.

Es war heiß, trotz der kleinen Brise, die vom Meer herüberwehte, und Asta konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihre Augen vor Erschöpfung schließen oder aus Neugier offenhalten sollte; und wenn die Müdigkeit für ein paar Momente stärker war als die Lust, aufs Meer zu schauen, und ihr die Koffer doch wieder einfielen, beiläufiger von Mal zu Mal, stellte sie sich all die Schokolade vor, wie sie auf einem Laufband, einer Zollstation, einem Cargo wärmer und wärmer und wärmer wurde und dabei tausendfach die Hohlform verlor und bald komplett zerschmolzen aus den bunten Stanniolhüllen kroch und dann das eine oder andere kleine Loch fand in den nachlässig verknoteten Plastiktüten, die sie hatten schützen sollen gegen die mechanischen und menschlichen Grobheiten, die Koffern samt Inhalten unterwegs so zustoßen, und wie sie schließlich, den Gesetzen der Gravitation folgend, Schichten weißer Unterwäsche durchsuppte; und irgendwann würde die braune Soße, oder zumindest das von den festeren Bestandteilen sich abscheidende Kakaoöl, zwischen den Zähnen der Reißverschlüsse hervorquellen und, in Gestalt süßlich riechender Fettflecke, das jeweilige Transitland, oder vielleicht sogar doch noch Nicaragua, betreten oder richtiger beschleichen, bis die eine oder andere Frau käme und sie wegputzte, die nun arg entstellten Schokoladenostereier aus good old Germany. – Ein seltsamer, wie ein angeschlagener und plötzlich abgebrochener Akkord klingender Ruf, womöglich der eines Vogels, war lauter als das Schmatzen des Wischlappens, das sich Asta, wie sie im nächsten wieder wacheren Moment wußte, nur eingebildet hatte. Obwohl die Sonne noch längst nicht im Zenit stand und man auch hier erst den 28. März schrieb, war es glühend heiß und Asta müder denn je. Oder wurde es heißer in dem Maße, in dem sie müder wurde? Oder wuchsen die Hitze und Astas Müdigkeit nur derartig schnell, weil sie so reglos schlapp am Strand hockte? Nicht schlafen, befahl sie sich: Steh auf und lauf! Wenn du einschläfst, wird es für lange sein und erst die Flut dich wecken – im günstigsten Fall. Durch die kurzen Wimpern an ihren halb herabgelassenen Lidern schaute sie wie durch einen glimmenden Schleier nach links und rechts und über das Meer hin und spürte, daß sie sich auch fürchtete vor dieser menschenleeren Welt, auf deren Fremdheit sie sich gefreut hatte.

Asta wollte sehen, wie die riesigen Karettschildkröten, nachdem sie tagelang geschwommen waren, ohne ein einziges Mal zu fressen, das Ufer erreichten, wie sie ihre adlerschnabelscharf geschnittenen Profile ins Licht des Mondes und der vielen Sterne reckten, wie sich ihre mit Seepocken bedeckten, an junge Inseln voller Vulkane erinnernden Panzer aus dem Wasser wölbten, und wie diese Inseln größer wurden, je näher deren Trägerinnen dem Strand kamen;bis nur noch Sand unter den vor langer Zeit zu Ruderblättern mutierten, seitlich abgespreizten Gliedmaßen der Schildkröten war, feuchter Sand, in den sie, die jahraus jahrein immer gleichen Stellen anstrebend, eine breite, unregelmäßige Spur walzten. Und wenn sie ihren jeweiligen Platz gefunden hätten, würden die mächtigen alten Meeresschildkröten mit den Krallen der hinteren, Beinen noch ziemlich ähnlichen Extremitäten nicht sehr tiefe Mulden scharren, ächzend und schnaufend wie Totengräber bei Bodenfrost, und in diese Mulden hinein ihre hellen, hartschaligen Eier pressen. Und dann würden die Schildkröten, nun die Vorderflossen gebrauchend, den zuvor aufgeworfenen Sand über ihre Gelege schieben, und, dem ihnen vertrauteren Element sich wieder zuwendend, alles mit den dafür wie geschaffenen Unterseiten ihrer Panzer planieren. Und endlich, die Sonne würde bereits aufgehen, wären sie fertig mit der Schinderei, fertig in mancherlei Hinsicht. Und mühsam, als sei jeder Schritt ihr letzter, würden sich die Karettschildkröten zurückschleppen ins Meer, wo sie ausruhen könnten und auf ein weiteres Jahr unsichtbar sein – für Asta oder andere Menschen oder sonstige Landlebewesen.

Asta rieb sich die Augen, die brannten vor Müdigkeit oder von ein paar Körnchen des feinen Sandes, auf den ihr Gesicht niedergesunken war. Sie wischte sich etwas Speichel vom Mundwinkel oder war es Schweiß, hob den Rumpf, ließ den Blick schweifen. Obwohl Asta keinen Menschen sah, der sie hätte sehen können, genierte sie sich in dem fliederfarbenen Unterhemd, das ihren bleichen großen Matronenkörper eher lachhaft entblößte als züchtig verbarg und das sie, ohne zu fragen, aus dem Zimmer der vielleicht noch immer schlafenden Marianne geholt hatte. Oder vermißte man sie bereits; und sei es auch nur, damit sie weiterstreiten könnten? Wie lange hatte sie hier gelegen? Ihr war jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen, aber sie wollte noch nicht zurück.

Einige besonders laute Wellenbrecher oder die Schreie der dreckig-grauen Pelikane, die jetzt hoch am Himmel kreisten und sich von Zeit zu Zeit kopfüber, schnabelunter, schwer und schnell zugleich, als verwandelten sich Steine in Pfeile, ins gleißende, wie ihr nun schien, schwindelerregend bewegte Wasser fallen ließen, ermunterten Asta tatsächlich ein wenig, bewirkten, daß sie sich erhob und ihre Füße sie, erst zögerlich, dann schneller und schneller zum Ozean trugen, denn der Sand, auf den zu treten ja unvermeidlich war, brannte noch höllischer als zuvor – und ebenso jetzt – ihre kurzsichtigen, vom grellen Sonnenlicht und dem Schlafmangel gereizten Augen, die Wahrgenommenes und Halluziniertes kaum mehr auseinanderhielten.

Asta warf sich in das überraschend kalte, salzige und bittere Wasser des Pazifik, tauchte ein paarmal ganz unter und tappte, das lila Hemdchen langziehend, den kraushaarigen Kopf schüttelnd, damit ihr die Tropfen, die wirklich salziger waren als jede Träne, die sie je geweint hatte, nicht in die ohnehin schmerzenden Augen rannen, zurück zum Strand, – den sie auch hinter sich ließ, denn nun entdeckte sie Bäume am Saum der Uferfelsen, deren Füße, wenn man das bei Felsen so nennen kann, in dem mehlfeinen, fast weißen Sand zu stecken schienen, – wie ihre, sobald sie für einen Moment auf einer von ebendiesen Felsen beschatteten Stelle verharrte. – Es waren eher sehr kräftige und lange Äste, die sich, soweit sie reichten, nahezu waagerecht über den Strand gelegt hatten. Oder hatte der Wind, der angeblich während der Regenzeit vom Festland herüberblies, die wipfellosen, nurmehr aus solchen Ästen bestehenden Bäume in diese Form gebracht? Sie schaute genauer hin, betastete die geriffelte, an die Stämme von Weiden erinnernde Rinde, rieb den Staub von einem der spärlichen, kleinen, harten Blätter, die ebenfalls denen der Weide ähnelten, aber nicht sehr, nicht wirklich, wie Marianne jetzt gesagt hätte. Als Asta, weil ihr plötzlich Marianne eingefallen war, schon beschloß, lieber doch erst einmal wieder hinaufzusteigen zu den beiden, die wahrscheinlich längst erwacht waren und nun, nach ihr Ausschau haltend, vor dem Haus auf der Terrasse saßen, stieß ihr linker großer Zeh gegen etwas Pralles, Schuppiges, trotzdem Weiches. Es war eine, wahrscheinlich von der letzten Flut angespülte und dann in einer Astgabel hängengebliebene, ungefähr zwei Meter lange Schlange, grüngrau, mit einem vom dreieckigen Kopf bis zur Schwanzspitze reichenden zitronengelben Zackenmuster, eine Seeschlange womöglich, die an Nicaraguas Küsten vorkommen und giftig sein sollen. Diese allerdings, so bedrohlich sie auch aussah, war mausetot, offensichtlich schon eine Weile, denn sie war angeschwollen wie ein frisch aufgepumpter Fahrradschlauch. An einer Stelle hatte das S, zu dem die Schlange erstarrt war, einerseits einen Knick und andererseits eine häßliche, offene Beule, aus der, belagert von goldig glänzenden Fliegen, ein Wirbel des gebrochenen Rückgrats lugte. Asta wagte nicht, den Kadaver zu berühren, aber als sie so lange über ihn gebeugt blieb, bemerkte sie, am Rande ihres Blickfelds und einer flachen Pfütze, zwischen freigelegten, ausgeblichenen Wurzeln, mehrere kleinere und größere Löcher; und als sie sich eine Weile gar nicht bewegte, schoben sich aus einem der größeren Löcher erst zwei blaue Scheren, dann zwei Fühler, dann zwei Stielaugen, und schließlich kam die ganze leuchtend kobaltblaue Krabbe zum Vorschein, flitzte, die Beinchen in einem kaum begreiflichen Bewegungsablauf nach links setzend, die ungleichen Scheren wie bittend oder drohend erhoben, schräg hinüber zu einem anderen Loch, in dem sie blitzartig verschwand. Asta packte das Jagdfieber, sie sprang hinterher, wühlte das Loch auf, schaufelte händevoll Sand beiseite, durchharkte mit den Fingern die Halden, nichts. Die Krabbe ließ sich nicht finden, und eine andere auch nicht. Asta schüttelte sich enttäuscht und verständnislos das vom Bad im Salzwasser scheußlich klebrig gewordene Haar aus dem Gesicht, ging ein Stück weg von der Schlangenleiche, so weit, daß sie das starre S nicht mehr genau erkennen konnte, setzte sich hin, den Rücken an einen schattenspendenden Felsbrocken gelehnt, und hätte gerne eine Zigarette geraucht.

In einer Gemütsverfassung, von der sie später sagen würde, sie sei unbeschreiblich gewesen, umkreisten Astas Gedanken unscharf die Tatsache, daß ihr nahezu alles, was sie bislang gehört und erblickt hatte, neu war, ja daß sie die Gräser, die Büsche, die Bäume rund um das Haus auf der Klippe und diese zum Meer hin kriechenden Äste nicht einmal dem Namen nach kannte, obwohl sie von Biologie schon einiges verstand. Selbst die Pelikane waren nicht, wie sie sein sollten, nämlich weiß, und eine solche Schlange hatte sie auch in noch keinem Naturfilm gesehen. Sicher, rote Krabben kannte sie, von den Banderolen teurer Konservendosen, aber blaue mit Linksdrall, die aus Löchern schlüpften, nur um sogleich in anderen Löchern wieder zu verschwinden wie vom Sandboden verschluckt? Und wer oder was hatte diesen an einen abgebrochenen Akkord erinnernden Schrei ausgestoßen?

Asta drückte ihre angewinkelten Arme tiefer in den Sand und dann auch ihren Bauch, der, wie sie gleichgültig bemerkte, gar nicht knurrte, obwohl sie seit dem Flug nichts mehr gegessen hatte; sie wollte nur kurz die Augen schließen, nur etwas Leere zu der Stille und der Hitze, die jetzt vollkommen waren, vollkommen unerträglich. Doch noch weniger konnte sich Asta der nun übermächtig werdenden Müdigkeit erwehren – und der Bilder, die, mit den Motiven nach unten, auf ihren Netzhäuten herumschwammen wie Fotos auf der Fixiersäure in der Dunkelkammer: Vor purpurnem Grund wurde die von blauen Krabben bedrängte grüne Seeschlange immer kleiner, und über ihr, am feuerroten Himmel, flog ein schwarzer Pelikan mit einem schwarzen Zweig im Schnabel, als hielte er sich für das Negativ der Friedenstaube. Höher und höher flog der kleiner und kleiner werdende Pelikan, bis er verschwunden war, aufgegangen in den Flammen der Sonne, oder in einem der schwarzen Löcher des Weltalls.