Die Goldinsel - Einar Kárason - E-Book

Die Goldinsel E-Book

Einar Kárason

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Beschreibung

Auch die Familie von Lina und Tommi profitiert vom Wirtschaftswunder der sechziger Jahre, das Island in eine Goldinsel verwandelt

Das E-Book Die Goldinsel wird angeboten von Blanvalet Taschenbuch Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
romane, familiensaga, roman, ebooks, baracken, trilogie, reihe, familie, saga, island, 60erjahre, wirtschaftswunder, wirtschaft, alltag, krämer, wahrsagerin, geld, arbeit, geschichte, 20.jahrhundert, reykjavík, slum

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Seitenzahl: 320

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Wirtschaftswunder! Herrliche, komische Zeiten waren das –nicht nur in der alten Bundesrepublik. Es gab sie auch auf einer kargen, einsamen Insel im Nordatlantik. Die Sonne, die Island in den sechziger Jahren in eine Goldinsel zu verwandeln schien, ging im Westen auf. Alles kam aus Amerika: das Fernsehen, die Rockmusik, die langen Schlitten und das große Geld. Unerhörte Zeiten brachen an – auch im Camp Thule, dem Barackenviertel von Reykjavík, wo sich Tommi, der Krämer, und seine Frau Lina, die Wahrsagerin, durchs Leben schlagen ...

EINAR KÁRASON, geboren 1955, ist einer der wichtigsten skandinavischen Autoren der Gegenwart. Berühmt wurde er durch seine Trilogie »Die Teufelsinsel«, »Die Goldinsel« sowie »Das Gelobte Land«. Sein Roman »Sturmerprobt« stand auf der Shortlist des Nordischen sowie des Isländischen Literaturpreises. Für »Versöhnung und Groll« erhielt er den Isländischen Literaturpreis. Kárason lebt in Reykjavík.

EINAR KÁRASON BEI BTB:

Versöhnung und Groll. Roman

Sturmerprobt. Roman

Feindesland. Roman

DIE TRILOGIE AUS DEM WILDEN NORDEN:

Die Teufelsinsel. Roman

Die Goldinsel. Roman

Das Gelobte Land. Roman

Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel »Gulleyjan« im Verlag Mál og menning, Reykjavík.

Inhaltsverzeichnis

WidmungIIIIIICopyright

& another kettle of fish you’ve pickled me into …

I

Auf ins Schneetreiben

In der wechselvollen Geschichte der Familie waren dies die goldenen Jahre …

Obgleich die Insel selbst zu jener Zeit nicht eben als Hort der Glückseligkeit gelten konnte, denn das Glück wohnte in einem anderen Erdteil, westlich des Großen Meeres, das zumeist kalt war und dräuend und grau aufgepeitscht und mit solcher Gewalt gegen die Küste brach, dass man noch tief im Landesinnern, ohne von all diesem schweren Wasser auch nur etwas zu sehen, die Brandung hören konnte, wenn man das Ohr an die Erde legte.

Indes, die Familie der Wahrsagerin im Alten Haus hatte ihren Anteil am Glück, und zwar durch Gogo, Tochter der Wahrsagerin und entweder Mutter oder Großmutter der übrigen Hausbewohner; die stand drüben im Westen als Ehefrau in Ansehen, und alles, was von ihr kam, verbreitete einen Schimmer jener Sonne, die Gogos Leben erhellte. Und obendrein waren die beiden Brüder aus dem Hause ja auch gen Westen gereist, und der ältere von beiden, der Baddi, kam so verwandelt und weltmännisch und umwerfend flott zurück, dass es niemanden gewundert hätte, wären ihm noch Engelsflügel aus den Schultern gewachsen. Wogegen der andere Bruder zwar gleichfalls westwärts fuhr, schweigsam und verschlossen, von dort jedoch fast noch einsilbiger zurückkehrte; wiewohl so baumlang, dass er die Kinder an den guten Riesen aus dem Märchen erinnerte; leise und schwermütig schlich er durchs Haus, obgleich er doch in Amerika zum Manne hatte werden sollen, und mit der Zeit konnte jeder sehen, dass ihm alles hier unten auf dieser Erde fern und fremd war …

Wenn die Sonne schien, setzten sie sich manchmal mit einer Kanne Kaffee vor die Haustür, doch die langen, dunklen Wintertage in diesem Lande mussten gleichfalls durchgestanden werden. Die Jüngsten im Hause, Dollis Kinder, suchten sich irgendwie zu beschäftigen. Ganze Nachmittage lang saßen sie und spielten Siebzehnundvier um ein paar Pfennige, die Onkel Baddi ihnen großmütig überließ; abends spielten sie gelegentlich »Geist aus der Flasche« und mussten aufpassen, dass Großmutter sie dabei nicht erwischte; die Wahrsagerin sah es nicht gern, wenn die unschuldigen Kinderchen sich mit dergleichen Teufelswerk abgaben. – Bei so was kommt nichts raus, bloß Fluch und Verheerung!, sagte sie, die so wunderlich und eigensinnig war, dass sie die Worte gebrauchte ganz nach Belieben. Manchen Abend schlichen sich Dollis Kinder hinauf in den Alkoven ihres schweigsamen Onkels. Und wenn Danni gut aufgelegt war, erzählte er ihnen Geschichten, abenteuerliche Geschichten von Knirpsen, die genauso hießen wie jene, die da mit offenem Mund auf dem Teppich saßen und lauschten; in seinen Erzählungen konnten Gilli und Mundi schneller rennen als jeder andere auf der Welt, wogegen bei ihrem kleinen lahmen Bruder Bobo mit seinem Holzfuß nie erwähnt wurde, wie schnell der laufen konnte; es war auch überflüssig, der kleine Bobo konnte nämlich in den Geschichten fliegen, wann immer er wollte. – Diese Kinder in Dannis Geschichten gerieten immer wieder in Lebensgefahr, einmal waren sie in ihre kleine Hütte im Wald geflohen und hatten alle Türen und Fenster verrammelt, weil ein großer böser Wolf sie verfolgte. Doch dieser Wolf hier ließ sich durch eine verschlossene Tür nicht hindern. Er holte tief Luft und fauchte dann so gewaltig gegen das Haus, dass es den vor Angst schlotternden Kindern über dem Kopf wegflog; um ein Haar hätte die Geschichte mit einem großen traurigen Auweia geendet. – Nach solchen Geschichten von Abenteuern und Lebensgefahr legten sich die Kinder ins Bett mit einer Gänsehaut vor Schaudern und den Kopf voll von fauchenden Wölfen und wegfliegenden Hütten. Im Alten Haus freilich hatten sie nichts zu fürchten und schliefen letzten Endes doch ruhig ein; kein Sturm konnte diesem betonwandigen Haus etwas anhaben, mochten auch ringsum die elenden Baracken im Sturme zittern. Wie eine unbezwingbare Festung stand das Alte Haus mitten im Viertel. Dieses Haus: Inmitten der Baracken schien es wie der Allmächtige, der den Fliegen ihr kurzes, nichtiges Leben einhaucht; wie die Ewigkeit neben der Vergänglichkeit. Die Betonmauern wurden nie gestrichen. Waren einfach grau, vom Wetter gezeichnet wie das Land selbst, wie Findlinge in der Heide. Und in seiner unerschütterlichen Standhaftigkeit mochten die Kinder des Hauses ruhig schlafen, trotz der abendlichen Erzählungen ihres Onkels im Alkoven; trotz der Geschichten, die so viel gewalttätiger und ereignisreicher waren als die Abenteuer in den Kinderbüchern, die man in diesem Hause ebenso selten wie andere Bücher zu sehen bekam.

Doch doch, es gab schon Bücher hier; immer wieder schlichen sich Bücher ein, die dann wieder verschwunden waren. Durfte man sie vielleicht nicht anschauen? Mit Büchern soll man heimlich umgehen; vielleicht schwinden ihre Kraft und Heiligkeit vor geöffneten Gardinen, im Licht des Tages. Die Passionslieder des berühmten isländischen Dichters lagen unter dem Kopfkissen der Wahrsagerin verborgen, der Riese hielt seine Schriften über Fliegerei und Magie in seinem engen, dunklen Winkel versteckt. Und schließlich Dolli: Während ihre Kinder heimlich »Geist aus der Flasche« spielten oder den Geschichten ihres Onkels lauschten, versackte sie von Zeit zu Zeit in Buchlektüre und heulendem Elend; manchmal schwang sie sich auf, mobilisierte ihre schärfste Vernunft, und dann hatte sie nichts anderes im Sinn, als das bisschen, das sie in dieser Welt ihr Eigen nannte, zusammenzuhalten und es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, wie ihre Großmutter. In solchen Phasen agierte Dolli unerbittlich und entschlossen, sprach in herrischem Ton und reinigte eifrig mit einem Tafelmesser die Ritzen zwischen den Dielen. Dem setzte regelmäßig ein Windhauch ein Ende, der ihr von bittersüßer Sehnsucht nach nichts oder vielleicht nur nach dem Leben flüsterte, das ihre Mutter Gogo geführt hatte, und dann sah Dolli sich selbst, mit Schrubber und Kopftuch und schmerzenden Beinen, binnen weniger Jahre eine verbrauchte alte Frau, die nur noch eines erwarten kann: zu sterben, ohne jemals die Schönheit eines laubüberwachsenen Schlossgartens bei goldenem Wein erlebt zu haben, oder zu tanzen, eng umschlungen, geliebt und verehrt; und darauf verfiel sie in jenen Zustand, den Lina jämmerlich nannte, und nur die Bücher konnten ihr den Kummer ertragen helfen: Geschichten über die schönsten Blüten, die im Schatten dahinwelken, und Samen, die niemals Blumen werden … Bücher, die man nie zu sehen bekam, außer in jenen Stunden, da sie aus Schränken und Nachttischschubladen hervorquollen und sich zu Haufen stapelten; große und kleine, wo Trauer und Sehnsucht über das Meer fliegen und weder Grenzen noch Standesschranken kennen; und einige dieser Bücher waren so überwältigend, dass eine kleine Zeile den Menschen treffen konnte wie ein elektrischer Schlag; fünf Zeilen, und die Augen nehmen nichts mehr wahr außer einer farbenfrohen Fata Morgana, selbst wenn eben diese Zeilen zum hundertsten Male vor dich treten, wie in dem Buch über Viktoria und den Sohn des Malers, wo Liebe ist wie ein Enzian, der sich schließt, wenn er Atem spürt, und stirbt, wenn er berührt wird … Und Liebe war Ursprung der Erde und Herrscherin der Welt; doch all ihre Wege sind bedeckt mit Blumen und Blut …

Wenn Leben aus Leiden besteht, dann ist Leben auf dieser Insel … Komm in die Hauptstadt und spüre, wie sogar die Leere dicht und würgend sein kann, schau den Leuten im Milchladen ins Gesicht; scharfer Wollgeruch, wenn die regennassen Kleider dampfen, Argwohn, und hinter dem unsteten Blick Härte. Besäße ich auch alle Taschengeschäfte der Welt, so wage es doch keiner, sich an diesem Einkaufsnetz zu vergreifen! Die Wände der Häuser weinen. Zugvögel seufzen im trügerischen Schutz der Äste, der Dachfirste oder kreischen vor Wut, weil sie hier an diesem Ort gelandet sind. Die grauen Gefühle jedoch, die an den Seelen nagen, werden nicht von Sturm und Regen gespeist, sondern mästen sich an der Hoffnung auf helle Tage, die mit dem Sonnenlicht wie ein Blitz in eine Höhle fallen, und die Höhlenbewohner erblinden und werden irre. Die hellen Tage brechen herein wie das Jahresfest einer Firma, wo werktags schweigender Hass und Zwietracht regieren: Sobald der Tanz beginnt, ist die Fröhlichkeit zu wild, um noch wahrhaftig zu sein; jedem Sonnenstrahl folgt ein rasender Katzenjammer: Selbstmord, Prügel, Scheidung, zerbrochene Freundschaft; sogar die Stationen der Kinderpsychiatrie füllen sich. Denn vielleicht ist die Stadt wie jene unheimliche Geisterbahn im Tivoli, die sich als simpel und blöde entpuppt, wenn die Putzfrau kommt und mit müder Lebenserfahrung das Licht einschaltet … Sieh, dies alles kann ich dir bieten, sagt die Stadt, wie ein fliegender Händler, der seine Glasperlen auf einem verschlissenen Tuch vor der Hauswand ausbreitet. Hier glitzern nun alle Wunder, von denen ihr geglaubt habt, dass der Nebel sie berge, und womöglich ist es nur gut, wenn die grauzerrissenen Wolken sich wiederum sammeln und über die Dächer senken, manchmal so tief, dass sie zwischen die Häuser kriechen, und Feuchtigkeit macht alles nass und klamm und nährt dennoch die Träume von hellen Tagen mit Blumenmeer und Vogelsang; belebt die Hoffnungen aufs Neue, die im vergangenen Jahresfest der Sonne wurzeln.

Und willst du die Dunkelheit kennenlernen, dann komm auf diese Insel, wenn der sterbensgraue Polarwinter einfällt und alles erstarren lässt, was nicht schon in den Nachtfrösten des Herbstes verwelkte. Lerne sie kennen, diese Dunkelheit, so dicht, dass sie dich zu vergiften scheint oder zumindest zu ersticken. So finster, dass du deine eigenen Hände nicht siehst, obgleich du die Schmerzen spürst, wenn sie verdorren und absterben; vielleicht verdorrst du gänzlich, stirbst von Monat zu Monat mehr ab, und die Dunkelheit kann immer noch schwärzer werden, steigt jedes Mal dichter aus dem schwächlichen Licht, das allmittäglich widerwillig sein Haupt erhebt, leichenblass die Augen einen Spalt öffnet, blinzelt, doch einen Augenblick später vergeht und verweht. Wie eine gestammelte Mahnung vom Totenbett. Wenn dir das Leben lieb ist, wage dich nicht hinaus in den tobenden Nordsturm, der siegessicher die Häuser peitscht und die Holzzäune zerbricht. Komm ins Camp Thule, in dieses verlassene Kasernenviertel, das die Menschen im Alten Haus als Zentrum von Reykjavík betrachten, und sogar dort kann man sich in den engen Gassen zwischen den Baracken verlaufen, wenn das Schneetreiben zunimmt. Nirgends ein Lebenszeichen. Vielleicht liegt es im Winterschlaf unter der schweren Last. Vielleicht nicht. Der Lärm ist nicht menschlich, glücklicherweise. Du verlierst die Orientierung bei diesem Umherstreifen, und vielleicht auch deinen Sinn für Farbe. Könntest dir einbilden, dich auf einem unendlichen Eiszeitgletscher verirrt zu haben, wo alles nur eine Schattierung ist von Schwarz, Weiß und Grau, Schwarz, Weiß und Grau … Außer einem Blinklicht, einem roten Blinklicht, das sich durch die Schwärze seinen Weg bahnt. Im rasenden Flug der Eiskörner undeutlich Hlyns Baracke, und – das ist das Leben, was du siehst: Ein Lebenszeichen an dem Krankenwagen, der Hlyn, den Automechaniker, birgt, von dem eine Stimme im Wind sagt, er habe einen Weg aus der Baracke freischaufeln wollen, jedoch einen Herzanfall bekommen, den Schieber in den Händen. Dies ist ein Lebenszeichen, am Rande des Blickfeldes schemenhaft das graue Gesicht des alten Mannes; du als Letzter im Viertel siehst dieses Gesicht, mit Ausnahme der Schiefen Lauga, die ihrem Mann zu folgen versucht, den Schürzenzipfel an den Augen, und vielleicht ist ihr Wimmern der kurze zusätzliche Laut, den du im Sturme vernimmst, bevor die frierenden Krankenpfleger die Doppeltüren zuschlagen und der Wagen auf Schneeketten davonkriecht, durch die Schwärze und die Schneewehen, zur letzten Reise des Mechanikers, der nicht einmal ein richtiger Mechaniker war, sondern nur ein geschickter Bastler, und dem diese Garage zum Gebrauch überlassen wurde, als das Camp am Ende des großen Krieges für die einheimische Bevölkerung freigegeben wurde.

Und dem trügerischen Mittagslicht droht gleichermaßen ein Herzanfall, daher ist es wohl das Gescheiteste, sich heim ins Alte Haus zu trollen, das für alles sorgt, bevor die tintenschwarze Dunkelheit von Neuem hereinbricht. Dort ragt das Haus steingrau aus dem Zwielicht, doch pass auf an der Eingangstür, sie könnte in die Öde verschwinden, wenn die Windböen sie zu fassen bekämen, und dann triebe der Nordsturm ungehindert Schneewehen in den Flur. Und als hätte die ganze Dunkelheit an jenem Tag Reklame für ihre Kraft gemacht, nimmt sie sogar dem Licht in den Häusern die Luft, die Schalter antworten nur mit einem leisen Knacken; vielleicht ist einer der Stahlriesen, die die Elektrizität von den Wasserfällen über die Hochheide tragen, dem Beispiel vieler anderer in den Siedlungen gefolgt, hat sich zerbrochen und flach dem Angriff des Winters gebeugt. Doch Tommi, der Kaufmann, hat in seiner Weisheit dafür gesorgt, dass es im Hause immer funktionierende Taschenlampen gibt, um solche Situationen zu meistern; Kerzen sind verboten, denn Karolina, die Wahrsagerin, hat alles lebendige Licht aus ihrem Hause verbannt und verflucht.

Wie Mücken sammeln sich die Menschen um die Lichtkegel, die das Dunkel durchschneiden. Tommi und Danni, die Bescheidenen, sitzen bei einer kleinen Lampe in der hintersten Ecke der Stube und reden über Zeiten, die nur deshalb bedeutsam sind, weil sie der Vergangenheit angehören. Der junge Mann hört zu. Der alte Tommi spricht. Die Wahrsagerin behauptet, Tommi könne von nichts anderem erzählen als von seinem Leben in jenen längst vergangenen Tagen, da er als Schnapsbruder und leichtlebiger Junggeselle über die Weltmeere segelte, doch das stimmt nicht, denn nun, im Lichtkegel der Taschenlampe, ist es der Fluch der Sauferei, der seine Gedanken beherrscht; alle Freunde und Verwandten, die in der Hölle des Alkohols zu Grunde gegangen sind.

– Wie Mási, mein verstorbener Bruder. Seit wir geboren wurden, im Abstand von einer halben Stunde, waren wir unzertrennlich. Einen besseren Menschen als ihn gab es nicht, und willkommen war er überall, wo er auch hinkam, so liebenswürdig und hilfsbereit, wie er war. Tüchtig bei jeder Arbeit. Und dann? Zwanzig war er ungefähr, gleich alt wie du, Danni, da landete er im Dreck. Versoff seine ganze Habe. Und es gab einfach nichts, was ich für ihn tun konnte.

– Und was dann?, sagte der junge Mann mit einem Gesicht, als höre er die Geschichte zum zwanzigsten Mal.

– Ja, er war ständig betrunken, man hat so manches erzählt, wie er ums Leben kam, sogar, dass er auf dem Weg zum Klo gestorben ist. Damals hatte ich es schon längst aufgegeben, mit ihm zu saufen. Obwohl ich noch weitergetrunken habe. Viel zu lange.

– Ja.

– Aber dann hatte ich diesen merkwürdigen Traum. Mási, mein Bruder, erscheint mir, mit Schnee und Eisklumpen im Bart, und sagt: Tommi, mein Bruder. Setz den Korken auf die Flasche. Damals hatte ich, äh-äh, da lebte ich schon in der Stadt, und wir hatten uns kennengelernt, deine Großmutter und ich, damals hatte ich noch eine halbe Flasche, und die hat seither keiner mehr angerührt.

– Bis jetzt vor kurzem, fügte Tommi nach kurzem Schweigen hinzu und schielte nach Baddi.

Baddi stand im Rampenlicht. Hatte sich an der Stubentür im Licht der Taschenlampe aufgebaut und hantierte mit Dannis Expander. Der Draufgänger versuchte, den Expander zu spannen, besaß jedoch zu wenig Kraft oder Geduld. Daraufhin klemmte er ein Ende hinter den Türgriff, zog mit der einen Hand und spielte mit der anderen auf den Strängen wie auf einer Gitarre. War in seiner eigenen Gedankenwelt. Murmelte vor sich hin. Gonna git some … real true, down to earth, go gettin’, rock’n’roll beat into this one now. Nickte leicht mit dem Kopf, dass die schwarze Brillantinelocke in die Stirn fiel. Keuchte der Stehlampe Fetzen von Elvis entgegen.

Drüben in der Küche brannte ebenfalls eine Taschenlampe. Sie gehörte Grettir, und die Batterien waren so kraftlos, dass man zusehen konnte, wie das Licht mit jeder Sekunde nachließ. Im Lichtschimmer saßen Dolli und Grettir und beredeten zum hunderttausendsten Mal die Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit, nach dieser langjährigen Verlobung. Dolli wollte die Trauung am liebsten so schnell wie möglich hinter sich bringen, und Grettir bemühte sich nach Kräften, ihr nicht auf die Nerven zu gehen; allem, was sie sagte, von Herzen zuzustimmen, jaja, mein Schatz, ganz wie du willst; trotzdem hatte alles keinen Zweck, denn binnen kürzester Zeit war sie mit den Nerven fertig und hackte auf dem Zukünftigen herum. Dem etwas angejahrten Zukünftigen; Grettir war inzwischen über vierzig, und Lina, der Wahrsagerin, schien fast unglaublich, wie so ein Wurzelzwerg ein solch hohes Alter erreichen konnte.

Dann verlosch das Licht, Dolli hörte mit dem Geschimpfe auf, und Grettir fand es ratsam, sich von der Dunkelheit verbergen zu lassen. Wenig später stöbert Dolli im Haus herum, und drüben aus der Stube hört man sie sagen: – Na, waren das nicht eigentlich zwei?! Und jetzt bietet sie ihre lauteste Stimme auf, irgendwas ist eine ganz verdammte Frechheit und Selbstsüchtigkeit, schließlich wohnen noch mehr im Hause, und es nützt gar nichts, dass Tommi sagt, er habe dem Jungen erlaubt, das Licht mit hochzunehmen, weil Lina sich jetzt einmischt und von dem Maß redet, das endgültig voll wäre.

Und die beiden stürmen die Treppe hinauf und stoßen Dannis Alkoven auf; der Mann im Schrank schrickt zusammen, er liegt gekrümmt in einer Ecke, die Lampe über einer Schreibkladde festgeklemmt, die er zu verstecken sucht, als der Sturmtrupp hereinbricht. Immer diese Heimlichkeiten. Das macht die Sache gewiss nicht besser für ihn, und er kriegt allerhand zu hören, während sie die Lampe herunterreißen, die er mit irgendeinem Patentsystem an der gerahmten Fotografie befestigt hat, die nun von der Wand fällt, auf dem Boden zerspringt, so dass die beiden armen Frauen sich fürchterlich erschrecken. Sie verschwinden mit einigen gestöhnten Jessesmarias und Bekreuzigungen; zurück bleibt der junge Mann, der sich in den Finger schneidet, als er versucht, im Schein eines Streichholzes die Scherben aufzusammeln. Die Tränen stehen ihm in den Augen, und wahrhaftig, die riesigen Schultern beben vor Schluchzen. Denk dir bloß! Ein zwanzigjähriger Mann heult wegen eines alten Fotos, er im Fußballtrikot.

Dannis Tagebuch:

Manchmal erwache ich … nein, manchmal öffnen sich nachts die Augen, die Lider heben sich wie hochgezogen, und ein bleiches Licht sickert in den Schlaf oder Traum, meine Hand auf dem Kissen bewegt sich wie aus einem anderen Leben, schwillt zuerst an und wird blaurot, die Haut reißt und verändert die Farbe, und dann ist es, als verfaule sie und verdorre, als platze sie auf und schrumpfe; und die weißen Knochen treten hervor, und da verstehe ich, was geschieht, und versuche zu schreien, doch meine Zunge ist starr, und ich fühle den tödlichen Frost in den Schädelknochen, und die ewige Kälte zerrt mich unter die Erde … und obgleich ich daraus erwache, komme ich nur halb zu mir! …

Mutter weinte. Zuweilen lagen die Kinder mitten in Nacht und Dunkelheit wach, stundenlang, mit großen Augen, verwundert und mäuschenstill. Das Schluchzen, das Heulen in der Woche vor Grettirs und Dollis Hochzeit; niemand wusste, ob sie vor Kummer oder Glück weinte, nach diesen elf Verlobungsjahren im Alten Haus.

Vielleicht erinnerte sie sich, wie feierlich und prachtvoll der Hochzeitstag ihrer Mutter Gogo gewesen war, als sie Charlie Brown himself from Kansas, USA, heiratete (der Tag, der für die Familie ebenso bedeutungsvoll war wie die erste Weihnachtsnacht für die gesamte Christenheit); damals entflammte die Hoffnung auf ewiges Wohlergehen, damals wurde ihr Dasein vom Licht erhellt, von dieser Zeit an lebte die Familie nicht länger wie die Schwarzen Feen im Märchen, und im Gedächtnis aller, die sich dieses Tages entsannen, stand ein heller Stern am Himmel, Engelsgesang tönte in der Ferne, und ein paar ratlose Weise erschienen auf der Hauptstraße (dort, wo jetzt die Bushaltestelle ist); vielleicht dachte Dolli an den schwarzen Lincoln, Charlies Präsidentenwagen, und verglich ihn mit Grettirs Auto, das trotz seiner Größe doch nichts anderes war als ein alter Leichenwagen mit eingeschraubten Sitzbänken von einem Moskvitsch hinten auf der Sargladefläche und außerdem so morsch und schrottreif, dass er einem Wiedergänger auf dem Friedhof glich; wie Frankenstein mit all den Narben im Gesicht; vielleicht erinnerte sich Dolli an Charlies wunderbare Freunde, die ihn zum Hochzeitsfest begleitet hatten, und lachte dabei unter Tränen, wenn sie sie mit Grettirs wenigen Freunden verglich, zwei oder drei antiquierten Verwandten aus dem Ostland, zahnlos, schielend und stumm, Schnupftabak in Nase, Mund und Augen … Oder vielleicht dachte Dolli an das schneeweiße Brautkleid mit dem Schleier, in welchem ihre Mutter geheiratet hatte; selbst war sie zähneknirschend unzufrieden mit allen Kleidern, die man diese Woche in der Stadt auftreiben konnte. Und am schlimmsten war, zugeben zu müssen, dass die Fetzen wahrhaftig nicht unelegant waren, so auf den Kleiderbügeln … Mit etwas mehr Weitsicht wäre es das geringste Problem gewesen, sich eigens ein Brautkleid anfertigen zu lassen, jetzt, wo Geld da war. Wohnraum gab es ebenfalls genug, und mit hinreichend Zeit zum Überlegen und Organisieren hätte es die Hochzeit des Jahrhunderts werden können. Aber Warten war selbstverständlich ausgeschlossen. Nach all dem Zögern und Verschieben hatten sie die Hochzeit mit einer Spanne von sechs Tagen für Vorbereitungen angesetzt, und allen war klar, dass dieser Termin nicht verschoben würde; die ultimative Frist liefe aus, jener Sonntag im Februar war der absolut letzte Tag, it’s now or never, wie Baddi bisweilen sagte. Obgleich es in vieler Hinsicht der denkbar schlechteste Tag war, ein offensichtlicher Unglückstag, und die Bewohner des Viertels schauten verblüfft drein, als sie die Einladung zur Hochzeit erhielten, denn am gleichen Tag sollte auf dem Friedhof von Fossvogur der Mechaniker Hlyn beigesetzt werden, mit Exequien vorher und Leichenschmaus nachher in seiner T-Baracke, der schönsten und feinsten Baracke des Viertels.

Und der Tag rückte heran, Dunkelheit und Gram in den Zügen der Wolken, die bleischwer auf den Hausdächern lasteten. Grettir erwachte als Erster, vielleicht nicht unbedingt vor Erwartung; in letzter Zeit war er unausweichlich in aller Herrgottsfrühe aufgewacht. Während der vergangenen Wochen hatte er sich keinen arbeitsfreien Tag mehr gegönnt und wusste an diesem Morgen im Alten Haus nichts Rechtes mit sich anzufangen. Ließ trotzdem die Arbeitskleidung liegen und befasste sich mit dem frischgebügelten Sonntagsstaat über der Stuhllehne. Den Sonntagsanzug hatte er seit Jahren nicht mehr getragen und entdeckte daher erst dort in der Dunkelheit des Schlafzimmers, dass er ihm zu eng geworden war, so eng, dass er die Arme nicht an den Seiten herunterhängen lassen konnte, sich nicht zu setzen wagte, nicht einmal den Schweiß von der Stirn trocknen konnte, den es ihn gekostet hatte, die Pracht anzulegen, denn auf der Stelle wären alle Nähte geplatzt. Selbst das Ausziehen des Anzugs war kaum weniger gefährlich; immerhin müsste er ihn für das Ereignis wieder anlegen, und die nächsten sieben Stunden ging er wie auf glühenden Kohlen, watschelte einsilbig, aufgedunsen und kurzatmig durchs Haus.

Tommi kam wenig später auf die Beine; er wollte die friedlichen Morgenstunden nutzen, wo er allein in der Küche sitzen konnte, unrasiert und im Unterhemd, mit baumelnden Hosenträgern und ohne sein Gebiss. Und obwohl er an diesem Morgen das Feld nicht für sich hatte, beeinträchtigte ihn das wenig; Grettir war eifrig damit beschäftigt, sich so wenig wie möglich zu rühren, und störte Tommi daher nicht beim Kaffeetrinken.

Als man unten Dolli und Lina aus dem ersten Stock hörte, wie sie sich gegenseitig anbrüllten, hatte im Radio ein Morgenkonzert mit Barockmusik angefangen, die Kinder des Hauses saßen am Küchentisch bei Großvater, der ihnen mit seinem Gebiss Grimassen schnitt und ihnen Milch mit Kaffee und Zucker einschenkte. Schneeflocken fegten über den hart gefrorenen Boden rings ums Haus. Dolli vor dem großen Spiegel hatte an allem etwas auszusetzen und versuchte, den Tränen nahe, am Schnitt des Brautkleides noch etwas zu ändern; das rosafarbene, enge Kleid glitzerte wie Zuckerwatte. Lina huschte mit Nadel und Faden um sie herum, die Knöpfe und Stecknadeln in ihrem Mundwinkel hüpften und tanzten, wenn sie die Lippen bewegte, was sie fast ununterbrochen tat. Ab und zu betrachtete Dolli sich schaudernd im Spiegel, zerrte hier und zupfte da und lamentierte, alles wäre so hoffnungslos und tragisch, schluckte jedoch schnell weitere Klagen hinunter und schwieg, als Lina drohte, entweder hielte sie das Maul, oder sie müsste im Hüfthalter zur Trauung gehen.

Die Kinder spürten die Spannung in der Luft. Die Zwillinge hingen in solchen Zeiten gewöhnlich an Mutters Rockzipfel, doch diesmal ging das nicht, denn Dolli stieß Schreie aus, sobald sie ihrer ansichtig wurde, fürchtete, sie würden das rosa Zuckerwattenkleid versauen. Beim Vater Unterstützung zu suchen hatte auch keinen Sinn, der stand hilflos und halb versteckt hinter der Stubentür und schaute sie mit großen Augen wortlos an. Der kleine Bobo hingegen igelte sich ein, flüchtete hinaus in die Einsamkeit des Waschhauses und schnitzte sich, auf einer umgedrehten Bütte sitzend, ein Holzmesser. Blieb jedoch nicht lange allein, da Tommi sich zum Zeitvertreib einfallen ließ, das Fenster in der Waschküche zu reparieren, das schief in den Angeln hing, seit man den Anbau gezimmert hatte. Die Zwillinge folgten ihm, und als Danni aufgestanden war, stöberte er sie dort auf. Grettir schlurfte ebenfalls hin und sah schweigend zu, und zuletzt erschien Baddi höchstselbst an der Waschküchentür, ausgeschlafen und sanft lächelnd.

– Ich hab schon geglaubt, alle wären über die Mauer geflohen, sagte er, als er die Versammlung in Augenschein nahm. – Home is where the heart is, fügte er hinzu, ließ sich auf der umgedrehten Bütte nieder mit seinem Neffen Bobo im Arm und fing an, drei Geschichten auf einmal zu erzählen, von einem Sänger, der das Klavier anzündete, einem Schauspieler, der Lui Lui beschuldigte, seine Nikolausmaske gestohlen zu haben, und von einer blutrünstigen Gruppe Taubstummer draußen in Vatnsmyri.

Die eigentliche Trauung sollte an diesem Sonntagnachmittag im Rahmen eines Gottesdienstes in der Pfarrkirche stattfinden, im Beisein der meisten Bewohner des Viertels. Grettir war inzwischen blau angelaufen vor Atemnot, während die Braut nervös den Blick über die Kirchenbänke schweifen ließ. Die Kinder ließen die Köpfe hängen und horchten auf die Fragen des Pastors – Bis dass der Tod euch scheidet – und das Jawort der Eltern. – Jetzt ist die Katze im Sack, murmelte Tommi, während Lina ihm einen strengen Blick zuwarf.

Das Fest hinterher? Wie bereits erwähnt, gab es an diesem Nachmittag zwei Feste im Camp Thule. In der gesamten Familiengeschichte derer vom Alten Haus war die finanzielle Situation nie üppiger gewesen als gerade in diesem Jahr. Hell und warm füllte sich das Haus mit Verwandten und Nachbarn, die Tische bogen sich unter teuren Kuchen aus der Bäckerei und Plätzchen aus England und Amerika, es gab Zigarrenrauch und Gläserklingen und sogar einige schwarzgekleidete Mädchen mit weißen Schürzen, die mit glühend heißem Kaffee in rotkarierten Kannen umhergingen. Der alte Tommi bat das Männervolk zum Rauchen in die Stube, und die Frauen sammelten sich in Küche und Esszimmer, doch seltsamerweise sprach man wenig und lachte gar nicht. Dolli zog sich nach zehn Minuten vom Fest zurück, schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein, und alle bedauerten den Bräutigam, der sich in leichter Konversation zu üben versuchte, indem er hin und wieder ein – Na? oder – Sakra! einschob, dabei allerdings höchst unglücklich dreinschaute. Und vielleicht dachten alle mit Schuldgefühlen an den Begräbniskaffee in der T-Baracke, wo die Witwe, die Schiefe Lauga, mit unbenutzten Gedecken für nahezu dreißig Mann wartete, kalt und verfroren, nachdem sie hinter dem Sarg hergehumpelt war, mit dem Priester, und ihren beiden Söhnen: Olaf Perverso, der immer noch einen Hirnschaden hatte und wunderlich war, nachdem sein Bruder, Otto, der Installateur und Raufbold, ihn fast mit dem eigenen stinkenden Schweißsocken erdrosselt hatte. Und die Tante von Hlyn war ebenfalls dort, so alt, dass sie nicht ohne Hilfe gehen konnte und nie behalten konnte, wer nun gestorben war, und damit wären bereits alle aufgezählt, abgesehen von dem Vereinsvorstand der Briefmarkensammler, welche den Sarg trugen, aber die Vorstandsmitglieder hatten es eilig, sie durften nicht so lange von ihrer Arbeit fernbleiben, dass sie an diesem Begräbniskaffee im Thulecamp hätten teilnehmen können.

Später tat es den Leuten leid, dass sie aus Gedankenlosigkeit die Schiefe Lauga um ihre Feier betrogen hatten; tatsächlich war die alte Waschfrau während der nächsten Woche gebeugt und niedergeschlagen anzusehen, Tommi hatte Gewissensbisse, weil er nicht zur Beisetzung seines Nachbarn und zum Leichenschmaus erschienen war; immerhin hatte dieser seinerzeit den Fußballverein Kauri mitbegründet. Sogar die hartgesottene Wahrsagerin Karolina bekam Gewissensbisse. Und selbst die Braut, Dolli, sagte, für sie wäre es das Allerschlimmste, dass die Sache so gelaufen wäre, sie quälte sich damit herum, und schließlich suchte sie Lauga auf und sprach darüber, welch eine Panne das gewesen war, wie dumm von ihnen beiden, eine unentschuldbare Gedankenlosigkeit, dass man nicht einfach die beiden Anlässe und Feiern zusammengelegt hätte …

Und die Hochzeitsreise ging ziemlich in den Teich. Niemand hatte vorher an eine solche Reise gedacht, erst am Tage nach der Hochzeit. Die Jahreszeit eignete sich schlecht für Fahrten ins Landesinnere; immerhin kaufte das frischgetraute Paar am folgenden Sonntag Kekse und Malzbier und stopfte die Kinder in den Leichenwagen, um einen Ausflug zu unternehmen. Wohin? Bloß ein Stück ostwärts und dann mal sehen, doch kaum waren sie gestartet, da verkündete der Sprecher im Radio, die Straßen nach Osten seien kaum befahrbar für normale PKWs, und Grettir meinte, er wolle kein Risiko eingehen, die Reifen wären abgefahren, die Steuerung reagiere eigenwillig, und der Reservereifen hätte keine Luft. Und Dolli, die praktisch die ganze Zeit gegen diese Fahrt gewesen war, doch den Dingen ihren Lauf gelassen hatte, zog das Taschentuch hervor und fing an zu heulen, weil er ihr jetzt auch das noch kaputtmachte. Lachte unter Tränen: – Hahaha, ein platter Reservereifen! Wahrhaftig, das sieht dir ähnlich! Grettir schwieg, die Kinder saßen mit gesenkten Köpfen auf dem Rücksitz und hofften allmählich, sie würden bloß umdrehen und heim ins Alte Haus zu Oma und Opa fahren. Doch Grettir meinte, er kenne eine andere, herrliche Route, und nach einigen Widrigkeiten waren sie weit oben in der Heidemark gelandet. Im Wagen war es eiskalt, die Heizung ausgefallen. Der Wind heulte und wirbelte den wochenalten Schnee auf, der sich in Wehen hinter jedem Grasbüschel gesammelt hatte. Irgendwo dort mitten in der Einöde blieb der Leichenwagen stecken, und während Grettir sich damit abrackerte, irgendwas von den Vorderrädern loszutreten, versuchte Dolli, die Stimmung in dem nasskalten Auto aufzuheitern, die Kinder sollten mit ihr zusammen dem Kerl Ätschibätschi machen; sie drehte sich zu ihnen um mit einem falschen Lächeln unter todtraurigem Blick und sagte: – Seht euch bloß diesen Knirps an! Die Kinder reagierten nicht, und daraufhin versuchte Dolli sich noch zu steigern: – Seht ihn euch an, den alten Taugenichts! Den elenden Gnurpsel! – Den kleinen Hurenbock!, nannte sie ihn schließlich, ihre Stimme brach, und sie drehte das Gesicht weg und betupfte sich die Augen mit dem Taschentuch. Grettir war in Kalamitäten, und zuletzt riss ihm der Geduldsfaden, er schimpfte wie ein Rohrspatz, fauchte und schnaubte, und Dolli fand, jetzt hätte er ihr endgültig die Hochzeitsreise verdorben; als das Auto endlich freikam, konnte man nicht weiterfahren, weil Dolli sich draußen im Heideland auf einem Grashöcker niedergelassen hatte, saß da, in ihre Jacke gewickelt, und schaute zu Boden, weigerte sich, Grettir einen einzigen Blick zu schenken, auf ihn zu hören, strafte das Auto mit Verachtung, saß bloß da und schüttelte sich, und auf dem Rücksitz weinten leise die Kinder …

Dannis Tagebuch:

Weil letzten Winter das Wetter so schlecht gewesen war, als Schwester Dolli und Grettir heirateten, hatten sie geplant, ihre Hochzeitsreise jetzt im Sommer nachzuholen, doch als sie abfahren sollten, wollte Dolli nicht mit, obwohl Grettir sich unten auf dem Flughafen einen Weapon-Jeep geliehen hatte. Grettir wollte aber unbedingt fahren und lud Großvater und Bruder Baddi und mich ein, aber die beiden anderen konnten nicht, und deswegen sind wir zu dritt los, ich, Grettir und Onkel Snjolf, auf Gänsejagd. Onkel Snjolf war den ganzen Weg hinauf blendender Laune, und sang immer … Die ganze Welt ist wie verhext / Veronika der Spargel wächst … und nippte ständig an einem Schnaps, den sie Jamaica nannten, und ich fand das reichlich blöd, weil Snjolf mich immer umarmen wollte, und er roch fürchterlich aus dem Mund. Dann erzählte er irgendwas, wie er Polizist am Isafjord gewesen war, und zeigte mir ein Bild von sich mit einer Polizeimütze, aber einmal, als wir halten mussten und Onkel Snjolf draußen gegen das Hinterrad pinkelte, da sagte Grettir, das wäre überhaupt keine Polizeimütze, sondern eine Schirmmütze, wie die Hafenlotsen sie tragen, und er hätte sie nur geliehen bekommen. Aber für mich war es in Ordnung, denn der Snjolf ist so ein prima Kerl, richtig cosy. Hinterher fing er an, mir alles Mögliche zu schenken, seine Brieftasche mit ungefähr fünfundzwanzig Kronen, die Taschenuhr, die Anstecknadel von den Anonymen Alkoholikern und seine Manschettenknöpfe, und er gab mir einen Klaps auf den Kopf und sagte, alles in Ordnung, nimm es bloß, Danni, mein lieber kleiner Freund; wo er doch selbst so klein ist, dass er mir kaum bis an die Schultern reicht. Fast hätten wir in der Strömung festgesessen, als wir durch den Fluss wollten, ein Riesenaufruhr, und Grettir gab Gas und bremste abwechselnd, aber das Auto sank immer tiefer ein, und Grettir hatte eine Scheißangst, dass Wasser in den Motor kommen könnte, deswegen mussten wir raus, Snjolf und ich, und schieben. Das Gletscherwasser war eiskalt, man fand kaum Halt, und Snjolf konnte überhaupt nicht schieben, hielt sich bloß am Reservekanister fest. Ich schob und schob, und endlich kam das Auto frei, so plötzlich, dass Snjolf abrutschte und schreiend den Fluss runtergeschwemmt wurde. Ich musste ihm nachschwimmen, und er war schon fast ertrunken, als ich ihn zu packen kriegte und rüber zu Grettir auf das Ufer schleifen konnte. Es war zwar kalt, aber die Sonne schien, und wir wurden schnell trocken, und Snjolf schüttete noch mehr Jamaica in sich rein.

Als sie mit der Jagd anfingen, sagten sie, dass sie sich nicht trauten, dem Jungen eine Schusswaffe in die Hand zu geben, wo ich doch schon über zwanzig bin, aber ich machte mir nichts draus. Dort gab es Gänse an irgendeinem See, und Grettir wollte sich auf der einen Seite langschleichen und abdrücken, während Snjolf auf dieser Seite bleiben sollte und sie erwischen, wenn sie zu fliehen versuchten, denn wie Grettir sagte, wenn sie aufgeschreckt werden, würden sie direkt über unseren Köpfen hochfliegen. Und dann drückte Grettir ab, und die Gänse tauchten genau vor uns auf, und ich sagte zu Snjolf, schieß doch, Snjolf, jetzt musst du schießen, aber er wedelte nur mit der Schrotflinte herum und sagte dann, er hätte keine Gänse gesehen. So lief das zweimal. Gänse haben wir keine gekriegt. Dann schliefen wir im Zelt, und die beiden haben sich derartig besoffen, dass ich sie alles andere als lustig fand. Vor lauter Radau kriegte ich kein Auge zu. Snjolf versuchte immer, wie ein Opernsänger zu singen, so irgendwie SPAA-RA-RA, das reinste Gejaule, fand ich. Dann bin ich eingeschlafen, und nachts wachte ich auf, da hatte es angefangen zu regnen, und Grettir half gerade Snjolf, sich auszukotzen. Der arme Snjolf. Ich konnte nicht mehr schlafen. Nächsten Tag fuhren wir heim, durch strömenden Regen und Nebel, und dem Snjolf war so übel, dass er ununterbrochen sagte, er müsste sterben, und Grettir musste alle naselang anhalten, weil Snjolf sagte, er müsste kotzen, konnte aber nicht kotzen, sondern ließ nur den Kopf aus der Hecktür hängen und die Zunge baumeln und sagte, er würde sterben, und Grettir überlegte schon, ob er ihn nicht nach Selfoss ins Spital bringen sollte. Aber Snjolf wollte nicht, meinte, das würde nichts nützen. Ich versuchte ihm zu helfen, gab ihm alles zurück, was er mir geschenkt hatte, auch das Geld und die Uhr, und daraufhin ging es ihm ein bisschen besser. Ich glaube, Grettir fühlte sich auch nicht ganz wohl, er sah so bleich aus. Als wir endlich nach Hause kamen, drehte Schwester Dolli völlig durch, zuerst heulte sie, dann drosch sie mit der Wurzelbürste auf Grettir los, fing wieder an zu weinen, rannte ins Schlafzimmer hoch und schloss sich ein. Grettir hinterher, versuchte reinzukommen und rief, Dorothea, Schätzchen, hör auf damit, sprich doch mit mir!, aber Dolli schrie bloß, das Ganze wäre eine Sauftour gewesen und vielleicht sogar eine Schürzenjagd und ein Herumgehure, und nur wegen Grettir wäre Onkel Snjolf jetzt so todkrank, und wenn er sterben würde, dann wäre es seine (Grettirs) Schuld. Mich beschuldigte sie auch, sagte, das wäre alles nur passiert, weil ich mit dabei war. Und wo die Gänse wären. Wo die verdammten Gänse wären, sie könnte wahrhaftig keine Gänse sehen, und Grettir sagte, beruhige dich doch, Dorothea, Schätzchen! Seine Schrotflinte wäre kaputt gewesen und die andere in Reparatur, und da hätte er Snjolf die Knarre geliehen, aber Dolli meinte, das wäre alles bloß ein Haufen Lügen und sie würde Onkel Snjolf fragen, ob sie da oben auf dem Lande nicht bloß herumgehurt hätten bei dieser Jagd, wenn bloß der arme Snjolf nicht sterben würde, bevor sie ihn fragen könnte, und dann fing sie wieder an zu heulen und schmiss drinnen im Zimmer irgendwas auf den Boden. Doch ich glaube, das mit dem kaputten Gewehr von Grettir ist sogar wahr, ich bin mit ihm in den Laden gefahren, um ein fehlendes Teil zu holen, was er bestellt hatte, und da sagten sie etwas von auf der Warteliste stehen, und Grettir antwortete, er hätte auf seinen Gewehren am liebsten nichts stehen, noch nicht mal seinen Namen. Onkel Snjolf ist zum Glück nicht gestorben, er bekam nur einen derartigen Schnupfen, dass er gar nicht mehr durch die Nase atmen konnte und nur noch mein lieber Daddi sagte, wenn er mich sah.

Und die Weihnachten jener Jahre, sie warfen ihren Glanz über den verharschten Schnee, über gute und glückliche Zeiten, die Fensterhöhlen der Baracken und das Alte Haus, eingehüllt ins Licht der Sterne. Die ganze Familie genoss das Zusammensein, außer natürlich Gogo, und dennoch war ihr Aufenthalt in Amerika eine ebenso notwendige Voraussetzung für das Fest wie der Geburtstag des Erlösers.

Das Haus wurde komplett überholt. Dolli machte sich mit Schrubber und Putzlappen über die Holzverkleidung her, Grettir legte seine Schrotflinte weg und begann, handwerklich geschickt wie er war, dies und das zu reparieren; flickte wacklige Stühle, ersetzte gesprungene Bodenfliesen und zog die Türgriffe wieder an, die sich im Laufe des Jahres durch das Türenknallen gelockert hatten. Der flotte Baddi höchstselbst strich das Wohnzimmer, überpinselte alles mit hellblauer Wandfarbe und arbeitete hingebungsvoll von morgens bis abends, während er das Weihnachtsgeplärr aus dem US-Radiosender mitsummte. Run run Rudolph. All I want for Christmas is a rock’n’roll electric guitar. Trotz seines enormen Arbeitstempos arbeitete er sauber und genau, kein Tropfen zog Tränen, und nicht der winzigste Spritzer landete auf dem knirschenden Arbeitsanzug, den Tommi für Großmutters Liebling gekauft hatte.