Fühlen ist Leben - Sylvia Wetzel - E-Book

Fühlen ist Leben E-Book

Sylvia Wetzel

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Beschreibung

Emotionen bestimmen unser Leben. Wir suchen die angenehmen Gefühle und vermeiden die schwierigen. Doch gerade hier liegt der Schlüssel: Nur wenn wir unsere problematischen Emotionen verstehen und steuern können, werden wir auch Raum für ein leichteres Leben schaffen. Sylvia Wetzel behandelt in ihrem neuen Buch den Umgang mit Emotionen, die uns belasten – von Ärger und Wut, über depressive Verstimmungen und Neid oder Gier, bis hin zu Schmerz und Leid. Ihr buddhistischspiritueller Ansatz integriert Erkenntnisse der Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie. Die Autorin bietet überraschende und erhellende Einblicke aus ihrem reichen Wissens- und Erfahrungsschatz. Mit Reflexionen und konkreten Übungen.

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Sylvia Wetzel

Fühlen ist Leben

Mit schwierigen Gefühlen umgehen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © nadtytok28/Fotolia

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book 978-3-451-81397-9-0

ISBN Print 978-3-451-60008-1

Inhalt

Einführung

Teil eins: Wer bin ich und wie fühle ich mich?

1. Was sind Gefühle?

Gefühle im Westen

Grundgefühle, reaktive Emotionen und himmlische Gefühle

2. Wer bin ich?

Fünf Aspekte der Persönlichkeit

Tiefes Vertrauen und Unwissenheit

Vier Schleier

Drei Grundübungen

Suche die Täuschung hinter der Enttäuschung

Aufhänger, Stimmung, Hintergrund: Warum und wozu?

Schwierige Gefühle annehmen

Wer bin ich und wer will das wissen?

Fünf Säulen des Lebens

Reflexion

Fünf Arten des Ichgefühls

Reflexion

Reaktive Emotionen

Angst und Wut als sekundäre Emotionen

Reflexion

Drei Ich-Perspektiven

Perspektivenwechsel

Reflexion: Perspektivwechsel

3. Erwartungen, Enttäuschungen und Gefühle

Natürliches und zusätzliches Leiden

Reflexion: Privates Leid

Reflexion: Politisches Leid

Unbeständigkeit und Unkontrollierbarkeit

Reflexion: Suche die Täuschung hinter der Enttäuschung

Reflexion: Aufhänger, Stimmung, Hintergrund

Teil zwei: Der Zeitgeist: Damals und heute

4. Umbruchzeiten und Gefühle

Exkurs: Von der Vormoderne zur zweiten Moderne

Status und Ruhm, Ehre und Sehnsucht nach Anerkennung

Reflexion: Meine Anliegen

Reflexion: Gruppen

Der Zusammenbruch des autonomen Persönlichkeitsideals

Die zweite Moderne: Zuversicht und Kooperation

5. Buddhismus im Wandel

Achtsamkeit und Kontrolle

Reflexion

Mitgefühl als Motor

Reflexion: Die Elemente der Achsenzeit

Das Mahayana

Mitgefühl als Weg

Der Weg zum Miteinander: Die Bodhisattva-Gelübde

Reflexion: Die fünf Bodhisattva-Gelübde

Zuflucht und unerschütterliches Vertrauen

Reflexion: Drei Dimensionen des Vertrauens

Individualisierung, Gewissen und Verantwortung

Kernkompetenzen für eine globalisierte Welt: Die Paramitas

Reflexion: Die sechs Paramitas

Reflexion: Freude und Interesse wecken Energie

Chancen und Risiken von Achtsamkeit und Mitgefühl

Reine Sicht: Alle sind schon erwacht.

Übung

6. Authentisch ist das neue Wahr, nicht wahr?

Ausagieren, unterdrücken oder verdrängen?

Vom Wandel der Identität

Teil drei: Schwierige und himmlische Gefühle

7. Gier, Hass, Verblendung & Co.

Dummheit, Einsicht und Moral

Konsum, Krieg und Ideologie: Gier, Hass und Verblendung

Drei Grundübungen

Aufhänger, Stimmung, Hintergrund

Schwierige Gefühle annehmen

Sechs Reflexionen: Gier, Hass und Verblendung

Was ist mir wirklich wichtig?

Fünf Reflexionen: Meine Anliegen

Warum und wozu?

Drei Reflexionen: Warum und wozu?

Überheblichkeit, falsche Ansichten und Zweifel

Sieben Reflexionen

Suche die Stärke hinter der Schwäche

Sieben Reflexionen

Jammern und Weltschmerz

Drei Reflexionen

Angst und Einsamkeit, Überforderung und Wut

Sechs Reflexionen

Gruppen und Austausch

Zwei Reflexionen

Wie geht es weiter?

Zwei Reflexionen

Exkurs: Die Sieben Todsünden

Reflexion: Die neuen sieben Todsünden

8. Ressourcen entdecken und fördern

Entspannen und Auftanken

Zwei Reflexionen

Freude, Beziehungen, Sinn

Reflexion: Ressourcen

Himmlische Gefühle

Hindernisse und Heilmittel und die Stärken hinter den Schwächen

Zwei Reflexionen

Tugenden bei Platon, Aristoteles und in der Stoa

Vier Reflexionen

Tugenden der Neuzeit

Zwei Reflexionen

Glaube, Liebe, Hoffnung und himmlische Gefühle

Zwei Reflexionen

Ein Vorschlag zur Güte

Glossar

Einmaleins: Numerische Listen

Fachbegriffe

Literaturempfehlungen

Über die Autorin

Einführung

Gefühle sind das Salz in der Suppe des Lebens, mit angenehmen und starken Gefühlen fühlen wir uns lebendig und wir wollen sie festhalten. Unter unangenehmen Gefühlen leiden wir und wir möchten sie loswerden. Wenn wir uns bedroht fühlen, werden wir entweder wütend und greifen an oder wir fürchten uns und wollen flüchten. Scheitern Angriff und Flucht, stellen wir uns tot und spüren nichts mehr.

Ich möchte in diesem Buch das große Thema Gefühle aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Im Zentrum stehen die fast unersättliche Sehnsucht nach Liebe, persönlicher Zuwendung und Anerkennung und die Wut, die wir spüren, wenn wir nicht das bekommen, worauf wir ein Anrecht zu haben glauben. Das Gefühl, beleidigt zu werden, und die wütende Beschimpfung scheinbarer Feinde gehören zu den dominanten Gefühlen, die vor allem im Internet, aber auch in den traditionellen Medien Tag für Tag zum Ausdruck kommen.

Die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung und das Ausdrücken von Wut und Enttäuschung scheinen nicht nur unsere privaten Dramen zu begleiten, sondern auch die zentralen Faktoren im sozialen und politischen Miteinander zu sein. Sie manifestieren sich als eine Vielzahl komplexer Gefühle und Emotionen, die im engen Zusammenspiel mit Dogmatismus und Rechthaberei und der Unwilligkeit, den eigenen Beitrag zu unserem Lebensgefühl zu sehen, entstehen. Der Buddhismus spricht anschaulich von 84 000 »Verblendungen« oder reaktiven Emotionen: Das sind je 21 000 Varianten von Gier, Hass und Verblendung im engeren Sinn und 21 000 Mischformen. Ich bin mir sicher, dass das kein buddhistischer Gelehrter und auch keine Yogini in ihrer Höhle jemals gezählt haben. Es ist einfach ein drastisches Bild für die unermessliche Vielfalt schwieriger Gefühle.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich sehr froh darüber bin, dass diese schwierigen Gefühle nur einen kleinen Teil unserer Alltagserfahrung ausmachen. Ich bin immer wieder erstaunt und erfreut, wie hilfsbereit und klug viele Menschen sich verhalten, wenn sie Herausforderungen begegnen. Das stärkt meine Zuversicht, dass wir durch genaues Hinhören auf die Botschaft, die uns schwierige Gefühle geben, so mit ihnen umgehen können, dass wir damit Probleme verringern und nicht vermehren. In dieser Hinsicht sind für mich buddhistische Gedanken und Übungen die zentrale Orientierung. Sie inspirieren mich seit vierzig Jahren zu einem konstruktiven Umgehen mit sehr unterschiedlichen Gefühlen.

Wir verwenden den Begriff »Gefühl« für sehr unterschiedliche Erfahrungen, und das hat wohl mit ihrer zentralen Rolle im Leben zu tun. Was man alles unter Gefühlen und Emotionen versteht und wie sie entstehen und sich auch wieder verändern können, ist Inhalt des ersten Teils. Allerdings verändern sich nicht nur die erlebten Gefühle selbst, sondern auch Funktion und Rolle von Gefühlserfahrungen und ihr Ausdruck in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen, und das nicht nur im Westen, sondern auch in Asien. Wir leben zwar alle in der gleichen Kalenderzeit, in der christlich-westlichen Zeitrechnung, aber nicht nur in Asien und Afrika, sondern auch in Deutschland und in Europa, in Nord- und Südamerika und in allen westlich geprägten Gesellschaften leben nicht alle Menschen in der gleichen kulturellen Zeit, und das gilt vermutlich auch für die Leserinnen und Leser dieses Buches und ihre Angehörigen und Bekannten.

Aus diesem Grund frage ich mich immer wieder: »Wer bin ich?«, und wenn es um andere geht: »Wer hat welche Gefühle?« Die Antwort darauf entscheidet, welche Herangehensweisen sich für welche Menschen besser oder weniger gut eignen. Das kann sich im Laufe eines Lebens verändern, aber auch je nach Stimmung und Tagesverfassung brauchen wir unterschiedliche Ansätze. Der Prozess der Individualisierung in der Moderne hat dazu geführt, dass wir inzwischen so unterschiedlich sind, dass uns ein bestimmter Ansatz oder eine bestimmte Reihe von Überlegungen und Methoden zum konstruktiven Umgehen mit schwierigen Gefühlen nicht ausreicht. Wir brauchen ein breites Angebot von Ansätzen und Übungen, die wir je nachdem anwenden können. Da nicht nur das Spüren von Gefühlen und ihr Ausdruck, sondern auch das Verstehen emotionaler Prozesse eine wichtige Rolle im Umgehen damit spielen, stelle ich immer wieder Erklärungsansätze vor, die mir einleuchten. Erklärungen sollen hier aber nicht primär als Rechtfertigung von Gefühlen dienen, sondern wollen vor allem bei schwierigen Gefühlen einen Hinweis auf unheilsame Kausalketten geben, die wir mit solchen Erklärungen vielleicht unterbrechen können – wenn wir das wollen und viele, viele Male auch ausprobieren.

Eingefahrene Gefühls- und Verhaltensmuster lassen sich nur verstehen und verändern, wenn wir uns ihnen regelmäßig und mit Interesse und Aufmerksamkeit zuwenden und immer wieder ausprobieren, was uns hilft, konstruktiv damit umzugehen. Es gibt keine schnellen Lösungen für emotionale Verstrickungen, sondern nur das geduldige und ausdauernde Experimentieren mit Ansätzen, die wir inspirierend finden. Und diese Geduld und Ausdauer finden wir nur, wenn wir einigermaßen Vertrauen ins Leben haben und im regelmäßigen Kontakt und Gespräch mit Menschen bleiben, die lebendig und aufrichtig sind, mit ihren Gefühlen und Emotionen gut umgehen können und niemandem damit schaden.

Auch der Buddhismus hat sich im Laufe seiner zweitausendfünfhundertjährigen Geschichte verändert, je nachdem, in welchem Land er von welchen Menschen studiert und praktiziert wurde. Im zweiten Teil stelle ich daher einige zentrale Thesen und Methoden des frühen Buddhismus, des Mahayana und des tantrischen Buddhismus vor, die sich an Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen und Fähigkeiten richten. Und ich untersuche die kulturellen Brillen, die Menschen aus dem Westen tragen, wenn sie sich mit buddhistischen Lehren und Übungen befassen. Denn je nachdem, wer wir sind und wie wir »ticken«, interpretieren wir Lehren und Übungen, so oder anders. Manchmal führt das zu mehr Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit, und manchmal stabilisieren wir mit buddhistischen Übungen lediglich unsere vertrauten Selbstbilder und eingefahrenen Muster.

Im dritten Teil gehe ich dann auf unterschiedliche schwierige Gefühle und auf einfache und komplexe reaktive Emotionen ein und schlage Übungen vor, wie wir die Stimme der Weisheit in ihnen hören können. Wir lernen konstruktiv mit ihnen umzugehen, wenn wir das ernsthaft und aufrichtig wollen. Denn das ist mir im Laufe meines Lebens klar geworden: Unser Leben kann nur dann gelingen, wenn wir alle Erfahrungen freundlich und aufmerksam zur Kenntnis nehmen, sie anerkennen und wertschätzen und einigermaßen verstehen. Das gelingt uns leichter, wenn wir auch Zugang zu den »schönen« und erhebenden Gefühlen haben, die der Buddhismus himmlische Gefühle beziehungsweise Haltungen nennt: Freundlichkeit, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Man kann sie auch mit Wohlwollen, freudige Dankbarkeit und heitere Gelassenheit übersetzen. Sie sind der Boden und der Hintergrund, der es uns möglich macht, angemessen und konstruktiv mit schwierigen Erfahrungen und Gefühlen umzugehen.

Erst wenn wir unangenehme Erfahrungen und schwierige Gefühle wahr- und annehmen, können wir die Lebenskraft, die in ihnen steckt, befreien und zum eigenen Wohl und dem aller verwenden. Das ist zumindest meine Vision eines gelingenden Lebens, und so interpretiere ich auch den Kern des demokratischen Ideals. Es drückt für mich die Zuversicht aus, dass wir im respektvollen Gespräch mit »Menschen im Plural« über die gemeinsame Welt Wege finden können, das Beste auch aus schwierigen Umständen zu machen. Wir spüren alle, ob eine Situation gut oder schlecht für uns und andere ist, und dabei helfen uns unsere Gefühle, die angenehmen und die unangenehmen, die schönen und die schwierigen.

Mögen wir alle die für uns geeigneten Wege finden, klug und angemessen mit unseren Gefühlen und denen von anderen umzugehen.

Hinweis zu fremdsprachigen Begriffen

Da sich dieses Buch an ein breites Publikum richtet, werden nur dann fremdsprachige Begriffe verwendet, wenn es der Klärung dient. Wenn nicht anders erwähnt, werden sie im indischen Sanskrit, der Sprache des Mahayana, genannt, es sei denn, sie sind in einer anderen Sprache bekannt, zum Beispiel unter dem indischen Pali-Begriff oder auf Latein, lat., oder Griechisch, gr., und so weiter. Weitere Hinweise finden Sie im Glossar und im Literaturverzeichnis.

Teil eins: Wer bin ich und wie fühle ich mich?

Nenn’ es dann, wie du willst,

Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!

Ich habe keinen Namen dafür!

Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch.

Goethe, Faust I, Marthens Garten

1. Was sind Gefühle?

Was sind Gefühle? Ich orientiere mich in diesem Buch vor allem an buddhistischen Ansätzen, denn ich bin keine Psychologin, und die buddhistischen Kategorien und Übungen geben mir eine gute Orientierung. Als Frau aus dem Westen bin ich auch mit christlichen und philosophischen, soziologischen und psychologischen Begriffen vertraut und durch sie geprägt. Da ich in diesen Begriffen denke und dieser Hintergrund in älteren und neueren buddhistischen Übersetzungen aus dem Englischen eine wichtige Rolle spielt, setze ich buddhistische Begriffe immer auch in Beziehung zu westlichen Termini und Kategorien, denn sie sind die Brille, durch die wir Ansätze aus dem Buddhismus sehen und verstehen.

Es geht mir nicht darum, den Buddhismus als optimales System für ein kluges Umgehen mit schwierigen Gefühlen darzustellen, sondern ich verwende die buddhistischen Kategorien als Landkarte im Dschungel vielfältiger Erfahrungen und Erklärungsansätze. Ich halte den Buddhismus nicht primär für eine Religion oder Philosophie, sondern für einen Übungsweg. In diesem Sinn sind für mich alle Aussagen des Buddha und seiner Nachfolger*innen aus den unterschiedlichen Kulturen und Zeiten in Asien, und seit über hundert Jahren auch aus dem Westen, primär Anregungen zum Üben, pragmatische Methoden, um mit bestimmten He­rausforderungen klug und angemessen umzugehen.

Gefühle im Westen

Die westliche Psychologie ist, verglichen mit dem Buddhismus, eine junge Wissenschaft, und es gibt viele unterschiedliche Schulen und Zugänge. Ich nenne hier die zentralen Kategorien aus dem dtv-Atlas zur Psychologie (1984) relativ ausführlich, denn sie entsprechen vermutlich eher unseren Erfahrungen als die traditionellen buddhistischen Kategorien. Allerdings wird darin betont, dass man sich in der Erforschung der Gefühle noch ziemlich am Anfang befinde. Ich werde im dritten Teil Vorschläge zum klugen Umgehen mit häufig vorkommenden schwierigen Gefühlen und Emotionen machen und mich dabei sowohl auf buddhistische als auch auf westliche psychologische Begriffe beziehen.

Unter dem Stichwort Emotionspsychologie werden viele Arten von Gefühlen beziehungsweise Emotionen aufgeführt, die ich zur besseren Übersicht in sieben Gruppen zusammenfasse: 1. Somatische Emotionen wie Antriebe: Hunger, Durst, Schlaf, Sexualtrieb; Stimmungen: lebhaft – schwermütig, Morgenmuffel – Frühaufsteher; Schreck: Flucht – Angriff; Angst: Flucht, Ängstlichkeit, Panik, Pessimismus. 2. Situative Emotionen wie Freude, Humor, Zorn, Sorgen, Besorgnis, Überraschung. 3. Soziale Emotionen wie Liebe, Selbstlosigkeit, Antipathie gegen Dinge, Personen, Tiere, Ideen und so weiter, mit einer großen Spannbreite von Abwehr bis Ekel. Für Aggression werden 37 Theoriegruppen erwähnt, die sich unter anderem mit Aggressionsabbau und dem Einüben sozialen Verhaltens befassen.

Die soziale Emotion der Scham gilt als Hüterin von Selbstrespekt und Selbstschutz und der Achtung fremder Integrität. Schuldgefühle nach Fehlverhalten basieren auf Verantwortungsgefühl und Selbstkritik. Moralische Gefühle entstehen in einem bestimmten sozialen Kontext und folgen einem bestimmen Kodex. 4. Zu den kognitiven Emotionen zählen Interesse, Hoffnung unter anderem. Dann gibt es 5. Ästhetische und religiöse Gefühle und meditative Emotionen, die sich auf das eigene Erleben beziehen. 6. Das Selbstwertgefühl pendelt zwischen Selbstachtung und Fremdwahrnehmung. Als 7. und letzte Kategorie werden unterschiedliche Gefühlstörungen genannt.

Grundgefühle, reaktive Emotionen und himmlische Gefühle

Der Buddhismus beschreibt drei Gruppen von Gefühlen: Grundgefühle, schmerzhafte, verblendete oder reaktive und heilende Gefühle, skrt. vedana, klesha, brahmavihara. Der Begriff Grundgefühl, vedana, bezieht sich auf die einfache Unterscheidung und Bewertung einer Erfahrung als angenehm, unangenehm oder neutral, bezogen auf körperliche und geistige Prozesse. Wir können angenehme oder unangenehme Grundgefühle erleben, wenn wir etwas mit den fünf Sinnen wahrnehmen und wenn wir über etwas oder jemanden nachdenken. Wenn wir auf diese drei Grundgefühle aus Gewohnheit automatisch mit Festhalten, Abwehr oder Gleichgültigkeit reagieren, blockieren wir wichtige Informationen, auf die uns Grundgefühle hinweisen können. Es braucht allerdings viel Übung und eine feines Gespür, wenn wir die subtilen Grundgefühle unmittelbar spüren wollen. Meist können wir nur aus unseren Reaktionen auf sie schließen. Wenn ich noch einen Teller dieser wunderbaren Suppe haben will, dann muss ich den Geschmack zuvor als angenehm bewertet haben, und so weiter.

Diese drei grundlegenden reaktiven Emotionen, Festhalten, Abwehr oder Gleichgültigkeit, werden Klesha genannt, wörtlich Fleck oder Befleckung. Sie gelten als Geistesgifte, weil sie den Frieden des Herzens zerstören. Ich nenne sie auch reaktive Emotionen, denn sie laufen aus Gewohnheit automatisch ab, vor allem dann, wenn wir unsicher und ängstlich, aufgeregt oder wütend und so weiter sind.

Häufig reagieren wir aus Gewohnheit und Unsicherheit ungeschickt auf unsere schlichten und einfachen Grundgefühle. Auf angenehme Gefühle mit dem Wunsch nach mehr, mit Festhalten an Dingen, Menschen und Umständen; oder wir bedauern, dass wir diese angenehmen Gefühle nicht häufiger erleben. Auf unangenehme Gefühle reagieren wir häufig mit Abwehr oder Ärger oder ignorieren das Gefühl und lenken uns ab. Damit verpassen wir eine gute Gelegenheit, die Stimme der Weisheit zu hören, die uns etwas über unser körperliches Befinden oder unsere Grundstimmung, über unsere Gedanken oder emotionalen Einstellungen sagen will. Wenn wir neutrale Gefühle gewohnheitsmäßig ignorieren, halten wir unspektakuläre Umstände für uninteressant oder unwichtig, statt sie als Hinweis zur Entspannung zu nehmen; oder wir finden das Leben zu langweilig und stürzen uns auf den nächsten Sinnenreiz.

Nehmen wir die drei Grundgefühle mit liebevoller Achtsamkeit zur Kenntnis, können sie uns zu einer freundlichen oder freudigen, mitfühlenden oder gelassenen Haltung und einem konstruktiven Umgehen mit ihnen inspirieren. Diese vier Haltungen werden »himmlische Verweilungen« genannt, brahmavihara. Wörtlich ist das der Ort, vihara, an dem der indische Gott Brahma verweilt. Dazu gehören Freundlichkeit und dankbare Freude sowie Mitfreude als Antwort auf angenehme Erfahrungen und Mitgefühl sowie Gelassenheit oder Gleichmut als Antwort auf unangenehme Erfahrungen, Pali metta, mudita, karuna, upekkha.

Da ich den Begriff »himmlische Verweilungen« sperrig und unklar finde, spreche ich meist von den vier »himmlischen« Gefühlen beziehungsweise Haltungen, auch wenn der Begriff Gefühl für die Haltung des Gleichmuts nicht zu passen scheint. Wenn wir ihn als ausgeglichenen Gefühlszustand verstehen, kann man Gleichmut oder Gelassenheit mit etwas Großzügigkeit auch Gefühl nennen.

Es geht also um dreierlei: Um Grundgefühle, reaktive Emotionen und heilende Gefühle. Das ist die buddhistische Lehre von den Gefühlen in der Nussschale. Es werden viele weitere Varianten reaktiver Emotionen und heilender Gefühle beschrieben. Auf sie gehe ich ebenfalls im dritten Teil ein, in dem ich konkrete Übungen zum Umgehen mit schwierigen Gefühlen vorstelle. Denn die Pflege heilender Gefühle ist das Tor zu tiefem Vertrauen ins Leben, und das wiederum fördert Entspannung und Zuversicht. Und je entspannter und zuversichtlicher wir sind, desto besser können wir mit schwierigen Erfahrungen umgehen.

Ich werde im Folgenden meist die allgemein üblichen und sehr weit gefassten Begriffe Gefühl und Gefühle verwenden und nur soweit notwendig zwischen Grundgefühlen, reaktiven Emotionen und heilenden Gefühlen unterscheiden.

Merksätze

Die drei Grundgefühle, die Unterscheidung von angenehm, unangenehm und neutral, brauchen wir zum Überleben und als erste Orientierung. Reagieren wir automatisch mit den drei Geistesgiften oder Kleshas, mit Festhalten, Abwehr oder Ignorieren, stören wir den Frieden des Herzens.Antworten wir auf angenehme Grundgefühle mit Freundlichkeit und Wohlwollen, Freude und Dankbarkeit, vergrößern wir das Wohlbefinden bei uns und anderen. Antworten wir auf unangenehme Grundgefühle mit Mitgefühl und Gleichmut, verringern wir Unwohlsein und Schmerz bei allen Beteiligten. Antworten wir mit Gelassenheit oder Inte­resse auf neutrale Gefühle, bleiben wir im Gleichgewicht oder erweitern unseren Horizont und damit auch unser Wohlbefinden.

2. Wer bin ich?

Wir erleben mehr, als wir begreifen.

Hans-Peter Dürr

Das Ich ist eine bloße Benennung

auf der Basis der fünf Skandhas.

Buddhistisch

Fünf Aspekte der Persönlichkeit

Wie entstehen Gefühle? Was ist ihre Funktion? Was können sie bewirken? Es gibt unterschiedliche Ansätze, die komplexen Ent­stehungsbedingungen der Gefühle zu beschreiben. Ich möchte hier zwei davon vorstellen, die Gefühle als Folge eines fixierten und engen Selbstbildes interpretieren: die fünf Komponenten der Persönlichkeit, skandha, aus dem frühen Buddhismus und die Vier Schleier, ein Ansatz aus dem tantrischen Mahayana, der das Zusammenspiel von Grundvertrauen, Sicht der Welt, emotionalen Strategien und gewohnheitsmäßigem Ver­halten sehr anschaulich beschreibt. Ich habe diese beiden Ansätze ausgewählt, weil alle buddhistischen Schulen den ersten lehren und der zweite sich sehr gut für die kulturelle Übersetzung buddhistischer Kategorien in unser heutiges Denken eignet.

Im Modell der fünf Skandhas sind Grundgefühle eine der fünf Persönlichkeitskomponenten, skandha, wörtlich Haufen oder Ansammlung. Wir fühlen uns als eine lebendige Ganzheit, als Person, wenn wir fünf unterschiedliche Gruppen von Erfahrungen machen: Wir erleben Form oder Dinghaftigkeit, Gefühle, können unterscheiden und kategorisieren, haben einfache und komplexe Gewohnheitsmuster und ein Bewusstsein davon, rupa, vedana, samjna, samskara, vijnana.

Unser Ichgefühl entsteht auf der Grundlage dieser fünf Arten von Erfahrungen. Das Ichgefühl ist also kein stabiles »Etwas«, das wir je fassen könnten, sondern »eine bloße Benennung auf der Basis der fünf Skandhas«. Wenn wir das begreifen, können wir auch die Veränderungen in unserem Leben und unseres Selbstbildes leichter annehmen und erleben weniger unangenehme und schwierige Gefühle. Das ist Sinn und Zweck der meditativen Beschäftigung mit diesen fünf Erfahrungsdimensionen. Wir erleben uns als flexibel und offen für unsere Erfahrungen und können uns doch sicher und klar orientieren, denn alle dafür notwendigen Erfahrungen geschehen von selbst: Wir erleben Formen beziehungsweise dinghafte Objekte, können sie emotional und intellektuell bewerten, mithilfe vieler angelernter Gewohnheiten damit umgehen und uns dann auch noch mit unserem Bewusstsein einen Reim darauf machen. Das geschieht alles von selbst, und zwar ziemlich gut, wenn wir uns nicht ständig mit überzogenen Erwartungen und unrealistischen Vorstellungen einmischen, die wir dann bei Enttäuschungen mit Gier, Hass und Verblendung verteidigen. Dazu gleich mehr unter dem Stichwort »Vier Schleier«.

Was erlebe ich den ganzen Tag? Auf welchen Erfahrungen gründet mein Ichgefühl? Wie erlebe ich die fünf Skandhas? Form oder Dinghaftigkeit: Mit unseren fünf Sinnen erleben wir Formen, sehen Dinge, hören Klänge, riechen Düfte, schmecken Geschmäcker und spüren uns und andere über unseren Tast- oder Körpersinn. Wir erleben uns und die Welt als dinghaft, als feste Sub­stanzen. Grundgefühle: Was auch immer wir mit den fünf Sinnen erleben, bewerten wir blitzschnell als angenehm, unangenehm oder neutral. Das hat eine biologische Basis und dient dem Überleben. Wir müssen vor allem körperlich zwischen angenehmen, unangenehmen und neutralen Erfahrungen unterscheiden können, nämlich zwischen dem, was dem Überleben nützt, und dem, was potenziell schadet. Auch bei Worten und Verhaltensweisen müssen wir diese grundsätzliche Unterscheidung treffen können. Grundgefühle geben uns eine erste Orientierung im Unterscheiden von Nutzen und Schaden im Hinblick auf unser Überleben.

Unterscheiden: Mit dieser Fähigkeit können wir Kategorien und Begriffe bilden. Sie ordnen die Welt und vereinfachen ihre ungeheure Komplexität. Gewohnheitsmuster sparen sehr viel Energie und vereinfachen unser Leben. Bewusstsein hilft uns schließlich, aus Sinneserfahrungen, Grundgefühlen, Kategorien und Mustern ein mehr oder weniger kohärentes Bild von uns und der Welt zu schaffen.

Die fünf Skandhas beschreiben wunderbare Fähigkeiten, die uns vor allem dann das Leben erleichtern, wenn wir bemerken, dass jede einzelne Gruppe hochkomplex ist, sich ständig verändert und – dass das Bewusstsein uns lediglich ein grobes Modell von uns, von den anderen und der Welt liefert. Viele Ansätze des Buddhismus laufen auf eine einfache und doch sehr folgenreiche Aussage hinaus: Wir erleben mehr, als wir begreifen. Unsere Erfahrungen sind viel komplexer als das, was wir verstehen. Diese Einsicht ist die Voraussetzung für unsere Bereitschaft, Erfahrungen zu überprüfen: Sinneswahrnehmungen und Grundgefühle, Kategorien und Muster und alle Vorstellungen und Modelle, die wir zur besseren Orientierung selbst entwickeln oder von anderen ungeprüft und naiv übernehmen.

Eigentlich könnte das Buch hier enden. Wenn wir auch nur ein bisschen auf unsere Erfahrungen achten, genauer hinschauen und hinspüren, könnten wir im Prinzip begreifen, dass wir immer mehr erleben, als wir verstehen, und dass alle Erfahrungen lediglich Hinweise geben auf eine große und weite, offene und komplexe Welt voller Geheimnisse und Wunder. Wir können und sollen Erfahrungen vereinfachen, wo es sinnvoll und notwendig ist. Wir können uns aber immer wieder dem wilden und aufregenden Leben öffnen, das voller Überraschungen steckt, wenn wir sie denn zulassen. Das ist allerdings nur möglich, wenn wir uns sicher fühlen und nicht nur anderen Menschen und uns selbst vertrauen, sondern auch dem Leben, dem großen Ganzen. Davon spricht der Ansatz der Vier Schleier.

Merksätze

Unser Ichgefühl ist kein festes Etwas, sondern eine bloße Benennung auf der Grundlage von fünf unterschiedlichen Gruppen von Erfahrungen, auf der Basis der fünf Skandhas: Form oder Dinghaftigkeit, Gefühl, Unterscheiden, Gewohnheitsmuster und Bewusstsein.

Tiefes Vertrauen und Unwissenheit

Warum verzweifeln wir so oft an schwierigen Gefühlen und wa­rum tun wir so selten das, was wir eigentlich für richtig halten? Der tibetische Meister Kalu Rinpoche hielt 1977 einen erstaunlichen Vortrag im kalifornischen Yucca-Valley (Kalu 1982). Eine meiner westlichen Lehrerinnen, Bhikshuni Ann McNeil (1933–2015), nahm an diesem Kurs teil und war sehr angetan von seinen Hinweisen zu den Vier Schleiern. Sie schrieb die zentrale Passage vom Tonband(!) ab und verwendete sie als Grundlage für ihre eigene Meditationspraxis und für Vorträge und Meditationskurse. Ich hatte das Privileg, 1985 und 1986 einige ihrer Vorträge bei Kursen in Niederbayern, München und Berlin ins Deutsche zu übersetzen. Ihre bodenständige Interpretation der Vier Schleier dient mir bis heute als Quelle der Inspiration (Wetzel 2013, 2006). Dieser bestechend einfache Ansatz hilft mir immer und immer wieder, überzogene Erwartungen und die daraus folgenden Enttäuschungen und reaktiven Emotionen zu erkennen und ein wenig zu lockern. Und mit Hingabe die vier himmlischen Gefühle einzuüben, als Tor zum tiefen, unerschütterlichen Vertrauen ins Leben – wie auch immer wir das nennen wollen oder können.

Auf die Frage: »Warum leiden wir, wenn doch alle Wesen Buddha-Natur ›besitzen‹?«, antwortete Kalu Rinpoche schlicht: »Wegen der Vier Schleier.« Das sind vier Arten von Unklarheit oder Unwissenheit, die den direkten und schöpferischen Kontakt mit unseren Erfahrungen und damit mit dem Leben blockieren: 1. der Schleier vor Buddha-Natur, 2. der Schleier der übertriebenen Getrenntheit beziehungsweise der dualistischen Sicht, 3. der Schleier der ungültigen Konzepte und der reaktiven Emotionen und 4. der Schleier der eingefahrenen Gewohnheiten.