Sieben Zentimeter (eBook) - Jan Beinßen - E-Book

Sieben Zentimeter (eBook) E-Book

Jan Beinßen

4,8

Beschreibung

Paul Flemmings zweiter Fall: Als der Nürnberger Bratwurst-Baron Hans-Paul Wiesinger tot aufgefunden wird, spricht alles dafür, dass der millionenschwere Würstchenproduzent von seinem Sohn ermordet wurde. Doch Wiesinger junior weist alle Beschuldigungen von sich und macht sich mehr Sorgen um einen neuen Imageprospekt der Firma. Die Fotos dazu soll ausgerechnet Paul Flemming liefern, dem das Treiben in der Bratwurstfabrik mehr und mehr Rätsel aufgibt: Ein kürzlich entlassener Mitarbeiter verschwindet spurlos, es gibt Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in den Büchern der Wiesingers und zu allem Übel wird auch noch eine weitere Leiche gefunden. Familientragödie, Geldschieberei oder ein echter Fleischskandal, der an den strengen Auflagen der Original Nürnberger rührt? Paul Flemming steckt schon tiefer drin, als ihm lieb ist. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als herauszufinden, was an der Produktion von sieben Zentimeter langen Würstchen so brisant ist.

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Jan Beinssen

 

Sieben Zentimeter

Paul Flemmings zweiter Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (4. Auflage 2009)

© 2006 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Anett Schwarz

Umschlaggestaltung: Silke Klemt, www.silkeklemt.de

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-393-5

 

Für Annika

 

Wer nun am tapfersten kämpft

und seinen Gegner besieget,

dieser wähle sich selbst die beste

der bratenden Würste.

 

Homer (8. Jh. v. Chr.)

 

1

Es war der bisher heißeste Tag in diesem Sommer, doch Paul Flemming fror so sehr, dass er den obersten Knopf seines leichten Hemdes schloss, was allerdings überhaupt keine Wirkung zeigte.

Er befand sich in einer Situation, von der er selbst nicht wusste, wie er sie einordnen sollte: beängstigend oder aber einfach nur absolut lächerlich. Um seiner eigenen Motivation willen entschied er sich für Letzteres und nahm sich vor, erstens ganz ruhig zu bleiben und zweitens eine nüchterne Bilanz seiner Lage zu ziehen: Paul Flemming befand sich mitsamt seiner schweren Kameraausrüstung, einer mittelstarken Taschenlampe und sommerlich leichtem Outfit grob geschätzte sieben oder acht Meter tief im Nürnberger Untergrund. Vor ihm ein Labyrinth aus dunklen, feuchten Gängen und hinter ihm ein Labyrinth aus dunklen, feuchten Gängen. Er stand in gebückter Haltung, und von der niedrigen, aschgrauen Decke tropfte unentwegt Kondenswasser in seinen Kragen.

Der alte Mann, der ihm den Schlüssel für den Eingang der Nürnberger Felsengänge gegeben hatte und sich freimütig anbot, Paul auf seinem Weg in die Tiefe zu begleiten, hatte ihn ermahnt, auf keinen Fall die markierten Pfade zu verlassen. Doch Paul hatte nicht nur eine Begleitung durch den Fremdenführer abgelehnt, sondern sich auch über dessen Warnung hinweggesetzt. Denn für seinen neuen Auftrag, eine aktuelle Bilddokumentation vom unterirdischen Nürnberg für die Landesausstellung 200 Jahre Frankenin Bayern, wollte er die jahrhundertealten Felsengänge zunächst ganz allein und ohne jede Störung auf sich wirken lassen. Schließlich besaß er ja einen Lageplan, und der kleine Abstecher in einen unausgeschilderten Seitenarm war ihm als vertretbares Risiko erschienen.

Inzwischen war gut eine Stunde vergangen, und Paul hatte sich – da bestand kein Zweifel mehr – hoffnungslos verlaufen. Wieder fand ein eiskalter Wassertropfen den Weg in seinen Kragen, und das Licht seiner Taschenlampe wurde allmählich flauer. Paul musste niesen.

Den Auftrag für die Dokumentation von Nürnbergs in vielen Teilen unerforschten Gängen, Fluchten und Felsengewölben im Untergrund der Stadt hatte er direkt aus dem Rathaus erhalten; dazu einen Stoß Aktenordner mit Katastern, Karten und früheren unvollständigen Bestandsaufnahmen. Die Akten lagen ungelesen in seinem Loft am Weinmarkt, und dort hatte er wohl auch seine Vernunft zurückgelassen, ärgerte sich Paul im Nachhinein über seine übereilte und schlecht vorbereitete Exkursion.

Paul zog abermals den Lageplan aus seiner Hosentasche, entfaltete ihn und richtete umständlich das matte Taschenlampenlicht darauf. Er studierte die verwirrend verlaufenden Gänge, erkannte Chaos statt System und fühlte sich nun vollends in einen Irrgarten versetzt. Er streckte seine Hand aus und fuhr zweifelnd an der klammen, bröckelnden Wand entlang.

Angesichts der Kälte, die ihm unter Hemd und Hose kroch, musste er sich eingestehen, dass er für diesen Job völlig falsch ausgerüstet war. Vor allem an wärmere Kleidung hätte er denken müssen, schimpfte er still vor sich hin, als er seinen Weg durch die dunklen kalten Stollen fortsetzte.

Nahezu die komplette Nürnberger Altstadt war unterkellert. Der felsige Untergrund war durchbohrt von unzähligen Stollen, deren Ausläufer angeblich bis hinaus über die Stadtgrenzen reichten. Das wusste Paul, und gerade das Erkunden dieses geheimnisumwitterten unterirdischen Systems hatte ihn an seinem neuen Auftrag ja so gereizt. Aber ohne Ortskenntnisse und bessere Vorbereitung würde er nicht weit kommen. Der Gang, in dem er jetzt stand, war höchstens sechzig Zentimeter breit. Wieder musste er seinen Kopf einziehen; die Erbauer dieses Tunnels hatten seine einsfünfundachtzig nicht vorhersehen können. Paul entschied sich umzukehren, als der Weg in einen Kriechgang überging.

Er machte also kehrt, ohne jede Ahnung, in welcher Himmelsrichtung er unterwegs war. Seine Schritte hallten in den kahlen Stollen wider. Das Knirschen zertretener Steinchen drang laut an sein Ohr. Sobald er aber stehen blieb, herrschte absolute Stille. Er war vollkommen abgeschirmt von der Außenwelt. Das war einerseits beruhigend, andererseits gespenstisch. Ihm schauderte, als er an die vielen gruseligen Geschichten über Nürnbergs geheime Gänge dachte, die ihn schon in seiner Kindheit gefesselt hatten. Etwa das uralte Gerücht vom Schatz, der im fünfzehnten Jahrhundert in einem der Tunnel eingemauert worden war und auf dessen Suche mancher Abenteurer verschollen sein sollte. Von sagenhaften Reichtümern war die Rede gewesen, aber eben auch von Fallen, heimtückischen Mechanismen, die einem den Weg abschnitten, und unendlich vielen Gassen, die im Nichts endeten.

Wieder zerbarsten feinste Steine unter Pauls Schuhsohlen. Er passierte eine Kreuzung, die er eigentlich von seinem Hinweg her in Erinnerung hätte haben müssen, die ihm allerdings gänzlich unbekannt vorkam. Von wo war er gekommen?

Ihm fiel eine andere, häufig erzählte Mär ein: Der Legende nach gab es eine Verbindung zwischen dem Tiergärtnertorplatz in Nürnberg und der Alten Veste in Zirndorf weit vor den Stadttoren Nürnbergs. Während dort Wallenstein 1632 die Stellung gegen die anrückenden Schweden hielt, soll deren König Gustav Adolf den Bau eines Schachts befohlen haben, um seine Gegner im Zirndorfer Feldlager aus dem Untergrund überrumpeln zu können. Na ja, dachte Paul, eine nicht gerade wahrscheinliche Theorie, zumal sich der Schwedenkönig dafür nacheinander unter zwei Flussläufen, der Pegnitz und der Rednitz, hätte hindurchbuddeln müssen. Aber jetzt, hier in dieser kalten, Angst einflößenden Atmosphäre, begann Paul Verständnis für die alten Legenden zu entwickeln. Und dafür, dass die Stadt ein gesteigertes Interesse daran hatte, endlich eine lückenlose Bilddokumentation dieser teilweise unerforschten Unterwelt zu bekommen.

Nach der nächsten Kurve spürte Paul Hoffnung in sich aufkeimen. Ein Luftzug kündigte einen nahen Ausgang an, und er erkannte einen schwachen Lichtschein. Nach ein paar weiteren Schritten bestand kein Zweifel mehr: Paul hatte den erschlossenen Teil der Felsenkeller erreicht. Er beschleunigte seinen Gang. Nackte Glühbirnen an weit durchhängenden Elektrokabeln hießen ihn in der Welt der Zivilisation willkommen – und offengestanden war er mehr als erleichtert darüber.

Je näher er dem Ausgang kam, desto angenehmer stieg die Temperatur und damit sein Wohlfühlbarometer. Er öffnete die wuchtige Stahltür und kniff die Augen zusammen. Gleißendes Licht empfing ihn außerhalb der Felsenkeller. Ihm war augenblicklich wohlig warm zumute. Mit dem zwiespältigen Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein, schloss er hinter sich zwei Mal ab. Dann steckte er den Schlüssel in seine Hosentasche, und dort sollte er bleiben, bis er mit besserer Vorbereitung und Ausrüstung zurückkommen würde.

Paul hatte sein Fahrrad auf dem Albrecht-Dürer-Platz direkt neben dem bronzenen Denkmal abgestellt. Noch immer ein bisschen durcheinander ging er auf den hoch aufragenden Maler zu, zwinkerte in den grellen Himmel und genoss die Wärme der Julisonne.

Sein Handy hörte er im ersten Moment fast nicht, und als er es bemerkte, brauchte er einige Zeit, bis er es aus seiner Fototasche geangelt hatte.

»Blohfeld hier«, meldete sich der Anrufer mit vorwurfsvollem Unterton.

»Schönen guten Morgen«, sagte Paul bemüht freundlich, wobei es ihn wurmte, dass der Polizeireporter des Nürnberger Boulevardblatts stets so unhöflich sein musste und auf jegliche Begrüßungsfloskel verzichtete.

»Von wegen schöner Morgen!«, blaffte der Reporter ihn an. »Ich versuche seit Ewigkeiten, Sie zu erreichen!«

»Tut mir leid«, heuchelte Paul. »Ich war vorübergehend abgetaucht und hatte keinen Empfang.«

»Keinen Empfang?«, fragte Blohfeld ungläubig. »Wie dem auch sei. Es gibt Arbeit für Sie.«

»Ich habe genug Arbeit«, sagte Paul, der sich nach seinem Ausflug in den feuchten Untergrund eigentlich auf ein deftiges Frühstück auf der sonnenverwöhnten Terrasse der Studentenkneipe Ruhestörung an der Tetzelgasse freute.

Doch dem Reporter schien Pauls Wohlbefinden reichlich egal zu sein. »Schnappen Sie sich Ihren Knipsapparat und kommen Sie in die Wiesinger-Villa nach Erlenstegen«, sagte er energisch, »und zwar flott, ehe die Polizei die Leiche abtransportieren lässt.«

 

2

Paul musste ordentlich in die Pedale treten, als er in Höhe der alten Eisenbahnbrücke von der Erlenstegener Straße abbog und sich die Günthersbühler Straße hinaufquälte. Auch wenn er gut in Form war, spürte er nach der hinter ihm liegenden Fahrt durch die halbe Stadt nicht nur die Hitze, sondern – zugegeben – auch sein Alter.

Er strampelte tapfer weiter und bog kurz darauf in eine schmale Seitenstraße ein. Die vielen Streifenwagen und Zivilfahrzeuge der Polizei markierten besser als jedes Hinweisschild sein Ziel. Vor einer weiß gekalkten, mannshohen Mauer stellte er sein Rad ab, nahm die Fototasche vom Gepäckträger und ging geradewegs auf einen abweisend blickenden Polizeibeamten zu, der sich vor einer ebenfalls in Weiß gehaltenen, massiven Holzpforte postiert hatte.

»Presse«, nuschelte Paul und wollte sich an dem Beamten vorbeizwängen.

»Halt«, sagte dieser barsch, »Ihren Presseausweis!«

»Ich bin der Fotograf von Herrn Blohfeld«, sagte Paul mit gewisser Ungeduld.

Der Polizist rührte sich nicht vom Fleck. Doch dann erhellte sich seine Miene. Er musterte Paul mit unverhohlener Neugierde und sagte: »Wissen Sie, dass Sie diesem Schauspieler ähnlich sehen? Diesem Hollywoodschauspieler? Diesem …«

»Ja, ja«, tat Paul das Gehörte ab. »Darf ich jetzt bitte vorbei?«

»Meine Frau schaut sich jeden Film mit ihm an«, redete der Polizist weiter. »Sie schwärmt für ihn. Richtig eifersüchtig könnte man werden.«

»Mein lieber Herr: Ich kann Ihnen versichern, dass ich mit George Clooney weder verwandt noch verschwägert bin.« Paul bemühte sich, bewusst anders zu lächeln als sein Double aus Hollywood. »Lassen Sie mich also passieren?«

Der Beamte trat beiseite. »Diese Ähnlichkeit: erstaunlich.«

Paul betrat einen Garten, der eher die Bezeichnung Park verdient hätte. Ein geschwungener Weg aus weißen Kieseln wurde gesäumt von einem Rasen in Golfplatzqualität. Stattliche Laubbäume mit imponierenden Kronen spendeten Schatten. Sein Blick aber wurde von der Wiesinger-Villa in der Mitte des Anwesens angezogen: ein riesiger, strahlend weißer Bau mit einem von Säulen flankierten Portal und turmartigen Rundbauten an den Seiten. Ein Märchenschloss, kam es Paul spontan in den Sinn, und zwar ein ziemlich kitschiges.

Die Wiesingers. In Nürnberg kannte jeder den größten Bratwurstproduzenten der Stadt. Die Familie war eigentlich zugereist und hatte sich mit Ehrgeiz und Ellenbogen einen Platz im von jeher engen Nürnberger Bratwurstmarkt erkämpft. An Wiesinger-Würstchen kam heutzutage kaum jemand vorbei – egal, ob als Betreiber eines Bratwurststandes oder als Disponent einer Supermarktkette. Die Wiesinger-Villa war ein eindrucksvolles Symbol ihrer Dominanz, dachte Paul.

»Hallo«, sagte er halb erstaunt, halb erfreut, als er anstelle des Polizeireporters Blohfeld Katinka Blohm in elegantem hellem Hosenanzug auf der Veranda der Villa erblickte. Ihr langes blondes Haar fiel ihr ungezwungen über die zierlichen Schultern, ihre blassblauen Augen musterten ihn freundlich. Paul war erleichtert über den freundlichen Empfang, denn er kannte die Staatsanwältin auch anders.

»Seit wann rauchst du?«

Katinka Blohm sah Paul zunächst fragend an, dann blickte sie auf die halb gerauchte Zigarette in ihrer Rechten und schnippte sie ins Gebüsch. »Der Stress, mein Lieber«, sagte sie. Sie drückte ihm zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Du weißt ja, wer der Tote ist.«

Paul nickte. »Hans-Paul Wiesinger, nehme ich an, wenn ich den ganzen Polizeifuhrpark hier sehe.« Er beobachtete Katinkas Reaktionen genau, als er weitersprach. »Blohfeld hat mir am Handy nicht viel erzählt, aber mir ist klar, dass er ein leuchtender Stern in Nürnbergs High Society war.«

Katinka stimmte zu, und Paul bemerkte einige feine Sorgenfältchen, die sich um ihre Augen bildeten. »Offenbar habe ich es immer wieder mit prominenten Mordopfern zu tun«, klagte sie in Anspielung auf einen früheren Fall. »Wiesinger ist«, sie korrigierte sich, »war nicht nur einer der größten Rostbratwurstproduzenten, sondern auch politisch engagiert.«

»Allerdings.«

»Er war einer der wichtigsten und vor allem legalen Spendengeber und Wahlkampfhelfer für die Partei. Auch den Heimatbund soll er stark gefördert haben. Man wird ihn dort vermissen.« Katinka nestelte an ihrem Jackett, wohl auf der Suche nach einer neuen Zigarette. »Geh nur rein. Die Spurensicherung ist beinahe durch, und dein Freund Blohfeld scharrt sicher schon ungeduldig mit den Hufen.«

 

3

Das Innere der Villa unterschied sich stilistisch kaum von ihrem äußeren Eindruck. Das Foyer war weiß und riesig, und die verarbeiteten Materialien waren erlesen. Paul wollte nicht wissen, was allein die kindshohen Vasen gekostet hatten, die den unteren Absatz einer gewaltigen marmornen Treppe ins obere Stockwerk zierten.

Paul näherte sich einer Tür am Ende der Empfangshalle, die von ihren Dimensionen eher an ein Kirchenschiff erinnerte. Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet, und grelles Scheinwerferlicht drang heraus.

»Besser spät als nie«, begrüßte ihn Blohfeld. Hinter der schmächtigen Gestalt des grauhaarigen Reporters entfaltete sich die geballte Schaffenskraft der modernen Kriminalistik: Im gleißenden Licht mehrerer wattstarker Strahler waren Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen damit beschäftigt, jeden Krümel in dem antiquiert eingerichteten Arbeitszimmer umzudrehen. Die Kriminalbeamten gingen mit Pinzetten, Pipetten und Tupfern zu Werke, sammelten jedes verdächtig erscheinende Utensil und steckten es in durchsichtige Plastikbeutelchen. Mittendrin im emsigen Treiben, ausgestreckt auf einem Orientteppich, lag ein mit weißen Laken bedeckter Körper.

»Kleines Quiz«, sagte Blohfeld und zupfte sich sein burgunderrotes seidenes Halstuch zurecht, »seit wann gibt es Nürnberger Rostbratwürste?«

Paul, eingenommen von den Vorgängen um ihn herum, zuckte die Schultern.

»1313. Aus diesem Jahr stammt zumindest die erste urkundliche Erwähnung«, sagte der Reporter und pustete sich eine Strähne seines dünnen grauen Haares aus der hohen Stirn. »Zweite Frage: Warum sind Nürnberger Würstchen so klein?«

»Moment, das weiß ich!« Paul hob seinen Zeigefinger. »Weil die Nürnberger Wirte sie damals auch nach der Sperrstunde anbieten wollten und sie somit durch Schlüssellöcher hindurch verkaufen mussten.«

»Könnte man gelten lassen. Eine andere Theorie besagt, dass sie den Häftlingen im historischen Lochgefängnis unter dem alten Rathaus durchs Zellenschloss gereicht wurden und deshalb so kompakt sein mussten.«

»Habe ich die Prüfung also bestanden?«, frotzelte Paul.

Blohfeld strich sich über seine schmale Himmelfahrtsnase. »Bestanden haben Sie erst, wenn Sie mir ordentliche Tatortfotos liefern.«

Paul setzte ein Weitwinkelobjektiv auf den Bajonettverschluss seiner Nikon. Er schloss einen leistungsstarken Stabblitz an und orientierte sich durch den Sucher der Kamera. Konzentriert lichtete er den Raum ab. Zunächst Fotos des abgedeckten Toten auf dem Fußboden, dann folgten Aufnahmen des Schreibtisches mit zerwühlten Unterlagen darauf, anschließend Bilder von weiteren Möbeln, den Wänden und teuer aussehenden Dekorationsgegenständen. Zuletzt fotografierte Paul die Scheibe einer Verandatür, die vermutlich der Täter zerbrochen hatte, um in die Villa einzudringen.

»Was glauben Sie eigentlich, wie viele Würstchen der alte Wiesinger durchschnittlich im Jahr hergestellt hat?«, forderte ihn Blohfeld erneut heraus.

»Keine Ahnung«, sagte Paul. »Zweihunderttausend? Vierhunderttausend? Das ist schwer zu schätzen; man isst ja immer mehrere davon, um satt zu werden.«

Blohfeld lächelte ihn nachsichtig an. »Rechnen ist wohl nicht Ihre Stärke«, sagte er. »Deshalb stehen Sie mit der Miete für Ihre Atelierwohnung am Weinmarkt wohl auch seit Monaten in der Kreide, was? Ich will es Ihnen sagen: dreihundert Millionen! Dreihundert Millionen von diesen verflixt leckeren kleinen Sünden. Der hat sie in alle Welt exportiert und sich daran dumm und dämlich verdient.«

Das sieht man, dachte Paul angesichts der imposanten Kulisse.

»Raubmord?«, fragte er den Reporter, nachdem er weitere Fotos von der zerbrochenen Verandatür gemacht hatte.

Blohfeld sah ihn an, fuhr sich erneut über die Nase und sagte leise: »Das vermutet die Staatsanwaltschaft. Die ersten Eindrücke deuten darauf hin.«

Paul nahm Blohfelds Verschwörerton auf, als er sich erkundigte: »Und was glauben Sie?«

»Das weiß ich selbst noch nicht«, gestand der Reporter ein. »Aber die Alarmanlagen haben nicht ausgelöst, weder die an der Gartenmauer noch die in der Villa selbst. Das gibt einem zu denken.«

»Ein Profi«, suchte Paul nach einer plausiblen Erklärung.

»Warum nimmt er souverän die ersten Hürden, um dann mit brachialer Gewalt die Scheibe einzuschlagen?« Blohfeld schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so einfach ist das nicht.«

Paul wusste nicht recht, ob er sich Blohfelds Zweifeln anschließen sollte. Denn warum sollte man einen glasklaren Fall wie diesen unnötig komplizieren? »Wie sieht denn die offizielle Lesart aus?«, fragte er.

Blohfeld grunzte. »Hans-Paul Wiesinger schläft in seinen Privatgemächern im ersten Stock. Er hört ein verdächtiges Geräusch. Da es bereits mitten in der Nacht und er – bis auf den alten Chauffeur – allein im Haus ist, sieht er selbst nach dem Rechten. Er überrascht einen Einbrecher in seinem Arbeitszimmer. Dieser verliert die Nerven und schlägt Wiesinger mit einem – sagen wir – Stemmeisen oder einem ähnlich schweren Gegenstand nieder. Anschließend flüchtet der Täter mit der Tatwaffe.«

Paul hörte ein dumpfes Schluchzen und schaute sich irritiert um, konnte die Herkunft des Geräuschs aber nicht feststellen. »Wer hat den Toten gefunden?«, fragte er.

Blohfeld deutete in die Richtung, aus der das Schluchzen kam. »Dort draußen sitzt er, auf der Veranda, der alte Chauffeur. Armer Kerl. Hat in kindlicher Naivität an seinem Arbeitgeber gehangen. Der Mann ist beinahe im Rentenalter, kann sich von seinem Posten aber offenbar nicht trennen.« Blohfeld kehrte den Chef heraus. »Seien Sie so gut und machen Sie ein paar hübsche Aufnahmen von ihm.«

Paul trat unter Protest eines Spurensicherers durch die zerbrochene Scheibe auf die Veranda hinaus. Tatsächlich saß dort jemand: zusammengesunken, das Gesicht verborgen zwischen großen, faltigen Händen; er trug eine weit fallende, dunkle Chauffeursgarderobe. Paul näherte sich dem Mann und sah hinab auf struppiges schlohweißes Haar. Neben dem Fahrer lag eine Chauffeurskappe, scheinbar achtlos auf die Holzbohlen der Veranda geworfen.

»Es ist alles aus«, stammelte der Mann. »Alles vorbei.«

Paul hatte nicht vor, den Seelsorger zu spielen, zumal er darin bestimmt nicht der Geeignetste war. »Darf ich«, setzte er unbeholfen an, »einige Aufnahmen von Ihnen machen? Sie sind einer der wichtigsten Zeugen«, sagte er bekräftigend.

»Über dreißig Jahre – und dann ein solches Ende«, sagte der Chauffeur mit brüchiger Stimme. Er schaute auf und blickte Paul aus traurigen fahlen Augen an. Dabei fielen Paul seine großen abstehenden Ohren auf.

»Darf ich?«, fragte Paul erneut und drückte schon auf den Auslöser. Fünf Fotos in rascher Folge. Die Sache war blitzschnell im Kasten.

Paul war erleichtert, als er wieder auf Blohfeld stieß, der sich im Foyer von einem Kripobeamten Kaffee aus einer Thermoskanne einschenken ließ. »Der Arme ist ja fix und fertig.«

»Hauptsache, Sie haben die Fotos.«

Paul nickte. »Zur Abwechslung habe ich jetzt mal eine Quizfrage«, sagte er. »Was verdient man denn mit dreihundert Millionen verkauften Würstchen im Jahr?«

Blohfeld zog die Brauen hoch und antwortete: »Streichen Sie eine Null und Sie haben den Umsatz.«

»Dreißig Millionen?«, fragte Paul ungläubig. »Und ich hatte mich schon darüber gewundert, wie sich ein Metzger einen eigenen Fahrer leisten kann.«

Blohfeld lächelte wie üblich ein wenig überheblich. »Nicht nur einen Fahrer, mein Lieber. Da waren auch eine Köchin, ein persönlicher Assistent und ein Gärtner drin.«

»Na, dann«, grinste Paul, »haben wir ja unseren Mörder gefunden!«

Blohfeld klappte die Kinnlade herunter. »Den Mörder?«

»Natürlich«, trumpfte Paul scherzhaft auf, »der Gärtner ist immer der Mörder! Haben Sie schon Kontakt mit ihm aufgenommen?«

Der Reporter verzog keine Miene. »Gärtner, Köchin und Assistent wohnen außer Haus beziehungsweise hatten in der Mordnacht Ausgang. Nun sehen Sie zu, dass Sie Ihre Fotos in die Redaktion mailen«, blaffte Blohfeld Paul an.

Paul beeilte sich, den Tatort zu verlassen. Er hetzte durch das Foyer, blieb an einem zierlichen japanischen Sekretär aus rötlich schimmerndem Edelholz stehen und griff sich eine darauf ausgelegte Imagebroschüre der Wiesinger-Fabrik.

»Das pure Elend«, entfuhr es ihm. Der Prospekt in seinen Händen war bieder, schlecht layoutet und vor allem mies fotografiert. Wenn der alte Wiesinger nicht tot im Nebenraum liegen würde, hätte Paul ihm hier und jetzt ein Angebot für einen neuen, attraktiveren Imagekatalog gemacht.

»Augenblick«, riss ihn Katinka Blohm aus seinen Gedanken. »Ich brauche mal deine Unterstützung«, sagte sie schmeichelnd und lenkte ihn in eine stille Nische zwischen zwei griechisch anmutenden Säulen.

Paul grinste. »Klar. Immer. Gern. Worum geht es?« Er rechnete nicht wirklich mit einem anstrengenden Gefallen.

»Hannah studiert doch jetzt an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, der WiSo«, begann Katinka umständlich.

Paul nickte abwartend. Von Hannah hatte er lange nichts gehört. Nichts mehr, seit sie als Nürnberger Christkind für die eine oder andere Schlagzeile gesorgt hatte. Aber er konnte sich ausrechnen, dass Katinkas widerspenstige Tochter aus erster und gescheiterter Ehe inzwischen ihr Abitur bestanden hatte und zur Studentin aufgestiegen war.

»Sie ist von zu Hause ausgezogen«, erklärte Katinka leicht melancholisch, »ins Noricus.«

»Ins Noricus?«, fragte Paul mit gewissem Unglauben. Ausgerechnet dorthin? Nichts gegen Hochhäuser; die brauchte eine Großstadt nun einmal. Aber musste es das Noricus sein? Die Bettenburg am Wöhrder See genoss nicht gerade den Ruf eines renommierten Mietshauses. In den zwanzig oder dreißig Stockwerken sollten angeblich Prostituierte anschaffen. Und auch sonst war die Klientel wohl nicht die, die sich eine Mutter für ihre neunzehnjährige Tochter wünschen konnte.

»Das Noricus ist schon lange keine Nuttenhochburg mehr.« Katinka schien seine Gedanken lesen zu können. »Hannah hat eine anständige Wohnung zu einem anständigen Preis gefunden«, sagte sie und grinste. »Außerdem eine mit unverbaubarem Burgblick.«

»Nun ja«, gab Paul klein bei. »Was für einen Gefallen soll ich dir oder ihr denn tun?«

»Ich möchte dich bitten, ab und zu nach ihr zu schauen«, sagte Katinka.

»Nach ihr zu schauen?«, fragte Paul perplex. »Wie stellst du dir das vor? Ich bin nicht ihr Vater. Außerdem bin ich froh, wenn ich meine eigenen Angelegenheiten einigermaßen regeln kann.«

Katinka lächelte, wobei ihre blauen Augen ihn erwartungsvoll ansahen. »Gerade weil du nicht ihr Vater bist, bitte ich dich darum. Hannah würde es mir übelnehmen, wenn ich in nächster Zeit zu oft bei ihr aufkreuze, kaum dass sie ihre Selbstständigkeit erkämpft hat.«

»Aber Katinka«, protestierte Paul zum Scherz. »Das hört sich schwer nach verdeckten Überwachungsmethoden an.«

Katinka nickte und blickte ihn schelmisch an. »Ich traue meiner Kleinen ja eine Menge zu – aber leider auch eine Menge Blödsinn. Also? Kann ich auf dich zählen?«

»Ich werde dich bei Gelegenheit um eine Revanche bitten«, sagte Paul und war trotz des ernsten Anlasses ihres Zusammentreffens guter Dinge, weil er seine alte Schulfreundin lange nicht so gelöst erlebt hatte. Paul wollte die gute Stimmung nutzen, um sich mit Katinka zum Abendessen zu verabreden, als ihr Gespräch durch das Geräusch eines hochtourig laufenden Motors unterbrochen wurde.

Beide sahen in Richtung der Toreinfahrt und folgten mit ihren Blicken einem schwarzen Sportwagen mit offenem Verdeck, der in rasantem Tempo den Weg zur Villa hinauffuhr und ohne Rücksicht auf eventuelle Lackschäden den Kies aufstieben ließ.

»Das muss er sein«, raunte Katinka Paul zu.

»Wer?«, fragte Paul. Doch noch während er Katinka die Verandatreppe hinab zur Auffahrt folgte, reimte er sich zusammen, dass es sich bei dem flotten Fahrer wohl um den Sohn von Hans-Paul Wiesinger handeln musste. Andi Wiesinger war erfolgreicher Geschäftsmann und Dandy in einem, von Paul unzählige Male auf diversen Galas, Bällen und Golf-Trophys abgelichtet.

Tatsächlich saß in dem Porsche-Cabriolet, das unmittelbar vor den Treppen zum Stehen gekommen war, ein Mann Mitte dreißig, von schmaler, aber sportlicher Statur, mit einem gebräunten Gesicht und zurückgekämmtem dunkelblondem Haar, das zum Teil von einer Schirmmütze verdeckt wurde. Neben Andi Wiesinger erkannte Paul auf dem Beifahrersitz eine dunkelhaarige Frau mit auffallend dunklem Teint: seine Gattin Doro Wiesinger. Sie war etwa im gleichen Alter wie Wiesinger junior und trug ein extravagantes, leuchtend rotes Kleid, von dem sich eine nicht zu übersehende Goldkette abhob. Ihre dunklen Augen strahlten große Entschlossenheit aus.

»Mein Beileid«, nahm Katinka die Wiesingers in Empfang, kaum waren sie aus dem Porsche ausgestiegen.

Paul bemerkte, dass Wiesinger den Motor laufengelassen hatte. Wohl weil er davon ausging, dass ein Bediensteter den Wagen in die Garage fahren würde. Wahrscheinlich würde diese Aufgabe dem trauernden alten Chauffeur zufallen, dachte Paul mitleidig.

»Es ist eine Tragödie«, sagte Katinka mit gedämpfter Stimme. »Ich habe Verständnis dafür, wenn Sie sich erst einmal sammeln möchten, bevor wir Sie mit unseren Fragen quälen müssen.« Sie reichte ihm die Hand. »Blohm ist mein Name. Ich bin die zuständige Staatsanwältin.«

Paul lobte Katinka im Stillen für ihre Diplomatie und brachte dezent seine Kamera in Position.

»Staatsanwältin?«, fragte Wiesinger, während er ihr mit leichtem Widerstreben die Hand schüttelte. »Ist das hier nicht Sache der Polizei?«

»Ich bin angehalten, mich in diesem besonderen Fall von Anfang an selbst mit den Ermittlungen zu befassen.«

»Also gut: Fragen Sie ruhig, fragen Sie«, sagte Andi Wiesinger, wobei sein Blick ziellos umherirrte. »Ist er dort drin?« Er zeigte mit einer fahrigen Bewegung auf die Villa.

Katinka nickte. »Die Bestatter werden jeden Augenblick eintreffen.«

»Kann ich ihn sehen?«, fragte Wiesinger.

»Ich würde es Ihnen nicht empfehlen«, sagte Katinka leise.

»Schon gut, schon gut.« Unruhig wandte sich Wiesinger seiner Frau zu. »Ermordet«, sagte er zu ihr. »Stell dir das bloß vor, Liebes. Ermordet – bei uns zu Hause!« Jetzt wandte er sich wieder an Katinka: »Es war ein Einbrecher, sagte die Polizei am Telefon. Ist das richtig? Wie konnte das passieren?«

Katinka deutete an, dass der oder die Einbrecher gut informiert gewesen sein mussten, da sie die Sicherungssysteme umgangen hatten. »Aber die Bluttat selbst war unseren Vermutungen nach kein Vorsatz. Ihr Vater hat den Täter wahrscheinlich auf frischer Tat ertappt.«

»Kein Vorsatz?« Wiesinger griff nach der Hand seiner Frau, die sie ihm aber augenblicklich wieder entzog. »Vorsatz hin, Vorsatz her – das macht meinen Vater nicht wieder lebendig.«

»Kommen Sie direkt aus München?«, bemühte sich Katinka, das Gespräch zurück auf eine sachliche Ebene zu führen.

Wiesinger nickte, und Paul bemerkte beim Blick durch den Sucher, dass das Gesicht des Mannes mit dem Image des ewigen Sunnyboys bei näherer Betrachtung von tiefen Falten durchzogen war. »Wir waren auf einer Vernissage«, knüpfte Wiesinger an. »Bei einer befreundeten Malerin. Wir waren zwar noch im Käfers, aber schon recht früh im Hotel.«

»Ja, so gegen ein Uhr«, meldete sich Doro Wiesinger erstmals zu Wort. Ihre Stimme war unerwartet tief und nach Pauls Empfinden durchaus exotisch. »Dort erreichte uns dann gegen Morgen der Anruf.«

Katinka blickte auf ihre Uhr. »Laut dem Chauffeur Ihres Vaters, Herrn Schönberger, hatten Sie Nürnberg am späten Nachmittag verlassen.«

»Ja«, bestätigte Andi Wiesinger. »Schönberger hatte den Wagen voll getankt, und gleich darauf sind wir losgefahren.«

»Der Totschlag wird vom Gerichtsmediziner nach ersten vorsichtigen Schätzungen auf die Nachtstunden zwischen Mitternacht und vier Uhr terminiert.«

»Wie Sie das sagen.« Doro Wiesinger bedachte Katinka mit einem feindseligen Blick. »Wir reden hier über einen Menschen, meinen Schwiegervater, und nicht über irgendein Kaninchen, das bei einem Laborversuch verendet ist.« Sie taxierte jetzt auch Paul voller Argwohn und zog ihr Kleid über dem Dekolleté zusammen, nachdem er seine Kamera abermals auf sie gerichtet hatte.

»Entschuldigen Sie«, sagte Katinka und geleitete die Wiesingers in Richtung der Eingangstür. »Wir sollten uns an einem ruhigen Ort ungestört weiter unterhalten.«

Dann machte sie Paul gegenüber eine Geste, als wollte sie einen lästig werdenden Hund vertreiben. »Du bleibst draußen«, zischte sie.

Großartig, dachte er voller Sarkasmus, als er Andi Wiesinger in seinem Tausend-Euro-Freizeitanzug und seine in Rot gewandete südamerikanische Schönheit gemeinsam mit Katinka in der Villa verschwinden sah. Doro Wiesinger hatte, so fiel Paul auf, als er sie von hinten sah, um die Hüften herum ein wenig zugelegt. Was mochte das wohl bedeuten?, fragte er sich. Kummerspeck, weil ihr Mann sie so oft betrog? Aber das würde sie kaum nötig haben, denn Doro Wiesinger war dem Vernehmen nach in dieser Hinsicht selbst nicht von schlechten Eltern. Und ihre Attraktivität stand außer Frage. Nein, nein, diese Dame war selbstbewusst genug, um sich genau die Figur zu leisten, die sie anstrebte und die zu ihr passte. Sie war ganz sicher nicht dem zweifelhaften Schönheitsideal abgemagerter Supermodels verhaftet.

Paul stand alleingelassen neben dem schwarzen Porsche der Wiesingers und begann in der knallenden Nachmittagssonne zu schwitzen. Das war es dann wohl, dachte er sich und trat den Rückzug an. Zuvor schoss er noch einige Bilder von dem Cabrio. Die ersten von vorn aus der Froschperspektive – das machte den Wagen imposanter beziehungsweise ließ ihn angeberischer wirken –, dann einige von der Seite. Schließlich richtete er sein Objektiv auf das Cockpit und die ledernen Sportsitze, auf denen noch das Gucci-Handtäschchen von Doro Wiesinger lag.

4

Paul radelte zurück und spürte plötzlich, dass er zwar seit Stunden unterwegs war, jede Menge erlebt hatte, aber in der ganzen Zeit keinen Bissen zu sich genommen hatte. Während er in die Pedale trat, überlegte er, ob er vor der Rückfahrt ins Burgviertel einen Schlenker über die Pirckheimerstraße einplanen sollte. Es war kurz nach zwei. Ihm stand der Sinn nach sommerlich leichter italienischer Küche ohne viel Brimborium, und er wusste, dass er genau diese in der bekommen würde. Dort gab es nicht nur die besten, sondern auch die größten Pizzen der Stadt. Pizza Rucola war sein Favorit. Und dazu würde er sich ein leichtes Weizenbier gönnen, um die verbrauchten Mineralien in den Körper zurückzuschwemmen.

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