Familienpakt - Jan Beinßen - E-Book

Familienpakt E-Book

Jan Beinßen

4,7

Beschreibung

Mord im Nürnberger Südklinikum! Eine junge Krankenschwester stirbt durch mehrere Messerstiche. Der Täter wird noch am Tatort gefasst. Doch als er hinter Gittern sitzt, geht das Morden im Klinikum weiter. Konrad Keller, frisch pensionierter Nürnberger Kripochef, hat seine ganz eigenen Vorstellungen vom Ruhestand: Statt das Rentnerleben zu genießen, mischt er weiter bei der Mordermittlung mit und spannt dafür seine ganze Familie ein …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 192

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (30 Bewertungen)
24
4
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jan Beinßen

Familienpakt

Kriminalroman

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © mario beauregard – Fotolia.com

1

Der starke Frost der vergangenen Tage war vorübergehend einem schmuddeligen Tauwetter mit feinem Nieselregen gewichen und verwandelte die noch immer tiefgefrorenen Straßen in spiegelglatte Rutschbahnen. Ebenso wie alle anderen Verkehrsteilnehmer kamen die Streifenwagen im dichten Feierabendverkehr kaum voran. Genauso schwer tat sich Konrad Keller, der auf das Dach seines anthrazitgrauen Dienst-Audis ein Blaulicht gepflanzt hatte und das Martinshorn ohne Unterlass heulen ließ.

»Verdammt! Verflucht! So ein Mist!« Keller schimpfte vor sich hin und trommelte mit den Händen auf das Lenkrad. Selten in seiner langjährigen Karriere hatte es dem Polizeioberrat so sehr unter den Nägeln gebrannt, einen Tatort so schnell wie möglich zu erreichen. Denn selten hielt sich der Täter noch am Ort des Geschehens auf – und noch seltener handelte es sich bei einem Täter um einen Amokläufer! Keller wusste: Wenn er oder seine Kollegen nicht binnen kürzester Frist im Südklinikum ankommen würden, gäbe es ein Blutbad!

Kurz entschlossen setzte sich Keller über alle Verkehrsregeln hinweg, schlug das Steuer ein und ließ seinen Wagen über die Bordsteinkante rumpeln. Auf dem Gehsteig fuhr er weiter, hupte und wedelte mit dem linken Arm, um die Fußgänger aus seiner Fahrtrichtung zu vertreiben.

Über Funk meldete sich krächzend die Leitstelle mit der Hiobsbotschaft, dass sich das Eintreffen des Sondereinsatzkommandos ebenfalls verzögern werde. Denn der Hubschrauber des SEK habe wetterbedingt noch nicht abheben können.

»Verflixt!«, fluchte Keller lautstark weiter und musste unvermittelt bremsen, als eine Mutter mit Kinderwagen vor ihm auftauchte. Die Bremswirkung auf dem noch immer eisglatten Gehweg fiel gleich null aus, Keller riss das Steuer herum, rumste in einen Schneehaufen. Schimpfend wie ein Rohrspatz legte er den Rückwärtsgang ein, doch die Räder drehten durch. Er steckte fest. Auch das noch!

Ruckzuck sah er sich von Schaulustigen umzingelt. Zwei Männer und eine Frau lösten sich aus der Menge der Gaffer, stemmten ihre behandschuhten Fäuste auf die Motorhaube und schoben den Audi aus der Schneefalle. Keller bedankte sich für die spontane Hilfe und gab abermals Gas.

An der nächsten Kreuzung konnte er den Gehweg verlassen und sich wieder in den Straßenverkehr einfädeln. Die Ausfallstraße war breit genug, damit die anderen Fahrer eine Schneise für ihn bilden konnten.

Nahezu gleichzeitig mit zwei Streifenwagen kam er beim Südklinikum an. Der weitläufige Komplex aus Glas, Stahl und Beton hob sich hell erleuchtet aus der einsetzenden Dämmerung ab. An der Seite der Schutzpolizisten lief Keller mit gezogener Waffe den endlos langen, überdachten Fußweg zum Haupteingang des Klinikums entlang. Dort hatten sich bereits etliche Ärzte, Schwestern und Pfleger versammelt, wild durcheinander redend und gestikulierend. Zwischen ihnen standen Patienten in Nachthemden, die sich teilweise an rollbaren Infusionsständern festhielten.

»Die Kinder-OP!«, brüllte Keller in die panische Gruppe. »Wo geht’s lang?«

Kellers Rufe sorgten kurzzeitig für Ruhe. Dann riefen wieder alle durcheinander. Nur mit Mühe konnte er die für ihn wichtigen Hinweise heraushören: »Zweites OG im Gebäudeteil A!«, »Das ist der mittlere Block!«, »Im OP-Trakt!«, »Saal 10 oder 11!«

Gemeinsam mit zwei der Uniformierten setzte sich Keller in Bewegung, die anderen Beamten ließ er zum Schutz und zur Beruhigung der Belegschaft und der Patienten am Eingang zurück.

Geisterhaft leer lagen die langen Gänge und Flure vor ihnen. Sie mussten sich mehrmals an Fluchtplänen orientieren, bis sie den richtigen Gebäudeteil gefunden hatten. Sie stießen die letzte Tür auf, die sie vom Bereich der Operationssäle noch trennte. Dann rutschte Keller aus.

Rückwärts fallend konnte er sich gerade noch mit den Händen abfangen. Dennoch spürte er beim Aufprallen auf dem Boden einen heftigen Schmerz im Steißbein. Auf den Schmerz folgte der Schreck: Denn im Fallen war ihm seine Dienstwaffe entglitten und lag nur einige Meter vor ihm mitten im Flur.

Die Ursache für Kellers Sturz war tiefrot und schmierig. Der Verursacher des Blutsees auf dem Linoleumboden stand nur wenige Schritte von ihm entfernt: ein Mann im Alter von etwa 40 Jahren, eine unscheinbare Erscheinung, mager, mit lichtem Haar. Er trug einen sandfarbenen Anzug unter einem zur Hälfte aufgeknöpften, dunklen Wintermantel. In der Hand hielt er ein Fleischmesser mit circa 20 Zentimeter langer Klinge. Blutverschmiert. Zu seinen Füßen lag bäuchlings eine Krankenschwester, die sich nicht mehr rührte. Und direkt daneben, zum Greifen nahe, befand sich Kellers Dienstwaffe.

»Messer fallen lassen!«, schrie einer der beiden Polizisten, die Keller flankierten. Er selbst rappelte sich eilends wieder auf.

Der Amokläufer reagierte nicht.

»Lassen Sie sofort die Waffe fallen, oder ich schieße!«, wiederholte der Polizist seine Aufforderung laut und aggressiv. Auch sein Kollege entsicherte jetzt seine Pistole.

Der Mann mit dem Messer blieb wie angewurzelt stehen und sah sie mit starrem Blick an.

»Letzte Aufforderung: Waffe fallen lassen!« Der Beamte zu Kellers Linken hob seine Pistole nach oben und gab einen Warnschuss in die Decke ab. Dieser zerfetzte eine Neonröhre, die mit einem scharfen Knall platzte. Es regnete Splitter.

Erschreckt ging der Amokläufer in die Knie. Nun brauchte er nur noch nach der am Boden liegenden Pistole greifen, durchfuhr es Keller.

Er durfte jetzt keine Zeit verlieren. Jede Sekunde zählte! Mit einem Satz sprang er nach vorn, warf sich auf die Dienstwaffe und versetzte dem Messermann einen kräftigen Faustschlag aufs Knie. Der Mann stieß einen gequälten Laut aus, fiel zurück und ließ das Messer fallen.

Im nächsten Moment stürzten sich die beiden Polizisten auf ihn. Mit Gewalt kreuzten sie die Hände des Amokläufers hinter seinem Rücken und legten ihm Handschellen an.

»Puh, das war knapp!«, keuchte Keller und schnaufte dreimal tief durch. Er verstaute zunächst seine Waffe, bevor er den Festgenommenen mit scharfer Stimme fragte: »Wie viele Opfer gibt es? Wo sind sie?« Der Mann antwortete nicht, sondern starrte nur weiter stumm geradeaus.

Bevor Keller seine Fragen wiederholen konnte, hallten die schweren Schritte mehrerer Dutzend Stiefel durch den Gang: Das SEK marschierte an und postierte sich an allen Türen und Ecken. Warnrufe brüllend, stürmten die waldgrün gekleideten Beamten in die Operationssäle und sicherten sie ab. Aus einem der Säle rannte schreiend eine weitere Krankenschwester, dicht gefolgt von einem Mann in lindgrünem Kittel und transparenter Haube über dem Haar. Unter seinem Kinn baumelte ein abgestreifter Mundschutz. Im Gegensatz zu der panisch flüchtenden Schwester blieb der Arzt stehen. Keller registrierte sein schmal geschnittenes Gesicht und seine dunklen Augen, die sich kurz orientierten und dann auf dem am Boden liegenden Opfer haften blieben.

Der Arzt bückte sich nach der reglosen Gestalt, ertastete den Puls der Krankenschwester. Behutsam drehte er sie auf die Seite. Er zog eine Stiftlampe aus seiner Hemdtasche und öffnete mit dem Zeigefinger ein Auge der Frau. Er leuchtete hinein. Dann richtete er sich auf und rief an die Polizisten gerichtet: »Räumen Sie Saal 10 und lassen Sie mein Team kommen! Wir müssen sofort operieren!«

Keller, der keinesfalls verfrüht die Kontrolle abgeben wollte, wartete ab, bis der Messerstecher von einer ausreichenden Zahl von Beamten umgeben war und abgeführt wurde. Erst dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Arzt und fragte: »Ihr Name, Ihre Funktion?«

Der Doktor, der sich durch den Trubel um sich herum nicht stören ließ und sich wieder der am Boden Liegenden zuwandte, sagte gereizt: »Dr.Bartels, Steffen Bartels, Chirurg.« Er blickte auf und sah Keller eindringlich an. »Wenn Sie mich nicht augenblicklich meinen Job machen lassen, wird meine Mitarbeiterin vor ihren Füßen verbluten! Das haben dann Sie zu verantworten, Herr …?«

»Keller. Polizeioberrat Konrad Keller.« Er räusperte sich. »Also gut. Tun Sie, was Ihre Pflicht ist. Ich werde veranlassen, dass man Ihr Team passieren lässt.«

2

Als er den rondellartigen Einkaufskomplex betrat, hatte er kaum mehr Hoffnung, ein einigermaßen originelles Motiv für seinen Beitrag zu finden. Der CityPoint an der Breiten Gasse war sozusagen seine letzte Chance, die von ihm selbst vorgeschlagene Fotostory zu einem würdigen Abschluss zu bringen. Denn auf der Suche nach weihnachtlichen Eindrücken und Bildern jenseits aller Mainstream-Erwartungen und der üblichen Klischees blieb er auch nach zwei Stunden angestrengter Suche erfolglos. Weder der Christkindlesmarkt hatte brauchbare Bildvorlagen oder Kurzstorys abgegeben, noch die anderen stark frequentierten Anlaufpunkte der Fußgängerzone.

Nur mit Mühe gelang es Jochen Keller, seinen Fotografen zu einem letzten Versuch, dem Abstecher in die Einkaufsmeile, zu überreden. Aber nun standen sie mitten im CityPoint, und Jochen erspähte endlich ein ihm würdig erscheinendes Motiv: Da stand, im Zugangsbereich einer Boutique, eine junge Frau, mittelgroß, schlank, strohblondes Haar. Der Grund, warum Jochen genau wie Dieter, der Fotograf, Stilaugen machte, war nicht die Frau an sich, denn sie war zwar hübsch, aber ein Allerweltstyp, ja sogar ein wenig unscheinbar. Den besonderen Pfiff bot ihr Outfit: Sie stand in einem halb offenen Weihnachtsmannmantel vor dem Wäschegeschäft, darunter trug sie nichts als sündhaft rote Dessous.

Auf Stöckelschuhen balancierend, versuchte sie, Passanten mit Werbeflyern zu beglücken, doch sie kam kaum zum Zug, denn die meisten Ehefrauen lenkten ihre Gatten im großen Bogen um die Boutique herum, einzelne Herrschaften trauten sich nicht in die Nähe der verführerischen Werbefee, und der Großteil der Frauen, der allein unterwegs war, beachtete die spärlich bekleidete Weihnachtsfrau nicht.

Anders als Jochen Keller: Der Lokalreporter stieß seinen Fotografen mit dem Ellenbogen an. Beide tauschten einen bestätigenden Blick miteinander und gingen auf die junge Frau zu.

Keller, knapp 1,90 Meter groß und mit dem breiten Kreuz eines Schwimmers, setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Sein markantes Gesicht mit maskulinen Zügen und kleiner Kerbe im Kinn vollzog dadurch binnen Sekundenbruchteilen den Wandel von einem berechnend lauernden Ausdruck in eine offene und schmeichelnde Mimik.

»Hallo«, sprach er die Frau an, die er aus der Nähe betrachtet auf Anfang 20 schätzte. »Wir kommen von der Zeitung und arbeiten an einem Bericht über originelle Einfälle zur Adventszeit.«

»Ja?« Die Frau stakste etwas unsicher von einem High Heel auf den anderen.

Jochen spreizte die Finger seiner linken Hand und fuhr mit ihnen wie mit einem Kamm durch sein gewelltes, blondes Haar. Eine Tolle fiel keck zurück in seine Stirn. »Wir wollen weder Bratwurstbuden ablichten, noch rotbäckige Dreijährige, die das Christkind bestaunen. Wir suchen das gewisse Etwas, verstehen Sie?«

Die Frau tat verhalten, bemerkte den begehrlichen Ausdruck von Dieter und zog den samtroten Mantel über ihrem Dekolleté zusammen. »Ich weiß nicht, ob das der Chefin recht ist, wenn Sie mich fotografieren«, sagte sie mit einer Stimme, die für Jochens Geschmack fast zu rau und abgeklärt klang für eine Frau mit einem so zierlich geschnittenen Gesicht inklusive Stupsnase.

Jochen reichte ihr seine Visitenkarte, die ihn als Redakteur auswies, und schlug ihr vor, die Chefin doch einfach schnell um Erlaubnis zu bitten. »Ist ja schließlich eine kostenlose Werbung für den Laden«, gab er der Kleinen mit auf den Weg.

Kaum hatte sie ihnen den Rücken gekehrt, konnte Dieter eine Bemerkung nicht länger zurückhalten: »Heißer Feger, was?«, meinte der rundliche Fotograf, der sich durch fettiges Haar und Brille mit Gläsern dick wie der Boden einer Colaflasche auszeichnete. »Genau dein Kaliber, was?«

Jochen verzog den Mund. Ihm war natürlich klar, worauf sein Begleiter anspielte. Und, zugegeben, sein redaktionsinterner Ruf als Playboy war ihm nicht ganz ohne Grund zugeflogen. Aber erstens erschien ihm der Altersunterschied zu diesem Mädel doch etwas groß zu sein und zweitens vermochte er sehr wohl zwischen Job und Privatem zu unterscheiden. Es kam ihm auf eine solide Arbeit an und nicht auf einen flüchtigen Flirt. Gerade jetzt, da er am Ausbau seiner Karriere arbeitete.

Die Weihnachtsfrau kam mit einem gelösten Lächeln zurück aus dem Verkaufsraum. »Die Chefin hat grünes Licht gegeben«, sagte sie und stellte sich vors Schaufenster. Ohne, dass Dieter ihr nähere Anweisungen erteilen musste, schlug sie den Mantel wieder auf, stemmte einen Arm in die Taille und neigte den Kopf mit einem Augenaufschlag, der Männerherzen schmelzen lassen könnte. Die Art, wie sie sich in Pose warf, machte auf Jochen einen sehr geübten Eindruck. Ihm schien sogar, dass sie sich den Lippenstift nachgezogen hatte. Sein erster rührender Eindruck, dass die junge Frau verlegen oder sogar verschämt die Ware eines Dessousshops zur Schau stellen musste, wich dem eines durchaus selbstbewussten Twens, der die Reize der Weiblichkeit geschickt einzusetzen verstand.

»Ich heiße übrigens Denise«, sagte sie an Jochen gewandt, nachdem Dieter seine Kamera verstaut hatte. Zu Jochens Verwunderung steckte sie ihm ein Kärtchen zu. »Im Gegenzug für Ihre Visitenkarte. Da ist meine Handynummer drauf. Nur, falls Sie mal ein Modell für Ihre Zeitung brauchen.«

Wenn sie sich als Modell anpreisen wollte, hätte sie die Karte dem Fotografen zukommen lassen müssen und nicht ihm, dem Schreiberling, dachte Jochen. Dennoch nahm er sie gern an und sagte mit viel Schmelz in der Stimme: »Danke schön. Ich komme drauf zurück.«