Ein Mann zuviel auf Mallorca - Roderic Jeffries - E-Book

Ein Mann zuviel auf Mallorca E-Book

Roderic Jeffries

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Beschreibung

Ein Mallorca-Krimi von Roderic Jeffries Auch ein verliebter Alvarez bleibt ein mißtrauischer Inspektor. Und vier Tote hintereinander sind für sein friedliches Mallorca entschieden zuviel. Liegt die Lösung in einem Banktresor in Liechtenstein ...? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Roderic Jeffries

Ein Mann zuviel auf Mallorca

Aus dem Englischen von Ingrid Herrmann

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Alvarez schaute in den Spiegel. Eine neue Welle von Traurigkeit überkam ihn, während er den Sitz seiner schwarzen Krawatte prüfte. Dann verließ er das Schlafzimmer und stieg die Treppe hinunter. Dolores, schick und gepflegt wie immer, kam ihm aus der Küche entgegen. Nur wenige Mallorquiner hatten von John Donne gehört, doch da die Bewohner der Insel bäuerlicher Herkunft waren, kannten sie die Bedeutung seiner Worte: »Jedes Menschen Tod stimmt mich demütig …«

»Gehst du jetzt?« fragte sie.

Er nickte.

»Arme, arme María«, murmelte sie.

Noch vor zwei Tagen, dachte er, hätten María und Pedro als eines der glücklichsten Ehepaare der Insel gegolten. Er erinnerte sich an die Nacht der Revetla de San Sebastiá im vergangenen Januar, als in fast jeder Straße des Dorfes Freudenfeuer brannten. Pedros Tableau hatte den dritten Preis gewonnen. Jeder – mit Ausnahme der Richter – fand, es hätte den ersten Preis verdient.

Er ging. Das Haus lag direkt an der Straße. Er setzte sich in seinen alten Seat 600 und drehte den Zündschlüssel. Zu seiner Verwunderung sprang der Motor sofort an, obwohl er sich wochenlang nur zögernd starten ließ. Eine Ironie des Schicksals, dachte er verbittert. Über jeden Aufschub hätte er sich gefreut …

Er fuhr zur Calle General Riera, Nummer fünfzehn, wo Pedro und María wohnten. Im vordersten Zimmer hielten sich die Männer auf. Sie standen herum oder schritten nervös auf und ab, sprachen jedoch kaum miteinander, und wenn, dann fiel nur eine knappe Bemerkung.

Ramón, Pedros jüngerer Bruder, trat mit verweinten Augen vor, und er und Alvarez unmarmten einander. Ramón führte ihn in den angrenzenden Raum, in dem die Frauen auf längs den Wänden aufgereihten Stühlen saßen. Die Fensterläden waren geschlossen und die Gesichter der Frauen kaum zu unterscheiden, doch ihr beständiges leises Schluchzen zeugte von ihrer Trauer.

Er ging zu María, beugte sich nieder und küßte ihre tränenüberströmte Wange. Sie hielt sich an seinen Armen fest. Erinnerte sie sich an die Nacht der Revetla de San Sebastiá, als Pedro so viel gelacht hatte, daß er einen Schluckauf bekam? An das Krachen der Feuerwerkskörper, die die Kinder zündeten, ohne einen Gedanken an ihre Sicherheit zu verschwenden? An die Hochrufe, die beim Aufflackern der Freudenfeuer angestimmt wurden?

María ließ ihn los. Ramón berührte seinen Arm, und er folgte ihm die Treppe hinauf ins eheliche Schlafzimmer.

Pedro lag auf dem Bett, bis zur Brust bedeckt mit einem tadellos geplätteten Laken. Vier Kerzen brannten, zwei zu jeder Seite des Bettes. Eine hatte María angezündet, die anderen seine drei Kinder. Zu seinen Füßen lag ein einzelner Kranz. Auf der mit einem schwarzen Tuch verhängten Kommode befanden sich ein Dutzend gerahmter Fotografien. Alle zeigten Pedro, mit Ausnahme des größten Bildes, das ihn und María an ihrem Hochzeitstag darstellte. Auf dem Boden, am Fußende des Bettes, lagen ein Satz Meißel und zwei Sägen, die Symbole seines Berufsstandes.

Alvarez bekreuzigte sich und schloß die Augen. Doch im Geist sah er immer noch das längliche, schmale Gesicht, das selbst im Tod den Ausdruck verschmitzten Humors nicht verloren hatte. Er fragte sich, ob es ein letztes Geheimnis gäbe. Oder hatte Pedro, entgegen des Grundsatzes der Kirche, einfach aufgehört zu existieren?

Er öffnete die Augen, betrachtete Pedro ein letztes Mal und ging, gefolgt von Ramón. Er durchquerte den Raum mit den Frauen und betrat das Zimmer der Männer, wo er sich gegen eine Wand lehnte.

 

Manche sagten, die Pläne für ein neues Hauptquartier der Guardia Civil in Llueso seien schon gebilligt und ein Grundstück gekauft worden. Der künftige Standort sei geräumig und mit Klimaanlage und Zentralbeheizung ausgestattet. Für die Verheirateten gäbe es auf dem Gelände komfortable Wohnungen.

Ein paar Optimisten verstiegen sich zu der Behauptung, der Termin für die Fertigstellung des Neubaus sei schon auf das nächste Jahr angesetzt. Andere jedoch, die die spanische Bürokratie aus Erfahrung kannten, glaubten nicht einmal, daß überhaupt eine Prüfung der Arbeits- und Wohnbedingungen der Guardia Civil in Erwägung gezogen sei. Diese Pessimisten waren fest davon überzeugt, daß sie in absehbarer Zukunft weiterhin in derart beengten Verhältnissen arbeiten müßten, daß nicht selten jemand versehentlich an einem Bericht seines Kollegen weiterschrieb.

Sehr zu jedermanns Verdruß, der noch durch den Umstand geschürt wurde, daß er als Zivilangestellter den Posten gar nicht hätte bekleiden dürfen, besaß Alvarez im ersten Stockwerk ein Zimmer für sich. Er hatte geltend gemacht, daß er bei seiner anspruchsvollen Tätigkeit Ruhe brauchte, um effektiv arbeiten zu können.

Er bückte sich und zog die rechte unterste Schreibtischschublade auf, in der sich eine Flasche und ein Glas befanden. Das Telefon klingelte. Er kümmerte sich nicht darum, sondern schenkte sich einen großen Kognak ein. Das Klingeln verstummte. Er lehnte sich zurück, trank und grübelte darüber nach, warum ein Mensch abtreten mußte, ein anderer weiterleben durfte. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er Pedro gekannt. Er hatte seine Hochzeit und die drei Taufen mitgefeiert. Bei der kleinen María war er Pate …

Das Telefon schrillte von neuem. Ärgerlich starrte er es an, doch schließlich streckte er die Hand aus und nahm den Hörer ab.

»Spreche ich mit Inspektor Alvarez?«

Er kannte nur eine Frau, deren Stimme klang, als hätte sie unreife Pflaumen im Mund: die Sekretärin seines höchsten Vorgesetzten Salas. »Ja, Señorita.«

»Auf der Straße, die in Richtung Süden zum Kloster von San Miguel führt, hat es einen Autounfall mit tödlichen Folgen gegeben. Es war nur ein Wagen beteiligt, und es sieht so aus, als hätte der Fahrer, ein Engländer, unter dem Einfluß von Alkohol gestanden.« Sie schnupfte vernehmlich. »Die Unfallursache scheint eindeutig geklärt zu sein, doch die Frau, mit der dieser Mann zusammenlebte« – sie schnupfte noch lauter – »hat gewisse Zweifel angemeldet. Sie behauptet, eine Stunde vor dem Unglück sei er vollkommen nüchtern gewesen. Zwar fand sich im Auto eine angebrochene Whiskyflasche, aber als er losfuhr, hätte er keine Flasche bei sich gehabt. Außerdem hätte er seit vielen Jahren keinen Whisky mehr getrunken. Sie sollen prüfen, ob es Gründe für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gibt.«

»Das Kloster von San Miguel, Señorita, liegt außerhalb meines Dienstbereichs.«

»Der Chef sagte schon, daß Sie diesen Einwand wahrscheinlich erheben würden. Aber in Anbetracht der Tatsache, daß Sie erhebliche Erfahrung im Umgang mit Ausländern haben, teilt er Ihnen den Fall zu, auch wenn er nicht in Ihrem Dienstbereich liegt.«

»Señorita, ich wäre sehr dankbar, wenn jemand anders den Fall übernehmen könnte. Ein guter Freund von mir ist gerade gestorben …«

Sie sagte, es täte ihr leid, dies zu hören, fügte dann aber hinzu – mit der ungebrochenen Überzeugung eines Menschen, dem keine solche Seelenstärke abverlangt wird –, es gäbe Zeiten, in denen man seine Gefühle der Pflicht unterordnen müsse.

2

Das Kloster von San Miguel lag in der Gebirgskette der Sierra de Puig de Mas, die im Norden die Zentrale Ebene begrenzt. Es war auf einem Bergkamm erbaut, offenbar hatten seine Gründer schon zu ihren Lebzeiten dem Himmel möglichst nahe kommen wollen. Die benachbarten Gipfel ragten noch höher empor, waren aber zu steil und zu zerklüftet, um ein Bauwerk zu tragen.

Felsbrocken übersäten die unwirtlichen Täler, und selbst Pinien wuchsen nur vereinzelt. Die wenigen Touristen, die den übervölkerten Stränden den Rücken kehrten und hier hinauffuhren, gelangten in eine Gegend, die sich so kraß von der Landschaft, aus der sie kamen, unterschied, daß sie mit Betroffenheit und nicht selten Angst reagierten. Vielleicht fühlten sie sich in ihrer Welt der oberflächlichen Vergnügungen bedroht.

Eine Straße führte um die Nordflanke des Höhenzugs herum und verlief dann längs der Garganta Verde. Das Panorama wirkte beeindruckend. Die Schlucht war so tief, daß das Sonnenlicht nur im Hochsommer zur Mittagszeit bis auf den Boden drang, und die Wände fielen beinahe überall senkrecht ab.

Ein paar Pinien, deren Wurzeln im Gestein unerklärlicherweise Nahrung fanden, klammerten sich an die steilen Hänge, und hin und wieder sah man braune, halbverdorrte Grasbüschel.

Auf dem Grund der Schlucht wucherte ein wahres Dickicht aus knorrigen Bäumen, Sträuchern und Kräutern – ein scharfer Kontrast zu den kahlen Wänden. Über allem, die warmen Aufwinde nutzend, kreisten schwarzgefiederte Geier. So plump sie sich am Boden bewegen mochten, so anmutig wirkte ihr Flug.

Wie bei vielen Straßen abseits der Touristenzentren, so waren auch bei dieser die zur Schlucht hin abfallenden Ränder nicht durch Mauern oder Leitplanken geschützt. Jede Fehleinschätzung konnte tödliche Folgen haben. Der Fahrer des Renault 18, der nun mit eingedrücktem Dach und himmelwärts gerichteten Rädern auf einem breiten Felssims lag, das sich ungefähr in halber Höhe des Hangs befand, hatte einen Augenblick der Unachtsamkeit mit dem Leben bezahlen müssen.

Alvarez schritt an dem geparkten Fahrzeug der Verkehrspolizei vorbei und trat dicht an den Rand der Straße. Er schaute hinunter. Sofort drehte sich ihm in einer Anwandlung von Höhenangst der Magen um.

»Das ist der zweite in diesem Jahr«, erklärte der uniformierte Polizist. »Manchmal fragt man sich, ob die Leute überhaupt einen Führerschein besitzen. Im März schoß ein Citroën mit drei Deutschen über den Rand, keinen Kilometer von hier entfernt. Der Bergungstrupp konnte hinterher nicht mehr unterscheiden, was mal ein Auto und was mal Menschen gewesen waren.«

Alvarez hatte das Gefühl, eine unsichtbare Macht zöge ihn sachte, aber unerbittlich zum Abgrund hin, und er mußte all seine Willenskraft aufbieten, um den Bann zu brechen und vom Straßenrand abzurücken.

»Nicht ganz schwindelfrei, wie?« erkundigte sich der Polizist nicht ohne Schadenfreude.

»Stimmt«, murmelte Alvarez.

»Mir machen Höhen nichts aus. Ich glaube, das Ganze ist psychisch bedingt.«

»Dann scheint meine Psyche festen Boden zu bevorzugen.«

Sie standen in der prallen Sonne, und Alvarez begann zu schwitzen. Er trat ein paar Meter nach rechts, in den Schatten einer immergrünen Eiche. »Steht mit Bestimmtheit fest, daß sich Clarke allein in dem Wagen befand?«

»Er muß allein gewesen sein. Hätte er Leute bei sich gehabt, wären sie aus dem Fahrzeug nicht mehr rausgekommen.«

»Konnten Sie jemanden ausfindig machen, der den Unfall sah oder hörte?«

»Wir sind hier nicht im Zentrum von Palma, wissen Sie?«

Alvarez blickte die Straße entlang. Fünfzig Meter weiter umrundete sie einen Felsvorsprung. Irgendein Wagen käme immer einmal vorbei, doch bis dahin konnte viel Zeit vergehen. »Wie weit ist es bis zum nächsten Haus?«

»Zwei Kilometer, von dort ist also keine Hilfe zu erwarten … Sagen Sie, was bedrückt Sie eigentlich?«

»Er lebte mit einer Frau zusammen, und die schwört, er könne gar nicht betrunken gewesen sein. Außerdem hatte er keine Whiskyflasche im Wagen, als er eine Stunde ehe das Unglück passierte von zu Hause losfuhr. Obendrein mochte er keinen Whisky.«

»Wenn er nicht blau war, warum hat er dann so spät gebremst?«

Alvarez blickte auf die zweihundert Meter zurückliegende Rechtskurve. Die schwarzen Gummistreifen, die auf panikartiges Bremsen hinwiesen, begannen erst zwanzig Meter vor dem Abgrund.

Offenbar hatte der Fahrer die Kurven in rasantem Tempo genommen, und auf der abschüssigen Strecke hatte sich die Geschwindigkeit noch erhöht. Zu spät bemerkte er, daß er die nächste Kehre in diesem Tempo nicht nehmen konnte, und er hatte so heftig gebremst, daß der Wagen geradewegs über den Rand der Fahrbahn hinausschlitterte, Was sonst außer Alkohol konnte einen Fahrer veranlassen, sich auf einer derart gefährlichen Straße so leichtsinnig zu verhalten? »Ich habe das Auto durchsucht«, erzählte der Polizist. »Egal, was die Frau sagt, in dem Wagen befindet sich eine zerbrochene Whiskyflasche, und mitten in den Scherben liegt ein Einfrancstück. Wenn Sie mir nicht glauben, dann klettern Sie hinunter und überzeugen sich selbst.« Als er Alvarez’ Miene sah, setzte er schmunzelnd hinzu: »Ich komme mit und nehme Sie an die Hand.«

Dreißig Jahre zuvor hatte die Bucht noch keinen offiziellen Namen, obwohl sie bei den Einheimischen seit jeher Bahia Mocamba hieß. Niedrige Hügel umringten sie, deren Flanken sanft in ein deltaförmiges, sich stetig verbreiterndes Tal ausliefen. Damals führte lediglich ein unbefestigter Fahrweg durch diese Gegend, der zudem selten benutzt wurde. Die im Tal ansässigen Bauern galten als wortkarg und ungastlich – dabei hielten sie nur stur an ihrer Eigenständigkeit fest. Dann »entdeckten« Planer das Tal mit dem Sandstrand. Aus dem Weg wurde eine breite Schotterstraße, auf der Bulldozer, Baukräne und Zementmischer entlangrollten. Der Elektrizität folgte der Anschluß an das Telefonnetz. Äcker verschwanden unter einer Betondecke, und am Strand schossen acht- und zehnstöckige Häuser- und Hotelblocks in die Höhe.

Des Nachts warben bunte Leuchtreklamen für den Besuch von Diskotheken und – nachdem überstürzt alte Tabus ausgeräumt wurden – Oben-ohne-Bars. Viele Leute kamen zu Geld. Doch im Mai trafen keine Bienenspechte mehr ein, um die Luft mit ihren Pfiffen und farbenfrohen Flugkunststücken zu füllen.

Clarkes Haus lag in einer Siedlung, die sich im Norden des Tals eine Bergflanke hinaufzog. Die Garage und der Parkplatz befanden sich unterhalb der Villa, und zur Eingangstür führte eine Treppe. Alvarez geriet außer Atem, und er dachte daran, daß er etwas für seine Kondition tun müsse.

An der Tür läutete er. Eine mollige Matrone mit Schürze über einem gemusterten Baumwollkleid und strenger Knotenfrisur öffnete ihm. In breitem Mallorquin fragte sie: »Sie wünschen?«

»Ich hätte gern mit Señorita Newcombe gesprochen. Cuerpo General de Policia.«

»Sie wissen, was dem Señor zugestoßen ist?«

Er nickte.

»Begreifen Sie dann nicht, daß die Señorita jetzt niemanden empfangen kann? Sie mußte den Leichnam identifizieren. Es war für sie ein schlimmer Schock.«

»Das kann ich mir vorstellen«, entgegnete er mitfühlend.

»Kommen Sie ein anderes Mal wieder.«

»Es tut mir leid, aber ich muß sie unbedingt sprechen. Ich werde mich so kurz wie möglich fassen.«

»Sie hat schon alles gesagt, was es zu sagen gibt.«

»Señora, ich muß die Geschichte von ihr selbst hören.«

Prüfend blickte sie ihn an. Ihr feistes Gesicht drückte Unsicherheit aus, doch dann öffnete sie die Tür ganz. »Kommen Sie bitte herein. Aber, Señor … seien Sie freundlich.«

Sie führte ihn durch eine quadratische Eingangsdiele und in ein großes Wohnzimmer. Nachdem sie sich entfernt hatte, trat er hinaus auf den halbkreisförmigen, mit einem hübschen schmiedeeisernen Geländer umgebenen Patio. Das Haus lag unterhalb des Berggipfels, und dem Betrachter bot sich ein atemberaubendes Panorama.

Unten lagen die Stadt und die von Hügeln eingeschlossene Bucht, hinter der das offene Meer begann. Doch gleich unter der Terrasse fiel der Fels senkrecht ab, was den Eindruck vermittelte, der Patio schwebe in der Luft. Alvarez wurde schwindelig. Eilig zog er sich ins Wohnzimmer zurück, seine Schwäche verfluchend.

Sobald er sich besser fühlte, nahm er das Wohnzimmer in Augenschein. Die Einrichtung war in spanischem Stil gehalten und von guter Qualität. Die beiden großen Teppiche schienen persischer Herkunft zu sein, soweit er dies als Laie beurteilen konnte. An den Wänden hinten vier Bilder. Vage schrieb er eines einem einheimischen Künstler zu, dessen Werke mittlerweile einen hohen Preis erzielten. Rechts neben dem offenen Kamin befand sich ein Stereoturm, links ein unterteilter Tisch mit einem wuchtigen Farbfernseher und einem Videogerät. Hinter dem Stereoturm zog sich ein mit Büchern gefülltes Regal über fast die gesamte Länge der Wand. Die Leute müssen Geld haben, dachte er.

Er hörte Schritte, jemand durchquerte auf hohen Absätzen die geflieste Diele. Tracey Newcombe trat ein.

Alvarez dachte in vielerlei Hinsicht altmodisch und prüde. Er fand, ein Mann müsse sich die Hörner abstoßen, einer Frau hingegen billigte er keinerlei Freizügigkeit zu. Um eine Dame zu sein, mußte sie Sitte und Anstand wahren.

Weil Tracey mit Clarke in sogenannter wilder Ehe gelebt hatte, stufte er sie automatisch als Flittchen ein. Nun jedoch, als er sie vor sich sah, mußte er sein Vorurteil korrigieren. Sie war groß gewachsen und trug eine gemusterte Bluse zu ihren Jeans. Ihre Kleidung ließ ihre tadellose Figur ahnen, ohne die weiblichen Reize zu betonen. Sie hatte rotblondes, lockiges, kurzgeschnittenes Haar, das trotz sorgfältigster Pflege vermutlich immer so aussah, als habe sie gerade ein windgepeitschtes Moor überquert.

Die Augen waren kornblumenblau und standen weit auseinander, was ihrem Gesicht einen suchenden Ausdruck verlieh. Die Nase bog sich an der Spitze leicht nach oben. Dem Mund sah man an, daß er gern lachte, und das Kinn wirkte paradoxerweise sowohl rund als auch eckig.

Im landläufigen Sinne konnte man ihr Gesicht nicht als schön bezeichnen, aber es prägte sich dem Gedächtnis ein. Auf englisch sagte er: »Es tut mir leid, Señorita, daß ich Ihnen zu Ihrem Kummer noch weitere Probleme bereiten muß.«

Sie nickte, stellte sich vor den Kamin und schaute ihn an.

»Fühlen Sie sich stark genug, um ein paar Fragen zu beantworten?«

»Ich denke schon«, antwortete sie teilnahmslos. Ihren Akzent vermochte er nirgends einzuordnen.

»Sollten wir uns nicht lieber setzen?«

Sie ging zu einem Sessel. »Was möchten Sie von mir wissen?«

»Erzählen Sie mir bitte ganz genau, was gestern vormittag passierte und warum Sie nicht an einen Unfall glauben.«

Sie schwieg so lange, daß er sie schon zum Sprechen auffordern wollte, doch dann begann sie unvermittelt:

»Am Nachmittag wollten wir nach Palma fahren. Roger hatte einen Termin beim Zahnarzt. Danach planten wir ein Picknick auf dem Puig Craix. Ich machte gerade die Schinkensandwiches, als der Polizist kam und mir Bescheid sagte. Ich weiß noch, wie ich beim Läuten an der Tür dachte, am Ende würde doch noch alles gut –« Sie unterbrach sich.

»Stimmte denn etwas nicht, Señorita?«

Sie überhörte die Frage. »Im Grunde mochte Roger keine Picknicks. Er sagte, man bekäme immer so klebrige Finger. Darüber mußte ich immer lachen. Ich finde, das ist doch gerade der Spaß bei einem Picknick, daß hinterher die Hände kleben … Aber ich bestand auf meinem Wunsch. Wissen Sie, ich hatte gehofft – Gott, ich brauche etwas zu trinken!«

Mit den Händen gestikulierend, stand sie auf und ging zu der Bar auf Rädern, die in einer Ecke des Zimmers stand. Sie öffnete den Deckel, und zum Vorschein kamen mehrere Flaschen und ein halbes Dutzend Gläser. »Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?«

»Ein Kognak wäre nicht schlecht.«

Sie schenkte zwei Kognak ein.

In Gedanken verfluchte er eine Welt, die so vielen Menschen bittere Sorgen bereitete. Priester sagten zuweilen, Kummer adele die Seele, doch diesen Ausspruch hielt er lediglich für einen Versuch, die Grausamkeit des Lebens zu beschönigen. Als sie ihren Platz im Sessel wieder eingenommen hatte, erzählte sie:

»Mein Dad duldete keinen Alkohol im Haus. Wenn meine Schwester und ich irgendwo mal welchen tranken, lutschten wir Pfefferminzbonbons, ehe wir heimgingen. Mum wußte, warum wir Pfefferminz lutschten, aber Dad schien nie etwas zu ahnen. Vielleicht tat er auch nur so. Er war streng, aber kein Unmensch.«

»Aus welcher Gegend Englands stammen Sie, Señorita?«

»Ich komme aus Neuseeland, von der Südinsel. Meine Heimat sind die Vorberge der McKerrows, die schönste Landschaft der Welt. Wenn ich daran denke, könnte ich vor Heimweh weinen, und ich frage mich, was zum Teufel ich hier tue … Ich sehnte mich so nach einem Picknick auf dem Puig Craix, weil er mich an Barrats Hill auf Dads Land erinnert. Als Kind kletterte ich immer hinauf und stellte mir vor, ich sei Königin über die ganze Welt. Und wenn ich einen ernsthaften Kummer hatte, betete ich dort droben, alles würde wieder ins rechte Lot kommen. An wen ich meine Gebete richtete, weiß ich gar nicht. Vielleicht an meine gute Fee.« Ein trauriges Lächeln huschte um ihre Lippen. »Gott, das ist ja schon eine Ewigkeit her!

Roger erzählte ich nie etwas von Barrats Hill, weil es mein persönliches Geheimnis war, aber bestimmt ahnte er, daß ich aus einem besonderen Grund dort hinaufwollte und nicht nur, um dort zu picknicken. Deshalb gab er nach, obwohl er viel lieber hier oder in einem Restaurant gegessen hätte … Die Sandwiches, die wir mitnehmen wollten, liegen jetzt im Kühlschrank. Nachdem der Polizist gegangen war, wickelte ich sie in Folie ein. Ich konnte ihm einfach nicht glauben, ich war fest davon überzeugt, Roger müsse zurückkommen, und dann würden wir aufbrechen …« Sekundenlang starrte sie ins Leere, dann trank sie einen Schluck.

»Señorita, jetzt mag es Ihnen unmöglich erscheinen, aber die Zeit heilt alle Wunden. Das versichere ich Ihnen.«

Unwirsch versetzte sie: »Woher wollen Sie das wissen?«

»Vor vielen Jahren wurde meine Verlobte von einem Auto angefahren und starb«, entgegnete er ruhig. »Ihr Brautkleid war schon fertiggenäht. Obwohl ich es nie sah, weiß ich, daß sie wunderschön darin ausgesehen hätte … Im Laufe der Zeit verwandelte sich meine Erinnerung an sie in eine Kostbarkeit, und wenn ich an sie dachte, war mir nicht länger zumute, als stieße mir jemand ein glühendes Messer ins Herz. Gestern abend starb ein guter Freund von mir, Pedro. Noch sind meine Erinnerungen an ihn wie glühende Messer, doch auch sie werden sich allmählich in Kostbarkeiten verwandeln.«

Tränen strömten ihr aus den Augen und über die Wangen.

»Gott, ich wünschte …« Ihre Stimme nahm einen fast leidenschaftlichen Klang an. »Wir beide hätten einen Ausflug zum Barrats Hill nötig.«

»Señorita?«

»Hätten Sie Lust, mit mir auf den Puig Craix zu fahren?«

Er zögerte, doch höchstens eine Sekunde. Vielleicht konnten sie sich gegenseitig Trost spenden. »Selbstverständlich«, antwortete er.

 

Symmetrisch wie eine Kinderzeichnung erhob sich der Berg aus der Ebene. Pinien wuchsen an den Hängen, doch im letzten Drittel war der Fels bis auf gelegentliche Grasbüschel und Zistrosensträucher kahl. Zweihundert Jahre lang hatte sich auf dem Gipfel eine Einsiedelei befunden, doch im zwanzigsten Jahrhundert verspürten wenige Menschen den Wunsch nach Einsamkeit, und der letzte Eremit war neunzehn Jahre zuvor gestorben.

Lediglich ein Maultierpfad führte hinauf zur Klause; da es ohne Zufahrtsstraße sinnlos war, die Gebäude in ein Lokal für Touristen zu verwandeln, gab man sie dem Verfall anheim.

Sie erreichten den Gipfel und setzten sich in den Schatten eines Hauses, dessen Dach eingestürzt war. Eine Zeitlang schwiegen beide. Tracey, weil ihre Gedanken offenbar in der Ferne weilten. Alvarez, weil er nach Luft schnappte, weil sein Herz klopfte und seine Beine von der Anstrengung zitterten Er war fest davon überzeugt, wäre der Anstieg noch fünfzig Meter länger gewesen, er hätte einen Kollaps erlitten.

Tracey, die sich auf den Bauch gerollt und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt hatte, brach das Schweigen. »Ich ging von zu Hause fort, weil ich es dort nicht länger aushalten konnte. Das Leben mußte doch mehr zu bieten haben als den ewigen Alltagstrott. Mary, meine Schwester, denkt da ganz anders als ich. Sie verabscheut jede Veränderung. Sie heiratete einen Burschen, den sie schon als Kind gekannt hatte, und wenn sie einen Wunsch frei hätte, würde sie sagen, alles solle beim alten bleiben. Manchmal, so wie jetzt, habe ich mich danach gesehnt, so zu sein wie sie. Aber was erwartet man vom Leben? Was ist besser, jedes Risiko zu meiden und dafür Langeweile in Kauf zu nehmen oder das Abenteuer zu suchen, selbst auf die Gefahr hin, daß man immer und immer wieder auf die Nase fällt?«

»Ich weiß es nicht, Señorita.«

»Um Himmels willen, ich heiße Tracey.« Sie drehte den Kopf, so daß sie ihm ins Gesicht schauen konnte. »Und jetzt verraten Sie mir Ihren Namen.«

»Enrique.«

»Enrique – bedeutet das nicht Henry? Der Name hat mir schon immer gefallen, viele Könige heißen so – aber um ein König zu sein, sind Sie viel zu nett. Sie sind einer der freundlichsten Männer, denen ich je begegnet bin.«

Er lächelte verlegen.

»Sie sollten viel öfter lächeln. Dann sehen Sie nicht mehr so traurig aus, so desillusioniert … Ich rede lauter Unsinn, und wissen Sie, warum? Weil wir hier oben auf dem Barrats Hill sitzen und alles, was wir sagen, geheim bleibt. Also kann ich soviel dummes Zeug reden, wie ich will. Sie wissen doch, daß dies ein geheimer Ort ist, nicht wahr, Enrique?«

»Ja.«

»Und deshalb erzähle ich Ihnen jetzt …«

»Was möchten Sie mir erzählen?«

Ihre Lebhaftigkeit verflog, und ihre Stimme klang wieder traurig. »Etwas, das ich selbst mir nur ungern eingestehe … Zwischen mir und Roger gab es Unstimmigkeiten. Wir stritten uns andauernd. Unsere Beziehung bekam einen Bruch, als er damals nach Liechtenstein flog und mich nicht mitnehmen wollte. Ich warf ihm vor, er träfe sich dort mit einer anderen Frau … Als er zurückkam, brachte er mir ein so herrliches Geschenk mit, daß ich sagte, er täte es nur, um sein Gewissen zu beruhigen …

Danach renkte sich alles wieder ein bißchen ein. Obwohl wir immer noch miteinander stritten. Er benahm sich sehr kühl mir gegenüber, und erst vor zwei Wochen schrie ich ihn an, zur Liebe gehörten zwei. Ich glaube nicht, daß er wirklich verstand, was ich meinte … Ich erinnerte mich an zu Hause, und plötzlich wollte ich wieder dort sein, wo sich nichts verändert und ein Tag ist wie der andere. Offen gestanden, ich wollte ihn verlassen, wenn unser gemeinsames Picknick hier oben zu keinem Resultat geführt hätte … Und als dann gestern vormittag … Ich komme mir vor, als ob –« Sie verstummte.

»Als ob Sie irgendeine Schuld an dem Unglück trügen?«

»Vielleicht hat er getrunken, weil er sich über mich ärgerte. Und dann verursachte er den Unfall … Wenn ich nicht mit dem Gedanken gespielt hätte, ihn zu verlassen, wäre das Ganze vielleicht gar nicht passiert.«

»Nach einem Unglück macht man sich immer Vorwürfe und denkt, wenn dies oder das anders verlaufen wäre, hätte man die Katastrophe vermeiden können. Aber Sie haben so gehandelt, wie Sie es für richtig hielten, ohne die Absicht, jemandem ein Leid zuzufügen. Sie trifft also keine Schuld.«

»Ich wollte ihn nicht verletzen. Ich dachte bloß, eine Trennung wäre für uns beide das beste …«

»Sie sind nicht schuld an seinem Tod, Tracey.«

Sie hob den Kopf, streckte die Hand aus und berührte leicht seinen Arm. Es war eine Geste der Dankbarkeit.

3

Um fünf nach neun betrat Alvarez sein Büro. Noch ehe er Zeit fand, sich zu setzen und vom Treppensteigen zu verschnaufen, schrillte das Telefon.

»Alvarez«, begann Salas in der für ihn typischen abrupten Art, »ich vermisse Ihren Bericht.«

»Welchen Bericht, Señor?«

»Großer Gott, Mann, schlafen Sie noch? Den Bericht über den Autounfall in der Nähe des Klosters von San Miguel, natürlich.«

»Tja, um ehrlich zu sein – ich bin in der Angelegenheit noch nicht weitergekommen.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Als ich Señorita Newcombe sah, fand ich, sie sei noch nicht gefaßt genug, um befragt zu werden.«

»Seit wann sind Sie befugt, die seelische Verfassung eines Zeugen zu beurteilen?«

»Ich dachte nur, weil die Sache ja nicht eilt …«

»Sie eilt nicht? Jeder Fall ist dringend, solange er nicht gelöst ist.«

»Was ich eigentlich sagen wollte –«

»Sie sind hier nicht gefragt. Noch heute vormittag verhören Sie die Dame, und ich darf Sie bitten, keine eigenmächtigen Urteile über ihren Zustand abzugeben. Haben Sie mich verstanden?«

»Selbstverständlich, Señor. Übrigens hatte ich ohnehin mit ihr vereinbart –«

Salas hängte ein.

Seufzend legte Alvarez den Hörer auf die Gabel. Jeder aus Madrid schien zu glauben, man müsse jede einzelne Minute des Tages mit Hektik füllen. Dabei war es manchmal das beste, die Dinge in Ruhe reifen zu lassen.

Er blickte auf seine Armbanduhr. An diesem Vormittag war er mit Tracey verabredet – was er Salas erzählt hätte, hätte dieser ihm nicht das Wort abgeschnitten. Doch bis er aufbrechen mußte, blieb ihm noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Eine neue Arbeit in Angriff zu nehmen, lohnte sich also nicht. Lieber wollte er seine Kräfte schonen. Er schloß die Augen, um sich besser entspannen zu können.

 

Tracey öffnete ihm die Tür zur Villa Ca’n Renaldo. »Treten Sie ein, Enrique«, forderte sie ihn auf. »Ich mache uns Kaffee – kommen Sie mit in die Küche, dann können wir uns unterhalten. Mittwochs hat Mathilde ihren freien Tag, deshalb bin ich allein.«

Er folgte ihr in die gekachelte, luxuriös ausgestattete Küche. Während sie Wasser in einen Stieltopf füllte, sagte sie: »Mein Dad behauptete immer, wenn man Wasser und Milch abkocht und den Alkohol meidet, würde man hundert Jahre alt.«

»Erzählten Sie nicht, Ihr Vater wäre Viehzüchter?«

»Schafe. Er besitzt Tausende dieser dummen Tiere. Dad ist ein erstklassiger Schafzüchter«, erzählte sie stolz. »Seine Felle und Lämmer erzielen Spitzenpreise.« Sie stellte den Topf auf den Herd und schaltete das Gas ein. »Aber er glaubt, hinter seiner Farm hört die Welt auf … Bin ich nicht ein richtiges Biest?«

Alvarez machte keinen Hehl aus seiner Verwunderung.