Galway Girl: Ring of Love - Nadine Gerber - E-Book
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Galway Girl: Ring of Love E-Book

Nadine Gerber

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Beschreibung

Ein Roman um Verlust, Trauer und Vertrauen - vor der atemberaubenden Kulisse Galways!  Milas große Liebe Alex ist tot. Und ihr Verlobungsring – ein Claddagh-Ring – ist spurlos verschwunden. Beides ist schlimm für sie, ihr Leben ist aus den Fugen. Doch sie weiß, sie kann sich nicht für immer verkriechen. Deshalb bucht sie einen Sprachaufenthalt in Galway, Irland. Es muss Galway sein – dort hat Alex glückliche Tage verbracht und Mila will wissen, was ihn an dem Ort so fasziniert hat. Außerdem will Mila unbedingt einen neuen Ring – und den bekommt sie nur in Galway. In einem Juweliergeschäft trifft sie auf Ben. Der hat eigentlich gar keine Ahnung von Schmuck, doch er hat so schöne Augen, er riecht so gut und er erzählt wunderbare Geschichten. Ben ist ebenfalls fasziniert von der hübschen Mila, verschweigt ihr aber wesentliche Details aus seinem Leben...

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www.piper.de

 

ISBN 978-3-492-98431-7

© 2018 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Julia Feldbaum

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: sirtravelalot/shutterstock; Anna Kucherova/shutterstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Galway, Anfang Mai 2016

Galway, Anfang Juni 2016

Zürich

Galway

Zürich

Galway

Zürich

Galway

Galway, Ende Juni 2016

Zürich

Galway

Galway, im Juli 2016

Zürich, Ende Juli 2016

Dublin

Zürich, Ende Juli 2016

Dublin

Zürich

Zürich, Ende August 2016

Zürich, im November 2016

Galway, Ende Dezember 2016

Zürich

Galway

Zürich, im Januar 2017

New York, Anfang Februar 2017

Zürich

New York

Zürich, Ende Februar 2017

New York, im März 2017

Dublin, im April 2017

New York, im April 2017

Zürich, Anfang Mai 2017

Galway, im Mai 2017

Los Angeles, im September 2017

Zürich, im November 2017

Galway, im Mai 2018

Danke

Prolog

Das Zweitletzte, an das ich mich erinnern konnte, war ein grelles gelbes Licht.

Das Letzte, was ich sah, war Alex. Er riss das Lenkrad nach rechts.

Dann wurde es dunkel.

Galway, Anfang Mai 2016

Es war schon spät am Abend, als ich aus dem Bus stieg. Ich hatte mir die Adresse auf einem Zettel notiert, den ich nun kaum noch lesen konnte. Das lag nicht nur an der Dunkelheit. Ich ärgerte mich einmal mehr über meine schludrige Schrift, während ich versuchte, die ineinander verkeilten Buchstaben zu entziffern.

Die Wohnung lag im Stadtteil Salthill, direkt am Meer – ein bisschen außerhalb des Zentrums. Mit meiner schweren Tasche und nach der langen Reise hatte ich keine Nerven mehr, noch nach dem Bus zu suchen und nur durch Zufall die richtige Haltestelle zu erwischen. Zum Glück gab es gleich neben dem Busbahnhof einen Taxistand, und es waren auch einige Fahrzeuge verfügbar. Ich ging auf das schwarze Taxi zu, das ganz vorn in der Reihe stand. Der Mann hinter dem Lenkrad nickte freundlich und bat mich einzusteigen.

»Nach Salthill bitte«, sagte ich in meinem besten Englisch. »Western House, Galway Bay.«

Ich war müde. Zunächst war ich von Zürich nach Dublin geflogen. Das war noch der angenehmere Teil der Reise gewesen. In Dublin hatte ich ewig lange rumsuchen müssen, bis ich den richtigen Bus gefunden hatte, der mich nach Galway brachte. Danach waren fast vier Stunden Gerumpel auf der linken Fahrspur einer »Autobahn« nötig gewesen, die bei uns in der Schweiz noch nicht mal das Prädikat Nebenstraße verdient gehabt hätte.

Jetzt war es halb neun Uhr und meine Arme schmerzten vom Rumtragen meiner schweren Tasche – hätte ich doch auf meine Mutter gehört und einen großen Rollkoffer genommen. Ich war kurz vor dem Verhungern, und ein gerupftes Huhn hätte mich bei einem Schönheitswettbewerb glatt in den Schatten gestellt.

Gott sei Dank hielt das Taxi endlich an. Ich hatte genug.

Mein Schlüssel sei an der Theke des Cafés unten im Haus deponiert, hieß es in dem Brief, den ich vorab von der Sprachschule bekommen hatte. Die Bedienung händigte ihn mir fröhlich lächelnd aus, und ich genehmigte mir dort gleich eine heiße Zwiebelsuppe, ein leckeres Brötchen mit Butter und dazu ein großes Glas Orangensaft. Ich fühlte mich sofort besser und bekam zum ersten Mal einen Blick für meine Umgebung.

Irland sollte ja unsagbar schön sein. Alex hatte immer wieder von diesem fantastischen Land geschwärmt. Bisher hatte ich seiner Schwärmerei jedoch nicht viel abgewinnen können. Es war vielleicht beeindruckend, ja. Aber vor allem war es hier nass. Und kalt. Die rumpelige Busfahrt quer über die Insel bei strömendem Regen hatte nicht viel dazu beigetragen, dass ich seine Meinung bereits jetzt hätte teilen können.

Obwohl es stockdunkel war, blickte ich aus dem Fenster und sah die schwarzen Felsen, die sich über dem Meer erhoben, und ich roch die leicht salzige Luft. In diesem Moment bekam ich eine erste Ahnung von der rauen Schönheit dieses Landes.

 

Nach dem Essen schulterte ich ein letztes Mal meine Tasche und ging nach oben. Im ersten Stock befand sich die kleine Wohnung, die für die nächsten Monate mein Zuhause sein würde. Ich hatte nicht viel erwartet – sie war nicht teuer –, doch ich wurde angenehm überrascht. Ein schöner Holzboden zog sich durch die Räume, in den beiden Schlafzimmern gab es zwei große Betten, die bereits bezogen waren. Die Küche war ebenfalls aus Holz und recht modern, es gab sogar eine Waschmaschine, und im Wohnzimmer standen eine schwarze Ledercouch sowie ein uralter Fernseher. Ein Tisch mit vier Stühlen direkt neben der Küche machte die Einrichtung komplett.

Die Möbel waren zweckmäßig und nicht hässlich – aber auch nicht wunderschön. Die größte Überraschung aber war die riesige Terrasse mit direktem Blick aufs Meer.

Hier würde ich mich wohlfühlen. Noch war mir nicht klar, wozu ich zwei Betten brauchte. Ich könnte ja wechseln, überlegte ich. Oder Freunde einladen.

Es war kühl, doch ich ließ die Balkontür offen stehen und setzte mich auf die Couch. Es war ruhig, es war schön, ich war allein: Ich war angekommen. Und ich nahm mir etwas Zeit, um nachzudenken.

Ich hatte mich in der Schweiz mit meinem neuen Leben und mit dem Alltag arrangiert gehabt. Ich hatte immer etwas zu tun – obwohl ich auch spürte, dass mir das nicht alles immer entsprach. Immerhin fühlte ich mich kurz vor meiner Abreise nicht unglücklich.

Doch ich war inzwischen zweiunddreißig Jahre alt, und es war vielleicht die letzte Gelegenheit, einmal auszubrechen und etwas ganz anderes zu wagen. Deshalb hatte ich mich zu einem Englischkurs angemeldet. Drei Monate wollte ich bleiben. Zu Hause gab es nichts, was mich aufgehalten hätte. Ich hatte bewusst nichts mitgebracht, was mich an meine Welt erinnerte – kein Handy, keinen Laptop, einzig meine Kamera war dabei. Ich wollte mir die Gelegenheit, Erinnerungen an dieses als so wunderschön angepriesene Land zu schaffen, nicht entgehen lassen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich die Außenwelt vermissen würde. Es war eine sehr bewusste Entscheidung gewesen, mich einfach abzukapseln. Und wenn ich doch einmal mit jemandem telefonieren wollte, gab es bestimmt irgendwo eine Möglichkeit.

Etwas mehr als zweieinhalb Jahre waren seit dem schicksalhaften Tag im Oktober 2013 vergangen. Der Tag, an dem sich alles geändert hatte. Der dafür verantwortlich war, dass ich heute allein und ohne Alex in dieser Wohnung in Galway auf der schwarzen Ledercouch saß. An jenem dunklen Abend im Oktober 2013 war Alex für immer gegangen. Alex – mein geliebter Ehemann. Wir waren kaum ein Jahr verheiratet gewesen. Wir hatten ein altes Bauernhaus renoviert und waren eben erst eingezogen. Unser Traum war eine eigene Familie. Dann kam der verhängnisvolle Abend, als die gelben Lichter, an die ich mich so gut erinnern konnte und die ich jeden Abend, wenn ich im Bett lag und versuchte einzuschlafen, so gut vor mir sehen konnte, seinem Leben jäh ein Ende setzten.

Der Fahrer des Wagens mit den gelben Lichtern hatte die Kurve geschnitten und war uns auf unserer Fahrspur entgegengekommen. Alex hatte mir wohl mit seiner Reaktion das Leben gerettet: Er hatte das Lenkrad nach rechts gedreht – und so war das andere Auto direkt in die Fahrerseite geknallt.

Alex hatte keine Chance. Auch nicht der Fahrer des anderen Autos. Ich dagegen war zwar am Leben, doch dieses lag in Trümmern. Ich lag fast drei Monate im Krankenhaus, hatte schwere Verletzungen und zahlreiche Operationen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und saß wochenlang im Rollstuhl. Und ich konnte nicht mehr in den Spiegel blicken. Klar, ich war da, ich atmete, und mein Herz schlug. Aber ein Teil von mir stand neben meinem Körper und blickte auf diesen herab. Ich war in einer Art Zwischenwelt – nicht nur für mich, sondern auch für alle, die sich um mich bemühten.

Als ich nach langen Therapien endlich zurück in unser Traumhaus kam, war es leer. Verlassen. Ohne jeglichen Geist. Es entsprach weitestgehend dem Gefühl, das ich von mir selbst hatte.

Zunächst lag ich einfach den ganzen Tag im Bett. Nach einigen Tagen wusste ich bereits, wann auf welchem Sender welche Trash-Sendung lief. Wirklich geschaut habe ich sie alle nicht. Meine Körperhülle sah fern, während meine Seele sich selbst bemitleidete. Ich fand alles so ungerecht, und dieses Gefühl der Ungerechtigkeit kam auf, wenn es auf die Frage »Warum?« einfach keine Antwort gab. Warum? Warum? Warum? Warum?!

Diese Frage habe ich mir in dieser Zeit bestimmt einhunderttausend Mal gestellt. Und nie habe ich eine Antwort bekommen. Es war ein langwieriger und sehr schwieriger Prozess, ein Schicksal zu akzeptieren, ohne die Antwort auf diese Frage zu kennen. Sich bewusst zu werden, dass man die Antwort vielleicht niemals erfahren würde und trotzdem wieder positiv in die Zukunft blicken konnte.

Ich brauchte viele Wochen, um wieder in die Spur zu kommen. Zudem hatte ich ständig Schmerzen und musste Medikamente nehmen. Irgendwann merkte ich jedoch, dass ich wieder einen geregelten Alltag leben wollte. Ich wollte mich nicht mehr einfach nur verkriechen. So ging ich wieder zur Arbeit. Ich räumte außerdem unser Haus aus und kaufte neue Möbel. Umziehen wollte ich trotz allem nicht. Die alten Möbel jedoch erinnerten mich jede Sekunde an meine große Liebe. Nach einiger Zeit begann ich auch wieder mit dem Training. Erstaunlicherweise half mir das gegen die chronischen Schmerzen, und ich konnte die Medikamente bald reduzieren.

Der Alltag war Ablenkung, das war mir rasch klar. Ich arbeitete vom frühen Morgen bis zum späten Abend, ging zum Sport und fiel dann völlig kaputt ins Bett, wo ich sofort schlief wie ein Stein. Ich hatte keine Zeit mehr, über mein Schicksal nachzudenken. Und ich hatte keine Lust, diesen Zustand zu ändern.

An den Wochenenden stürzte ich mich in wilde Abenteuer mit Männern. Es ging dabei nie um Liebe. Dafür war es viel zu früh – oder vielleicht für immer zu spät. Ich wollte einfach nicht jede Nacht allein sein. Es war unendlich schwierig, sich in dieser Phase nicht selbst zu verlieren. Oder sich zu verlieren und wieder zu finden. Einige Monate hielt ich diese Flucht vor mir selbst durch, bis ich an einen neuen Punkt meines Lebens kam: Mir wurde bewusst, dass ich, wenn ich so weitermachte, bald in ein Burn-out rennen würde.

Ich musste mein Leben ändern. Oder vielmehr: Ich musste mich dem Leben stellen. Aus irgendeinem Grund war ich noch da, und ich musste herausfinden, warum. Mein Leben sollte einen Sinn haben. Und ich musste ihm einen Sinn geben.

Zunächst reduzierte ich mein Arbeitspensum auf nur noch drei Tage die Woche. Ich arbeitete als Korrektorin und Übersetzerin in einem mittelgroßen Verlag in Zürich. Meine Aufgabe war es, die Texte zu lesen, Fehler zu korrigieren und bessere Formulierungen zu finden. Manchmal übersetzte ich auch französische Texte ins Deutsche, nie jedoch umgekehrt, da ich zwar fließend Französisch sprach, es jedoch nicht meine Muttersprache war. Wir bekamen allerlei interessante Texte: Das konnten kurze Newsletter sein, aber auch Kochbücher oder ab und zu mal ein Kinderbuch – oder ganze Romane. Ich mochte meine Arbeit. Ich las für mein Leben gern, und ich hatte ein gutes Gefühl für Sprache. Außerdem kam mir zu diesem Zeitpunkt meines Lebens entgegen, dass ich mich mit niemandem außer mir und meinen Buchstaben beschäftigen musste. Ich konnte mich hinter meinem Schreibtisch verkriechen und mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren. Die Genauigkeit fiel mir leicht. Allerdings fehlte es mir in dieser Phase meines Lebens manchmal an Kreativität. Ich versuchte, es mit Fleiß und Leidenschaft wettzumachen.

Es musste im Leben noch mehr geben als nur das Büro. Ich notierte mir also auf einem Zettel einige Dinge, die ich unbedingt noch erleben wollte. Reisen natürlich. Aber auch einen Triathlon wollte ich absolvieren. Ich wollte einmal im Leben ein Buch schreiben. Ich hatte bereits vor Alex’ Tod einige Versuche unternommen, hatte es jedoch nie geschafft. Und mit ihm war jegliche Kreativität gegangen … In diesen Wochen des Nachdenkens beschloss ich jedoch, es auf jeden Fall irgendwann noch einmal zu versuchen.

Dann wollte ich Gleitschirm fliegen. Und ich musste dringend mein Englisch verbessern. Mir war klar, es ging nicht alles zusammen: schön eins nach dem anderen. Ich dachte, am meisten würde mir eine Auszeit helfen. Deshalb nahm ich den Sprachaufenthalt in Angriff.

Es war klar, dass ich nach Galway fahren würde. Einige Zeit vor seinem Tod hatte Alex hier eine Weiterbildung besucht und sich in die Stadt verliebt. So sehr, dass er sogar meinen Verlobungsring hier gekauft hatte. Seither hatte er immer von Galway geträumt und es kaum erwarten können, mir hier alles zu zeigen.

Wir würden diese Reise nie zusammen erleben können. Aber ich wollte unbedingt wissen, was ihn an Irland so fasziniert hatte. Ich wusste nicht, ob mich die Reise in meiner Trauerphase weiterbringen konnte – oder ob das Gegenteil geschehen würde. Doch mir war klar, dass es kein anderes Ziel gab.

Es war Samstag. Am Montag würde mein Kurs starten. Ich war so gespannt, was auf mich zukam. Ich hoffte auf spannenden Unterricht, nette Leute, hier und da einen Flirt – und natürlich auf ein gutes Englischdiplom als Abschluss.

 

Ich war so müde, dass ich erstaunlich gut geschlafen hatte in dieser ersten Nacht. Das Bett im linken Zimmer, das ich als Erstes getestet hatte, war bequem. In der Bar, in der ich meinen Schlüssel geholt hatte, bekam ich ein leckeres Frühstück. Danach nutzte ich die Gelegenheit, mich rund um mein neues Zuhause ein bisschen umzusehen.

Das Haus, in dem ich wohnte, lag wirklich direkt am Strand, nur durch eine Straße getrennt. Klar, wir waren in Irland. Es war zwar Mai, aber das Wetter war definitiv nicht so, dass man sich gepflegt im Bikini an den Strand hätte legen können. Ich musste zu meiner Wahrnehmung des irischen Wetters noch hinzufügen: Es war extrem stürmisch. Der Wind blies lautstark und gefühlt aus allen Richtungen. Das machte den Aufenthalt am Strand nicht eben angenehm. Trotzdem beschloss ich, eine kurze Joggingrunde zu drehen, bevor ich eine Busfahrt ins Stadtzentrum machen wollte, um dieses zu erkunden.

Das mit den Bussen war so eine Sache in Irland. Zwar gab es einen Fahrplan, doch dieser war mitnichten dazu da, eingehalten zu werden. Der Bus kam eigentlich, wann er wollte. Oder wann der Fahrer dem Stau des dichten Verkehrs entkommen war. Man hatte zwei Möglichkeiten: Man wartete an der Bushaltestelle, bis irgendwann ein Bus kam, oder man lief einfach drauflos und hoffte, dass man gerade in der Nähe irgendeiner Haltestelle war, wenn ein Bus auftauchte.

Das Stadtzentrum von Galway begeisterte mich vollends. An jeder Ecke gab es Straßenmusikanten, die entweder gängige Popsongs oder traditionelle irische Folklore zum Besten gaben. Die Häuser waren kunterbunt, alt und klein. In gefühlt jedem zweiten Haus befand sich ein Pub. Überall waren Menschen, es herrschte eine fröhliche, geschäftige Stimmung. Im Gegensatz zu Zürich waren in Galway die Läden auch am Sonntag geöffnet. Ich hatte ja nicht mit viel gerechnet. Galway war eine kleine Küstenstadt. Doch es gab jede Menge toller Geschäfte. Ich entdeckte nicht nur Lebensmittel und irische Spezialitäten, sondern auch tolle Kleider- und Schuhmarken – ich war in einem Shoppingparadies gelandet.

Ich nutzte die Gelegenheit und besorgte alle Dinge, die in meinem Haushalt fehlten. Ich kaufte nützliche Dinge wie Handtücher, Klopapier oder Shampoo. Das hatte ich nicht alles von zu Hause mitschleppen wollen. Und auch die Ausstattung der Küche wurde aufgerüstet. So erstand ich Öl, Essig, eine gute Pfanne und eine Reihe leckerer Gewürze. Und dann natürlich das Nötigste wie Brot, Früchte, Joghurt und ein paar Getränke. Weiter kaufte ich ein leeres Schulheft und ein paar Stifte, damit ich für den Schulstart am kommenden Tag gut gerüstet war.

 

Am Montagmorgen musste ich als Erstes einen Test schreiben. Das hatte ich seit über zehn Jahren nicht mehr gemacht. Ich könnte nicht sagen, dass ich während meiner Schulzeit eine Leuchte in Englisch gewesen wäre. Eigentlich hatte ich die Sprache gar nie richtig gemocht. Ich hatte lieber Französisch oder Italienisch gelernt, diese Sprachen klangen für mich wie Gesang. Englisch hatte ich für platt und langweilig gehalten.

Doch ich merkte, dass mein Englisch wegen dieser Abneigung schlechter war, als es eigentlich sein sollte, und ich manchmal an meine Grenzen stieß. Und dies, obwohl es mir leichtfiel, Sprachen zu lernen. Von Zeit zu Zeit – wenn ich in einem Kreis mit Leuten war, die nur Englisch miteinander sprachen – war es mir sogar ein bisschen peinlich. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich mich für diesen Sprachaufenthalt entschieden hatte. Raus aus der Komfortzone, lautete das Motto.

Der Test fiel zu meiner Überraschung gar nicht so schlecht aus, und ich wurde in einen Kurs für Fortgeschrittene eingeteilt. Es konnte ja nicht schaden, die Latte ein bisschen höher zu legen, das würde mich dann auch richtig fordern. Ich kam also in eine Klasse mit fünf anderen Leuten, alle über dreißig, drei davon sogar über fünfzig. Wir waren drei Männer und drei Frauen. Die beiden anderen Frauen kamen beide aus Frankreich. Ein Mann stammte aus Portugal, einer aus Tschechien, und einer war Brasilianer. Wir bekamen einen jungen Typen als Lehrer, Padraig. Er war lustig und sympathisch, und er sah aus wie ein Physikstudent. Er war klein und schmächtig, und obwohl er vermutlich noch keine dreißig Jahre alt war, hatte er schütteres Haar. Er trug ein Shirt und eine viel zu große Hose – und natürlich eine Brille. Mit einem silbernen Rand. Aber ich mochte ihn. Er vermittelte den Lernstoff auf eine spannende und amüsante Weise, und er ließ uns viel am Unterricht teilhaben, indem er uns quasi permanent sprechen ließ.

Ich wusste – wenn ich die Sprache besser lernen wollte, musste ich mich darauf einlassen. Und so beteiligte ich mich eifrig an den Diskussionen über unsere Herkunftsländer, Hobbys, Familien oder die täglichen Ereignisse. Padraig erzählte uns eine Menge über Irland und die irische Geschichte und über die Eigenheiten der Menschen, die hier lebten. Wir lasen Zeitungsausschnitte sowie Passagen aus Büchern, und wir hörten Geschichten auf einem uralten CD-Player. Manchmal schrieben wir selbst kleine Texte. Jeden Tag bekamen wir Hausaufgaben.

Nachmittags hatte ich jeweils frei. Ich nutzte die Zeit, um zu joggen, ich machte Spaziergänge, manchmal ging ich in die Stadt, zum Shoppen oder mit Leuten aus der Schule etwas trinken. Oft saß ich am Meer oder auf meiner Terrasse und erledigte Zusatzaufgaben, die Padraig mir auf meinen Wunsch hin gegeben hatte. Ich kam mir vor wie ein kleiner Streber. Doch ich wollte meine Chance nutzen und so viel von dieser Sprache mitnehmen, wie ich konnte. So las ich auch Bücher und Zeitschriften oder schaute mir Filme auf dem alten DVD-Player meiner Vermieterin Pauline an.

Hin und wieder ging ich ins Kino, allein oder mit Elodie, einer der beiden Französinnen aus meiner Klasse. Elodie war einige Jahre älter als ich, und ihre einzige Tochter war soeben von zu Hause ausgezogen. Sie dachte, sie könnte deshalb wieder einmal etwas für sich selbst tun. So war sie in Galway gelandet. Sie war eine interessante Gesprächspartnerin, sehr humorvoll und für viele Späße zu haben. Ich zog gern mit ihr um die Häuser.

Es wurde mir also nicht langweilig, und ich genoss das Gefühl, einerseits beschäftigt zu sein und andererseits die Seele baumeln zu lassen oder meinen Gedanken nachzuhängen. Alex war immer in meinen Gedanken, ich ließ mich davon aber nicht runterziehen. Dafür war ich viel zu sehr verliebt in diesen Ort und in das Leben, das er mir bot.

An den Wochenenden unternahm ich häufig Ausflüge und schaute mir Irland an. Oft waren die Trips von der Schule organisiert, was mich ein bisschen nervte, weil ich die Landschaft gern auch mal auf eigene Faust erkundet hätte – jedoch hätte ich mir dann ein Auto mieten müssen, und ich hatte nach allem, was ich erlebt hatte, wirklich keine Lust darauf, mich auf die linke Fahrspur zu wagen.

Manchmal unternahm ich einen Trip allein und fuhr mal mit dem Zug nach Cork oder Limerick. Hin und wieder begleitete mich Elodie. Ich versuchte, mir vor allem die Orte anzusehen, die auch Alex besucht hatte. Es war ein spezielles Gefühl für mich zu wissen, dass er an der gleichen Stelle gestanden hatte, wie ich es jetzt tat. Ich fragte mich, wie es ihm dabei gegangen war.

Er war glücklich gewesen. Er hatte sich frei gefühlt, er hatte seine Zukunft geplant, die Verlobung mit mir. Ich stand hier und hatte ihn verloren. Unsere Ausgangslage war zwangsläufig eine völlig andere. Und doch fühlte auch ich mich hier frei und wohl. Diese Erkenntnis überraschte mich. Ich konnte gut verstehen, warum Alex hier auch Pläne geschmiedet hatte. Irland gab einem das Gefühl, ganz bei sich zu sein, sich selbst zu spüren und klar zu sehen. Ich dachte oft an Alex, vor allem an diesen Orten. Es war keine Trauer dabei. Manchmal fühlte ich mich ihm so nah wie nie seit seinem Tod. Und manchmal fühlte ich eine seltsame Kraft in mir, die verhieß, dass ich alles schaffen könnte. Auch allein.

Ich verbrachte sehr viel mehr Zeit in Irland als Alex, und so konnte ich die Liste meiner Ausflüge etwas ausbauen. Jedes Mal war ich aufs Neue fasziniert von der Landschaft und den tollen Begegnungen.

Die ersten Wochen vergingen wie im Fluge, und schon bald würde die Hälfte meiner Zeit in Irland rum sein, wie ich eines Abends betrübt feststellte.

Galway, Anfang Juni 2016

Ich hatte es zunächst monatelang gar nicht bemerkt. Was ich auf meinen durch Medikamente vernebelten Geisteszustand und auf die Trauer schob. Denn dieser Ring war mir das Wertvollste gewesen, was ich von Alex bekommen hatte.

Nach dem Unfall war er weg gewesen. Einfach weg. Als ich aus dem Spital entlassen worden war, hatte ich wochenlang die Unfallstelle abgesucht, jeden Grashalm umgedreht und unter jeden Stein geschaut. Obwohl ich sehr viel mehr verloren hatte als nur diesen Ring, hatte mich diese Erkenntnis zum Weinen gebracht.

Der Ring war die Erinnerung an ein Versprechen gewesen, das ich eingelöst hatte. Auf eine Weise, die ich meinem größten Feind nie gewünscht hätte. Bis dass der Tod euch scheidet. Und obwohl das Versprechen eingelöst war und ich den Ring nicht mehr brauchte, vermisste ich ihn. Er war alles, was mir noch von meinem geliebten Mann geblieben war.

Ich hatte den Ring am Tag des Unfalls an einer Kette um den Hals getragen. Es war mein Verlobungsring gewesen – ein Claddagh-Ring aus Galway, den Alex mir mitgebracht hatte. Kurz nach seiner Rückkehr aus Irland ging er vor mir auf die Knie. Es war ein romantischer Abend. Dabei waren wir beide so gar nicht romantisch veranlagt. Es war bei uns zu Hause im Wohnzimmer. Er hatte uns von einem Sternekoch ein Menü nach Hause liefern lassen. Alex hasste es zu kochen. Sogar Spiegeleier wurden bei ihm schwarz. Später erzählte er mir, er habe nicht in ein Restaurant gehen wollen, weil er keine Zuschauer brauchte. Also habe er das Restaurant eben zu uns ins Wohnzimmer geholt. Er war ganz verlegen, als er vor mir kniete und mir eigentlich schon klar war, worauf er hinauswollte. Doch ich spürte, dass er mir Dinge sagen wollte, die ihm wichtig waren. Er sagte, er hätte mich so vermisst in Irland. Er wolle sein Leben mit mir verbringen, jeden Tag und jede Nacht. Und er fragte mich, ob ich seine Frau werden wolle. Mir liefen Tränen vor Freude über die Wangen, und ich konnte mein »Ja« nur noch hauchen.

Dann steckte er mir diesen speziellen Ring an den Finger. Er zeigte ein Herz, das von zwei Händen gehalten wurde und über dem eine Krone schwebte. Ein Claddagh-Ring, hatte mir Alex erzählt, während wir das köstliche Menü verspeisten. Das Herz musste mit der Spitze auf den Träger zeigen. Es war kein billiger Souvenirring. Alex hatte ihn in Galway bei einem Juwelier gekauft, und das Herz war besetzt mit kleinen Diamanten. Eingraviert war ein Spruch: Du und ich – fur immer. Der Spruch hatte einen Schreibfehler. Alex hatte mir erklärt, dass er den Ring erst am Tag seiner Abreise hatte abholen können und es da zu spät gewesen wäre, den Fehler noch zu korrigieren. Und irgendwie hatte es ihn wohl auch nicht gestört, es machte den Ring in seinen Augen individuell, und er fand, dass das ganz gut zu unserer Beziehung passte. Zudem hatte Alex auch meinen Namen eingravieren lassen. Das war ungewöhnlich – ich hatte ihm gesagt, dass ich doch seinen Namen im Ring tragen müsste. Doch er meinte, da er selbst keinen Verlobungsring habe, fände er diese Vorstellung sonderbar, weil ich dann nur seinen Namen tragen würde, er aber nicht meinen. Wir ließen uns dann unsere Namen gegenseitig in die Eheringe gravieren. Nach der Hochzeit trug ich den Claddagh-Ring häufig an einer Halskette, während ich nur noch den Ehering am Finger hatte.

Nach dem Unfall wusste ich nicht, was ich mit dem Ehering machen sollte. Ich wollte ihn nicht mehr tragen, weil ich mich nicht mehr verheiratet fühlte – und weil er mich zu sehr an Alex erinnerte. Unsere Ringe waren wie ein kleines Puzzle gestaltet worden. Mein Stein war wie ein Schlüssel zu Alex’ Ring, der ein kleines Schloss in sich trug. Man konnte die Ringe ineinander verkeilen, sodass daraus das Symbol der Unendlichkeit entstand. Ich beschloss, die Eheringe so zu verkeilen und sie Alex mitzugeben. Gold war beständig. So hatte er wenigstens etwas bei sich, bis wir uns vielleicht eines Tages wiedersehen würden.

Das war meine Art der Romantik. Nachdem ich aus dem Spital entlassen worden war, besuchte ich sein Grab und vergrub die Ringe in der Erde. Später dachte ich, dass sich ein Goldgräber mit einem Metalldetektor, der über den Friedhof ging, wohl wirklich freuen würde. Aber ich hatte meine Entscheidung nie bereut.

Doch der Verlust meines Claddagh-Rings schmerzte. Er hatte eine sehr spezielle Bedeutung für mich gehabt. Alex war in Irland so glücklich gewesen. Und wir waren zusammen. Der Ring symbolisierte für mich dieses Glück. Ich wusste, dass ich mir einen solchen Ring nicht wieder leisten konnte. Doch ich wollte gern einen ähnlichen haben. Ich wollte nicht, dass meine Erinnerung daran – und an den schönen Moment unserer Verlobung – verblasste. Ich hoffte, dass ich auch den neuen Ring gravieren lassen konnte.

 

Ausgestattet mit einem ausgedruckten Foto meines Rings ging ich auf die Suche nach einem Juweliergeschäft in Galway. Es gab Dutzende davon, und ich versuchte es aufs Geratewohl. Ich hatte keine Ahnung, wo Alex damals den Ring gekauft hatte. Der erste Laden war mir unsympathisch. Da stand ein älterer Mann, der sehr ungepflegt aussah. Er hatte fettiges Haar und einen zotteligen Bart, er trug ein blaues Shirt mit einem großen Flecken drauf. Ich fragte mich umgehend, wie er in ein Juweliergeschäft gekommen war, er sah eher aus wie ein armer Fischer. Zudem warf er mir ziemlich lüsterne Blicke zu. Ich lief quasi rückwärts wieder raus.

Im zweiten Laden gab es nur billigen Modeschmuck. Das dritte Geschäft schien mir passend zu sein. »Walsh Jewellery« stand über der weiß getünchten Eingangstür. Ich trat ein. Der Laden war leer, doch eine Glocke bimmelte.

»Ben, kannst du mal schauen«, hörte ich eine angenehme männliche Stimme rufen. Dunkelbraune Augen lugten vorsichtig hinter dem Vorhang hervor, welcher den Laden vom Hinterzimmer abtrennte. Dann trat ein junger Mann herein, ungefähr so alt wie ich, vielleicht etwas jünger. Er war riesig – bestimmt über eins neunzig – und der vielleicht schönste Mann, den ich in meinem Leben gesehen hatte. Er trug nur eine abgewetzte Jeans und ein graues Shirt, er hatte lange braune Haare, die er zu einem Dutt gebunden hatte. Dazu trug er einen Dreitagebart. Er sah insgesamt sehr verwegen aus und überhaupt nicht wie ein Juwelier. Eigentlich noch nicht einmal wie ein Ire.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja«, stammelte ich. Alles, was ich in der Schule an Englisch gelernt hatte, hatte ich soeben vergessen.

Zwei braune Augen schauten mich fragend an. »Und wie?«

»Entschuldigung, mein Englisch ist nicht so gut«, versuchte ich, meine Nervosität zu überspielen. »Ich suche einen Claddagh-Ring.«

»Für Ihren Mann?«, wollte er wissen.

Der fiel ja gleich mit der Tür ins Haus. »Nein, für mich, um ehrlich zu sein.«

»Und wie haben Sie sich den Ring vorgestellt? Wie groß? Wie teuer?«

»Ich möchte mir einfach gern einige ansehen, wenn ich darf. Er sollte ungefähr so aussehen.« Ich reichte ihm das Foto.

»Alles klar, Ben?«, rief die Stimme aus dem Hinterzimmer. »Ich bin hier gleich fertig.«

»Alles klar, Dad. Wo sind die Claddagh-Ringe?«

»Vorn an der Theke, in der zweiten Schublade von unten. Der Schlüssel liegt hier hinten auf dem Tisch.«

Ben holte den Schlüssel und öffnete die Schublade. Er zog einige kleine Kisten heraus und legte sie auf die Theke. »Sorry«, sagte er. »Ich bin Anfänger. Vielleicht wollen Sie auf meinen Vater warten?«

»Schon okay«, sagte ich und nahm einen Ring in die Hand. Er sah meinem sehr ähnlich, er hatte auch kleine Steine auf dem Herz, er war allerdings etwas feiner. Ich streifte ihn über meinen rechten Ringfinger und betrachtete schweigend meine Hand.

»Ah, Sie sind also doch vergeben«, meinte Ben und wirkte ein bisschen enttäuscht.

»Wie kommen Sie jetzt darauf?«

»Wissen Sie nicht, wie der Ring getragen wird?«

»Doch. So, dass das Herz des Rings zum Herz des Trägers zeigt. Oder etwa nicht?«

Er kam näher und nahm meine Hand. »Der Ring zeigt den Stand der partnerschaftlichen Beziehung des Trägers an«, sagte er. »So, wie Sie ihn angezogen haben, bedeutet es, dass Sie in einer Partnerschaft oder gar verlobt sind.« Er zog den Ring von meinem Finger, drehte ihn um und steckte ihn wieder an. »Das heißt, dass Sie Single sind.« Er zog ihn wieder ab und streifte ihn über meinen linken Ringfinger, das Herz auf mein Herz gerichtet. »Verheiratet.« Er zog in wieder ab und drehte ihn um. »Geschieden. Aber das war nicht die ursprüngliche Bestimmung. Das hat später mal irgendwer dazuerfunden«, meinte er und lächelte mich an, ohne meine Hand loszulassen.

Seine Hände waren groß, weich und warm. Er stand direkt vor mir und schaute mir in die Augen. Er roch nach einem wundervollen Aftershave und nach Männlichkeit. Meine Knie wurden ganz weich.

»Und wie würden Sie ihn nun tragen?«, fragte er ganz leise, sein Gesicht war nur noch ein paar Zentimeter von meinem entfernt.

Einige Sekunden standen wir einfach nur da. Es kribbelte in meinem Bauch, und ich hatte Angst. Verwitwet zu sein bedeutete, in seinem Herzen einen großen Platz für eine Person reserviert zu haben, die nicht mehr erreichbar war. Und nicht zu wissen, ob diese Person es mitbekam, wenn sie ein wenig zur Seite gedrängt wurde. Was würde Alex denken? Würde er sich freuen? Oder würde er sich betrogen fühlen? Ich schob die Gedanken zur Seite. Wer redete denn hier schon von Gefühlen?

Dann räusperte ich mich. »Was soll er denn kosten?«

Er wich zurück. »Keine Ahnung. Das müssen Sie nun wirklich meinen Dad fragen.«

Besagter Vater trat soeben aus dem Hinterzimmer. Ben schaute mich mit einem durchdringenden Blick an. Mein Blut geriet in Wallungen. Dann ließ er rasch meine Hand los.

»Was kostet der Ring, Dad?«

»Ich würde ihn gern gravieren lassen, würde das gehen?«, fügte ich rasch hinzu. Bens Vater war fast ebenso groß wie sein Sohn. Er war sehr schlank und hatte volle, nahezu weiße Haare sowie einen gleichfarbigen Dreitagebart. An einer Kette um den Hals hing eine Brille, die er nun aufsetzte.

»Du verkaufst der Dame hier doch keinen Unsinn, oder?«

»Ihr Sohn hat bisher eher Geschichten erzählt, anstatt mir etwas zu verkaufen«, meinte ich und grinste.

»Ja, das passt zu ihm. Sie möchten einen Claddagh-Ring?«

Ben lehnte sich an die Theke und hörte gespannt zu.

»Ja, dieser hier würde mir gefallen.« Ich gab ihn Bens Vater.

»Sie haben sich ein schönes Stück herausgesucht – diese Ringe werden oft als Verlobungsringe gekauft.«

»Ja, das kann ich verstehen.« Tränen schossen mir in die Augen, und ich wandte mich ab, damit Ben und sein Vater es nicht sehen konnten. Ich hatte mich schnell wieder gefasst. »Ich würde diesen trotzdem gern haben – mit der Gravur, wenn das geht. Was kostet das?« »Er kostet 2400 Euro – die Gravur schenke ich Ihnen natürlich. Was möchten Sie denn gern schreiben?«

Ich nickte. Natürlich hätte ich mir eine billige Kopie kaufen können. Doch der Originalring war noch viel mehr wert gewesen, und ich hatte mir bezüglich des Budgets kein Limit gesetzt. Ich hatte etwas gespart und auch ziemlich viel geerbt, und das Geld sollte hier keine Rolle spielen. Der Ring sollte mir einfach gefallen und dem Original möglichst ähnlichsehen. »Der Preis ist okay. Ich schreibe Ihnen den Text auf einen Zettel.«

Mila – du und ich, fur immer, schrieb ich, darauf bedacht, dass Ben es nicht sehen konnte. Wahrscheinlich würde er es nachher eh lesen und sich wundern. Aber das ließ sich jetzt nicht ändern. »Wann kann ich den Ring abholen?«

»Wie lange sind Sie noch in Irland?«

»Noch zwei Monate.«

Bens Vater lächelte. »Das sollte reichen. Kommen Sie heute in einer Woche.« Und dann zu Ben: »Also, gehen wir essen? Ich hole noch meine Jacke.« Er verschwand im Hinterzimmer. Ben trat auf mich zu und schaute mir in die Augen. »Sehen wir uns wieder?«

»Vielleicht«, sagte ich, drehte mich um und ging aus dem Laden.

 

Ben nahm den Zettel. Mila – du und ich, fur immer. Der Text war in einer geraden, großen, regelmäßigen und doch fast unleserlichen Handschrift geschrieben. Das musste Deutsch sein, dachte er. Er tippte die Worte in ein Übersetzungsprogramm auf seinem Handy. Mehr als Bestätigung. Eigentlich konnte er sich denken, was es bedeutete. Die Zeilen verwunderten ihn. Sie wollte den Ring doch für sich selbst kaufen. Hatte sie eine Freundin und wollte es nicht zugeben? Warum war sie dann so nervös geworden, als er sie berührt hatte? Das hatte er gespürt. Erkannt hatte sie ihn gewiss nicht – da hätte sie anders reagiert. Außerdem war nicht Englisch ihre Muttersprache, sondern offensichtlich Deutsch. Hieß sie selbst Mila? Warum wollte sie sich dann einen Ring mit dieser Inschrift kaufen?

Es war eine seltsame Geschichte, doch diese Frau hatte sein Innerstes berührt. Sie war wunderschön, sie war groß, hatte lange braune Haare und ganz feine Gesichtszüge. Sie war schlank und sportlich, und sie hatte einen unkomplizierten, aber geschmackvollen Kleidungsstil. Das gefiel ihm. Außerdem hatte sie so gut gerochen. Aber das war nicht alles: Sie hatte auch etwas Geheimnisvolles an sich, was ihn faszinierte.

Er wollte sie unbedingt wiedersehen, auch um dem Rätsel um ihren Ring auf den Grund zu gehen.

Sein Vater erschien und meinte: »Los, Junge, ich habe Hunger.«

Ben reagierte nicht.

»Ben? Hallooo. Erde an Ben.« Sein Vater gab ihm einen Schubs. Dann schüttelte er den Kopf und ging aus dem Laden.

Ben schnappte sich seine Jacke und lief ihm hinterher.

Zürich

Sie hatte den Ring an der Kette ganz vergessen. Erst jetzt, als sie in ihre neue Wohnung zog und die ganzen Schachteln packte, fand sie ihn in der Schublade ihres Nachttisches, die sie seit Monaten nicht mehr geöffnet hatte. Ja, sie hatte sich doch darum kümmern wollen. Wie hatte sie das so lange verbummeln können?

Sie wusch den Ring unter dem Wasserhahn und hielt ihn dann gegen das Licht. Da stand ganz eindeutig Mila. Sie drehte den Ring ein wenig und schaute ihn sich innen und außen an. Danach setzte sie sich aufs Bett, auf die blanke Matratze. Sie hatte die Bettwäsche bereits in einem Karton verstaut. Dann erinnerte sie sich an den Tag vor ungefähr zweieinhalb Jahren.

Es hatte in Strömen geregnet, und es war erstaunlich warm gewesen für einen Novemberabend. Das Wetter erinnerte sie an ein Sommergewitter. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs und wollte so schnell wie möglich nach der Arbeit nach Hause. Sie ärgerte sich über ihre Idee, das warme Wetter zu nutzen und ins Büro zu radeln. Jetzt war sie klatschnass.

Trotzdem hielt sie an, als sie in einer Kurve im Straßengraben ein zartes Glitzern wahrnahm. Sie stieg vom Fahrrad und bückte sich danach. An einer Kette war ein Ring mit einem speziellen Symbol befestigt. Zwei Hände hielten ein mit kleinen Diamanten besetztes Herz, über dem Herz schwebte eine Krone. Der Ring war wunderschön. Die Kette selbst war kaputt – gerissen. Obwohl das Schmuckstück im Regen gelegen hatte, glänzte es und war frei von Rost. Es musste sehr wertvoll sein.

Sie hatte die Kette in ihre Tasche gesteckt und war, so schnell sie konnte, nach Hause gefahren.

Jetzt beäugte sie den Ring erneut und hielt ihn gegen das Licht. Sie entdeckte noch eine zweite Gravur. Es waren die Worte: Du und ich, fur immer. Fur immer? Das war ganz offensichtlich ein Schreibfehler. Wer hatte den Ring wohl verloren? Und warum? Wurde er überhaupt vermisst? Sie erinnerte sich, dass sie den Ring damals zum Fundbüro hatte bringen wollen. Doch es war so kalt und sie bis auf die Knochen nass gewesen – so hatte sie den Ring in die Schublade gelegt und ihn dort vergessen. Es war keine einfache Zeit für sie gewesen damals. Ihr Mann hatte sich gerade von ihr getrennt.

Sie überlegte, ob sie den Ring jetzt – zweieinhalb Jahre später – noch im Fundbüro abgeben konnte. Wahrscheinlich nicht. Diese Mila hatte bestimmt aufgehört, nach dem Ring zu suchen. Wenn sie Mila finden und den Ring zurückgeben wollte, musste sie selbst aktiv werden. Konnte sie die fremde Frau finden? Und wenn ja, welche Geschichte würde diese Frau ihr erzählen?

Auf der Außenseite war ein ganz kleines Logo eingraviert. Sie nahm sich vor, den Ring einem Juwelier zu zeigen.

Galway

»Dass du jeden Tag in meinem Laden herumlungerst, hat bestimmt einen Grund?«, fragte die brummige Stimme hinter der Theke.

»Ich möchte dir nur zur Hand gehen, Dad.«

»Erzähl mir keine Märchen. Es gibt keinen schlechteren Schmuckverkäufer als dich. Du möchtest die junge Frau mit dem Ring wiedersehen.«

»Quatsch«, sagte Ben – und wurde rot.

Sein Vater lachte. »Schön, dass du trotz allem vor deinem alten Herrn noch Schwächen zeigen kannst. Du siehst aus wie eine reife Tomate.«

»Okay, du hast gewonnen. Sie hat mich umgehauen.«

»Eine mehr für deine Sammlung?«, spottete sein Vater.

Ben errötete noch mehr. »Nein. Ich möchte gern wissen, warum sie sich selbst einen Ring mit einer solchen Inschrift kauft.«

Sein Vater grinste. »Ich kann dich ja verstehen – sie war wirklich süß. Trotzdem musst du dir nicht jeden Tag hier die Beine in den Bauch stehen. Ich habe ihr gesagt, in einer Woche. Und das ist erst morgen.«

Die beiden Herren Walsh – ich ging davon aus, dass der Ladenbesitzer und sein Sohn diesen Namen trugen – standen erwartungsvoll hinter der Theke und grinsten, als sie mich hereinkommen sahen. Mein Herz schlug etwas schneller. Etwas in mir hatte gehofft, dass auch Ben im Laden sein würde – auch wenn ich es nicht zugegeben hätte.

»Ihr Ring ist bereit«, sagte Ben und ging sogleich ins Hinterzimmer. Er kam mit einer kleinen Schachtel zurück, die er mir in die Hand drückte.

»So macht man das nicht, Ben«, sagte sein Vater und nahm mir die Schachtel wieder weg.

Ich guckte verwundert.

»Man öffnet das Päckchen, nimmt das Schmuckstück heraus und zeigt dem Kunden den Schmuck und nicht die Schachtel.« Er legte mir den Ring in die Hand. Ich hob ihn gegen das Licht und las die Gravur. Ich war sehr zufrieden, sie sah beinahe aus wie bei meinem verlorenen Original.

»Haben Sie eine passende Kette?«, fragte ich. »Ich würde den Ring gern um den Hals tragen.«

Bens Vater holte einige Schatullen mit silbernen Ketten aus den Schubladen. Ich ließ mir Zeit.

»Woher kommen Sie eigentlich?«, wollte er wissen.

Ich schaute ihn an. »Aus der Schweiz. Ich mache hier einen Sprachkurs.« Ich nahm eine feine Kette in die Hand. »Diese würde mir gefallen, doch ich hätte sie gern ein bisschen länger. Ginge das?«

Die Glocke klingelte, und eine Kundin trat ein. Es war eine ältere Dame, und Bens Vater bedeutete seinem Sohn, sich um sie zu kümmern, was dieser nur widerwillig tat. Ich schaute ihn lächelnd von der Seite an.

»… zusammensetzen«, hörte ich Bens Vater noch sagen.

»Wie bitte? Entschuldigen Sie, das habe ich nicht richtig mitbekommen.«

Vater Walsh schaute lachend erst Ben an und dann mich und schüttelte den Kopf. »Ich habe die Kette nicht länger. Aber ich könnte Ihnen zwei davon zusammensetzen.«

»Gut. Wie lange würde das dauern, und was würde es kosten?«

»In einer Stunde hätte ich das erledigt. Ich würde Ihnen Ring und Kette für 2500 Euro überlassen. Einverstanden?«

Ich lächelte ihn an. »Vielen Dank.«

Bens Kundin hatte sich zu seiner sichtbaren Erleichterung verabschiedet. Ich fragte mich, warum er seinen Job so ungern zu machen schien.

»Die kommt nie wieder«, meinte sein Vater. »Das war wohl die schlechteste Beratung aller Zeiten.«

Ben schaute ihn leicht säuerlich von der Seite an und nahm dann seinen ganzen Mut zusammen. »Gehen wir etwas essen, während Sie warten müssen? Dann vergraule ich zumindest nicht mehr die Kunden meines Vaters.«

Es gab ganz offensichtlich nichts, was dagegen sprach. »Okay.«

Ende der Leseprobe