Unvergessen - Nadine Gerber - E-Book

Unvergessen E-Book

Nadine Gerber

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Beschreibung

Der smarte, lebensfrohe Fotograf Tom Grauer wird während eines Shootings Zeuge eines schweren Terroranschlags. Sein Fotomodel David gerät dabei unter ein Metallgerüst und verliert ein Bein. Tom ist von den Erlebnissen traumatisiert. An seiner Seite ist Davids Schwester Anna, die bei dem Anschlag ebenfalls dabei war und die Einzige ist, die Tom wirklich versteht. Und plötzlich verspürt Tom, der der Liebe nie viel abgewinnen konnte, nicht mehr nur Verzweiflung, sondern auch Schmetterlinge im Bauch. Ist es Anna wert, dass er sein Leben überdenkt? Derweil versucht die junge Sportlerin Delia, die einst eines von Toms Unvergessen-Kindern war, den lebensmüden David wieder in die Spur zu bringen. Wird er seinen Traum, einen Marathon zu laufen, doch noch realisieren können?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Epilog

Prolog

„Bumm, bumm, bumm, bumm.“

Die Bässe wummerten, als würden im Sekundentakt kleine Stromschläge durch ihren Kopf jagen. Sie griff sich an die Schläfen und erhaschte dabei einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor vier Uhr morgens. Bald hatte sie es geschafft. Es war bitterkalt. So sehr sie das Feiern liebte – so mühsam fand sie den Dienst hier draußen an der Kasse, den sie aber auch immer mal wieder erledigen musste.

„Wir … en … damm … Gin mehr“, brüllte Mario ihr von innen zu.

Sie griff sich an die Ohren und zuckte mit den Schultern. Wie sollte sie ihn bei der lauten Musik hören. Sie konnte nicht rein, sie musste die Kasse im Blick behalten. Obwohl um diese Uhrzeit die Leute nur noch in eine Richtung gingen – nach draußen.

Das Pochen in ihrem Kopf blieb. Und dazu kam ein Frösteln. Sie spürte, wie ein Schaudern ihren Körper durchfuhr, und sie zog sich ihren Schal fester um die Schultern. Sie wollte nach Hause.

„Wir haben keinen verdammten Gin mehr“, erklärte Mario, der nun neben ihr stand.

„Bumm, bumm, bumm, bumm.“

„Ist doch egal. In ein paar Minuten machen wir eh dicht für heute.“

„Es ist aber für die Gruppe, die mit dieser Influencerin hier ist. Die wird uns ganz schön die Hölle heißmachen bei ihren 250.000 Followern.“

„Meine Güte … Influencerin.“ Sie machte eine abweisende Handbewegung.

„Anna, du weißt, dass diese Gäste wichtig sind. Wir sind nun einmal die Party für Promis, und wir müssen ihnen etwas bieten.“

„Dann biete ihnen eine große Flasche Champagner an – auf unsere Kosten. Als Wiedergutmachung für den fehlenden Gin. Sollen sie ein Foto davon posten. In zehn Minuten müssen sie eh die Biege machen.“

„Schade um den Champagner.“

„Ja. Aber wir können uns den heute leisten“, erklärte sie mit Blick auf die prall gefüllte Kasse. Der Laden war brechend voll gewesen.

„Wo ist eigentlich Nicolas?“

„Fragst du mich das ernsthaft? Ich bin nicht sein Babysitter.“ Das Klopfen in ihrem Kopf wurde immer stärker. Das war nicht normal. Sie war diese laute Musik doch gewohnt.

„Anna, ich weiß, dass er ’ne Neue hat. Aber er und seine Kumpels sind wichtig für uns.“

„Ich bin ganz froh, dass er grad nicht hier ist. Er wird schon wieder auftauchen. Außerdem läuft die Party auch so super.“

„Ist alles okay?“

„Nett, dass du mich das fragst“, sagte sie leicht ironisch. „Ich habe Kopfschmerzen. Und ich will ins Bett. Ich muss morgen wieder früh raus. Meinen Bruder beim Marathon anfeuern.“

„Geh nach Hause, hier kommt eh keiner mehr. Ich bringe der Influencerin den Schampus und rechne dann ab, okay?“

„Danke, Mario.“ Sie stand auf und griff nach ihrer Handtasche, die unter der kleinen hölzernen Theke lag. Sie wollte einfach nur heim.

Ansonsten konnte sie vom Feiern nie genug kriegen. Was war nur los mit ihr?

Ach komm, Anna, denk doch mal nach! Immerhin bist du seit Kurzem von der Liebe deines Lebens getrennt – verlassen kurz vor dem Altar. Wer würde da schon sein Leben in vollen Zügen genießen?

Das war aber nicht alles. Sie dachte erneut an den bevorstehenden Marathon – und das Pochen in ihrem Kopf wurde stärker.

Kapitel 1

Tom kniff die Augen zusammen. Könnte sein, dass das da vorn schon David war. Sein Shirt war blau und seine Hose schwarz – so wie das Outfit jedes zweiten Läufers hier. Lange dürfte es aber wirklich nicht mehr dauern, bis die Sportskanone hier auftauchte. Tom nahm mit einem Klacken den Deckel von seinem Objektiv und schaute durch den Sucher. Es hatte den Effekt eines Fernglases.

Dann ließ er die Kamera wieder sinken. Es war nicht David.

Tom kauerte direkt hinter der Zielmarkierung am Boden. Fotos von unten wirkten mächtig, und das war die Message, die er heute transportieren wollte. Er sah die strahlenden Gesichter der vielen Menschen, welche die Läufer begeistert anfeuerten. Sie klopften mit den flachen Händen auf die Werbebande, die die Straße säumte und die Läufer von den Fans trennte. Der Ton hatte etwas Bedeutsames, Großes, sodass es Tom einen Schauer über den Rücken jagte.

Wenn er geradeaus schaute, konnte er hinter den Zuschauern die Seepromenade und den in der Sonne glitzernden Zürichsee erblicken. Entsprechend befand sich hinter seinem Rücken die Häuserfront entlang der Straßenseite.

Tom schaute erneut in die Richtung der Läufer, die von der Innenstadt herkamen. Nächstes Mal, wenn er einen von ihnen fotografieren sollte, musste er demjenigen das blau-schwarze Outfit verbieten. Neongrün sollte das Shirt dann sein, damit er ihn gut erkennen würde. Er blickte durch den Sucher. Nein, das war nicht David. Aber der knapp dahinter, der musste es sein.

Er hob die Kamera wieder an und drückte ein-, zweimal auf den Auslöser. Dann prüfte er, ob die Belichtung richtig eingestellt war. Es war noch alles in Ordnung. Das Licht hatte sich in den letzten etwa vierzig Minuten nicht merklich verändert. Da war ihm David das letzte Mal vor die Linse gelaufen.

Gleich war es geschafft.

Tom blickte auf die Uhr. David würde seine angepeilte Zeit sogar unterbieten können.

Es war nicht einfach, bei der hoch stehenden Sonne ein gutes Foto zu machen. Das Licht war zu hell. Aber er hatte keine Wahl. Es war nicht heiß, es war erst Anfang April. Aber die Sonne am frühen Nachmittag wärmte ganz schön, sodass er nur in Shirt und Jeans im Schatten der Zielbande hockte. Seinen Hoodie hatte er in den Kamerarucksack gestopft, der neben ihm auf dem Boden lag.

Tom drückte ab. Wieder und wieder.

David kam der Ziellinie immer näher. Tom wollte versuchen, Ziel und Sportler zusammen auf ein Foto zu bekommen, deshalb hatte er ein weitwinkliges Objektiv gewählt. Er drückte erneut auf den Auslöser und betrachtete danach das Resultat. Er musste noch ein Stückchen zurück, dachte er, und erhob sich.

Und im gleichen Augenblick geschah es.

Ein fürchterlicher Knall.

Alles flog durch die Luft: Zielbanden, Autoteile, Fensterscheiben … Menschen.

Er hörte Schreie, sah Körperteile … Blut.

Das riesige Gerüst, das die Zielbande hielt, kippte.

Er sah David, erstarrte. „Lauf!“, brüllte Tom. Doch wie hätte der Sportler ihn hören sollen?

Das Gerüst fiel wie in Zeitlupe. Und doch in Sekundenbruchteilen. Es neigte sich schräg nach vorn. Das blau-weiße Tuch, das das schlichte Metallgerüst darunter umhüllte, hatte sich gelöst und flatterte im Wind. Tom konnte den Werbeslogan einer Bank darauf erkennen.

Und er sah, wie es David zu Boden riss. Er konnte dessen Gesicht nicht erkennen, Der Junge hatte ihm den Rücken zugewandt.

„Scheiße!“, stieß Tom mit zusammengepressten Lippen hervor.

Das blaue Shirt hatte fast die gleiche Farbe wie das Band, das langsam gegen den Boden segelte und sich über Davids Körper legte. Der Junge rührte sich nicht mehr. Und es waren vielleicht fünfzig Meter zwischen ihnen.

Die Zuschauer stoben auseinander, einige rissen die Werbebanden nieder. Eine blonde Frau eilte auf David zu.

Unter dem Gerüst lagen noch weitere Läufer.

Was für eine Katastrophe!

Tom wollte losrennen. Doch wohin? Zu David? Oder einfach weit weg?

Dann knallte es noch einmal. Er duckte sich instinktiv. Als ob das etwas nützen würde.

Wie viele Explosionen würde es wohl noch geben? Und woher kamen sie? Er hatte keine Ahnung. Er war ein wenig geschützt hinter dem zweiten Gerüst, das wie durch ein Wunder nicht gekippt war. Und doch war es ein falsches Gefühl von Sicherheit.

Er musste zu David. Und er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Es half niemandem, wenn er jetzt wie so viele andere in Panik ausbrach.

Die Schreie gingen ihm durch Mark und Bein.

Er schnappte sich seinen Rucksack und zog ihn sich über die Schultern. Er konnte nicht rennen, überall lagen Trümmer. Menschen bewegten sich schnell, rannten davon oder gingen langsam, suchend.

Er machte einen Schritt und bemerkte, dass er auf einen Arm getreten war. Der Rest des Körpers, der dazu gehörte, fehlte.

Er schluckte, musste ein Würgen mühsam unterdrücken. Am liebsten wäre er schreiend weggerannt. Er hatte Angst. Nackte Angst.

Bleib ruhig, Tom. Bleib ruhig!

Während er sich auf den Weg zu David machte, drückte er auf den Auslöser seiner Kamera, ohne durch den Sucher zu schauen. Das Klicken beruhigte ihn, an der Kamera konnte er sich festhalten. Wie ein Kind an seinem Kuscheltuch. Normalität suchen, wo keine mehr war. Er drückte und drückte und drückte, während er, so schnell er konnte, über die ganzen verstreuten Teile zu David ging.

Er hatte keine Ahnung, wie lange es gedauert hatte. Zehn Sekunden? Zwei Minuten? Eine Ewigkeit? Die Schreie verstummten, der Lärm verebbte, auf einmal umgab ihn eine gespenstische Stille. Alles um ihn herum bewegte sich wie in Zeitlupe.

Er blickte sich um.

Es sah aus wie in einem Kriegsfilm. Trümmer lagen auf der Straße, von der Staub emporstieg. Er konnte das Flirren deutlich im Sonnenlicht sehen. Hätte ihn das Ganze hier nicht so schockiert, wäre er vielleicht fasziniert gewesen. Er drückte weiter wie ferngesteuert auf den Kameraauslöser.

Du musst David helfen, keine Fotos machen, verdammt!

Erneut wurde ihm schlecht, als er merkte, wie er mit seinem Turnschuh in eine Blutlache trat. Der dazugehörigen Person war nicht mehr zu helfen, das konnte er sofort erkennen.

Alles drehte sich.

Bleib ruhig! Keine Panik. Du musst rational denken. Wo ist David?

Die Strecke, die er noch zurücklegen musste, betrug weniger als zehn Meter. Sie kam ihm ewig vor.

Noch vor wenigen Augenblicken hatten hier Tausende begeisterte Zuschauer gelacht, die Läufer angefeuert und auf die Bande geklopft. Wo waren sie alle? Die meisten waren wohl weggelaufen in Richtung der Häuser, die auf der rechten Seite die Straße säumten. Dort standen auch die geparkten Autos, und die Straßenbahn fuhr. Die meisten wollten wohl einfach nach Hause. In Sicherheit. Aber viele waren noch da, bewegten sich auf der von Schutt übersäten Straße, riefen Namen, schrien, suchten.

Verzweiflung.

Tom setzte sich in Bewegung und ging in die Richtung, in der David zuletzt gestanden hatte, bevor der Mast gekippt war. Er hielt sich die Hand vor den Mund, ging suchend um das Gerüst herum, während er blind auf den Auslöser drückte. Es beruhigte ihn. Half ihm, nicht zu schreien oder wegzurennen.

Da war David. Er erkannte ihn an den gelben Laufschuhen. Der junge Sportler lag am Boden, direkt unter dem Gerüst. Er war eingeklemmt. Neben ihm stand die junge Frau von vorhin und schrie ihn verzweifelt an.

„Daaaviiiiid.“ Sie ruckelte an seinem Arm. Kopf und Oberkörper lagen neben dem Gerüst, Bauch nach unten, Rücken nach oben.

Er warf die Kamera in seinen Rucksack. Er musste sich jetzt konzentrieren. Und funktionieren.

„David“, rief er nun ebenfalls und ging in die Knie. „David, bist du okay?“

Hätte er geantwortet, hätte Tom es nicht gehört. Denn in diesem Moment gingen die Sirenen los. Sie erklangen von allen Seiten.

Hilfe kam. Endlich.

Tom erkannte, dass David lebte. Aber sein Bein hing unter dem schweren Metallmast fest. Eine Blutlache ergoss sich neben dem Bein des Jungen auf den Asphalt.

„David“, sagt er noch einmal und kniete sich neben das verwundete Bein. „Verdammt.“

„Sein Bein“, rief die unbekannte junge Frau. „Tu doch was!“ Sie zerrte an dem schweren Gerüst, das sich keinen Millimeter bewegte.

„Das Blut kommt aus der Wade“, meinte Tom. Das Gerüst lag auf dieser Höhe auf Davids Bein. Der dunkelblonde Schopf des Mannes war voller Staub – und Blut.

Das Metall hatte eine tiefe Wunde in die Wade gerissen.

Die junge Frau war panisch, zog an David, an dem Gerüst, schrie wie verrückt. Tom stieß sie rüde zur Seite. Sie musste aus dem Weg, sonst konnte er David nicht helfen. Er musste die Blutung stoppen, sonst würde der Junge das nicht überleben.

Er öffnete den Rucksack, zog die Kamera heraus und löste das Band. Er zerrte an Davids Körper, doch er hatte keine Chance. Der Mast lag mit seinem äußersten Metallstrang über dem Unterschenkel.

Die blonde Frau war verstummt. Sie kauerte am Boden und hatte die Arme um ihre Knie gelegt. Sie sah blass aus und zitterte.

„Bring dich in Sicherheit“, rief Tom ihr zu.

„Nein!“, erwiderte sie trotzig.

Tom konnte Davids Knie erreichen. Er legte das Band um das Bein herum und zog es so fest an, wie er nur konnte. „Scheiße“, fluchte er laut. Es ging unter im Lärm der Sirenen. Tom dröhnte der Kopf.

Das Geheule dauerte mehrere Minuten.

Polizei, Feuerwehr, Sanitäter.

Tom rüttelte erneut an dem Mast.

„Wer bist du?“, fragte die blonde, junge Frau.

„Tom, ich bin der Fotograf, der David begleitet hat.“

Fakten schaffen. Das hatte Tom in seiner Ausbildung gelernt: Fakten, keine Emotionen. Menschen, die unter Schock standen, konnten nur auf Fakten reagieren.

„Er hat es fast geschafft …“, stammelte sie. „Er war fast im Ziel.“

„Das ist nicht wichtig. Hast du gesehen, was genau passiert ist?“

„Da war dieser Knall. Warum ist er nicht einfach weitergerannt? Warum ist er stehen geblieben? David. David. Sag doch was!“

Ein undeutliches Gemurmel erklang. Davids Gesicht lag auf der Seite, seine Augen flackerten.

„Er darf nicht sterben“, flehte die junge Frau.

„Er wird nicht sterben“, beruhigte Tom sie. Er zog seinen Pulli aus dem Rucksack und legte ihn der Frau über die Schultern. Leute, die unter Schock standen, froren sofort. „Wir brauchen einen Arzt“, murmelte er mehr zu sich selbst. Er hatte seine Fassung wiedergefunden. „Was ist passiert?“, fragte er noch einmal. Sachliche Fragen stellen. Fragen, die rational beantwortet werden können.

„Der Knall. Er ist stehen geblieben. Und dann ist das Ziel gekippt. Auf ihn drauf.“

Tom wusste, dass das Gerüst nicht nur David erwischt hatte. Aber er war offensichtlich der Einzige, der noch lebte. Noch.

„Hast du alles gesehen?“, fragte er die Frau.

„Natürlich.“ Sie schaute ihn mit großen Augen an. „Er darf nicht sterben.“

Sie musste ihn sehr lieben. Was ihm sonderbarerweise einen Stich ins Herz gab. Er fühlte sich seltsam verbunden mit dieser jungen Unbekannten. Er hatte David so oft gesehen, wusste aber so wenig über ihn.

Noch immer bemühte sich niemand darum, das Gerüst von David zu hieven. Tom blickte sich um. Es lag wohl daran, dass der Feuerwehrwagen mit dem Kran schlicht nicht durch die ganzen Trümmer kam. Die Leute mussten erst den Weg freiräumen.

„Wie heißt du?“

„Anna.“

„Hast du’s warm genug?“

„Geht schon.“

Er musste sich zusammenreißen, um nicht selbst in Schockstarre zu verfallen. Er bekam die Bilder von den Leichenteilen, dem Blut und den Trümmern einfach nicht aus dem Kopf. Was ihn verwunderte, denn als „Fotoengel“ für Unvergessen hatte er schon viele Tote gesehen. Aber immer schön zurechtgemacht, meistens Babys. Keine zerfetzten Erwachsenen. Er setzte sich neben die junge Frau und nahm sie in die Arme.

Er spürte, wie seine Kräfte schwanden. Er konnte nicht mehr. Er musste ruhig bleiben, sachlich und seine Pflichten erfüllen. Er zog eine Flasche Cola aus dem Rucksack, nahm einen großen Schluck und reichte sie dann Anna.

„Trink! Der Zucker hilft.“

Ihre Nähe tat ihm gut. Er rubbelte mit seinen Händen über ihre Schultern, um sie aufzuwärmen. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ihre rechte Hand legte sie in die von David.

„Woher kennst du ihn?“, fragte er Anna.

„Er ist mein kleiner Bruder.“

Der Bruder. Warum erleichterte ihn diese Nachricht so?

Er zog sein Handy aus der Tasche und blickte auf die Uhr. Vor etwa sieben Minuten wäre David ins Ziel gelaufen. David hätte eine gute Zeit geschafft. Tausende Sportler mussten sich noch auf der Strecke befinden. Sie waren bestimmt gestoppt worden, denn es kam keiner nach. Er hatte mehrere Anrufe verpasst. Sein Chef. Und sein Mitbewohner Michael. Die Nachricht von der Explosion musste sich verbreitet haben wie ein Lauffeuer – und diese beiden Personen waren die einzigen, die wussten, wo er war.

Er steckte das Telefon wieder in die Tasche. Er verstand, dass sie sich Sorgen machten. Aber er hatte jetzt keinen Nerv dafür.

David atmete. Doch sein Teint wurde immer grauer. Das war kein gutes Zeichen. Jemand musste doch dieses verdammte Gerüst anheben können. Vielleicht dachten sie, alle darunter wären tot.

Er musste Hilfe holen.

„Anna, ist dir wieder wärmer? Kannst du kurz allein hierbleiben? Ich hole die Feuerwehr.“

Sie nickte stumm.

Tom stand auf und rannte zu den Feuerwehrleuten, die sich von der anderen Seite des Gerüstes her in ihre Richtung kämpften. Er wusste nicht, ob er auf den Boden blicken sollte, um zu sehen, wo er hintrat. Oder ob er einfach rennen sollte.

Er sah eine verletzte Frau am Boden liegen, einige Feuerwehrleute kümmerten sich um sie. Ein Knochen stand aus dem Bein heraus.

Das war zu viel.

Tom spürte, wie sein Mageninhalt nach oben kochte. Er konnte sich gerade noch abwenden, dann ergoss sich alles mitten auf die Straße.

„Alles okay?“ Ein Feuerwehrmann kam sofort zu ihm.

„Ja. Mir geht es gut.“ Er fühlte sich erstaunlicherweise tatsächlich besser. „Mein Freund ist unter dem Gerüst eingeklemmt. Er lebt noch“, erklärte er. „Können Sie das Gerüst anheben? Er wird schon ganz grau. Er stirbt. Helfen Sie ihm.“

Der Feuerwehrmann nickte. „Wir kommen.“ Er fuchtelte mit den Armen herum und sprach etwas in ein Funkgerät. „Gehen Sie zurück zu ihm.“

Anna kauerte noch immer neben ihrem verletzten Bruder, hatte Toms Pulli eng um die Schultern gezogen. Es war eine Szene, die Toms Herz zum Springen brachte. „Alles okay?“ Anna nickte. „Die Feuerwehr kommt gleich.“

Davids Atem ging flacher. Tom wollte gar nicht wissen, wie sein Bein aussah. Er hatte keine Wahl gehabt, als es abzubinden. Aber es war jetzt auch egal, die Hauptsache war, dass er da unten rauskam.

Die Feuerwehr war wirklich rasch da. Sie hatte ein kleines Gefährt aufgetrieben – mit einem Kran –, das durch die Trümmer gelenkt werden konnte. Der Mast musste ja nicht weg. Er musste nur ein paar Zentimeter angehoben werden.

„Wir müssen das Gerüst vorn an der Spitze hochnehmen. Wir fahren jetzt dorthin. Unsere Kollegen hier sind Sanitäter. Sie werden ihren Freund rausziehen und versorgen.“

Tom und Anna nickten.

„Gehen Sie bitte ein bisschen zur Seite.“

Tom zog Anna vom Gerüst weg. Er hielt sie fest und versuchte, sie zu beruhigen. Es dauerte nur ein paar Minuten, aber in Toms Augen eine Ewigkeit, bis der schwere Mast sich in Bewegung setzte. Die beiden Sanitäter zogen David heraus.

„Wer hat das Bein abgebunden?“

„Ich“, antwortete Tom.

„Gut gemacht. Ich glaube, das hat ihm das Leben gerettet.“

„Schafft er es?“, wollte Anna wissen.

„Sind Sie mit ihm verwandt?“

„Ich bin seine Schwester.“

„Wir bringen ihn jetzt ins Krankenhaus, und dann sehen wir weiter.“

„Kann ich mitkommen?“ Sie schien sich etwas gefasst zu haben.

„Natürlich“, sagte der Sanitäter.

„Hältst du mich auf dem Laufenden?“, bat Tom. Er zog eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie und reichte sie der Frau. „Hier drauf steht meine Nummer. Kannst mir ja Bescheid geben, wie es ihm geht … und dir.“

Sie nickte, nahm die Karte und steckte sie in ihre Hosentasche. „Danke“, sagte sie. „Für alles.“

Dann drehte sie sich um und lief den Sanitätern hinterher.

Kapitel 2

Es war später Nachmittag, als Tom verschmutzt, verstört und unendlich müde die Tür zu seiner WG aufschloss. Er war als einer der wenigen Direktbeteiligten noch anwesend und vernehmungsfähig gewesen, und so hatte er eine lange Zeugenaussage über sich ergehen lassen müssen.

„Du lebst.“ Michael, sein Mitbewohner und Freund aus Kindertagen, kam auf ihn zugestürmt und umarmte ihn heftig. „Warum bist du nicht ans Telefon gegangen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“

„Ich … ich kann grad nicht. Ich bin durch die Hölle gegangen. Und jetzt will ich einfach nur … ich weiß es nicht … schlafen.“

Der Freund nickte. „Kann ich dir irgendwie helfen? Magst du reden?“

„Jetzt nicht, Michael. Dank dir. Es tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Ich konnte einfach nicht. Es war einfach … furchtbar.“

„Leg dich hin. Ich bringe dir Tee und etwas zu essen, okay?“

Tom nickte müde. Er hatte keine Lust zu essen. Und er war viel zu fertig. Aber er wollte seinen Freund nicht verärgern. „Könntest du meinen Chef anrufen und ihm sagen, dass ich okay bin? Er hat auch versucht, mich zu erreichen. Und du kannst ihm sagen, dass David, der Junge, den ich für die Reportage fotografiert habe, unter den Verletzten ist. Er hat den Marathon nicht beenden können. Er liegt im Krankenhaus. Aber ich weiß nicht, wie es ihm geht … ob er durchkommt.“

„Natürlich. Wie kann ich ihn erreichen?“

„Ich schicke dir seine Visitenkarte aufs Handy. Danke, Michael.“

Tom ging in sein Zimmer. Er stank, aber es war ihm egal. Er wollte nur noch schlafen – und vergessen. Er holte sein Handy aus der Tasche, um Michael die Nummer seines Arbeitgebers zu schicken. Er hoffte, er würde mit all den Bildern im Kopf überhaupt einschlafen können.

Aber kaum lag er auf seinem Bett, war er auch schon weg. Die Suppe, die Michael ihm ans Bett brachte, blieb unangetastet.

Als er wieder erwachte, war es mitten in der Nacht, wie ein Blick auf sein Smartphone verriet. Er wusste gar nicht, wo er sich befand, was geschehen war. Er glaubte, er hätte einen bösen Albtraum gehabt, versuchte, wieder einzuschlafen, doch jetzt war er hellwach. Er hatte nicht geträumt. Das alles war wirklich geschehen. Er nahm sein Smartphone erneut und klickte sich durchs Netz. Er wusste bisher nur, was er gesehen und erlebt hatte, aber nicht, was im Großen und Ganzen passiert war. Die Schlagzeilen dominierten jedes Medium:

Bombenanschlag beim Zürich-Marathon

Sieben Tote, über fünfzig Verletzte

Wahrscheinlich kein islamistischer Hintergrund

Kein Bekennerschreiben

Bomben in Sporttaschen deponiert

Wer steckt dahinter?

Ein prominenter Marathonläufer unter den Toten

Zahl der Toten steigt auf acht

Täter bisher nicht gefasst

Sieben Menschen waren sofort tot gewesen. Einer war offensichtlich später im Spital gestorben. David? Er hatte dessen Handynummer. Aber die Nachricht würde der junge Mann nicht lesen können. Auch wenn er noch lebte. Er hätte Anna nach ihrer Nummer fragen sollen.

Er klickte sich weiter durch die verschiedenen Artikel.

Eine Taschenbombe war direkt unter dem Gerüst deponiert gewesen, welches auf David gefallen war. Er selbst hatte hinter dem gegenüberliegenden Gestell gesessen. Es war wie ein Lotteriespiel gewesen. Hätte er die andere Seite ausgesucht gehabt, hätte es ihn zerrissen wie ein Stück Papier. Die zweite Bombe war zwischen den Zuschauern platziert gewesen. Sie hatte weitaus weniger materiellen Schaden angerichtet als die erste – sie hatte aber mehr Tote und Verletzte gefordert. Die erste Detonation war wuchtiger gewesen. Die Bomben waren explodiert, lange nachdem die Spitzenläufer im Ziel angekommen waren. Sie waren darauf ausgelegt gewesen, die Masse zu treffen. Der prominente Läufer, der gestorben war, hatte sich zu der Zeit bereits unter den Zuschauern befunden.

David. Er mochte den Jungen. Er kannte ihn nicht sonderlich gut. Das Sportmagazin, für das er häufig als Fotograf tätig war, hatte einen Sportler von den Anfängen bis zum Marathon begleiten wollen unter dem Titel: Mach deinen Traum vom Marathon wahr!

David war der Auserwählte gewesen. Hübsch, jung und fotogen. Und außerdem mit Köpfchen. Topfit. Aber komplett laufunerfahren. Er hatte einen Personal Trainer bekommen, der ein halbes Jahr lang mit ihm trainiert und ihn für seinen ersten Marathon bereit gemacht hatte. Einmal pro Monat hatte es in dem Magazin einen Bericht über die Fortschritte gegeben. Tom war engagiert worden, die Fotos dazu zu schießen. Der Marathon hätte das Highlight und der Schlusspunkt werden sollen. David hatte es durchgezogen, und er hätte den Marathon in weit unter vier Stunden beendet. Es war sein großer Traum gewesen.

Tom ging in die Küche, um etwas zu trinken. Er hatte das Gefühl zu ersticken.

„Ist alles okay?“ Michael war in den Raum getreten.

„Ich muss hier raus.“

„Wo willst du hin?“

„Keine Ahnung. Einfach raus. Vielleicht fahre ich noch einmal zum See runter, schaue, wie es aussieht.“

„Tom, ich weiß nicht, ob, das gut ist … aber, wenn du willst, komm ich mit.“

Tom wäre gern allein gewesen. Allerdings wusste er nicht, wie er reagieren würde, wenn er noch einmal den zerstörten Zielraum betrat. Deshalb stimmte er zu.

Sie zogen ihre Jacken und Schuhe an und holten ihre Räder aus dem Fahrradkeller.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie in der fast autofreien Nacht mit den Rädern am See ankamen. Die Seepromenade wirkte beinahe idyllisch. Nur die rot-weißen Absperrbänder erinnerten an das, was vor wenigen Stunden hier geschehen war.

Einige Polizisten umkreisten die Szene mit Taschenlampen, verhinderten, dass jemand den Tatort betrat. So konnten auch Tom und Michael nicht dorthin, wo Tom am Nachmittag mit Anna gekauert hatte. Die Straßenlampen warfen ein wenig Licht auf die Straße, und Tom konnte nur wenige Umrisse erkennen.

„Was wollen Sie hier?“ Ein Polizist sprach sie unwirsch an.

„Ich war heute dabei, als die Bombe hochging. Und ich kann nicht schlafen“, versuchte Tom zu erklären.

„Das tut mir leid“, sagte der Polizist etwas freundlicher. „Aber Sie können hier nicht rein.“

„Dürfen wir … von hier draußen … etwas schauen?“

„Ja, klar, kein Problem, aber ob Ihnen das hilft?“ Der Polizist sah Tom eindringlich an.

Tom zog unsicher die Schultern hoch, versuchte, sich zurechtzufinden. „Ich weiß nicht genau, auf welcher Höhe das Ziel war. Es ist so dunkel.“

„Das Ziel war nicht weit von hier, etwas zwanzig Meter in diese Richtung“, meinte der Polizist. Die Taschenlampe warf einen Strahl nach links. „Auf der anderen Seite steht noch das Gerüst, über dem die Zielmarkierung angebracht war.“

Tom schaute angestrengt in die Richtung, in die die Taschenlampe leuchtete. Aber das Licht war zu schwach. „Ich saß direkt hinter diesem Gerüst. Mein Auftrag war, einer der Sportler für eine Reportage zu fotografieren. Er war fast im Ziel. Doch dann ging die erste Bombe hoch. Das Gerüst fiel – direkt auf ihn drauf.“

„Ja, ein Gerüst ist umgefallen. Die Bombe lag direkt darunter“, bestätigte der Polizist.

„Und dann?“, wollte Michael wissen.

„Ich habe ein paar Fotos gemacht. Ich weiß nicht, wofür die einmal gut sind. Ich denke, es gibt unzählige Handyfotos und Videos. Und ich bin mir nicht sicher, ob die Menschheit diese Bilder sehen soll. Aber irgendwie hat mir das ständige Klicken geholfen, nicht durchzudrehen.“

„Was sieht man auf den Bildern, Tom?“

„Ich habe die Bilder der Polizei übergeben“, erklärte dieser. Und ergänzte leise: „Man sieht alles!“

„Was ist alles?“

Tom wurde schwindelig. Er musste sich setzen. Die Erinnerungen übermannten ihn. Er setzte sich auf einen der Steinsockel, die verhinderten, dass Autos auf die Seepromenade fuhren.

„Du musst jetzt nichts erzählen“, sagte Michael.

„Ich weiß auch gar nicht, ob du das hören willst“, erwiderte Tom.

Der Polizist stand noch immer in ihrer Nähe. Auch er war gespannt auf Toms Worte.

„Es knallte in dem Augenblick, als ich auf den Auslöser meiner Kamera kam. Als hätte ich den Zündknopf gedrückt. Ich habe mich geduckt. Ich saß innerhalb der Absperrbande, konnte nicht einfach wegrennen. Die Menschen außerhalb schrien, stoben in alle Richtungen davon. David war kurz vor dem Ziel. Er blieb geschockt stehen. Das Gerüst fiel. Es dauerte nur Sekunden. Alles Mögliche flog durch die Luft. Ich sah, wie das Gestell auf David knallte, und wollte zu ihm rennen. Da kam es schon zur zweiten Explosion. Dieses Mal mitten in der Menge der Zuschauer. Wieder flog alles durch die Luft.“ Tom stockte. „Auch die Menschen. Oder Teile davon.“ Michael wandte sich entsetzt ab, der Polizist senkte den Kopf. Tom sprach leise weiter: „Ich hatte keine Ahnung, ob noch eine Bombe folgte. Ich wusste, entweder es erwischt mich oder nicht. Egal wo ich war oder hinging. Also lief ich, so schnell ich eben konnte, zu David. Das Gerüst lag über einem Bein, ich konnte ihn nicht rausziehen. Überall war Blut. Ich band das Bein ab, um die Blutung zu stillen, und kümmerte mich um seine Schwester, die völlig verzweifelt an seiner Seite stand. David schien zu sterben. Er war ganz grau im Gesicht, wisst ihr. Grau. Das heißt, der Tod steht vor der Tür. Ich habe keine Ahnung, ob er noch lebt.“

„Als ich hier ankam, waren die meisten Verletzten schon versorgt. Meine Nachtschicht begann erst später“, erzählte der Polizist. „Ich habe so etwas auch noch nie gesehen. Viele Menschen haben Gliedmaßen verloren. Ich musste mich konzentrieren, Absperrungen erstellen, Menschen den Weg weisen, den Tatort sichten.“

„Sie haben den Täter noch nicht?“

„Soweit ich weiß, nicht“, bestätigte der Polizist.

„Kriegen Sie ihn?“, fragte Michael.

Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Wir werden alles Erdenkliche dafür tun.“

„Wenn ich nur wüsste, wie es David geht. In der Zeitung stand, ein Opfer ist erst im Spital verstorben. Ich hoffe so sehr, es ist nicht er. Aber dann ist es jemand anderes. Um den andere jetzt trauern.“

„Wie können Menschen so was tun?“ Michael sprach die Worte mehr zu sich selbst.

Eine Taschenlampe blitzte auf, und aus dem Funkgerät des Polizisten ertönte eine Stimme. Es rauschte, und Tom und Michael konnten die Worte nicht verstehen.

„Ich muss los, Jungs. Ich wünsche dir alles Gute.“ Der Beamte legte seine Hand auf Toms Schulter und lief davon.

„Komm, wir gehen heim“, sagte Michael leise. „Du solltest noch ein wenig schlafen.“

„Ich bezweifle, dass einer von uns diese Nacht noch schläft.“ Tom zuckte mit den Schultern, und sie stiegen auf ihre Fahrräder.

Kapitel 3

Er saß hellwach in seinem Bett, den Laptop auf den Knien. Er fühlte eine große Unruhe. Eine Art „inneres Zittern“, das er sehr wohl erklären, jedoch nicht richtig beschreiben konnte. Er fragte sich, wie junge Leute, die zum Beispiel Zeuge eines Amoklaufs an ihrer Schule geworden waren, am nächsten Tag einfach hingehen und dem Unterricht folgen konnten. Gingen die Menschen, die bei diesem Anschlag dabei waren, heute wieder zur Arbeit? Oder nur die, die weiter weg gestanden und zwar den Knall gehört, aber nichts unmittelbar gesehen oder gespürt hatten? Oder auch die in der Nähe des Ziels? Oder nur die psychisch Starken? Dazu gehörte er doch auch, oder?

Er klickte auf einen gelben Ordner: Weltberg Outdoor Fashion. Das Label Weltberg zählte schon lange zu seinen Kunden. Er fotografierte immer wieder Kampagnen mit Models in den Bergen. Vor ein paar Tagen erst hatte er zwei Männer und zwei Frauen vor der Linse gehabt, welche die kommende Winterkollektion präsentiert hatten. Er schloss die Augen, erinnerte sich.

„Julia, dreh deine rechte Schulter ein bisschen mehr in Richtung Kamera.“

„Klick, klick, klick.“

„Sandro, kannst du noch einen Schritt näher an Karin herangehen? Leg mal die linke Hand auf ihre Schulter. Genau. Super. Bleibt so!“

„Klick, klick, klick.“

„Halte bitte den Reflektor etwas höher. Wir brauchen mehr Licht auf Karins Gesicht.“

Noch ein paar Minuten, dann würde die Sonne verschwunden sein. Das letzte Licht des Tages war das Beste. Er hob seinen Fuß an und rammte das Steigeisen fester in den Schnee. Er musste sich hier in den Bergen auf sein Material verlassen können – wenn er fotografierte, konnte er sich nicht noch darum kümmern, ob er abrutschte oder nicht. Es war nur ein kleines Team hier oben unterwegs. Die Models, ein Fotoassistent und eine Visagistin. Große Fotoproduktionen mit zwanzig Personen waren in diesem unwegsamen Gelände nicht möglich. Aber für Outdoor-Fashion zu Themen wie Wandern, Klettern oder Skifahren brauchte mal nun einmal die Berge. Aktuell waren sie schneebedeckt, sie fotografierten eine Kampagne für Skimode.

Natürlich hätten sie auch auf die Piste gehen können – aber es war die Umgebung, welche den Reiz des Fotos ausmachte. Die wilden, unberührten Felsen, der Tiefschnee, die weiß verschneiten Tannen. Er machte heute die letzten Fotos im Stehen. Die Bilder, auf denen die Models während des Skifahrens fotografiert wurden, hatten sie schon im Kasten. Sie hatten extra Models ausgesucht, die sehr gut Skifahren konnten, hatten mehrere Tage gebraucht, um alle Fashionteile abzulichten. Die Crew war in einem Hotel untergebracht – er selbst übernachtete, wie immer, wenn es möglich war, in der Berghütte seiner Eltern. So auch jetzt. Er war froh, wenn er abends ein wenig Ruhe hatte, die Bilder sichten und sich sammeln konnte. Doch heute war der letzte Abend und er freute sich, mit der Crew noch etwas trinken zu gehen und zu feiern.

Vor allem aber freute er sich auf den Flirt – und die heiße Nacht – mit Julia. Sie fühlten sich schon die ganze Zeit zueinander hingezogen, und es war klar, dass heute etwas laufen würde. Er nahm seinen Job sehr ernst – für den Kunden hing viel davon ab, und er verdiente gutes Geld damit. Aber jetzt waren sie fertig, und einem Stelldichein stand nichts mehr im Wege. Der Fotograf hatte immer eine viel größere Anziehungskraft auf die weiblichen Models als deren männliche Pendants. Vor allem wenn derjenige jung, sportlich und nicht ganz hässlich war. Das Fotografieren in dieser Höhe und diesem unwegsamen Gelände war eine Höchstleistung und dafür musste er fit sein.

„Klick, klick, klick.“

„Sandro, Karin, schaut mal hoch zu Julia. Und Julia, schau du die beiden an und lache. Kannst du mal aus voller Kehle lachen? Das kann auch richtig übertrieben sein, das sieht man auf den Bildern nicht.“

„Klick, klick, klick.“

Ihm war es wichtig, dass sie Bilder nicht gestellt aussahen. So ließ er die Models auch gern miteinander reden, Schneebälle werfen oder eben laut lachen.

„Reflektor weiter runter, bitte.“

Die Sonne stand immer tiefer. Der Himmel leuchtete in wunderschönen Violett- und Orangetönen. Richtig kitschig sah es aus. Der Reflektor, ein großer Stoffkreis, war auf einer Seite silbern, auf der anderen schwarz. Er nutzte die silberne Seite, um das Licht der Sonne zu reflektieren und auf die Gesichter der Models zu lenken. Der Reflektor war als Spiegelung in den Augen der Models zu sehen – das war das Ziel. Er liebte es, mit natürlichem Licht zu arbeiten. Draußen. Studios mit Blitzanlagen waren nicht sein Ding.

Er schaute sich die letzten Fotos auf seiner Kamera an und wusste, sie hatten alles im Kasten. Es wurde auch langsam zu dunkel und bitterkalt – die Models mussten sich dringend warme Decken umlegen.

„Fertig, Leute“, rief er freudig aus. „Wir haben es. Ab unter die Decken. Wir packen zusammen. Dank euch, ihr wart super.“

Sie würden mit den Ski ins Tal runterfahren. Für die Ausrüstung hatten sie ein Skimobil mit Fahrer gemietet, der in wenigen Minuten auftauchen musste. Auch die Visagistin, die nicht skifahren konnte, würde auf dem Mobil mitfahren. Tom dagegen freute sich auf die Abfahrt im frischen Pulverschnee.

Es war voll in der Bar, geschwängert von der feuchten Luft und den verschwitzen Körpern. Es roch nach Alkohol. Julia tanzte eng umschlungen mit Karin auf der kleinen Tanzfläche. Tom beobachtete sie. Es war nicht seine Welt. Und Julia war eigentlich auch nicht sein Typ. Natürlich, sie war bildschön. Sie war auch wirklich sehr nett und unkompliziert, und das waren längst nicht alle Models, aber sie hatte zu viel Geltungsdrang. Sie definierte sich darüber, Model zu sein, sie liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, gesehen zu werden. Tom beobachtete auch die anderen in der Bar, und diese wiederum starrten unverhohlen auf die beiden tanzenden Ladys. Heute Nacht würde Julia ihm gehören – und vielleicht noch ein paar Nächte mehr. Sie wohnte am anderen Ende der Schweiz – eine Affäre mit regelmäßigen Treffen würde zu umständlich werden. Er hatte gelernt, die Gelegenheiten zu nutzen und sein Herz aus dem Spiel zu lassen. Die Liebe brachte seinem Leben nichts als Schwierigkeiten.

Julia trug eine enge schwarze Jeans, dicke Fellboots und einen hautengen, schwarzen Rollkragenpulli. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, der sich sanft im Takt der Musik hin und her bewegte. Natürlich war sie sexy. Und er musste sich verdammt noch mal zusammenreißen, dass man ihm seine Vorfreude auf die kommende Nacht nicht ansah.

Er trank den letzten Schluck aus seiner Bierflasche. Sollte er noch eins bestellen?

Julia bewegte sich nun tanzend auf ihn zu – eine Anmache, die gar nicht nötig war. Es war sowieso klar, was heute laufen würde. Sie hatte das schon lange im Sinn gehabt, und er hatte sie immer wieder auf den heutigen Abend vertröstet. Was sie wollte?

Liebe? Weitere Jobs?

Beides hatte er nicht zu entscheiden.

Oder war sie einfach nur wie er auf ein bisschen Spaß aus? Er übte eine gewisse Faszination auf Frauen aus, das wusste er. Sein Talent als Fotograf, seine Naturverbundenheit, seine Bergburschenoptik und seine Zurückhaltung – das wirkte offenbar anziehend. Frauen wollten ihn erobern. Weil sie dachten, dass er schwer zu kriegen war. Was – wie er sich selbst gegenüber beschämt eingestehen musste – nicht der Wahrheit entsprach. Seinen Körper bekamen sie, sein Herz nicht.

Julia war jetzt ganz nah, legte ihre Hände auf seine Hüften und wollte ihn dazu animieren, sich ebenfalls zur Musik zu bewegen.

„Ich will dich“, raunte sie ihm zu, und ihr Gesicht näherte sich seinem.

„Nicht hier“, gab er zurück und legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. „Lass uns abhauen und zu mir gehen.“

Er öffnete die Augen. Die Erinnerung an die Nacht mit Julia war verblasst. Ersetzt durch … andere und katastrophale Bilder.

Er klickte sich durch die Bilder aus dem Shooting. Er musste sie nachbearbeiten. Bald. Er hatte aber überhaupt keinen Nerv dafür. Er klappte den Laptop zu und legte ihn neben sich ins Bett. Dann schloss er erneut die Augen – an Schlaf war nicht zu denken.

Kapitel 4

Wir suchen dringend einen Fotoengel für einen Einsatz im Kinderspital. Ein neugeborener Junge hat bei der Geburt einen Sauerstoffmangel erlitten. Er zeigt keinerlei Lebenszeichen mehr, wird aber noch beatmet. Die Eltern möchten ihren Sohn gern in einer muslimischen Zeremonie segnen lassen. Wer würde diese Segnung fotografieren?

Tom kannte das Geräusch, das ihn aufweckte. Er hatte die Anfragen von Unvergessen mit einem speziellen Ton versehen, sodass er sofort wusste, wann ein „Fotoengel“ für einen Einsatz gesucht wurde.

Er war schon seit vielen Jahren bei diesem Verein, und wann immer es ihm möglich war, nahm er einen Auftrag an. Oft hatte er keine Zeit, da er als Sportfotograf viel in den Bergen unterwegs war. Wandern, Klettern, Touren, Freeriding – das waren seine Spezialgebiete. Deshalb hatte er auch keine Freundin. Noch nie wirklich gehabt. Zumindest nicht über einen längeren Zeitraum. Er war manchmal schon verknallt oder verliebt gewesen, aber das hatte nie lang angehalten. Die Frauen waren in der Regel nicht bereit, seinen Lebensstil mit zu leben. Und er hatte ihn nie aufgeben wollen. Zumindest nicht für eine Frau. Das hatte er einmal gemacht – und war bitter enttäuscht worden. So enttäuscht, dass er sein Herz lieber nicht mehr verschenkte.

Inzwischen war er zweiunddreißig Jahre alt – und außer ein paar Kurzbeziehungen gab es in Sachen Liebe nichts Nennenswertes auf seiner Liste.

Ich kann den Einsatz übernehmen, tippte er in sein Smartphone.

Er brauchte eine Aufgabe. Wenn er zu Hause hockte, würde ihm die Decke auf den Kopf fallen. Ihm war bewusst, dass ihn dieser Anschlag in seinen Grundfesten zerstört hatte. Im Moment wollte er Ablenkung. Nicht darüber nachdenken.

Immer wieder musste er an diese Anna denken. Sie war die Einzige, die ihn vielleicht verstehen würde. Denn sie war ebenso dabei gewesen wie er. Sie festzuhalten hatte ihn in diesen Minuten auf seltsame Weise getröstet. Er hatte sofort eine Verbindung zu ihr gespürt, und nun sehnte er sich danach, sich mit ihr auszutauschen. Zudem war sie ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Er war sich sicher, sie schon irgendwo gesehen zu haben, konnte aber nicht einordnen, wo.

Er überlegte, was ihn am Vortag dazu gebracht hatte, nicht komplett durchzudrehen. Als „Fotoengel“ für Unvergessen hatte er diverse Ausbildungen in Notfallpsychologie absolviert. Er traf immer wieder auf schwere Schicksale und Situationen, und die Ausbildungen hatten ihn vorbereiten und ihm die nötige Sicherheit geben sollen im Umgang mit den schicksalsgeplagten Familien. Am Tag davor hatten ihm diese Kenntnisse geholfen, nicht schreiend wegzurennen, sondern sich zusammenzureißen und zumindest um David und Anna zu kümmern. Die Bilder in seinem Kopf waren trotzdem da.

Sein Smartphone meldete sich erneut. Es war die Einsatzzentrale von Unvergessen. Er sollte den Einsatz übernehmen. Er bekam alle Details zu der Familie und der Ansprechperson im Krankenhaus. Ob er in einer Stunde vor Ort sein könne? Er konnte.

Er legte auf und begann, seine Kameraausrüstung zu packen.

Kapitel 5

Anna saß auf einem roten Plastikstuhl im Krankenhausflur. Ihr fielen beinahe die Augen zu. Sie brauchte dringend ein Bett. Sie war nun seit mehr als vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Und die Nacht davor war wegen der Party auch eher lang gewesen.

Ihre Eltern waren im Urlaub auf den Kanaren gewesen. Sie hatte sie telefonisch nach Hause beordert, und nun saßen sie im Flieger. Im Moment war sie ganz allein. Allein mit all ihren Sorgen und Gedanken um David.

Sie verfluchte Nicolas, der sie einfach sitzen gelassen hatte. Sie verfluchte ihr Partyleben – keiner ihrer „Freunde“ hatte auch nur einmal nachgefragt, wie es ihr ging. Außer Vanessa natürlich, die versucht hatte, sie anzurufen. Sie hatte aber in diesem Moment nicht reden können, und so hatte sie sich mit ihrer besten Freundin wenigstens schriftlich kurz ausgetauscht.

Sie hatte von einem Arzt eine Beruhigungstablette bekommen und vom Pflegepersonal eine Decke und einen Tee. Sie hätten sie gern stationär mit aufgenommen, doch es hatte keine freien Betten mehr gegeben.

Sie könnte nach Hause gehen und schlafen. Aber sie brachte es nicht über sich. Zum einen wollte sie ihren Bruder nicht allein lassen, zum anderen würde ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fallen. Seit Nicolas sie vor zwei Monaten von jetzt auf gleich verlassen hatte – kurz vor ihrer Hochzeit –, war sie ohnehin nicht mehr gern in der Wohnung. Dort hatten sie zusammengelebt, sich geliebt.

Sie suchte eine neue Bleibe, doch das war gar nicht so einfach in Zürich – zumal allein. Vielleicht sollte sie in eine WG ziehen? Oder Vanessas Angebot annehmen und in deren Gästezimmer schlafen? Das wäre günstiger, und sie wäre weniger einsam. Oder sie suchte sich eine Wohnung mit David.

David … ihr kleiner Bruder … Wie sein Leben wohl weitergehen würde?

Eine Krankenschwester brachte ihr eine Tasse heißen Kaffee. Schwarz. Das konnte sie gut gebrauchen. „Haben Sie alles gesehen?“

Anna nickte stumm.

„Es tut mir leid wegen Ihres Bruders.“

Sie nickte erneut. Was sollte sie denn sagen?

„Möchten Sie etwas essen? Oder kann ich sonst etwas für Sie tun?“

Ein Bett, dachte Anna, schüttelte aber nur schweigend den Kopf. „Danke für den Kaffee.“ Sie wollte einen Schluck nehmen, doch er war zu heiß, und ein Schmerz durchzuckte ihre Lippen. „Autsch“, machte sie und blies in die Tasse.

Ihr Handy piepte. Ihre Mutter. Sie schrieb, dass sie gelandet seien und sich nun auf den Weg ins Krankenhaus machten. Anna war erleichtert. Dann könnte sie endlich ein bisschen schlafen. Oder es zumindest versuchen.

David war ins künstliche Koma versetzt worden. Solange die Ärzte ihn nicht aufweckten, machte es keinen Unterschied, ob sie hier war oder woanders. Trotzdem konnte und wollte sie ihn nicht allein lassen.

Nicht zum ersten Mal dachte sie an Tom, den Fotografen, der gestern die ganze Zeit für sie und David da gewesen war. Der ihm mit seinem beherzten Eingreifen, dem Abbinden des Beins, wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Er hatte ihr zugehört, sie gewärmt und sie nicht allein gelassen. Obwohl er sie gar nicht gekannt hatte – und David auch nicht sonderlich gut.

Sie hatte ihm versprochen, sich zu melden. Er machte sich bestimmt Sorgen, hatte noch immer keine Nachricht bekommen, wie es David ging. Sie stand auf, zog erneut ihr Smartphone aus der Tasche.

Davids Visitenkarte, ein kleiner weißer Zettel, klebte statisch daran fest. Sie betrachtete sie: Tom Grauer, Fotograf. Darunter eine Webseite, eine Handynummer und eine E-Mail-Adresse.

Sie speicherte die Nummer ab, dachte daran, wie er sie in seine Arme genommen, ihr seinen Pulli umgelegt, sie getröstet hatte. Den Pulli hatte sie immer noch über ihren Schultern. Ohne diesen Tom wäre sie wohl komplett durchgedreht. Jetzt fühlte sie sich einigermaßen ruhig. Solange sie nicht an die verheerenden Bilder dachte.

Tom.

Sie konzentrierte sich auf ihr Smartphone. Wie viel sollte sie ihm schreiben? Wäre es nicht besser, ihn irgendwo zu treffen? Andererseits: Er hatte keinen näheren Bezug zu David, wollte nur informiert werden.

Sie tippte eine kurze Nachricht und drückte auf Senden.

Kapitel 6

Tom blieb nur wenige Minuten bei der Familie des neugeborenen Jungen. Die Eltern waren zu verstört, um ihn richtig wahrzunehmen. Und die Segnung dauerte nicht lange. Das Baby lag in einem Wärmebettchen, war übersät von Kabeln, Pflastern und Binden.

Es war tot. Es war allen klar – wahrscheinlich auch den Eltern. Obwohl das kleine Herzchen kräftig schlug, unterstützt von den Maschinen. Trotzdem hatten Vater und Mutter nicht den Mut, die endgültige Entscheidung zu fällen. Tom konnte sie verstehen – sie klammerten sich an einen Strohhalm. Er hatte keine Ahnung, wie er in einer solchen Situation handeln würde.

Der Tod an den Maschinen war qualvoll. Ein Mensch, egal wie klein, starb friedlicher ohne lebenserhaltende Maschinen. Das hatten ihm die Pflegenden erzählt. Das Baby war nicht das erste, das er fotografierte, das nach der Geburt keine Chance hatte. Er würde auch hier nicht erfahren, wann das Baby gestorben war. Das lief unter Schweigepflicht.

Die Familie sprach kaum Deutsch, und so ließ er den Fragebogen für Unvergessen von einer Pflegerin ausfüllen. Er brauchte die Adresse der Familie, damit er einen Stick mit den Bildern schicken konnte.

Er funktionierte. Emotionslos.

Normalerweise war er bei solchen Einsätzen durchaus von Gefühlen erfüllt. Er litt mit den Betroffenen mit. Aber er nahm die Schicksale nicht mit nach Hause, er ließ sie dort und schaffte Distanz. Die Schicksale waren tragisch – aber es waren nicht seine. Deshalb konnte er gut damit umgehen.