Die Herrin und ihr Knecht - Engel, Georg - kostenlos E-Book

Die Herrin und ihr Knecht E-Book

Engel, Georg

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The Project Gutenberg EBook of Die Herrin und ihr Knecht, by Georg EngelThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Die Herrin und ihr KnechtAuthor: Georg EngelRelease Date: November 28, 2015 [EBook #50283]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE HERRIN UND IHR KNECHT ***Produced by the Online Distributed Proofreading Team athttp://www.pgdp.net (This book was produced from scannedimages of public domain material from the Google Booksproject.)

Die Herrin und ihr Knecht

RomanvonGeorg Engel

Sechstes bis zehntes Tausend

Grethlein & Co. G. m. b. H. in Leipzig

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, von der Verlagsbuchhandlung vorbehalten.

Copyright 1917 by Grethlein & Co. G. m. b. H. in Leipzig.

Druck von August Pries in Leipzig.

Erstes Buch.

I.

Das Landhaus der Grothes wurde wieder geweißt. Aber der Blutfleck neben dem Fenster, das auf den Hof heraus ging, blieb erhalten. Die Maurer hatten ihn auf strenge Anordnung hin verschonen müssen. Und wenn Johanna Grothe mit ihren Knechten hier vorüberwandelte, dann verzog sich ihr herrischer Mund noch stolzer und selbstbewußter, und ihre hohe Gestalt reckte sich auf, daß ihr Marmorhaupt, wie es Konsul Bark immer genannt hatte, hoch über die geduckten ostpreußischen Landleute herausragte. Das begab sich am Tage. Wenn sie jedoch gegen Abend zurückkehrte, um ihren Sitz auf der Gartenbank hart an der Wiese einzunehmen, dicht an der Stelle, wo unter den hochaufgeschossenen Eichenbäumen die Hermen der drei römischen Cäsaren zerbröckelten, dann warf die Vorüberschreitende manchmal einen langen prüfenden Blick auf das rote Mal, und ihre feste, schmale Hand führte eine Bewegung aus, als ob ein strenger und geordneter Mensch etwas Unwillkommenes, Unerhörtes auszustreichen gedachte. Aus der Dorfkirche von Maritzken läutete dann von dem niedrigen Holzturme das singende Glöckchen, das auch damals in die Fieberträume der Grotheschen Ältesten hinein gewimmert hatte. Und der Wind fächelte über das hart getretene Viereck in dem Kleeacker, das eigentlich ein Grab vorstellte.

Ja, die Nacht mit ihren Schrecken war vorübergerast, und der Morgen wollte für die Heimat und die deutsche Menschheit tagen. Und ebenso, wie Johanna Grothe, so stand ihr ganzes Volk vor der weißen Mauer, die wieder frisch getüncht war, und sah auf das helle Blutmal, das in der Sonne funkelte. Ohne Haß, ohne Rachsucht, nur in dem Bewußtsein, daß die Erinnerung daran nicht wieder fortgelöscht werden könnte, und daß jeder alle Kräfte daransetzen müsse, die Mauern des großen Hauses bis auf den einen Fleck weiß und sauber zu erhalten.

Jedem Beschauer bot es einen hellen, einen erfreulichen Anblick, als der leichte, gelbe Jagdwagen, von den beiden wiehernden und schnaubenden Rappen gezogen, in die ersten Straßen der Provinzialhauptstadt einbog. Grüne und blaue Frauenschleier wehten in dem frischen Wind hinter dem Gefährt her, unter den flatternden grauen Staubmänteln blitzten vorüberhuschend weiße und rosa Sommerkleider auf, und zuweilen wurde das Rasseln der Räder durch ein plötzlich auffahrendes Mädchenlachen übertönt, das sich ungeniert und im vollen Genuß des Augenblicks äußerte. Dann streckte mancher kleine Handwerksmeister den Kopf aus seinem Laden heraus, oder in den schrägen Spionenspiegeln, die an die schmalen Fenster der Wohnstuben angeschraubt waren, tauchte das zitternde Konterfei einer nähenden Bürgersfrau auf, die nach einem Blick auf das strahlende Gefährt befriedigt feststellte:

»Aha, die drei Grothe-Marjellen sind wieder da. Hellwig, du bleibst zu Hause, die Älteste kauft nachher ein.«

Und nach einer Weile des Herauslugens setzte dann wohl die dicke Vorkosthändlerin in angenehmer Gewißheit hinzu:

»Natürlich, die Grotheschen stellen im Deutschen Hause ein. Da hat es dann Konsul Bark nicht weit. Merkwürdig, sie sollten doch einmal Ernst machen. Aber bei dieser Art Leuten ist das Herumziehen die Hauptsache. Freilich, mich geht's nichts an, ich bin ja nicht die Mutter.«

Und unten aus dem tiefen Kellerloch dröhnte eine verquollene Stimme zur Antwort herauf:

»Meines Wissens nicht, Mamachen. Und wehe dir, wenn du nachher Andeutungen machst.«

»I wo,« wehrte sich die Dicke und wischte an den Fensterscheiben, damit sie dem prächtigen Wagen noch etwas länger folgen könnte. »Ich kümmere mich nicht um die Angelegenheiten fremder Leute. Bloß der Umstand, daß Konsul Bark, dieser feine Herr, auch mit anderen –«

In diesem Moment jedoch wurde die Klapptür des Kellers mit solcher Wucht in ihre Einfassung geschleudert, daß das Häuschen einen Sprung machte und jedes vernünftige Gespräch verstummen mußte.

Das war sehr unrecht, man hätte noch allerlei erfahren.

Unter der Einfahrt des Deutschen Hauses stand Johanna Grothe – »Hans«, wie sie sowohl von ihren Schwestern als auch von Freunden genannt wurde – vor dem gelben Jagdwagen, den die Mädchenschar soeben verlassen, und während sich die anderen jungen Damen die Staubmäntel schüttelten und die Toiletten ein wenig in Ordnung brachten, gab die Älteste dem noch auf dem Bock sitzenden halbwüchsigen Kutscherjungen ihre letzten Befehle. Sie sprach sehr nachdrücklich mit ihrer festen, ruhigen Stimme, denn der Bursche da oben war nur schwer seiner polnischen Schläfrigkeit zu entreißen, und er sah auch jetzt aus blöden Augen apathisch einer Rotte von Fliegen zu, die den Rücken seiner Tiere peinigte.

»Stasch, du spannst hier aus.«

Der Junge rührte sich nicht, sondern schüttelte nur ein wenig verwundert das Haupt, weil sich immer mehr Bremsen einfanden. Die Tiere schlugen hinten aus.

»Ausspannen, Panna?« murmelte er geistesabwesend.

»Ausspannen,« rief Hans böse hinauf, und dabei versetzte sie dem Rosselenker einen Ruck gegen den Arm, daß der Junge beinahe sein Gleichgewicht verloren hätte.

»Oh Jesus, Panna,« stöhnte er.

»Und dann soll hier gefuttert werden,« bestimmte die hochgewachsene Blonde weiter.

»Gefuttert?« murmelte Stasch in sich hinein, wobei er beinahe Miene machte, von neuem in seinen slawischen Schlaf zu versinken.

Die beiden anderen Schwestern lächelten ein bißchen und warfen sich verständnisinnige Blicke zu. Es lag etwas Überlegenes in dieser verhaltenen Heiterkeit, und es schien fast, als ob die Jüngeren einen heimlichen Bund miteinander geschlossen hätten. Die Große jedoch hatte jetzt völlig ihre Geduld verloren. Hochauf reckte sich die kräftige Gestalt, die Hüften spannten sich, als ob es einen Gewaltstreich auszuführen gelte, und im nächsten Augenblick bereits schoß der weißblonde Pole, einem Zug der in feinem Glacéleder steckenden Frauenhand folgend, vom Bock. Jetzt schrien die beiden anderen Mädchen auf. Der rasche Angriff, sowie das Herbeieilen einiger fremder Menschen empörte sie. Die Herrin von Maritzken aber wandte sich nach ihnen um, und in diesem Augenblick zeigte ihr Antlitz wieder jene Marmorblässe, die Konsul Bark, als ein gewählter Frauenkenner, überall so hervorhob.

»Ihr geht in das Gastzimmer,« herrschte die Älteste die Schwestern an, als gäbe es gegen ihren Entscheid keinerlei Widerspruch. »Ich habe es nicht gern, wenn wir hier so in Massen auftreten. Und diesem Bengel möchte ich das Gespann doch nicht unbeaufsichtigt überlassen. Nun dalli, Ihr erwartet mich drin. Ich möchte nachher noch einen Gang machen.«

»Einen Gang?« fragte die brünette Marianne, die zwar erheblich jünger war wie ihre befehlshaberische Schwester, ihr aber dennoch im Alter am nächsten kam. »Einen Gang?« forschte sie mit der matten Lässigkeit ihrer Bewegungen, in denen so viel gefährlicher Reiz wirken konnte, »du willst dich gewiß mit Konsul Bark treffen, nicht wahr, Hans?«

Die Große verzog ein wenig die Stirn, denn das vertrauliche Lächeln des Einverständnisses, das die Jüngeren wieder untereinander tauschten, gefiel ihr nicht. Laut aber ließ sie nur mit ihrer dunklen Stimme fallen:

»Ich treffe mich nicht mit ihm, sondern ich suche ihn in seinem Geschäft auf.«

»Ah,« echoten die anderen.

Und der Rotkopf von ihnen, Isa, ein siebzehnjähriges geschmeidiges Kätzchen, das der mütterlichen Schwester soviel Schwierigkeiten bei der Erziehung bereitete, sie raschelte auffällig mit ihrem rosa Kleid, verzog den Mund und kniff spitzbübisch die großen braunen Augen zu. Die dunkle Marianne aber legte ihren vollen Arm um die schlanke Hüfte der Kleinen und sagte in ihrer müden Art, die gerade wegen ihrer Leidenschaftslosigkeit häufig so sehr zum Zorn zu reizen vermochte:

»Dann wirst du wohl auch nichts dagegen haben, liebster Hans, wenn ich mich drüben in der Konditorei von Klinkowström auf ein paar Minuten mit Fritz Harder treffe. Ich habe es ihm versprochen, denn er ist heute nachmittag dienstfrei.«

Damit faßten sich die beiden jüngeren Grothe-Marjellen entschlossen unter den Arm und schritten langsam und furchtlos dem Ausgang zu. Allein sie gelangten nur bis zu dem kurzen runden Prellstein, vor dem ihr hochragender Wächter sich aufgepflanzt hatte. Es fiel eigentlich kein lautes Wort, kein Verbot wurde ausgesprochen und keine hastige Entgegnung vernommen, und doch – die langjährige Gewohnheit des Sichfügens, wenn es auch ungern und widerwillig geschah, die Furcht vor der zufahrenden Härte und dem aufflammenden Zorn der Großen erstickte all die leichten, flatterhaften Mädchenwünsche im Keim. Ohne daß die Jüngeren recht begriffen, wie es so schnell geschah, hielten sie allerlei Decken und Schirme in den Händen, die ihnen von der großen Blonden energisch übergeben waren, und wie von selbst traten sie mürrisch und bezwungen den Rückzug durch die dunkle Einfahrt an, um noch auf den drei ausgetretenen Steinstufen, die zu dem inneren Flur hinaufleiteten, aufzufangen, wie die ältere Schwester laut und unbekümmert hinter Marianne herrief:

»Es paßt sich nicht, daß du dich jetzt schon mit dem jungen Offizier triffst, so weit halten wir noch nicht. Aber wenn ich zurückkomme, dann werden wir mehr wissen. Und nun benehmt euch dort drinnen nicht zu ausgelassen.«

»Ja, ja, wir werden uns Mühe geben,« erwiderte die dunkelhaarige Marianne achselzuckend; und dann verschwanden die Grothe-Fräulein hinter der Glastür des Gasthauses, ohne der Ältesten noch einen besonderen Gruß gegönnt zu haben.

Johanna aber wartete ruhig ab, bis der halbwüchsige Kutscher die beiden Rappen ausgespannt und in den Stall geführt hatte. Und erst, nachdem sie noch angeordnet, welche Zehrung der Junge zu sich nehmen solle und aus welchen Geschäften Pakete eintreffen würden, da schritt sie endlich mit ihrem festen, sicheren Gang quer über den Marktplatz herüber. Das edle griechische Haupt mit den harten, blauen Augen trug sie wieder hoch aufgerichtet, und unter dem dünnen Schleier leuchtete die weiße Haut, als ob wirklich ein altes Götterbild auf den Einfall geraten wäre, hier auf dem ostpreußischen, schlecht gepflasterten Marktplatz majestätisch dahinzuwandeln. So stolz und selbstsicher mutete das Bild an, daß selbst ein paar schlanke Gymnasiasten, die auf dem Platz eine wichtige Besprechung abhielten, hochachtungsvoll an ihren hellblauen Mützen rückten, um untereinander zu tuscheln:

»Das ist die Älteste von Maritzken, ein feines Weib! Kuck, sie geht in den Goldenen Becher zu Konsul Bark. Donnerwetter, wenn man doch auch – –«

Und dann kam die Hochgewachsene ganz nahe, und die Jungen dienerten und schwenkten ihre Kappen.

In dem großen Gewölbe des Goldenen Bechers brannten bereits die Gasflammen. Sie verlöschten niemals unter den gotischen Bogen. Denn obwohl über der alten Stadt das Leuchten und Schimmern eines wolkenlosen Sommertages lag, hier drinnen in den niedrigen Gewölben der ehemaligen Probstei herrschte eine beständige kühle Dämmerung. In dem Raum selbst aber schwirrte und summte und knirschte es durcheinander. Achtzehn junge Leute, alle mit sauberen grünen Schürzen angetan, bedienten die sich drängenden Kunden, und alle Augenblicke sah man das schneeige Weiß des aufgeschütteten Salzes blitzen, graue Staubwolken von Mehl schwebten dahin, der Zucker knirschte, stark gebrannter Kaffee verbreitete seinen aromatischen Duft, aber auch Weinflaschen verließen ihr stauberfülltes Lager und ganze Berge von blechernen Konservenbüchsen verschwanden in den mächtigen Körben der Einholenden. Auf der anderen Seite des hochgewölbten Torweges, dicht vor den tief zurückliegenden dunklen Fensterscheiben, die mit dicken Eisenstäben so eng vergittert waren, als ob es sich um Gefangenenzellen handele, da hielten auf dem Marktplatz eisenklirrende Rollwagen, über deren herabgelassene Leiterbäume blaue Petroleumfässer heruntergewälzt wurden. Daneben standen gewaltige Plangefährte. Unausgesetzt trugen riesige Männer mit Lederschürzen viereckige, mit Sackleinwand und Eisenblech verschnürte Ballen heraus. Ein feiner Teegeruch verbreitete sich, als Johanna Grothe dort vorüberschritt. Und an den kleinen, buntgeschirrten Pferdchen mit den gewaltigen Messingkummeten um den Hals erkannte ihr geübter Blick, wie diese Wagen erst vor kurzem von der nahen russischen Grenze angelangt seien. Denn Konsul Bark war der größte Teeimporteur dieser östlichen Provinz, und die kleinen roten Päckchen mit dem goldenen Becher als Aufdruck galten durch das ganze Reich als eine Delikatesse.

Durch den Schwarm der unbekümmert weiterschaffenden Lederschürzen hindurch trat Johanna Grothe durch den grob gepflasterten Flur, bis sie an der rechten Rundwand ein paar ausgetretene grüne Marmorstufen erreicht hatte. Auf der obersten zogen sich altersverwitterte Bronzebuchstaben hin, die durch ihren griechischen Text die stolze Angabe des Hausherrn bekräftigten, daß diese Steine aus einem alten moskowitischen Kloster einstmals von der siegreichen Hanse dem residierenden Probst der Handelsstadt zum Geschenk gemacht worden seien. Vor grauen Zeiten leiteten jene Quadern auch wirklich in das Refektorium der Probstei. Heute jedoch hatte der Konsul sein Privatkontor hier aufgeschlagen; es war ein gewaltiger Raum, von schweren flämischen Möbeln umstellt, während die weißen, splitternden Dielen von einem einzigen orientalischen Teppich in dunkelbrauner Grundfärbung überspannt waren. Einen seltsamen Eindruck rief es auf alle hervor, die zuerst hier eintraten, sobald aus den eingebuchteten Mauerwölbungen immer noch die bunten Mosaikgebilde der Evangelisten in verdämmerten Farben herausleuchteten. Einen förmlichen Schrecken aber verursachte es dem Unvorbereiteten, wenn hinter dem umfangreichen Schreibtisch des Großkaufmanns, nur von dem elektrischen Licht der grünbeschirmten Arbeitslampe getroffen, die überlebensgroße, riesenhafte Holzstatue des Apostelfürsten Petrus mit blauem Mantel und goldenem Heiligenschein auftauchte, genau so, wie sie einstmals an dieser Stelle das Ziel für die Verehrung unzähliger Frommer gebildet hatte. Die Holzstatue aber ragte auf ihrem Marmorquader auf, als wolle sie gegen die neue Zeit und gegen alles, was sie in ihr erblicken mußte, Verwahrung einlegen. Den goldenen Hirtenstab, der unten abgebrochen war, hielt sie gegen das zornige, volkstümliche Herz gepreßt und ihren mächtigen verrosteten Eisenschlüssel streckte sie weit von sich, voll Abscheu und grobem Eifer.

Und der Heilige hatte manchen Grund zu seinem Verhalten. Denn obwohl der neue Besitzer der Probstei ein gewisses feinsinniges Kunstinteresse für die bunten Zeichen einer innerlicheren Epoche besaß, und obwohl es ihm schmeichelte, häufig berühmte Sammler und Gelehrte in seinen Räumen zu empfangen, um ihre Bewunderung für seine Besitztümer zu vernehmen, so lehnte er es doch auf der anderen Seite entschieden ab, sein eigenes Leben mit seiner Umgebung in Einklang zu bringen. Dunkle Gerüchte durchflogen die Stadt, es würden in der alten Probstei unter den Augen der Evangelisten und des Himmelspförtners gelegentlich erlesene Feste gefeiert, die weitab von strenger Daseinsführung lagen und die deshalb das Ziel und die Sehnsucht aller unverheirateten Herren der bevorzugten Kreise bildeten. Etwas Genaues indessen vermochten selbst die neugierigsten Damen der Stadt nicht in Erfahrung zu bringen. Man flüsterte wohl hie und da, daß der Konsul, dieser wohlgepflegte Vierziger mit der schlanken eleganten Gestalt und den schwärmerischen, lang bewimperten Augen, die so gar nicht zu den im Grunde kalten Zügen passen wollten, man flüsterte wohl, daß Konsul Bark in seinem weit ausgreifenden Kunstinteresse auch die Damen des Theaters mit seinen Einladungen beehrte, allein von den Beteiligten wurde dies stets mit sonderbarem Lächeln geleugnet. Äußerlich jedoch zeigte der Goldene Becher dauernd die gleiche patrizische Würde, und da der Konsul sogar in den Zirkeln der Frau Regierungspräsidentin sichtbar wurde, wo nur die dreimal Gesiebten verkehrten, so sanken alle unheiligen Vermutungen immer wieder in sich zusammen. Nur ein einziges Wesen lebte, das über den Wandel des Hausherrn genauen Aufschluß hätte geben können. Das war jener merkwürdige Einsasse des Goldenen Bechers, über den in der Stadt infolge seiner erstaunlichen Vielseitigkeit mindestens ebensoviel Erzählungen umliefen, als über den eleganten Großkaufmann selbst. Es war der Kammerdiener des Konsuls, Pawlowitsch, wie er von dem Chef im Scherz wegen seiner russischen Abkunft genannt wurde.

Ja, Pawlowitsch besaß das Ohr des Großkaufmanns. In einem weißen Leinenanzug war er seinem Herrn frühmorgens bei der Toilette behilflich; er rasierte ihn, und kein Friseur hätte das dunkelbraune Haar des Konsuls so korrekt zu scheiteln vermocht, wie dieser Halbrusse. Bei solcher Gelegenheit erfuhr dann der Herr des Goldenen Bechers, was Pawlowitsch für nützlich hielt, ihm zufließen zu lassen.

»Herr Konsuhl,« flüsterte der Weißkopf, denn er betonte diesen Titel auf der letzten Silbe und dabei beugte er sich während des Einseifens geschmeidig bis zu dem Ohr des Gebieters herab, »die kleine Schwarz vom Stadttheater hat heute abend ihr Benefiz. – Rosen?«

»Jawohl.«

»Vorzüglich –« alle Anordnungen des Chefs beehrte Pawlowitsch mit dieser begeisterten Zensur, »vorzüglich – Teerosen?«

»Gewiß.«

Der weiße Kittel verbeugte sich. Es war ja selbstverständlich, daß er diese gelben Blumen hinter die Bühne zu tragen hatte. Dunkelrote schickte sein Gebieter nur beim Beginn einer vielbegehrten Bekanntschaft. Die ruhigere Epoche wurde dann durch die mattere Farbe gekennzeichnet. Und Pawlowitsch wußte ganz genau, wann die weißen an die Reihe kamen, die den Rückzug des Konsuls einläuteten.

»Vorzüglich.«

Zu derselben Stunde, als Johanna Grothe in ihrer majestätischen Blondheit über den Markt wandelte, beherbergte Konsul Bark in dem Refektorium, aus dessen Mauerhöhlungen noch immer die Mosaikbilder der Evangelisten hervorschimmerten, einen besonders fröhlichen und lauten Besuch. Zur Seite des großen Schreibtisches, dicht neben der Riesenstatue des heiligen Petrus, dessen deutsches Antlitz noch unwilliger als sonst flammte, lehnte ein gewaltiger, muskulöser Russenoffizier behaglich in dem dunklen Ledersessel und hob eben sein Weinglas prüfend gegen die grünbeschirmte Lampe, so daß der gelbe Trank spiegelte und glitzerte. Die Sporen an den hellgelben Reiterstiefeln, die er vor Vergnügen leise aneinander rieb, ließen dazu einen feinen silbernen Sang ertönen, und das laute Gelächter des Fremden schlug schallend gegen die Decke der Wölbung.

»Ja, was sagen mein bester Freund,« rief er wohlgelaunt und stieß den Hausherrn mit dem langen Säbel, den er nicht abgelegt hatte, vertraulich gegen die eleganten schwarzen Lackschuhe, »dumme Tiere von Grenzkosacken haben sich richtig durch Ihren Agenten von Pflicht – wie sagt man? – abwendig machen lassen.«

Der Konsul reckte sich und zupfte verärgert an seinem kurzgeschorenen englischen Schnurrbärtchen.

»Der Jude handelte auf sein eigenes Risiko,« entgegnete er unmutig, »ich habe ihm nicht geraten, Ihre Leute zu bestechen.«

»Bestechen?« Jetzt lachte der Russe noch behaglicher und schüttelte das blondbebartete Haupt. Seine blauen Augen sahen ganz erstaunt aus. »Bestechen?« wiederholte er in seinem gebrochenen Deutsch, »nicht doch. Hat Mann gar nicht beabsichtigt. Ist Gewohnheit bei diesen deutschen Spitzbuben. Pardon – pardon,« verbesserte er sich, und die großen Kinderaugen begannen ihm in der Wirkung des Weins oder aus Verlegenheit zu tränen, »sehr ehrenwerte Leute. Versuchen es nur immer wieder. Aber diesmal hat mir heilige Mutter von Kiew beigestanden. Sieben Wagen vor Brücke zurückgehalten, und zweitausend Rubel in meiner Tasche. Was sagen bester Freund?«

Konsul Bark rückte ein wenig mit seinem Stuhl und blickte seinen Gast zweifelnd von der Seite an. Das Gespräch schien ihm durchaus nicht zuzusagen.

»Ich nehme an,« begann er endlich nach einem Moment der Überlegung, während sein schmales, feingeschnittenes Gesicht durch nichts irgendeine Bewegung verriet, »ich nehme an, Herr Rittmeister Sassin, daß Sie gekommen sind, um das Geld wieder an mich abzuliefern.«

»Oh nein, ist Irrtum. Geld gehört Gossudar, russischen Zaren, unserem allergnädigsten Herrn.« Der Russe verbeugte sich, so daß seine Stirn fast die Platte des Schreibtisches berührte.

»Jawohl, ich kann es mir denken,« meinte der Konsul mißfällig, »sprechen wir nicht mehr darüber.«

»Serr gut, ist ganz meine Ansicht, sind hervorragender Kaufmann. – Händler erster Gilde!«

Jetzt warf der Hausherr seinem Gast von neuem einen scharfen Seitenblick zu. Unwillkürlich faltete sich seine Stirn. Sollte dieser große ungeschlachte Mensch sich etwa über ihn lustig zu machen gedenken, gerade jetzt, da der Fremde ihn um eine erhebliche Summe geschädigt? In diesem Augenblick hatte der kühle Geschäftsmann völlig vergessen, wie oft er jenseits der Grenze in dem kleinen elenden Fabrikstädtchen die reiche und ausgelassene Bewirtung des Grenzoffiziers genossen, eine Gastfreundschaft, die sich manchmal bis zu tobendem Wahnsinn gesteigert hatte. Nein, die Erinnerung hieran war dem Prinzipal des Goldenen Bechers wie in dunklem Rauch aufgegangen. Denn Konsul Bark besaß die Fähigkeit, geschehene Dinge, die ihm nicht mehr behagten, kaltblütig auszustreichen, als wären sie nie gewesen. Seine dunkelgrauen, lang bewimperten Augen blickten noch etwas berechnender drein als gewöhnlich, da er sich auf die Huldigung des Offiziers zu der lässigen Erwiderung anschickte:

»Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden, Herr Rittmeister. Aber gerade, weil ich ein nüchterner Kaufmann bin, so werden Sie es mir nicht übel deuten, wenn ich mich frage, welche geheime Absicht Sie eben jetzt zu mir leitet, obwohl Sie vielleicht Ursache zu haben glauben, mir wegen dieser unangenehmen Zollaffäre zu zürnen.«

Ganz vorsichtig und diplomatisch hatte der Konsul dies vorgebracht, während er unausgesetzt einen großen Elfenbeinfalz zwischen seinen schmalen Fingern hin- und hergleiten ließ. Der Russe jedoch tat seine hellblauen Kinderaugen noch weiter auf, und auf seinen breiten Zügen malte sich vollste Verständnislosigkeit. Ungewiß rieb er sich in seinem stoppligen blonden Kinnbart.

»Nix Zollaffäre, nix zürnen, keine Spur,« versicherte er eifrig und verbeugte sich mehrfach in großer Ehrfurcht vor dem Handelsherrn. »Solche Geschichten alle Tage vorkommen. Au contraire, bereiten Spaß, machen schönes Vergnügen. Leo Konstantinowitsch Sassin bitten Rudolf Bark von Wertschätzung und innigster Freundschaft überzeugt zu sein.«

Damit legte er die Linke aufs Herz und hob das Weinglas grüßend zu dem Hausherrn hinüber. Der Konsul aber, der die Gewohnheiten des Nachbarvolkes kannte, nickte gleichfalls mit dem Haupt, ohne jedoch seinen Zweck aus dem Auge zu verlieren.

»Leo Konstantinowitsch, kann ich Ihnen mit irgend etwas anderem dienen?«

Der Russe schluckte noch an seinem Wein und setzte das Glas ziemlich unbekümmert auf die Schreibtischplatte nieder. Dann erhob er lebhaft beide Hände.

»Pas du tout, mein bester Freund, nix dergleichen. Ja, ist wahr, gab traurige Zeiten für Offiziere von Gossudar, namentlich wenn so weit fort von heilige Petersburg. Serr zu kämpfen gegen Einsamkeit, Langweile und Armut. Da ist Rudolf Bark immer hilfreicher Freund gewesen, serr hilfreich, Kavalier –«

»Sehr schön, aber – –«

»Kommt, kommt alles. Armut vorbei, durch Gnade von Väterchen bedeutend besser gestellt. Einnahmen hier, Einnahmen dort, man kann nicht klagen. Und seit Gouverneur von Wilna Grenzstationen kontrolliert, auch eigene maison – Häuschen.«

Bei der Erwähnung dieser kleinen ›maison‹ flog ein verschmitzter Schein über die eben noch so ernsten Züge des Kaufmanns.

»Ja, ich habe gehört, Leo Konstantinowitsch. Man erzählt, daß Ihnen eine reizende Villa gebaut sei.«

»Eben fertig,« warf der Russe sehr befriedigt ein.

»Nun gut, nehmen Sie meinen Glückwunsch. Es fehlt nichts hinein als eine junge Frau.«

Der Russe fuchtelte wieder mit den Händen und ließ die Sporen klirren.

»Oh, fehlt nicht, fehlt nicht, pas du tout, man weiß sich zu behelfen. Und davon gerade, Rudolf Bark, sollen Sie sich überzeugen. Ich bitte serr, ich bitte inständigst.«

»Sie meinen doch nicht –?«

»Ja, meine ich, ein kleines Fest. Eine Einweihung, intim, serr vornehm. Und wenn Sie mich machen wollen glücklich, dann legen auch ein gutes Wort ein bei die schönen Damen von Maritzken, die ich neulich so bevorzugt war, bei Ihnen zu treffen. Wunderschöne Damen, namentlich die große, üppige, stolze, mit die königliche Gang, und die schwarze mit den roten Lippen. Es wird werden serr amüsant.«

So unerwartet traf den Großkaufmann diese letzte Aufforderung, daß er den Elfenbeinfalz hart auf den Tisch fallen ließ und erst einen verlegenen Blick auf das Holzantlitz des Apostels warf, bevor er, sich zusammenraffend, widersprechen konnte:

»Nein, nein, lieber Rittmeister, dieser Mission fühle ich mich nicht gewachsen. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber es kommt mir doch höchst zweifelhaft vor, ob sich die jungen Damen von Maritzken, und namentlich die Älteste, in dem eigentümlichen« – der Konsul zögerte einen Augenblick und suchte nach einem Ausdruck – »na sagen wir Junggesellenmilieu wohlfühlen würden.«

Der Grenzoffizier jedoch sprang klirrend auf und fegte mit seiner Rechten in sprudelnder Lebhaftigkeit durch die Luft, als müsse er jedes einzelne Wort seines Gegenübers besonders ausstreichen.

»Kein Junggesellenmilieu,« schrie er, unbekümmert darum, ob seine Worte nicht etwa jenseits der Diele verstanden werden könnten, »Sie täuschen sich, bester Konsul, wir besitzen Takt, savoir vivre. Sie kränken uns, wenn Sie zweifeln daran. Wir sind junges Volk, harmloses Volk, – aber galant gegen Damen.«

Sicherlich gedachte Leo Konstantinowitsch seine nationale Eigenart noch eingehender zu schildern, aber das leis-ironische Lächeln, das abermals die Lippen seines Zuhörers umspielte, veranlaßte ihn, sich zu unterbrechen, um sich beschwörend die mächtige Faust mitten auf die Brust zu schlagen. Es gab einen dumpfen Widerhall.

»Diesmal nicht so wie sonst,« brachte er ganz treuherzig hervor, wobei er immerfort das blonde Haupt schüttelte, »Oberst Geschow aus Mariampol mit seiner jungen Frau gibt gleichfalls die Ehre. Und alle jungen Frauen von Kameraden ebenso. Wir werden trinken nur ein Täßchen Tee, essen dazu ganz dünne Kaviarschnittchen, und die Gattin von Zivilgouverneur – Frau Bobscheff, serr fromme Dame – wird sein Patronesse von das Ganze. Sie werden sich einlegen Ehre, Rudolf Bark, mit dieser Einladung bei den jungen Fräulein von Maritzken. Und,« setzte der Russe sehr ernst und nachdrücklich hinzu, »es ist gut, wenn beide Völker freundschaftlich verkehren. Ich sage, es ist gut.«

Noch hatte der Russe nicht völlig seine Erklärungen geschlossen, als die eisenbeschlagene Eichentür sich geräuschlos in ihren Angeln drehte. Vor dem lauten Gespräch hatten die beiden Männer völlig überhört, daß schon zweimal an das harte Holz gepocht wurde. Jetzt stand unter der Wölbung der Tür eine blaue Hausmeistersuniform mit blanken Messingknöpfen, und das kurz geschorene weiße Haupt des berühmten Pawlowitsch neigte sich zu einer demütigen Verbeugung. Beide Arme ließ der Alte dabei weit gestreckt von sich herunterhängen.

»Herr Konsuhl,« wisperte eine flehentlich-zerknirschte Stimme, »ich störe.«

»Schon gut, was gibt's?«

Der Alte wandte sich halb nach draußen und ließ eine zweite Verbeugung nach der Richtung der Diele hin folgen.

»Das gnädige Fräulein von Maritzken ist soeben angekommen.«

»Heilige Mutter,« sprudelte der Russe und ließ vor Erstaunen den breiten Mund mit den tadellosen Zähnen offen.

Aber auch der Konsul schnellte aus seinem Sessel, und es war sehr merkwürdig, wie er sich bemühte, in aller Eile ein Aschenkörnchen von dem Aufschlag seines eleganten braunen Promenadenanzugs fortzustäuben.

»Ist es das älteste Fräulein?« warf er rasch hin, und eilfertig schritt er in die Ecke, um selbst die elektrische Leitung aufzudrehen, die die Lichter des schweren lombardischen Kronleuchters an der mittelsten der Wölbungen aufstrahlen ließ. »Ist es die Älteste der Damen?«

Pawlowitsch zwinkerte ein wenig mit den schwarzen Augen. »Fräulein Johanna« meldete er.

Der Konsul machte ein paar Schritte bis zur Tür.

»Stehe sofort zu Diensten.« Er sprach so laut, daß man seine Stimme sicherlich draußen auf dem Flur vernehmen mußte. »Lieber Herr Rittmeister – –,« fuhr er fort, und ohne daß er noch etwas Weiteres zu äußern brauchte, lag in seiner sprechenden Handbewegung das Bedauern, die Konferenz mit dem Offizier leider schließen zu müssen.

Inzwischen hatte auch Rittmeister Sassin seinen gebogenen Säbel enger an sich gezogen und ergriff nun die breitrandige blaue Mütze. Er schien vollkommen einzusehen, daß er hier überflüssig würde. Ja, in seinen groben, verschwommenen Zügen arbeitete sogar eine starke innere Verlegenheit. Heilige Mutter, diese stolze königliche Deutsche flößte ihm einen Respekt ein, den er sich nicht zu erklären vermochte. Viele der deutschen Weiber besaßen etwas Ähnliches. Nein, zum Teufel, die andere, die Schwarze mit den roten Lippen und der üppigen Lässigkeit war angenehmer, bequemer. Und in seinem kindlichen Verstand stritten sich Zweifel, ob es wirklich möglich sein würde, die Damen von Maritzken zu dem Besuch in der gemütlichen kleinen ›maison‹ jenseits der Grenze zu veranlassen. »Rudolf Bark gestatten, daß holder Dame die Hand küsse. Und nicht wahr, nicht vergessen an meine Bitte! Überlasse alles Ihnen, bester Freund, alles Ihnen!«

Da öffnete sich die Tür, die hohe, schlanke Frauengestalt in dem cremefarbenen Bastseidenkostüm ragte unter der Wölbung. Die drei Männer aber verbeugten sich gleichzeitig so tief und ehrfürchtig, daß sie vielleicht gelächelt haben würden, wenn sie ihre gesenkten Häupter selbst hätten beobachten können. Dann reichte der Konsul seinem neuen Gast höflich die Hand, wobei er es jedoch vermied, die schlanken Fingerspitzen an seine Lippen zu führen. Das hatte sich das Landmädchen ein für allemal verbeten. Darauf eine kurze Wendung gegen den russischen Offizier, ein vergebliches Bemühen des Rittmeisters, seine Huldigung auf den weißen Handschuh der Dame zu hauchen und die verabschiedende Beteuerung des Russen, daß sein bester Freund Rudolf Bark holden Dame ein großes Geheimnis mitzuteilen habe. Eine Bitte, ein fußfälliges Flehen, deren Erfüllung armen Leo Konstantinowitsch in einen Taumel des Entzückens versetzen würde.

»Guten Morgen, Rudolf Bark, alle Nothelfer behüten Sie – Gnädigste, der Himmel nehme Sie in seinen Schutz.«

Die silbernen Sporen klirrten zusammen, der Säbel rasselte, und die wuchtige Gestalt des Grenzoffiziers schritt tönend über die grünen Marmorstufen.

Die beiden anderen blieben allein.

»Liebes Fräulein Johanna, nehmen Sie Platz,« forderte der Konsul auf, indem er sehr diensteifrig einen neuen Ledersessel an den Schreibtisch schob. Und nachdem die Älteste von Maritzken sich wortlos niedergelassen, blieb er geneigt vor ihr stehen, um von neuem zu bitten: »Wollen Sie nicht, lieber Hans, den Schleier ein wenig zurückschlagen? Damit ich erkennen kann, ob Sie etwas Gutes, oder, was ich nicht hoffen will, etwas Schlimmes zu mir führt? Denn leider wird ja der Goldene Becher fast ausschließlich zu geschäftlichen Beratungen aufgesucht, nicht wahr, bester Hans?«

Wie immer, wenn er mit der Ältesten von Maritzken sprach, klang seine Stimme liebenswürdig und vertrauenerweckend und enthielt nichts von jener flatterhaften Galanterie, die dem Landmädchen, das die harte Notwendigkeit zur Arbeit gezwungen hatte, so verleidet war. Gerade diese offene konventionelle Art hatte dem Geschäftsmann das Vertrauen der Vorsichtigen erworben, obwohl auch zu ihr allerlei abfällige Urteile über ihren Freund gedrungen waren. Aber Johanna Grothe verachtete solche heimlich zugeflüsterten Gerüchte. Ihre unbestechliche Gewissenhaftigkeit verlangte Beweiskräftiges. Und alles, was sie von Rudolf Bark während jener drei Jahre erfahren, seitdem die Mutter dort draußen im Schatten der Kirche von Maritzken ruhte, und auch den Vater eigenes Verschulden oder ein unseliges Schicksal aus den Reihen der tätig Wirkenden entfernt hatten, nein, alles was ihr von dem nüchternen klaren Geschäftsmann in selbstloser Opferwilligkeit während jener schweren Zeit geboten war, es atmete Sicherheit, Ordnung und ein Gefühl für ihr inneres Bedürfnis nach Sauberkeit. Und so hatte sich zwischen ihnen nach einer anfänglichen kühlen Geschäftsverbindung das vertrauliche Verhältnis von Ratgeber und Schützling gebildet.

Auch heute drängte es die Selbstsichere, ihre Sorgen gewissermaßen durchrechnen zu lassen, denn sie fühlte sich entlastet, sobald ihr eigenes Urteil die Unterstützung des Vielerfahrenen fand. Nicht leicht schien ihr im Augenblick die Einleitung zu fallen, ja, der Konsul merkte, wie das große, kräftige Mädchen – die Heroine, wie er sie manchmal heimlich nannte – ihre Blicke befangen vor den seinigen zu dem braunen Teppich heruntersenkte. Endlich jedoch schlug die Sitzende mit einer raschen Bewegung ihren Schleier in die Höhe, und wieder entzückte den Großkaufmann jene merkwürdige Blässe, die er schon so häufig angestaunt hatte. Ganz eigenartig hoben sich die tiefdunklen blauen Augen von dem matten weißen Grunde ab.

»Hören Sie, Herr Konsul,« sprach Johanna endlich, indem sie mit aller Kraft die Gedanken auf ihr Ziel zu sammeln versuchte, und dabei schlug sie die dunklen Augen so fest und ehrlich gegen ihn auf, daß der Mann plötzlich ein eigenes Schwanken spürte. Es blieb immer dasselbe. Diese große königliche Erscheinung, die sich über die Schwächen und Wünsche ihres Geschlechtes sicherlich weit erhoben hatte, sie machte es ihm manchmal wirklich nicht leicht, die gleichgültige Ruhe des kühlen Geschäftsfreundes zu wahren. Schweigend lehnte er dicht neben ihr gegen die Platte des Schreibtisches und sah sie aufmerksam an. »Hören Sie, lieber Konsul,« begann Johanna von neuem, »ich muß Sie schon wieder einmal mit einer Angelegenheit behelligen, die mir lebhafte Besorgnis einflößt. Sie wollten es damals nicht glauben, aber ich habe doch recht behalten.«

»Sie behalten immer recht, lieber Hans,« sagte der Konsul verbindlich.

»Nein, nein, scherzen Sie nicht. Diesmal wird es wirklich Ernst. Und da ich ja keine Mutter und leider auch im eigentlichen Sinne keinen Vater besitze,« fügte sie mit kurzem Atem an, »so wende ich mich eben an Sie. Ich habe Vertrauen zu Ihnen.«

Der Konsul wollte etwas erwidern, aber von ihrem merkwürdig dunklen Blick getroffen, brachte er es nur dazu, ihr warm und zustimmend die Hand entgegenzustrecken. Dann forschte er schnell:

»Also um was handelt es sich, liebster Hans? Spannen Sie mich nicht länger.«

Merkwürdig, die Älteste von Maritzken schien keineswegs zu spüren, wie die Hand des Mannes noch immer auf der ihren ruhte. Sie fuhr unbekümmert fort:

»Gestern abend saß ich auf der Wiesenbank vor den drei Statuen der römischen Kaiser –«

»Aha,« unterbrach der Zuhörende, »die Stelle muß man sich merken, das ist offenbar Ihr Lieblingsplatz.«

»Ja, ich sitze gern dort. Aber gestern wurde mir der Ort auf lange Zeit verleidet. Denken Sie sich, Konsul Bark, – es fällt mir sehr schwer, Ihnen dies alles zu gestehen – als ich meine Blicke ganz absichtslos über die weite grüne Wiese richtete, auf der gerade ein junger Hase seine komischen Männchen machte, da sah ich ganz hinten am Waldsaum meine Schwester Marianne mit einem Fremden schreiten.«

»Weiter,« forderte der Konsul interessiert.

»Die Gestalten waren nur zwerghaft klein, aber ich erkannte den Eindringling trotz alledem, obwohl er nicht Uniform angelegt hatte.«

Jetzt richtete sich der Kaufmann schnell auf, zog ein wenig an seinem braunen Jakett und bewegte dann abschätzend die flache Hand hin und her.

»Es war natürlich Fritz Harder,« äußerte er bestimmt.

Das stolze Weib in dem Sessel nickte. Dann aber schlug sie verstört die Augen nieder, und ihre ganze Gestalt beugte sich zusammen, als ob sie von einer körperlichen Last zu Boden gedrückt würde.

»Lächeln Sie nicht, Herr Konsul,« sagte sie matt, »ich bin über das Alter hinaus, als daß ich gegen eine ehrbare Annäherung etwas einzuwenden hätte.« Und als der Konsul eine Bewegung machte, wie wenn er sie nicht verstände, stieß sie plötzlich anmutig hervor, und ihre Stimme tönte laut und grollend: »Das war es aber nicht. Gegen diese stürmischen Liebkosungen in der dunklen Stille eines Haselnußhaines muß ich Einsprache erheben. Das kann und will ich nicht dulden. Denn nach dem, was schon einmal bei uns geschehen, muß ich mehr wie jede andere darauf achten, daß unserem Hause der landläufige Respekt entgegengebracht wird.«

Die zusammengekauerte Gestalt ließ ihre Arme zwischen die Knie herabsinken und riß sich alles Weitere matt und dumpf von der Seele los, wie wenn sie mit sich selbst zürne, daß sie so Verschwiegenes offenbare.

»Glauben Sie mir, lieber Freund, meine Rolle fällt mir nicht immer leicht. Ich weiß, die Mädels hassen mich, weil ich ihnen so vieles versagen, und häufig wie ein Polizist vor ihnen auftauchen muß. Aber Sie, Konsul Bark, Sie kennen meine Beweggründe. Ich habe es nun einmal übernommen, aus dem großen Zusammenbruch zu retten, was irgend möglich war, und bin darüber alt geworden.«

»Na, na, Hans,« schob hier der Konsul lächelnd ein.

Er dachte daran, daß diese Achtundzwanzigjährige in ihrer kalten, abweisenden Schönheit ein Weib sei, das alle Ansprüche aufgegeben habe zu reizen, zu gefallen und zu bestricken, ein Geschöpf, das in klarer Erkenntnis seiner harten Fron allmählich sich selbst vergessen hatte. Und doch – der schlanke Mann in dem eleganten Promenadenanzug warf unbemerkt einen spähenden Blick auf seine Besucherin – ob wirklich alle Wünsche in diesem stolzen Leib erstorben und verlöscht waren? Und in der vorüberhastenden Minute, während seine Augen, die Frauenschönheit so sehr aufzuspüren verstanden, über den gebeugten Mädchennacken glitten, da gestand sich der reife Mann, daß gerade die starke Neugierde, jenes tief verschlossene Geheimnis zu lösen, ihn so dauernd an das frostige, marmorharte Geschöpf da vor ihm fesselte. Und mit einem gewissen Unwillen empfand er auch, wie schwer und unbequem es sei, sich selbst immer in so respektvoller Entfernung zu halten. Ja, es war sehr schwer, denn er erkannte ganz klar, eine einzige unvorsichtige Andeutung, das Verlassen der unverfänglichen und korrekten Beziehungen mußte die Ahnungslose dort sofort empört und enttäuscht von dannen treiben. Und vor diesen Enthüllungen scheute sich der Frauenkenner. Nein, nein, die großen scharfen Augen der Heroine von Maritzken wollte er nicht im Zorn auf sich gerichtet fühlen. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, hegte er eine heimliche und ihn doch quälende Abneigung davor, das Unverdorbene, das Heilig-Jungfräuliche dieses abgeschlossenen Lebens zu stören. So nahm er auch jetzt nur in verborgener Bewunderung die köstliche Weiße ihres Nackens wahr, laut aber sprach er sehr ruhig und überlegt zu der in sich Versunkenen herunter:

»Also, lieber Hans, mir scheint, Sie sehen da wieder etwas zu dunkel. Wenn Sie auf mein Urteil irgendein Gewicht legen, so meine ich, was sich da in der lauschigen Dämmerung des Haselnußhaines abspielte, das waren eben die landläufigen Vorboten einer regelrechten Verlobung. Oder glauben Sie berechtigt zu sein, es anders aufzufassen?«

Auf diese Frage richtete sich Johanna unvermittelt auf und strich sich die spröde Seide über ihrer Brust zurecht. Zum erstenmal lief über ihre immer so schneeigen Wangen ein leichtes Rot.

»Ich weiß nicht,« versetzte sie ungewiß, mit sich selbst kämpfend, »ich will es hoffen, obwohl meine Schwester Marianne – ich spreche zu Ihnen ganz rückhaltslos, lieber Konsul – für meinen Geschmack etwas viel zu Nachgiebiges und Entgegenkommendes besitzt. Aber selbst wenn sich Ihre Ansicht bewahrheitete,« fuhr sie überlegend fort, »dann halte ich es für schicklich, daß sich der junge Offizier zuerst an mich gewendet hätte.«

»Liebe Johanna,« begütigte der Konsul, »Sie klammern sich da an eine etwas altmodische Auffassung.«

»Nun ja, Sie mögen recht haben, ich bin eben mißtrauisch und wittere hinter allen Menschen zuvörderst irgendeine verborgene Absicht. Das Leben hat mich allmählich so geformt. Sie müssen mir das nicht übel deuten, lieber Freund, Ihnen gegenüber fällt das ja alles fort. Und nun die Hauptsache: Glauben Sie wirklich, daß Fritz Harder der geeignete Mann wäre, um eine so dauernd nach Glück und Glanz verlangende Natur wie Marianne befriedigen zu können?«

Der Konsul zuckte die Achseln.

»Gott, Sie werden nicht leugnen,« versetzte er endlich abschätzend, »daß er ein hübscher, flotter Bursche ist und, wie ich annehme, auch ein aussichtsvoller Offizier.«

Die Älteste von Maritzken rückte hastig mit ihrem Stuhl.

»Glauben Sie das wirklich?« entgegnete sie mit wenig überzeugtem Ton. »Das gerade möchte ich bezweifeln. Mir gefallen Männer nicht, die nicht vollkommen von ihrem Beruf ausgefüllt werden. Sehen Sie, was hat sich ein junger Leutnant für schweres Geld einen Flügel zu kaufen, um nun halbe Nächte lang auf ihm herumzuphantasieren? Er komponiert ja auch.«

»Na, Hans,« beruhigte der Konsul, »die Vergnügungen in einer mittleren Garnison sind ja nicht allzu abwechslungsreich. Wenn er sich nur mit dieser Art von Spiel befaßt, so wollen wir ihn deswegen nicht verurteilen.«

Aber die Gutsherrin war nicht so leicht abzuweisen.

»Schön,« gab sie zu, »aber der junge Mensch hat leider überhaupt etwas Dilettierendes. Wie Sie wissen, versucht er sich auch in der Ölmalerei. Er bringt zwar ganz nette Porträts hervor, aber wie sich dies alles mit seinem eigentlichen Beruf vereint, das begreife ich nicht. Und um wahr zu sein, es erregt mir Mißbehagen.«

Hier wagte es der Konsul, der leidenschaftlich Sprechenden begütigend, fast väterlich die Wange zu streicheln. Aber diesmal wurde es von der Besucherin aufgefaßt. Mit einer herben Bewegung schob sie seine Finger zurück. Dann forderte sie noch einmal:

»Teilen Sie meine Bedenken?«

Inzwischen hatte sich der Konsul in seinen Ledersessel niedergelassen, und nachdem er seiner Gewohnheit gemäß mit einem Blick, wie um Rat fragend, das Antlitz des Apostels gestreift, da gab er seine Ansicht klug und jedes Wort wagend, zu erkennen.

»Liebes Kind,« beschwichtigte er, »mit dem Beruf eines Offiziers ist es ein eigen Ding. Wir vergessen immer so leicht, daß alle Mühen und Anstrengungen, die der höhere Militär aufwendet und die in immer strengerem Maße von ihm gefordert werden, kein in die Augen fallendes Ergebnis zeitigen können. Sie sind die einzige Menschenklasse in unserem Staat, die, solang der Friede dauert, nicht den praktischen Beweis von ihrer Leistungsfähigkeit zu erbringen vermag. Man empfindet ihr ganzes Tun und Treiben hie und da bereits als spielerisch und überflüssig. Und dieses Bewußtsein ist es, was viele Soldaten so rastlos nach Dingen greifen heißt, die jenseits ihres Berufes liegen. Sie suchen sich eben auszufüllen. Nein, Johanna,« richtete sich der Konsul plötzlich auf und klopfte ermunternd an die Seitenlehne des anderen Sessels, »daraus wollen wir dem hübschen Bengel keinen Strick drehen. Und daß er sich in die knisternde Schönheit von Marianne vergaffte, Gott –« der Kaufmann zuckte die Achseln – »dieses Los teilt er gewiß mit manchem jugendlichen Schwärmer und außerdem, es läßt keinen üblen Rückschluß auf seine Uneigennützigkeit zu.«

Bei diesem letzten Wort glitt ein kaltes Lächeln um die Lippen des Gutsfräuleins. Sie hob ihren Schleier noch etwas mehr, und die blauen festen Augen suchten scharf und bindend den Blick ihres Beraters. Der Konsul rückte ein wenig ungemütlich hin und her.

»Ah, Sie meinen,« nahm die Älteste von Maritzken das Wort des Gefährten auf, »Sie meinen, daß der junge Mann Lob und Anerkennung verdiene, weil er sich zu der Angehörigen einer unbegüterten Familie herabläßt, die ihren Töchtern keine Mitgift auszusetzen vermag?«

»Hans, Hans,« mahnte hier der Konsul und hob dämpfend die Hand.

Aber die hohe Blonde fuhr fort: »Ja, ja, man spricht ja so etwas Ähnliches sowohl in der Stadt, wie in der Umgegend. Und es ist mir ganz recht,« bestätigte sie sehr ernsthaft, und jener rechnende Schein spielte von neuem aus ihrem weißen Antlitz, »es ist mir ganz recht, wenn sich keine Mitgiftjäger um meine Schwestern bemühen, denn ich kann das Vermögen, das ich uns in achtjähriger Arbeit erworben, noch sehr gut in meinem landwirtschaftlichen Betriebe gebrauchen. Sie aber, lieber Konsul, Sie sind ja der einzige, der genau darüber orientiert ist, wie wenig alle diese Gerüchte der Wahrheit entsprechen. Ja, es ist richtig,« sprach sie immer heftiger weiter, »ich habe die zwei großen väterlichen Güter damals in der schweren Zeit aufgeben müssen. Oder besser gesagt, ich habe sie auf Ihren Rat mit Gewalt zur Versteigerung getrieben. Aber das letzte, auf dem ich mich festgesetzt hatte, um mich nicht mehr davon vertreiben zu lassen, unser Maritzken, dieses Stück Erde, halb Bauernhof, halb Rittergut, das ist doch mit Ihrer Hilfe so bewirtschaftet worden, daß es sich sehen lassen kann. Und die Summen, die ich hier bereits bei Ihnen ablieferte, würden immerhin für eine Mitgift für meine Schwestern genügen, nicht wahr? Lieber Konsul,« fügte sie kalt und unempfindlich an, als der Mann eine Bewegung ausführte, als ob ihm das Gespräch peinlich würde, »ich möchte bei dieser Gelegenheit gleich etwas richtig stellen, was mir schon lange Ihnen gegenüber auf dem Herzen liegt. Wenn Sie nämlich von diesen Privatgeldern sprechen, dann pflegen Sie die Summe stets durch drei zu teilen. Es scheint also, als ob Sie auch für mich ein eigenes Konto angelegt hätten. Das ist ein Irrtum, Konsul Bark. Ich erkläre hiermit ausdrücklich, daß mein Teil restlos auf meine Schwestern übergeht. Sehen Sie mich nicht so erstaunt an, damit beleidigen Sie mich. Ich selbst habe dort draußen in meiner Wirksamkeit vollkommen meine Befriedigung gefunden und werde darin keine Veränderung mehr eintreten lassen.«

Ein Augenblick der Ruhe erhob sich zwischen den Beiden. Der Konsul hatte sich zurückgelehnt, und seine lang bewimperten Augen umfaßten das ruhige Frauenbild vor ihm mit unverhohlener Bewunderung. Nie hatte er sie so begehrenswert gefunden, als jetzt, wo er das leidenschaftslose Gelübde ihrer Entsagung vernommen hatte. Und er glaubte an den unverbrüchlichen Ernst dieses Scheidens von den Freuden und Tänzen der Welt. Nichts Nonnenhaftes lag auf dem edlen Antlitz mit den strengen Marmorzügen, ja, während der Konsul in ihm las, meinte er beinahe, der wohlgeformte Mund, der so gemessen über ein abgeschlossenes Schicksal sprach, auf ihm sei das Lächeln nur eingefroren und es müßte sich herrlich ausnehmen, wenn es sich wieder einstelle.

Das Gutsfräulein jedoch, als ob es fühlte, daß die Gedanken des so auffällig Schweigenden an ihr herumtasteten, schob den Sessel zurück, stand auf und rüstete sich zum Abschied.

»Ich wollte Sie bitten, mit Fritz Harder Rücksprache zu nehmen,« schüttelte sie endlich ihren lang aufgesparten Wunsch von sich ab.

Der Konsul verbeugte sich leicht. »Ich war auf diesen Befehl vorbereitet, lieber Hans. Und passen Sie auf, in wenigen Tagen wird der glückliche Freiersmann nach allen Regeln des Herkommens bei Ihnen anhalten. Übrigens,« fuhr er fort, »möchte ich doch vorher, wenn Sie gestatten, auch ein paar Worte mit Marianne über diesen Fall wechseln. Und wissen Sie, Hänschen,« lachte er plötzlich ganz unvermutet dazwischen, »da könnten wir eigentlich ein sonderbares Rendezvous verabreden. Sie können sich gewiß nicht denken, wer mir soeben eine Einladung für Sie und die Mädels überbracht hat.«

»Nein,« gestand die Aufbrechende, indem sie sich bereits den Schleier herabzog, »geht Ihre Vormundschaft über mich schon so weit, daß Sie auch Ihre Zustimmung für unsere Besuche zu erteilen haben?«

»Keineswegs, Hänschen, soweit geht sie unglücklicherweise nicht,« scherzte der Kaufmann und strich seinem Besuch das verschobene Jakett ein wenig zurecht, »man überschätzt meinen Einfluß leider bedeutend.«

Und nun erfuhr Johanna Grothe die merkwürdige Bitte des russischen Rittmeisters, der die drei Damen zu einem Ausflug jenseits der Grenze veranlassen wollte. Und aus der ganzen Art, wie der Kaufmann diese Einladung wiedergab, wie er die gewählte Zusammensetzung der Gesellschaft hervorhob oder Einzelheiten der Bewirtung schilderte, in allem sprach sich deutlich der Zweifel an der Verwirklichung des Planes aus. Allein es kam anders. Die Älteste von Maritzken warf plötzlich das Haupt in den Nacken, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte, dann schlug sie noch einmal den Schleier zurück und trat an den Schreibtisch, wo sie mit dem Zeigefinger allerlei Figuren auf das rote Tuch malte.

»Sie fahren auch mit, Konsul Bark?« fragte sie rasch.

Der Prinzipal des Goldenen Bechers war sich nicht ganz einig.

»Ja – ja allerdings, gegebenenfalls.«

»Dann ist es selbstverständlich, daß wir dort empfangen werden, wie wir es erwarten dürfen.«

»Alle Wetter, Hänschen, was machen Sie für Sätze?« vergaß sich der Kaufmann, und auf seinem hübschen Gesicht malte sich ein offenes Erstaunen.

Die Gutsherrin jedoch wandte ihren klaren Blick nicht von ihm ab; und siehe da, was der Hausherr sich so gewünscht hatte, es erfüllte sich. Um den stolzen Mund der Hochragenden spielte unvermutet ein harmloses, ja verschmitztes Lächeln. Welch ein Wunder! Sie sah plötzlich aus wie eine gutmütige Zwanzigjährige, die einen derben Streich plant.

»Hänschen, was haben Sie vor?«

»Gott, die Sache ist ganz einfach, lieber Freund,« lächelte die Gefragte verschämt, »es handelt sich dabei natürlich für mich um ein Geschäft.«

»Aha!«

»Sie wissen, ich möchte für die kommende Ernte billigere Landarbeiter mieten, und da dachte ich, daß die Russen von drüben –«

»Hans, Sie wollen doch nicht –?«

»Doch, doch, es nimmt hier ja auch niemand auf mich Rücksicht, und ich bin keine Wohltäterin. Nur die Grenzstationen drüben machen uns Schwierigkeiten und halten die gedienten Leute zurück.«

Jetzt lachte der Konsul hell auf.

»Ah, und Sie meinen,« rief er wohlgelaunt, »wenn die drei Damen von Maritzken unseren Nachbarn ein paar hübsche Augen zuwerfen, dann – –«

Das Gutsfräulein hielt seinen Blick aus.

»Das nicht gerade,« sprach sie ruhig, »reden Sie keinen solchen Unsinn, Konsul Bark. Aber ein Wort gibt das andere, verstehen Sie? Man gelangt leichter an sein Ziel. Und dann,« fügte sie noch überlegt an, »ich brauche auch billige Ackerpferde, und dort drüben verkauft man sie halb umsonst. Man bedarf nur der Protektion.«

»Die wird Ihnen nicht fehlen,« schloß der Kaufmann, indem er seinen Gast höflich bis zu den vier Marmorstufen geleitete, »verlassen Sie sich darauf, bester Hans. Aber wie gesagt, Sie sind ein kapitaler Rechner. Und über den Ausflug ins Russische reden wir noch. Da ich als Anstandspapa zu fungieren habe, so will ich mich doch noch genauer über alles orientieren. Und nun, lieber Hans, leben Sie wohl, und ich danke Ihnen auch für Ihren lieben Besuch.«

Die Blonde reichte ihm über die Stufen hinauf die Rechte. Es war ein Händedruck, wie sie es gewohnt war, fest, kräftig, zupackend. Die wohlgepflegten Finger des eleganten Mannes empfanden die Umklammerung beinahe schmerzlich.

»Wenn ich Sie nur nicht gestört habe,« warf sie noch dankbar zurück.

Der Mann aber verbeugte sich leicht und entgegnete nachdrücklich:

»Ich wünschte, Sie kämen öfter.«

Dann blieb er unter den geöffneten Türflügeln stehen und sah ihr nach, bis die hohe Gestalt jenseits des Marktplatzes verschwunden war.

II.

Glutrote Abendsonne glitzerte aus allen hochgelegenen Fensterscheiben der Stadt, selbst an dem schwarzen Schieferdach der Sankt Sebaldus-Kirche floß es wie von blutigen Strömen hinunter. Hoch oben unter dem First stand in einer engen Mauerhöhlung die bunte Holzstatue des Schutzheiligen, und auch aus seinem sonst erloschenen Sternenreif spritzten die roten Lichtflammen. Es sah aus, als wäre das entblößte heilige Haupt von ein paar Säbelhieben getroffen und heller Lebenssaft zische aus den Wunden hervor. Immer mehr verbreiteten sich die funkelnden Lachen auf den schwarzen Platten.

Unter dem in Flammengold und angehendem Violett schimmernden Himmel zog gerade über dem Marktplatz eine Schar weißer Tauben ihre Kreise. Eine vereinzelte blauschwarze Nachzüglerin flatterte in geringem Abstand hinter den blitzenden Schwestern her, gleich einem schlimmen Gedanken, den die guten, beseligenden weit hinter sich gelassen. Ein frischer Abendwind surrte durch die Gassen, und von den nahen Feldern, die sich hinter der Stadt in ununterbrochener Weite dehnten, führte er einen süßen Kleeduft mit sich.

Gerade als es in rollenden, schleppenden Tönen von der Sebaldus-Kirche die siebente Stunde schlug, da quoll aus der am Markt liegenden Konditorei von Klinkowström eine kleine Anzahl junger Offiziere heraus, die sich lachend und säbelschleifend über dem schmalen Trottoir verbreitete.

»'n Abend, Harder.«

»Adieu, Janick. Ihr bleibt im Kasino, wie?«

»Nirgends anders. Dort soll ja eine kleine Götterberatung stattfinden, was wir mit dem Onkel aus dem Generalstab anstellen sollen, der den Herren Offizieren in einiger Zeit zum Vortrag geschickt wird. A propos, lieber Harder, ist dieses wissenschaftliche Huhn, der Major von Siebel, nicht ein Verwandter von Ihnen?«

Der junge Offizier mit der saloppen, etwas vorgebeugten Haltung und dem scharf geschnittenen, bartlosen Antlitz, von dem seine Kameraden behaupteten, daß es ein Cäsarenkopf wäre, hakte seinen Säbel ein und blies von dem schwarzen Interimsrock achtlos etwas Zigarettenasche hinweg.

»Siebel?«, wiederholte er mit einer leisen, wohllautenden Stimme, die gar nichts Militärisches in sich barg und auch den energischen Zügen seines dunklen Gesichts nicht zu entsprechen schien. »Was Sie sagen, Janick, kommt der her? Jawohl, er ist wohl ein Übervetter meiner Mutter. Wir duzen uns gerade noch. Übrigens ein grundgescheiter Herr.«

»Na ja,« pflichtete der baumlange Janick bei, indem er einen anderen Kameraden bereits unter den Arm faßte, »die Weisheit liegt in Eurer Familie. Na, und Sie, Musikante, ziehen wohl für heute abend wieder zu Mendelssohn und Beethoven ab? Meinen Segen haben Sie. Viel Erbauung!«

Der Schlanke griff nachlässig an seine Mütze und wandte sich, um in eine Seitenstraße einzubiegen:

»Danke für den frommen Wunsch, meine Herren,« meinte er gleichgültig, »Sie sind sehr gütig.«

Seine Schritte hallten schon in dem engen Gäßchen, als der lange Janick ihm noch nachrief:

»Fritz, vergessen Sie nicht, morgen früh wieder sechs Uhr Schützengrabenübung. Das verdammte Buddeln nimmt kein Ende.«

»Danke,« schallte es von der anderen Seite zurück, »die Ordonnanz war schon bei mir. Gute Nacht, meine Herren.«

Langsam, mit seiner vorgebeugten Haltung setzte Fritz Harder seinen Weg durch die enge Zeile fort. Vor einem Antiquitätenladen, in dessen dunklem verräucherten Schaufenster neben ein paar Trommeln aus den Freiheitskriegen auch ein Bild in halb vermodertem Rahmen ausgestellt war, verharrte der junge Offizier und hob sein Monokel vor das Auge. Eine kleine Weile betrachtete er die schwärzliche Landschaft. Dann murmelte er etwas Unverständliches und nahm seinen Weg wieder auf, ohne den jungen Mädchen, die hier paarweise promenierten, irgendwelche Beachtung zu schenken. Bald hatte er sein Heim erreicht. Es war ein ganz schmales, spitzgiebliges Häuschen, das sich zwischen zwei anderen altertümlichen Bauten nur schüchtern eingeklemmt hatte. Vor Baufälligkeit schien es sich direkt vorüber zu neigen, und da es außerdem bis zu dem Holzbord des ersten Stockwerks himmelblau angestrichen war, von dort aber bis unter das Dach in rosenroter Färbung prangte, so glich es viel mehr einem Pfefferkuchengebilde vom Weihnachtsmarkt, das man recht lieblich und bunt herausstaffiert. Kaum begreiflich aber war es, wie die Zwei-Fenster-Front des Häuschens noch durch eine rot gepflasterte Diele getrennt sein sollte. Und doch verhielt es sich so. Auf der einen Seite des Flurs ging es nämlich beständig tick-tack, tick-tack. Hier hauste der Besitzer des blauen und rosenroten Pfefferkuchens, Herr Nikolaus Adameit, der ehrsame Zunftmeister der Uhrmachergilde. Ja, hier nistete der alte struwelige Mann, hochgeehrt und bewundert von der ganzen Handelsstadt, denn es haftete wohl im Gedenken seiner Mitbürger, daß es ihm allein von allen seinen Handwerksgenossen vor reichlich vierzig Jahren gelungen war, das verstummte Glockenspiel der Sebaldus-Kirche zu neuem klingenden Leben zu erwecken. Das hatte dem damals im kräftigsten Mannesalter stehenden Künstler tausend preußische Reichstaler eingetragen. Und wozu hatte er diese große, diese überschwengliche Summe verwendet?

Wozu?

Kein Mensch konnte darüber etwas Genaues angeben. Man hörte nur aus den wütend hingeworfenen Angaben seines stotternden Gehilfen Leiser Bienchen, eines phantastisch armen Judenjungen, der von den Wohltaten seines Meisters lebte, alle alten Kleidungsstücke des Uhrmachers bis zum Zerbröckeln auftrug und trotzdem, aus künstlerischen Gründen, beständig im heftigsten Streit mit seinem zahnlosen Prinzipal lebte, man vernahm nur in Augenblicken zitternder Wut von jenem menschenscheuen Gehilfen, daß es sich um eine Erfindung handele, die einmal Millionen einbringen müßte. Tief unten in einem triefend feuchten Keller, und immer nur in den Frühstunden, wurde von den beiden Adepten an dieser merkwürdigen Maschinerie gearbeitet. Und der letzte Bursche des Leutnants, der sich einmal bis in den schwarzen Abgrund hinunter verirrte, er hatte entdeckt, daß bei jenen beglückenden Ideen zweifellos auch ein starkes Uhrwerk im Spiel sein müsse:

»Denn in dem Keller, Herr Leutnant, macht es immerfort tick-tack, tick-tack. Es stinkt mordsmäßig dort unten. Nach Schwefel und Säuren und all solchem Zeug. Und wenn mich der verfluchte Judenbengel nicht einen Fußtritt gerade vor den Magen versetzt hätte, Herr Leutnant, ich hätte die Beiden bei der Teufelsbeschwörung überrascht. Denn um so was handelt es sich, um nichts anderes!«

Als Fritz Harder die eine der von ihm gemieteten Stuben in dem Pfefferkuchenhäuschen betrat, stand sein Bursche, ein derber, vierschrötiger Ostpreuße gerade an dem ovalen Tisch, um eine billige weiße Petroleumlampe zu entzünden. Er machte sofort vor seinem Leutnant stramm und nahm ihm die Mütze ab, die ihm Fritz herüberreichte.

»Na, Reddemann,« begrüßte ihn der Offizier, während er sich ein wenig ermüdet auf einen Korbsessel dicht an dem schmalen Fenster niederließ, »hast du mir die Sachen besorgt?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant, das Frühlingslied von Mendelssohn. Sehr schön.«

»Aha, du hast wohl wieder darin herumgenascht?«

»Zu Befehl. Herr Leutnant wissen ja, daß wir zu Haus einen Gesangverein haben.«

Der am Fenster Sitzende öffnete sich ein wenig den Uniformrock.

»Na, ob ich das weiß,« warf er gutmütig hin, »du heulst ja manchmal, mein Junge, daß ich glaubte, Bienchens räudiger Pudel hätte Leibschmerzen bekommen.«

Allein trotz dieser etwas derben Charakterisierung seiner Gesangskunst reckte sich der stämmige Bursche und sah sehr befriedigt aus.

»Herr Leutnant,« verteidigte er sich, »dann übe ich bloß. Aber bei uns zu Hause in Pillkallen sagen die Leute, ich hätte die stärkste Stimme.«

»Jawohl,« lächelte der Leutnant, »das sage ich auch. Und nun, Reddemann, schwirre mal in das Kasino ab und hole mir meine Menage. Aber die Tischordonnanz soll alles hübsch warm geben, verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant. Sonst noch etwas?«

»Jawohl, bringe mir von nebenan ein paar Zigarren mit, von der billigen Sorte.«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.«

Der Ostpreuße bedeckte sich mit seiner Mütze, fuhr noch einmal ordnend auf dem Tisch herum und stolperte auf die Diele heraus. Gleich darauf sah ihn sein Gebieter die enge Gasse im Trab durcheilen. Mehrfach noch wandte sich das plumpe Antlitz aufmerksam zurück, ob auch sein Herr diese beschleunigte Gangart wahrnehme.

Fritz Harder jedoch verweilte noch längere Zeit am Fenster und stützte nachdenklich den feinen Kopf mit den dunklen Haaren auf die Hand. Und wie schon so oft, überkam ihn, wenn er den Eindruck des ungeheuer niedrigen, fast kahlen Stübchens mit der verblaßten Blumentapete auf sich wirken ließ, jenes überwältigende, niederdrückende Einsamkeitsgefühl. Auch die enge Gasse, durch die kein Wagen fahren durfte, mutete ihn an, als ob eine Riesenfaust sie zusammengepreßt hätte, damit jede Spur einer frischen reinen Luft aus ihr entwiche. Dumpf und feucht wie aus einem Kellerloch wehte es zu ihm herein. Herrgott, hier lebte man wirklich wie in den Kasematten der Festung, durch hohe Mauern abgesperrt von allem Glanz des Tages. Und dann das trostlose Einerlei seiner Tätigkeit. Wie ihn das mit einem ängstlichen Schauer erfüllte, wenn er sich all diese gleichgültigen und dennoch, wie er zugeben mußte, notwendigen Dinge zurückrief. Heute und morgen und übermorgen das Rekruten-Einexerzieren, die ewig geübten und wiederholten Instruktionsstunden, die anstrengenden Märsche bis weit über das Glacis der ehemaligen Festung, wo er jeden Baum, jeden Strauch, jeden Hügel und jeden Graben kannte und beschrieben hatte. Und dazu die Aussicht, die Aussicht in weiter Ferne, unwahrscheinlich und unerreichbar, jemals sich in dem wissenschaftlichen und kunstgemäßen Untergrund des Dienstes betätigen zu dürfen. Denn ach, wie jede praktische Beschäftigung auf Erden, so war ja auch sein Beruf auf festen Quadern einer historischen, sowie einer technischen Wissenskunde aufgebaut. Aber in dieses strenge, wohlverschlossene, geheimnisvolle Haus fanden fast ausschließlich die Mitglieder einer bevorzugten Kaste Einlaß, und selbst jene harrten wieder vergeblich vor den innersten Kammern, in denen, wie in dem pochenden Herzen des gewaltigen Körpers, alle feinsten Adern und Verästelungen zusammenliefen. Wie sollte da der Sohn eines auf sein schmales Gehalt angewiesenen ostpreußischen Oberförsters hoffen dürfen? Umsonst blieben die verborgen angesponnenen Versuche, die sein heiß aufbegehrender Arbeitswille hie und da unternommen. Sie vergilbten in der Schublade des wackligen Fichtentischchens dort in der Ecke, ja, ihr Vorhandensein sogar wurde von den fröhlicheren Kameraden – mit Recht – verspottet. Oh, wenn nur der Drang und die Sucht nicht gewesen wären, sich aus diesen umklammernden Beängstigungen vor der Zukunft zu befreien. Da gab es nur ein Mittel. Und der Blick des Nachdenklichen schweifte zu dem geborgten Flügel hinüber, der in seinem schwarzen Glanz fast die Hälfte des Zimmers ausfüllte. Leuchtend spiegelten sich die Strahlen des Lämpchens auf der fein polierten Platte. Ja, dort wob sich ein Zaubernetz, in das er sich träumend strecken konnte, und das dann von klingenden Genien emporgehoben wurde weit fort über die kleine handeltreibende Stadt, fort von den zechenden, hasardierenden Kameraden mit ihrer absichtlich zur Schau getragenen Verachtung alles höheren Bildungsstrebens, weit fort von Armut und Beschränkung. Aber nein – –

Und der Nachdenkliche am Fenster zuckte zusammen und vergrub jetzt sein Haupt, auf dem es plötzlich wie in Glut und Feuer aufflammte, in beide Hände. Vergessen und Beseligung, sie wurden dem Glücklichen noch von anderer Seite gespendet. Hier wuchs Trost, Erbauung, Andacht, tiefe Demut vor der göttergebildeten Schönheit, und die verzehrende auflösende Sehnsucht, sich in ein anderes prangendes Dasein hinüber zu retten, wie es wohl nur ein Künstler in seinen Träumen fühlen konnte. Das schöne, gnadenspendende Weib stand lächelnd und reizvoll, zu immer neuen Gaben bereit, vor den geschlossenen Augen des Kämpfenden, bis sich sein jugendstarker Körper unter einem fröstelnden Schauer wand. Und doch, wie entsetzlich, auch hier die Unsicherheit, die sein Leben so wehrlos machte. In Stunden aufschießender Erkenntnis, empfand er da nicht unumstößlich gewiß, wie das Beste in ihm, trotz der glückverlangenden, spielerischen, lustdurchzitterten Zeit um ihn herum, nach Dauer, nach Reinheit und nach Sicherem verlangte? Ein Begehren, das ihn bei seinen forschen Kameraden in den Ruf eines sonderbaren Heiligen gebracht. Nein, das ließ sich nicht wegschwatzen und fortdisputieren. Jene starke Sehnsucht haftete ihm von dem kleinen beschränkten Elternhause an, von jener Stätte des Friedens, die dem früh Herausgetretenen stets in einem rührenden Lichte der Innigkeit und des Behagens herüberleuchtete. Und lebte diese beruhigende Sicherheit etwa in der schönen, strahlenden Marianne, die wie eine dunkle Verlockung aus einem orientalischen Märchen in sein Leben getreten war?

Mitten in seinen Gedanken griff der Träumende um sich, hierhin und dorthin, als ob er einen Halt suche. Etwas Festes, woran sich ein Wankender aufrichten konnte. Allein die aufgestörten Bilder seiner Phantasie rissen ihm Stab und Stütze aus den Händen und jagten ihn weiter. Nein, sein scharfer Verstand, das Erbteil seiner rechnenden Mutter, bewies es ihm klar und deutlich, daß dasjenige, was ihm als etwas Hohes und Heiliges vorschwebte, immer und immer wieder zu einem Spiel entwürdigt wurde. Zu einem lockenden Haschen und Entflattern, das ihm allmählich die Kräfte der Seele raubte. Keine Zusicherung war zu erlangen, nichts Bindendes, nur jenes ewige Reizen und Versagen, in dem er auch alle seine Kameraden sich herumtummeln sah. Sicherlich, es war die Gewohnheit einer kulturell verstiegenen Zeit geworden. Das Tiefste, was das Menschentum barg, der Born, aus dem sich vergangene Geschlechter immer neue Jugend schöpften, man hatte ihn parfümiert und mit allerlei Reizmitteln verbunden, die die heiligen Wasser um ihre läuternde Wirkung brachten. Das jetzige schnell dahinrasende Geschlecht wähnte ohne jene aufpeitschenden Genüsse nicht mehr das Gleichmaß der Tage überstehen zu können. Aber unten, tief unten auf dem undurchsichtigen und aufgewühlten Grunde des Borns, da lagerte der Ekel.