Gefährliche Ernte - Yann Sola - E-Book

Gefährliche Ernte E-Book

Yann Sola

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Beschreibung

Eine Hochzeit, ein Geheimnis und ein Todesfall – Hobbyermittler Perez steckt in Schwierigkeiten An den Berghängen der malerischen Côte Vermeille, am südwestlichsten Zipfel Frankreichs, reifen die Weintrauben unter der glühend heißen Augustsonne heran. Es sind Sommerferien, die schlimmste Zeit des Jahres, wenn es nach Delikatessenschmuggler und Lebemann Perez geht. Die Touristen haben sich in Banyuls-sur-Mer breitgemacht, er hängt mit seinen Lieferungen hinterher und dann will seine heißgeliebte Tochter auch noch einen Mann heiraten, den man gemeinhin nur »die Bohnenstange« nennt. Als ein Toter in den Weinbergen seines Vaters gefunden wird, ist es endgültig vorbei mit der Ruhe. Die Ermittler schnüffeln auf dem Weingut und in Perez' Angelegenheiten herum. Ausgerechnet der sagenumwobene Creus, ein Wein, der das Rückgrat seines bescheidenen Wohlstands bildet, soll etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben. Hobbyermittler Perez sieht sich gezwungen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und muss bald erkennen, dass das beschauliche Küstenörtchen die Kulisse finsterer Machenschaften und familiärer Tragödien ist, die weit in die große Politik hineinreichen.

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Yann Sola

Gefährliche Ernte

Ein Südfrankreich-Krimi

Kurzübersicht

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Inhaltsverzeichnis

Über Yann Sola

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Fünf Wochen später

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

August an der Côte Vermeille. Wo die Pyrenäen steil ins Meer abfielen, als wollte Frankreich noch ein letztes Mal verschwenderisch mit seinen Reizen prahlen, bevor hinter der Grenze, in Spanien, die Ödnis langer Sandstrände vor endlosen Reihen schäbiger Betonskelette die Oberhand gewann. In der Höhe schlängelte sich die Panoramastraße wie eine Natter um die Klippen. Auf ihr Fahrzeug an Fahrzeug, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

Perez saß hinter dem Steuer seines Wagens und fluchte leise vor sich hin. Auf dem Rückweg aus Spanien hatte er einen Weg gewählt, auf dem normalerweise kaum Verkehr herrschte. Doch spätestens auf dem Col de Banyuls hatte er einsehen müssen, dass es zu dieser Jahreszeit keine Schleichwege mehr gab. Auf dem Pass hatten sich Ausflügler mit Picknickkörben um die wenigen Parkmöglichkeiten an der Schutzhütte gestritten, hatten Kinder mitten auf der Straße gespielt und Hunde die eintreffenden Fahrzeuge angekläfft, als stünden sie im Begriff, Hausfriedensbruch zu begehen.

Die Serpentinen vom Pass hinunter ins Tal des Baillaury waren eine Zumutung gewesen. Die Touristen machten aus jeder der ungesicherten Spitzkehren ein Ereignis. Vermutlich wegen des Ausblicks über die Weinberge bis zum in der Ferne flimmernden Mittelmeer. Immer wieder hatte die Wagenkolonne gestoppt, waren Mobiltelefone zum Fotografieren aus den Fenstern gestreckt worden.

Auf den verbleibenden Kilometern am ausgetrockneten Flussbett entlang hinein nach Banyuls-sur-Mer, besonders an den Engstellen, an denen keine zwei Wagen aneinander vorbeipassten, war es nochmals zum Stillstand gekommen. Wüste Beschimpfungen waren ausgetauscht worden. Und das alles bei Temperaturen von über dreißig Grad im Schatten.

Der übergewichtige Perez, der Klimaanlagen nicht mochte, hockte in seinem Kangoo wie in einer finnischen Sauna. In der Regel genügten ihm fünfzehn Minuten, um von der Passhöhe bis zum Conill amb Cargols zu gelangen, seinem kleinen Restaurant in der Avenue du Puig del Mas. An diesem Morgen hatten ihn die Touristen bereits über eine Stunde Lebenszeit gekostet.

 

Endlich in der Avenue du Général de Gaulle angekommen, sah er sich dem größten Problem des Sommerverkehrs ausgeliefert: dem Kreisverkehr auf der Uferstraße unmittelbar vor dem Rathaus, wo vor drei Wochen der neue Bürgermeister sein Amt aufgenommen hatte. Diesen neuralgischen Punkt musste jedes Fahrzeug passieren, egal von wo aus es nach Banyuls hineinfuhr, ob über die Panoramastraße aus Richtung Spanien kommend, aus Perpignan, der Gegenrichtung, oder, wie Perez, aus dem Inland. Die Départementale 914 war für die Côte Vermeille Segen und Fluch gleichermaßen.

Es existierte überhaupt nur eine Möglichkeit, an diesem August-Dilemma nicht zu verzweifeln, man musste über einen buddhistischen Hang zur Kontemplation verfügen. Zu Perez’ hervorstechenden Eigenschaften gehörten fernöstliche Entspannungsformen nicht.

Seine Finger trommelten einen Blues gegen das Blech des Renault. Auf was er sich derzeit am meisten freute? Auf den 31. August, das Ferienende. Das war der Tag, an dem sich der Spuk über Nacht verziehen und endlich Normalität zurückkehren würde – in sein geliebtes, im Allgemeinen ruhiges Banyuls.

Auf den Bürgersteigen fanden zwei Prozessionen statt: Zur Linken pilgerten die Pariser, wie die Touristen von den Einheimischen summarisch genannt wurden, bewaffnet mit Handtüchern, Plastikspielzeug und Kühlboxen zum Strand. Zur Rechten stampften die ersten von ihnen schon wieder zurück in die knallbunten, hellhörigen Ferienhäuschen. Sonnenverbrannt, aber glücklich lächelnd.

Musste man sich das Leben im Norden tatsächlich als derart unerträglich vorstellen, dass man sich zum Ausgleich einmal im Jahr in die aggressiven UV-Strahlen der südlichen Sonne werfen wollte?, fragte sich Perez nicht zum ersten Mal. Sollte Urlaub nicht Belohnung statt Strafe sein? Kein Banyulenc würde sich jemals für so einen Unsinn hergeben, vernünftige Menschen suchten den Schatten der Platanen, wohlhabende verbrachten den Sommer in den Bergen.

 

Als das Telefon in seiner Hosentasche vibrierte, nestelte er das Gerät aus den Shorts.

»Woher hast du meine Nummer?«, fragte er Jean-Martin, le grand échalas – die Bohnenstange, wie er hinter vorgehaltener Hand genannt wurde. Der Lange war der Juniorwirt des Café le Catalan, Perez’ Stammcafé am Place Paul Reig, dem zentralen Platz des Ortes, von dem er in diesem Augenblick nur noch wenige Meter entfernt war. »Und was willst du?«

Er mochte es überhaupt nicht, von jemandem angerufen zu werden, dem er seine Handynummer nicht persönlich gegeben hatte.

»Was heißt, du kannst es mir nur von Angesicht zu Angesicht sagen?«, fragte er dann. »Setzt dir die Hitze zu, mon vieux? Wir müssen ein anderes Mal sprechen, jetzt habe ich keine Zeit.«

Er hörte einen Moment zu.

»Ach ja?«, sagte er dann. »Du meinst, du wüsstest, warum ich keine Zeit habe? Da bin ich aber mal gespannt.«

Während Jean-Martin am anderen Ende der Leitung seine Erklärung abgab, machte Perez ein zunehmend dummes Gesicht.

»Klar«, rief er dann, »du weißt natürlich von der Weinmesse im Hotel Fabre. Und deshalb … Was sagst du? … Vorher noch? Hör mal, ich bin froh, wenn ich überhaupt noch dorthin komme, bevor es Nacht wird. Auf unseren Straßen herrscht Krieg. Was? … Ja, von mir aus bei dir auch. Bloß dass du an diesem Irrsinn verdienst. Ich sag dir was, ich komme später vorbei, einverstanden?«

Hätte er nicht ohnehin gewusst, dass der Dreißigjährige nicht die hellste Kerze am Baum war, hätte er sich ernsthaft Sorgen um dessen Geisteszustand gemacht. Erzählte ihm die Bohnenstange doch tatsächlich gerade, dass er ihn schon gestern Abend hatte anrufen wollen, sich aber nicht getraut habe. Die halbe Nacht sei er um das Telefon geschlichen, habe kein Auge zutun können. Aber jetzt dulde die Sache keinen Aufschub mehr, er müsse ihn sofort sprechen und, wie gesagt, am liebsten noch vor der angesetzten Weinprobe.

»Es geht nicht vorher«, sagte Perez nachdrücklich und beendete das Gespräch, bevor Jean-Martin in Tränen ausbrechen konnte.

 

Das Hotel Fabre stand an der Plage des Elmes. Marielle Fabre war die Besitzerin des ersten Hauses am Platz und die ehemalige Lebensgefährtin von Perez. Marie-Hélène, ihre gemeinsame Tochter, lebte bei der Mutter.

Die Weinmesse und besonders deren Abschluss war eine dieser Gelegenheiten, bei der sich die bessere Gesellschaft des Ortes mit den Proleten mischte – in diesem Fall mit den Winzern der Gemarkung Collioure. So einträchtig wie zum Zeitpunkt, als Perez den Speisesaal betrat, sah man sie selten. Die anwesenden Damen trugen farbenfrohe Röcke zu Rüschenblusen oder zeigten sich in figurbetonten Sommerkostümen. Die meisten Männer steckten in dunklen Hosen und hellen, frisch gestärkten Hemden. Perez gab in dieser Versammlung den Paradiesvogel. Weil er trug, was er stets trug: weite Shorts und ein gestreiftes, kurzärmeliges Hemd, von der langen Autofahrt verschwitzt und zerknittert. Seine Füße steckten in Espadrilles mit niedergetretener Kappe.

Der neue Bürgermeister stand im Zentrum des Interesses. Eine Traube von Menschen hatte sich um ihn geschart, die Leute hingen an seinen Lippen. Das würde sich ändern, wusste Perez. Hatten die Banyulencs erst einmal herausgefunden, was von dem neuen Amtsinhaber zu erwarten und was zu befürchten stand, würde das Interesse schlagartig nachlassen. Perez hatte schon einige Bürgermeister kommen und gehen sehen. Nachdem Paul Gaillard zur letzten Wahl nicht mehr angetreten war – angeblich aus Altersgründen, in Wahrheit wegen eines Gewaltverbrechens, in das sein Sohn verwickelt gewesen war und das Perez aufgeklärt hatte –, war Mathis Navarro vor wenigen Wochen mit deutlicher Mehrheit im zweiten Wahlgang gewählt worden. Navarro war gelernter Koch und führte zusammen mit seiner Frau und fünf Kindern ein Hotel mit angeschlossenem Restaurant. Daneben machte er sich seit einigen Jahren als Winzer einen Namen. Nicht zu Unrecht, wie Perez fand. Zwei Weißweine aus der Gemarkung Collioure sowie jeweils einen Roten und einen Rosé als einfache, aber nicht uninteressante Côtes du Roussillon vertrieb er unter seinem Namen.

Politisch entstammte Navarro demselben Lager wie schon der vorherige Bürgermeister, er gehörte der rechts-konservativen UMP an, der Partei, die mit Chirac und Sarkozy auch die Präsidenten der Republik gestellt hatte, bevor der Sozialist Hollande übernommen hatte.

Der Süden Frankreichs war, wie der Rest des Landes, politisch in zwei Lager geteilt. In die immer schwächer werdenden Sozialisten und die Rechte. Hatte man Glück, wurde es nur einer von der UMP, kam es schlimmer, wurde man vom FN, dem Front National, unter der Knute von Marine Le Pen regiert. Insoweit war Perez mit der Wahl ganz zufrieden gewesen, zumal er seinen Kollegen Navarro, trotz dessen konservativer Gesinnung, für einen im Großen und Ganzen ordentlichen Kerl hielt.

Noch während er überlegte, zu welcher Gruppe der Gäste er sich gesellen sollte, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich um und blickte in das freundlich lächelnde Gesicht von Jean-Claude Boucher.

»Ah, der Polizeichef persönlich«, sagte Perez und gab freundlich Pfötchen.

Wie Mathis Navarro war auch Boucher ein Neuling im Amt. Allerdings unterschied die beiden Männer ein Umstand, der hier unten eine ganze Welt bedeutete. Während der etwas klein geratene Navarro vor dreiundfünfzig Jahren in Banyuls geboren worden war, hatte man den hoch aufgeschossenen Boucher erst vor wenigen Monaten nach Banyuls strafversetzt.

»Wo die besten Weine der Region präsentiert werden, sollte man nicht fehlen«, antwortete Boucher. »Ihr Creus wird doch sicher gewinnen?«

Perez lachte und klopfte dem Polizisten, der seine Ausgehuniform trug, auf die Schulter.

»Bedaure, Monsieur le Commissaire. Heute werden die besten Collioure-Weine prämiert, und mein Creus ist kein Collioure. So was ist streng geregelt. Und außerdem«, jetzt flüsterte er verschwörerisch, »ist es mir ohnehin lieber, wenn nicht über ihn gesprochen wird. Wie Sie wissen, ist die zur Verfügung stehende Menge so gering, dass ich über jeden froh bin, der nichts davon abhaben möchte.«

»Wohl dem, der das sagen kann«, erwiderte Boucher und nickte. Sein Gesichtsausdruck legte allerdings einen anderen Schluss nahe. »Wie viel haben Sie denn in einem guten Jahr?«

»Kommt darauf an«, antwortete Perez bedächtig.

»Verstehe«, brummte Boucher. »Und wenn es kein Collioure ist, was ist es dann?«

»Wie der Name schon sagt«, antwortete Perez.

»Ja, sicher. Creus. Irgendwie katalanisch.«

»Irgendwie schon.«

»Mein Gott, Perez, bei Ihrem Wein sind Sie ja noch verstockter als bei Ihren unautorisierten Ermittlungen.«

Die beiden Männer waren sich gleich bei Bouchers erstem Fall in die Quere gekommen. Nachdem sie sich zu Beginn überhaupt nicht riechen konnten, hatten sie sich im Laufe der Ermittlungen aneinander gewöhnt. In gewisser Weise hatten sie sogar ein wenig zusammengearbeitet. Verstehen konnte man Boucher. Welcher Kommissar sah es schon gerne, wenn sich normale Bürger als selbst ernannte Detektive in Mordfälle einmischten?

»Verstockt? Ich, Monsieur le Commissaire? … Kommen Sie, sehen wir uns mal an, welche Weine die Jury nominiert hat. Schön, dass Sie heute schon früher freihaben, dann können Sie sicher ein Gläschen trinken.«

Während der Kommissar noch darüber nachdachte, was Perez ihm mit diesem Satz sagen wollte, mischte dieser sich bereits unter die Leute. Er gesellte sich zu den Winzern, wo über die Qualität der diesjährigen Trauben gefachsimpelt, über die eingereichten Weine diskutiert und darüber spekuliert wurde, ob die Jury endlich einmal auch neue Winzer berücksichtigt hätte oder, comme d’habitude, die immer gleichen Weingüter auszeichnen würde. In seinem eigenen Restaurant schenkte Perez fast ausschließlich Weine aus, die hier keine Chance hatten. Weine von jungen Leuten mit frischen Ideen und reichlich Mut zum Experiment. Biologische Weine, wenn auch ohne eins der teuer zu erwerbenden Siegel. Weine, die nicht der Mode gehorchten, sondern die Eigenart des Terroirs spiegelten. Er liebte Weine mit Charakter.

Perez wandte sich einem Grüppchen von Lokalpolitikern zu. Er selbst war seit über zwanzig Jahren parteiloses Mitglied des Conseil Municipal, des Gemeinderats von Banyuls. Sie diskutierten über ein paar dringend anstehende Entscheidungen, die wegen der Bürgermeisterwahl auf die lange Bank geschoben worden waren. Dabei wurden voreilig erteilte Baugenehmigungen kritisiert und, wie unter den siebenundzwanzig Mitgliedern des Rates üblich, über die große Politik in Paris geschimpft, die den Kantonen und Gemeinden kaum noch Luft zum Atmen ließ.

Nach einigen Gläsern Wein befand sich Perez endlich in gelöster Stimmung. Zumindest so lange, bis Marielle Fabre mit resolutem Schritt auf ihn zugestiefelt kam.

»Perez«, rief sie schon von Weitem.

Marielle war siebenundfünfzig Jahre alt und hatte noch immer eine sportliche Figur. Die raspelkurz geschnittenen, inzwischen grauen Haare verliehen ihrem Gesicht mit der markant hervorstechenden Nase einen strengen Ausdruck. Der perfekt sitzende schwarze Hosenanzug unterstrich diesen Eindruck noch.

Der Liebe zwischen ihnen war ein jahrelanger Rosenkrieg gefolgt. Und auch heute noch ging Perez ihr, wenn irgend möglich, aus dem Weg.

»Hallo Marielle, wie geht’s?«

»Ich muss dich nachher unbedingt noch sprechen, es duldet keinen Aufschub.«

»Klar«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab. »Was duldet heutzutage schon noch Aufschub?«

Als sie weitereilte, schnappte Perez sich vom nächsten Tablett, das vorbeigetragen wurde, ein volles Glas und trank es in einem Zug aus.

 

Die Prämierung verlief alles andere als überraschend. Allerdings konnte man sich mit dem Ergebnis durchaus anfreunden. Es gab nun mal in der Gemarkung Collioure deutlich mehr guten Wein als andernorts. Nach der feierlichen Preisverleihung, den wie üblich überflüssigen Ansprachen und unbeholfenen Dankesreden der Winzer, wurden die prämierten Weine großzügig ausgeschenkt. Die Versammelten ließen das Schlusswort von Madame Fabre über sich ergehen wie das unvermeidliche Sommergewitter am Ende eines schwülheißen Tages. Schon bald erhoben sich die Stimmen wieder und die Feier geriet zum ausgelassenen Fest.

Leider musste Perez feststellen, dass es zwar reichlich guten Wein, aber kein angemessenes Essen gab. Junge Damen trugen Silbertabletts herum, auf denen winzige kunstvolle Gebilde thronten. Erreichte einen überhaupt einmal eines der Tabletts, ruhte dort höchstens noch ein einsamer Happen, einer, den all die vorherigen Grapscher verschmäht hatten. Aß man das mickrige Irgendwas, rutschte es quasi ohne Zungenberührung in die Speiseröhre. Satt werden konnte man davon nicht. Nicht einmal Geschmack konnte man auf diese Weise aufnehmen. Eine Unsitte, fand Perez.

Marielles Mahnung kam ihm wieder in den Sinn. Er sah sich im Raum um. Alle waren miteinander im Gespräch, um die Weine ging es längst nicht mehr. Diese Veranstaltung konnte auf seine Anwesenheit sehr gut verzichten, und Marielle könnte ihm auch ein anderes Mal sagen, was sie umtrieb.

Langsam schob er sich rückwärts in Richtung Ausgang. Als er den kühlen Stahl einer Tür im Rücken spürte, drehte er sich unauffällig um und entschwand in die Küche.

»Genug von den vornehmen Herrschaften, Perez?«, rief der Koch.

Perez verzog das Gesicht, schüttelte dem Mann die Hand und gelangte mit wenigen Schritten unter dem Gelächter der übrigen Brigade durch die Hintertür auf den angrenzenden Parkplatz – ein rares Stückchen Erde in Banyuls.

Er holte tief Luft und wollte sich eben eine Zigarette anzünden, als er Bouchers Stimme hörte.

»So ein Mist!.« Der Kommissar hielt in schnellem Schritt auf sein Dienstfahrzeug zu; über die Schulter rief er: »So ein schöner Tag, so eine herrliche Verkostung und dann finden die doch tatsächlich einen Toten in den Weinbergen. Ich stehe hier schon eine geschlagene halbe Stunde und versuche, den Einsatz zu koordinieren.«

»Was?«, rief Perez. Er verfiel in leichten Trab und schloss zu dem Beamten auf.

»Mein Job ist auch nicht der schönste. Sie müssen mir unbedingt eine Nachricht schicken, welcher Wein denn nun gewonnen hat. Für mich ist dieser … na, vom Weingut Coume del Mas … wie hieß er noch gleich?«

»Folio«, antwortete Perez eher mechanisch.

»Das ist mein Favorit. Geben Sie mir Bescheid?«

Ehe Perez antworten konnte, war der Kommissar bereits im Wagen und ließ den Motor an.

Ein Toter im Weinberg? Ihn beschlich ein mulmiges Gefühl.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Den Vorsatz zu haben, zum Café le Catalan zu fahren, und diesen tatsächlich in die Tat umzusetzen, waren im August zwei gänzlich verschiedene Dinge. Perez ruckelte im Schneckentempo durch die Gassen links und rechts der Puig del Mas, eine Hand immer auf der Hupe. Es war unmöglich, seine Augen überall dort zu haben, wo kleine Kinder achtlos auf der Straße herumtollten, Touristen mitten auf der Fahrbahn spazierten, oder die kleinen und noch kleineren Hunde der Feriengäste umeinanderkläfften. Vor allem dann nicht, wenn man sich eigentlich auf das Erspähen eines freien Parkplatzes konzentrieren wollte.

Alle verfügbaren Stellplätze waren besetzt, und wie der Staub auf den Fahrzeugen vermuten ließ, manche schon seit Beginn der Hochsaison. Wer nicht unbedingt musste, bewegte seinen Wagen in dieser Jahreszeit nicht. Vielleicht, so überlegte Perez, war es tatsächlich an der Zeit, sich nach sechzig Jahren in diesem Kaff einen Roller anzuschaffen, egal ob man die knatternden Zweiräder nun gefährlich oder nur albern fand.

Mit einem Fluch auf den Lippen lenkte er seinen Wagen kurzerhand vor die Räume der Police Municipale, in denen – ganz gegen alle Usancen – auch der Capitaine der Gendarmerie, Monsieur Boucher, seinen Sitz hatte. Perez streckte den Kopf durch die Tür und wechselte einige Worte mit Jacques Moskowicz, einem der beiden Dorfpolizisten. Bevor Perez ihm die Schlüssel aushändigte, um im Falle eines Falles den Wagen versetzen zu können, erbat Moskowicz einen kleinen Gefallen. Perez blieb nichts anderes übrig, als ihm später etwas Schinken vorbeizubringen. Er nickte widerwillig und durfte sich danach endlich auf den Fußweg die Avenue du Fontaulé hinunter zum Café machen.

»Wenn das mal nicht, alles in allem, fast fünfhundert Meter sind«, brummelte er vor sich hin, während er, der ungeübteste Fußgänger der gesamten Côte Vermeille, hinter einer neunköpfigen Familie herschlich, die Teile ihres Nachwuchses in Kinderversionen von Rennkarts gesteckt hatte, mit denen die Kleinen unter lautem Gejohle alles über den Haufen fuhren, was sich ihnen in den Weg stellte.

Mit seiner Stimmung stand es folglich nicht zum Besten, als Perez eine gefühlte Ewigkeit später im Café eintraf und sich auf eine der Bänke zwängte.

Je weiter die Saison voranschritt, desto weniger Gäste fanden den Weg ins Innere des Catalan. Nur mehr die Alten saßen hier und folgten, als gäbe es den sie umgebenden Irrsinn des Sommers nicht, konsequent trotzig ihren Routinen. Sie schwatzten, tranken Kaffee, lasen Zeitung und spielten Rami, ein katalanisches Kartenspiel, das jedes Kind in Banyuls beherrschte. Natürlich wurden in diesen heiligen Hallen der Gewohnheit nebenher Wettscheine ausgefüllt. Das Café le Catalan war eine von landesweit zehntausend Verkaufsstellen der auf Pferdewetten spezialisierten Pariser PMU und mithin als Kasino klassifiziert, in dem um Geld gespielt werden durfte. Und das taten nahezu alle Einheimischen mit Leidenschaft. Perez war auch hier eine Ausnahme. Wetten langweilten ihn ebenso wie Kartenspiele. Was er hier drinnen suchte, war die Tradition. Er wollte sich nicht verhalten wie Touristen, bei denen es offenbar als Verbrechen angesehen wurde, bei Temperaturen von mehr als zwanzig Grad den Schutz geschlossener Räume aufzusuchen. Einen freien Stuhl im Außenbereich des Catalan zu ergattern, war ähnlich schwer wie die Parkplatzsuche. Drinnen aber waren die Einheimischen noch unter sich.

Es dauerte einen Moment, bis Jean-Martin auf den neuen Gast aufmerksam wurde, lange genug jedenfalls, dass Perez einigermaßen wieder zu Atem kommen konnte und feststellen musste, dass sein Magen knurrte.

»Was ist denn so wichtig, mein Lieber?«, fragte er, nachdem Jean-Martin aufgeregt winkend auf ihn zugeeilt war. Er schien zu befürchten, Perez’ korpulenter Körper könne im nächsten Augenblick vor seinen Augen zu Staub zerfallen.

»Ich bringe dir deine Zeitungen«, antwortete der dürre Mann, dessen ohnehin helle Haut mit voranschreitendem Sommer nur noch blasser zu werden schien.

»Hast du mal auf die Uhr gesehen?«, fragte Perez und tippte auf den Chronometer an seinem linken Handgelenk. »Zeitungen lese ich zum Frühstück. Jetzt ist es bereits nach eins, und ich habe weder ein Croissant gehabt noch Mittagessen. Du weißt, was das heißt?«

»Du bist schlecht gelaunt«, murmelte Jean-Martin.

»Jedenfalls bin ich nicht bester Stimmung. Ich hoffe, was du mir zu sagen hast, ist so wichtig, wie es am Telefon geklungen hat. Also?«

Anstelle einer Antwort lief der Wirt zurück zum Tresen und platzierte zwei Orangina auf das Tablett eines der Kellner. Erst danach kam er zu Perez zurück.

Der blickte fragend zu ihm auf. Jean-Martin tat ihm leid. So aufgeregt hatte er den jungen Mann noch nie zuvor gesehen. Perez machte Anstalten, sich zu erheben. Irgendwie schien es ihm unpassend, zu sitzen, während sein Gegenüber fast kollabierte.

»Hoh. Hoh. Hoh!«, rief Jean-Martin. Er legte Perez die Hände auf die Schultern und drückte ihn mit erstaunlicher Kraft zurück auf die Bank.

»Keine Sorge, ich wollte nicht gehen.« Perez versuchte sich an einem besonders wohlwollenden Gesichtsausdruck. »Du machst mir Angst, Jean-Martin. Was ist denn bloß los mit dir?«

»IchliebedeineTochter!«

Die Worte verließen den Mund des Wirts mit der Wucht eines Sektkorkens, der nach der Entfernung des Drahtgeflechts aus der Flasche schoss. Und der Korken schien direkt gegen Perez’ Schläfe zu schlagen. Getroffen sank er in die Polster.

»Wirwollenheiraten.«

Verflogen der Ärger über die Touristeninvasion, vergessen der Tote im Weinberg, kein Gedanke mehr an Mittagessen. Auch wenn die Worte des Wirts ineinandergeflossen waren wie Kaffee und Milch, so gab es an deren Bedeutung doch keinen Zweifel:

Jean-Martin, dieser hoch aufgeschossene, kalkweiße und nervenschwache Kerl, wollte seine geliebte Marie-Hélène heiraten. Seine einzige leibliche Tochter! Perez spürte, wie ihm flau im Magen wurde.

»Und weiter?«, flüsterte er hilflos.

»Sie will es verhindern!« Nun flüsterte auch der Wirt.

»Sie?«

»Madame Fabre.«

Perez spitzte die Lippen. Marielle Fabre mochte ein Scheusal sein, dumm war sie nicht.

»Ich muss mal zum Klo«, sagte er und schob sich aus der Bank.

 

In dem engen, vom Fußboden bis zur Decke gekachelten Raum spritzte er sich Wasser ins Gesicht. In den Spiegel zu schauen, traute er sich nicht. Mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt stand Perez da und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.

Ausgerechnet Jean-Martin und Marie-Hélène … Und es gab noch nicht einmal die Möglichkeit, die ganze Sache dem Tramontane in die Schuhe zu schieben. Der starke Wind, für den die Côte Vermeille berüchtigt war, hatte sich schon seit Wochen in seinem Versteck in den Bergen verschanzt.

Er dachte an Marie, seine kleine Marie, das Glück seines Lebens. Für seine Tochter würde er alles und immer und zu jeder Zeit tun, wirklich alles. Nur dass dieses alles Jean-Martin ausdrücklich nicht mit einschloss.

»Warum tut die Kleine mir das an?«, murmelte Perez. »Warum spricht sie nicht mit mir, bevor sie einen solchen Unsinn macht?«

Jean-Martin und Marie mussten sich seit Kindertagen kennen, sie waren nahezu gleich alt. In Banyuls kannte ohnehin jeder jeden. Trotzdem konnte Perez sich nicht erinnern, dass Marie die Bohnenstange je erwähnt hätte.

Wusste Marielle schon länger von dieser Affäre? Perez beugte sich vorsorglich über das Loch im Boden, ihm wurde schlecht. »Merde!«, stieß er aus. »Merde, merde, merde.«

Langsam richtete er sich wieder auf. Nein, befand er, wenn Marielle schon länger davon gewusst hätte, hätte sie ihn eher kontaktiert. Er würde mit ihr zusammenarbeiten müssen. Besondere Umstände verlangten nach besonderen Maßnahmen. Er würde jeden Verbündeten nehmen, den er kriegen konnte, um diese Katastrophe zu verhindern, selbst seine Ex-Geliebte.

Perez füllte seine Lungen mit Luft, bevor er sich durch die Pendeltür zurück ins Café schob.

 

Am Tresen herrschte Chaos. Einer der Kellner hatte den Platz des Wirts eingenommen und stand angesichts der Flut von Bestellungen gewaltig unter Druck. Immer wieder rief er Jean-Martins Namen. Auf der Place Paul Reig standen sicher an die hundert Stühle, und auf jedem wartete ein ungeduldiger Gast auf seine Bestellung.

Für Jean-Martin aber hatte die übrige Welt aufgehört zu existieren, er starrte Perez angsterfüllt an.

Perez kratzte sich den beachtlichen Bauch – eine Marotte, wenn er nachdachte. Angesichts dieses Ritters der traurigen Gestalt sackte seine Entschlossenheit zum Widerstand so rasch in sich zusammen wie ein Luftballon nach der Begegnung mit einer Nadel. Er packte den Dürren am Arm, zog ihn vorbei an dem protestierenden Kellner quer durchs Café, hinaus auf die Rue Saint Pierre, und von dort in die etwas stillere Gasse, die zur Rue Dugommier führte. Dort dirigierte er ihn in einen stillen Hinterhof. Jean-Martin hob die Hände vors Gesicht.

»Mon dieu«, sagte Perez. Er trat zwei Schritte zurück. »Glaubst du tatsächlich, ich würde dir etwas antun? Nimm die Hände runter. Vor mir musst du doch keine Angst haben.« Der Wirt war am Ende, sein ohnehin schwaches Nervenkostüm stand kurz vor dem Zerreißen. »Beruhige dich erst einmal, Jean-Martin. Na komm, ist ja alles halb so wild.«

»Sie will es verhindern, diese Hexe!«, brüllte der Dürre plötzlich so laut, dass Perez sich gezwungen sah, ihm schnell die Hand auf den Mund zu legen.

»Willst du das ganze Dorf zusammenschreien? … Nun beruhige dich doch, mon dieu! So wird das nichts.«

»Du musst mir helfen, Perez«, sagte er. »Du bist der Einzige, der uns helfen kann.«

Uns, wiederholte Perez in Gedanken. Sofort verspürte er sie wieder, die aufsteigende Übelkeit.

»Nicht, solange du dich anstellst wie ein Dreizehnjähriger nach seinem ersten Rendezvous. Du reißt dich jetzt zusammen, ist das klar?«

»Du hilfst uns also? Danke! Das vergesse ich dir nie.«

Die Bohnenstange strahlte. Gleichzeitig liefen ihm Tränen über die Wangen. Und er machte Anstalten, Perez zu umarmen. Der wich erneut zurück.

»Schon gut, schon gut. Ich kann dir nichts versprechen«, rief er eilig, und fragte sich, warum ihm der Dürre bloß so leidtat. »Ich verspreche dir gar nichts, aber … hörst du mir zu? … Ich möchte, dass du jetzt wieder ins Catalan zurückgehst und deine Arbeit machst. Und ich verlange, dass du niemandem etwas von dieser Angelegenheit erzählst. Haben wir uns verstanden?«

»Perez, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll …«

 

Bevor Perez zurück zum Hotel fuhr, rief er Haziem an. Der aus dem Maghreb stammende Hüne war Perez’ bester Freund. Außerdem führte er die Geschäfte im Conill amb Cargols. Er war Koch und Majordomus des Restaurants in einer Person. Der Maghrebiner entschied, wer einen Platz bekam und wer abgewiesen wurde. Er allein zeichnete für die Karte verantwortlich, bestimmte die Öffnungszeiten und Regeln. Zudem verstand er sich auf Finanzen, eine weitere Eigenschaft, die Perez nicht besaß. Perez war lediglich der Besitzer des Conill. Und der beste Gast des kleinen Souterrain-Lokals.

Das Conill war Perez’ reine Weste, unter der er seine schwarzen Geschäftchen bestens verstecken konnte. Dass sein Warenhandel nicht ganz legal vonstattenging, wurde allgemein vermutet, es offen auszusprechen, traute sich hingegen niemand. Außerdem hatte der Warenschmuggel in Banyuls-sur-Mer Tradition. Ging doch die Ortsgründung auf ein Nest von Contrebandiers, von Schmugglern, zurück.

»Ich habe keinen Appetit, mon vieux«, sagte Perez, nachdem Haziem sich gemeldet hatte. »Ist viel los heute?«

»Was glaubst du denn? Du musst mir Schinken bringen, ich brauche Butter, Käse und einen Kanister Öl.«

Perez unterhielt ein geheimes Zwischenlager, seinen Tresor, in einem alten Bunker hinter der Uferstraße.

»Geht nicht«, entgegnete er knapp.

»Bau keinen Scheiß, Perez!«, sagte Haziem nach kurzem Schweigen.

Ihm konnte man nichts vormachen, er merkte schnell, wenn etwas nicht stimmte. Dass Perez keine Zeit oder auch einfach keine Lust hatte, für Warennachschub zu sorgen, war nichts Ungewöhnliches und bot wenig Anlass zur Sorge. Wenn er allerdings zur Mittagszeit behauptete, keinen Hunger zu haben, dann war etwas Gravierendes geschehen. Perez war nicht die Sorte Mann, dem Probleme auf den Magen schlugen. Ganz im Gegenteil, je größer der Stress, desto hungriger wurde er normalerweise.

»Mach ich nicht, keine Sorge. Wenn du Hilfe brauchst, ruf doch bei Steph an. Die Kleine hilft dir sicher gerne, sie hat schließlich Ferien.« Die sechzehnjährige Stéphanie war die Tochter von Marianne Finken, Perez’ partieller Lebensgefährtin, und so was wie Perez’ zweite Tochter.

»Bau keinen Scheiß«, sagte Haziem erneut und legte auf.

 

»Du glaubst nicht, was gerade passiert ist …« Nach mehrfachem Klingeln hatte Marianne seinen Anruf endlich angenommen.

»Perez! Kannst du mir mal sagen, wo du steckst? Ich habe dich schon zigmal angerufen und dir auf die Mailbox gesprochen.«

»Echt? Ist ja komisch. Vielleicht ist mein Telefon noch auf stumm geschaltet. Entschuldige bitte. Was wolltest du denn?«

»Dir sagen, dass ich jetzt auf dem Weg nach Perpignan bin. Ich habe den Zug genommen.«

Perez erinnerte sich wieder an sein Versprechen. »Oje! Ich wollte dir den Kangoo leihen.«

»Ja.«

»Die Demonstration … ich hab’s total vergessen. Tut mir echt leid.«

»Klar. Dir war eine Weinprobe ja auch wichtiger, als gegen die Neofaschisten zu demonstrieren.« Sie hatten darüber bereits ausführlich gestritten. Die Wahrheit war, Perez war durchaus und auch entschieden gegen den Front National. Er fand es auch gut und richtig, gegen Marine Le Pen und ihren hiesigen Statthalter Mateu Oriol zu demonstrieren. Aber er war kein Mann für die Straße. Eine Demonstration, das war was für junge Leute. Zu Fuß über die Straße gehen und schreien – so sah er sich einfach nicht.

»Das stimmt doch in der Verkürzung nicht«, sagte er. »Ich find’s gut, dass ihr gegen Mateu demonstriert.«

Oriol war früher Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Nach seiner Entlassung als Hafenarbeiter hatten Marianne und Perez jahrelang nichts mehr von ihm gehört. Bis sein Gesicht bei den letzten Élections Cantonales, den Gemeinderatswahlen, plötzlich auf den Wahlkampfplakaten des Front National zu sehen gewesen war.

»Dann wäre es schön, dich an meiner Seite zu haben«, sagte Marianne.

»Nun hör doch mal auf, ich wollte dir was ganz anderes erzählen. Wusstest du, dass Marie-Hélène heiraten will?«

»Was? Deine Marie?« Sie schien nachzudenken. »Wer ist der Glückliche?«

»Das ist das Problem«, entgegnete er. »Es ist Jean-Martin, le grand échalas.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Solange es andauerte, fühlte sich Perez auf einer Linie mit Marianne. Doch dann folgte ein gedehntes: »Jaaaaaaa.« So als hätte sie die Dinge hin und her bewogen und für darstellbar befunden.

»Was?«, fragte Perez.

»Kann ich mir gut vorstellen.«

»Wie bitte?«

»Die beiden zusammen. Sie könnten gut zueinanderpassen.«

Perez widerstand dem Reflex, sein Mobiltelefon aus dem Fenster zu schmeißen. Mit zusammengepressten Lippen saß er hinter dem Steuer und fragte sich, was eigentlich mit der Welt los war.

»Perez, Marie ist achtundzwanzig. Es wird Zeit, sich mit dem Gedanken abzufinden. Also ich freue mich für sie. Weiß Stéphanie es schon?«

Perez blickte weiterhin starr geradeaus. Ihm fehlten die Worte. Er hörte noch, wie Marianne zweimal seinen Namen rief, bevor er die Verbindung unterbrach.

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Kapitel 3

Perez betrat das Hotel auf demselben Weg, auf dem er es kurz zuvor verlassen hatte. Jetzt, um kurz nach drei, war die Küche ebenso leer wie der Speisesaal. Man aß früh zu Mittag in Banyuls. Die Köche genossen die wenigen Stunden Freizeit, die ihnen zwischen dem mittäglichen und dem abendlichen Service blieben, am Strand vor der Haustür.

Sich nach allen Seiten umsehend – keinesfalls wollte er Marielle erneut in die Arme laufen, nicht bevor er mit seiner Tochter gesprochen hatte –, bewegte Perez sich auf den Aufzug zu und fuhr mit diesem hinauf in die oberste Etage des dreistöckigen Gebäudes.

Mit einem Originalschlüssel, den er längst nicht mehr hätte besitzen dürfen, gelangte er in den privaten Bereich der Familie Fabre. Er vergewisserte sich, dass niemand in der Diele war, bevor er vorsichtig an die Tür zu seiner Linken klopfte. Als er ein leises »Oui« hörte, schob er die Tür gerade so weit auf, dass er hineinschlüpfen konnte.

Drinnen fand er Marie-Hélène auf ihrem Bett hockend, die Knie bis zur Kinnspitze an den Körper gezogen. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen, was unnötig war. Marie-Hélène wusste nur zu genau, wie es um die Beziehung zwischen ihren Eltern bestellt war. Trotzdem nickte sie und versuchte zu lächeln.

Perez betrachte seine Tochter einen Augenblick. Dass die Farbe ihrer Iris ein dunkles Braun war, war inmitten der vom Weinen geröteten Augen kaum noch zu erkennen. Wie stets reichte allein ihre Anwesenheit, um ihn sanft zu stimmen. Selbst in dieser schwierigen Situation spürte er, wie seine innere Anspannung etwas nachließ. Sie traurig zu sehen, brach ihm das Herz. Er setzte sich neben sie aufs Bett und nahm sie in den Arm.

»Komm her, ma belle. Was ist denn so Schlimmes geschehen?«

»Das weißt du genau«, antwortete sie, »und sprich nicht in diesem Ton mit mir, ich bin keine vierzehn mehr.«

»Entschuldige. Aber du weißt doch, dass ich es nicht ertrage, dich traurig zu sehen. Und nun hör auf zu weinen, schließlich bist du keine vierzehn mehr.«

Sie lächelte und schlug ihm gegen den Arm. Eine ganze Weile saßen Vater und Tochter still nebeneinander auf dem Bett. Manchmal schluchzte Marie-Hélène, dann versuchte sich Perez an tröstenden Worten. Schließlich stand sie auf, griff sich eine Box mit Kleenex-Tüchern und putzte sich die Nase, bevor sie zurück zum Bett kam und sich an Perez’ Schulter lehnte.

»Maman kann so eine Hexe sein«, sagte sie. Dann erzählte sie ihm von Jean-Martin, von ihrer ersten Annäherung und dem Erwachen ernster Gefühle. Lachend berichtete sie ihrem Vater, wie schwer es ihrem Erwählten gefallen sei, ihr seine Liebe zu gestehen, auch weil er ein wenig umständlich sei, wie sie selbst ja eben auch, fügte sie hinzu. Aber immerhin sei es ihnen gelungen, ihre Beziehung so lange geheim zu halten, bis sie sich ihrer Sache wirklich sicher gewesen seien. Was, wie Perez sich wohl vorstellen könne, kein leichtes Unterfangen in Banyuls gewesen sei. »Und dann habe ich Maman vorgestern in unsere Pläne eingeweiht«, schloss sie ihre Erzählung.

»Und?«

»Zuerst ist sie, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer gerannt. Als sie wiederkam, hatte sie diesen Gesichtsausdruck, du weißt schon, als hätte ich etwas Schreckliches verbrochen.« Perez nickte und rieb sich Wange und Kinn. »Sie hat mich spüren lassen, welch große Enttäuschung es für sie wäre, wenn ich Jean-Martin heirate.« Marie-Hélène machte eine Pause und starrte einen Moment ins Nichts. »Das fühlt sich so schlimm an«, sagte sie dann.

»Ihr habt doch sicher später noch vernünftig miteinander geredet.«

»Aber nicht so, wie eine Mutter mit ihrer achtundzwanzigjährigen Tochter sprechen sollte. Und ich konnte mich nicht wehren.«

Was hätte er Marie entgegnen sollen? Dass es ihm damals nicht anders ergangen war?

»Und jetzt«, fuhr Marie-Hélène fort, »will sie, dass du es mir verbietest.« Sie sah ihn prüfend an. »Das tust du aber nicht, oder?«

»Wie du schon sagst, du bist erwachsen.« Er hörte sich selbst ausatmen. »Weder sie noch ich können dir etwas verbieten.«

»Könnt ihr auch nicht!«, sagte sie und rückte von ihm ab.

Beide wussten sie, dass das nur die halbe Wahrheit war. Man musste schon sehr stark sein, wollte man sich als Banyulenc oder Banyulencque gegen die eigene Familie stellen. Natürlich brauchte man als Erwachsener deren Einwilligung nicht mehr, aus gesellschaftlicher Sicht war es allerdings deutlich besser, die Familie hinter sich zu wissen. Stärker als in anderen Regionen galt im Süden immer noch der Grundsatz, dass die Familie das höchste Gut, aber auch der höchste Richter war. Perez erinnerte sich nur allzu gut daran, wie Marielle nach ihrer Trennung versucht hatte, Marie emotional an sich zu binden, er hatte lange genug darunter gelitten.

»Marie«, sagte er mit einer Stimme, die seiner Tochter vormachen sollte, er wisse genau, was in einer solch emotionalen Zwickmühle zu tun sei. Er stand auf und setzte sich auf einen Stuhl vor dem altmodischen Schminktisch, der in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers stand. »Jetzt noch mal ganz geordnet. Seit wann geht ihr zusammen aus?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Antworte mir bitte.«

»Seit April.«

»Seit wann … also … wie lange glaubst du schon, dass du ihn liebst?«

»Was geht dich das an?«

»Rede, Tochter, oder hilf dir selbst.«

»Schon viel länger«, sagte sie. Ihr Gesicht verriet, was sie von seiner Art der Befragung hielt.

Perez zog ein Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich unnötig lange die Nase.

»Na gut. Aber er, wann hat er dir seine Liebe gestanden?« Marie-Hélène schob die Lippen vor und sah ihn abwartend an. »Kann ich mir im Übrigen, trotz deiner Geschichte von vorhin, so was von gar nicht vorstellen.«

»Warum denken immer alle, JeMa sei blöde?«

Weil er es ist, formulierte Perez in Gedanken. »JeMa?«, fragte er stattdessen.

»Das ist doch süß. Und passt zu ihm.«

Perez hatte eine Wasserflasche, die auf dem Schminktisch gestanden hatte, zum Mund geführt. Jetzt setzte er sie vorsichtig wieder ab. Ob des Gehörten war er sich nicht sicher, dass er den Schluckreflex noch beherrschte.

»Weißt du eigentlich, dass manche ihn le grand échalas nennen?«, fragte Perez scheinheilig. »Und dabei zielt die Bezeichnung als Bohnenstange durchaus nicht allein auf seinen Körperbau ab. Also ich nenne ihn natürlich nicht so, aber man hört es hier und da.«

»JeMa kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Er arbeitet hart für sein Geld und ist der netteste Mensch, den ich kenne. Ich liebe ihn, findet euch damit ab, und hör auf mit den Beleidigungen, Papa.«

»Fleißig ist er, da kann man nichts sagen«, antwortete Perez. Zur Bekräftigung nickte er dreimal mit dem Kopf. »Ihr geht seit April miteinander, seine Liebe hat er dir erst später gestanden, sagen wir also mal im Mai …«

»Am 21. Was spielt das für eine Rolle?«

»Bien«, sagte Perez. »Im Mai also. Meinst du nicht, ihr solltet euch noch ein wenig besser kennenlernen? Ich meine, eine Hochzeit nach nur zwei Monaten ist vielleicht etwas überstürzt. Ich habe ja nichts dagegen, versteh mich bitte nicht falsch, ich möchte das nur zu bedenken geben. Schließlich hast du mich um meine Meinung gefragt.«

»Hab ich nicht.«

»Du willst Hilfe von mir.«

»Richtig. Das ist aber etwas anderes.«

»Marie, ihr seid noch jung. Warum fahrt ihr nicht mal ein Wochenende zusammen in die Ferien? In den Norden. Nach Toulouse. Das ist gut zu erreichen, man versteht die Menschen, sie verstehen euch … Hey, ich spendiere euch eine Nacht im Hotel … zwei Einzelzimmer. Und ich kenne ein wunderbares kleines Restaurant, wo sie sich perfekt um euch kümmern werden. Auf so einer Fahrt lernt man sich besser kennen. Wie wäre das?«

»Papa!«

»Was?«

»Ich bin keine vierzehn mehr, erinnerst du dich? Wir kennen uns bestens. Außerdem sind wir nicht mehr im 19. Jahrhundert.«

»Wenn ich dir geschichtlich nachhelfen darf, eine solche Kennenlernphase ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, früher wurden die Menschen einfach miteinander verheiratet, ohne sich je begegnet zu sein.«

»Ja, toll! Wie bei Molière.«

»Bei Molière?«

»Wird doch im Tartuffe beschrieben. Hast du das nicht in der Schule gelesen?« Perez schüttelte den Kopf. »Was ist jetzt, sprichst du mit Maman?«

»Klar«, sagte er und seufzte. Wieder nahm er das Taschentuch. Doch dieses Mal benutzte er es, um die Schweißperlen auf seiner Stirn abzutupfen. »Diese verdammte Hitze! Ja, ich spreche mit ihr. Sie hat von sich aus schon das Gespräch gesucht, vorhin, nach der Weinprobe. Na ja, gesucht …«

»Bist du auf meiner Seite?«

»Du kannst aber hartnäckig sein. Von wem hast du das bloß? … Was machst du, wenn sie bei ihrer Haltung bleibt?«

»Wir heiraten«, sagte sie mit fester Stimme, »sie kann nichts dagegen tun.«

»Ich bin immer auf deiner Seite, ma belle«, sagte er. »Du bist eine erwachsene Frau und du kannst machen, was du willst. Aber ich will ehrlich zu dir sein: Jean-Martin und du, an den Gedanken kann ich mich noch nicht recht gewöhnen.«

»Was ist denn falsch an ihm?«

»Ihn nimmt niemand ernst. Und ich wünsche mir einen Mann für dich, der sich durchsetzen kann.«

»Aaaah, verstehe, so einen richtigen Südfranzosen!«, rief sie. Jetzt wirkte sie weniger traurig als zornig. »Einen Mec, der immer auf dicke Hose macht, was für ein dämliches Klischee!«

»Aber nicht doch«, sagte Perez. »Wenn aber einer daherkäme, der ein bisschen … mehr hermachen würde, fände ich das nicht schlimm. Und immerhin ist Jean-Martin den Beweis noch schuldig, dass er das Catalan selbstständig führen kann«, fügte er rasch an. »Wenn sein Alter den Löffel abgibt, was bei dessen Lebenswandel schon bald der Fall sein kann, muss er das Café auch wirtschaftlich führen, und dabei hilft einem Fleiß allein nicht. Da braucht es Köpfchen.«

»Das musst ausgerechnet du sagen. Was wäre denn, wenn du Haziem nicht hättest.«

»Marie-Hélène«, rief Perez empört, »das ist wirklich etwas völlig anderes.«

»Na schön, Papa. Schluss jetzt mit dem Herumgerede, hilfst du mir gegen Maman oder nicht?«

Perez drückte sich vom Stuhl hoch. »Ich suche erst mal nach deiner Mutter, das wird kein leichtes Gespräch werden, ma belle.« In der geöffneten Tür hielt er noch mal inne. »Sag mal, du musst doch nicht etwa heiraten? Denn wenn …«

Er wich dem Kissen aus, das zusammen mit einem lauten »Hau ab!« geflogen kam, und beeilte sich, die Tür von außen ins Schloss zu ziehen, bevor die Wurfgeschosse von härterer Konsistenz wurden.

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Kapitel 4

Perez trat Marielle im Speisesaal des Restaurants gegenüber. Sofort war alles wie immer.

Ihre Wut und vielleicht auch ihre Enttäuschung über das, was er ihr damals angetan hatte, entlud sich auch dreißig Jahre später noch regelmäßig in Form von Vorwürfen jeglicher Art. Oberflächlich ging es dieses Mal lediglich darum, die Weinprobe verlassen zu haben, ohne ihrem Gesprächswunsch nachgekommen zu sein. Darunter aber schwang das ständige Streitthema mit, dass er ihr keinen Creus verkaufe, obwohl er genau wisse, dass es dem Ruf ihres Feinschmeckerlokals schade, wenn sie ihren Gästen diesen Mythos der Côte Vermeille nicht servieren könne. Und dann gab es immer noch die vielen Kinkerlitzchen, die sie je nach Gemütslage auspackte. Wie hatte er sich überhaupt unterstehen können, wie der letzte Penner zur Weinprobe zu erscheinen?

Perez blickte durch die große Scheibe und sah der Sonne beim Scheinen zu. Er schwieg zu allem, gab allenfalls ausweichende Antworten und träumte sich während ihrer Tiraden an einen anderen Ort.

»Marielle, können wir bitte zur Sache kommen«, sagte er, als sie eine kurze Pause einlegte. »Ich weiß, worüber du mit mir sprechen willst, aber ich weiß noch nicht, was genau du von mir willst.« Er setzte sich rittlings auf einen der Restaurantstühle und klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.

»Du weißt es natürlich schon.« Weniger eine Frage als eine Feststellung. »Und natürlich gedenkst du nichts dagegen zu unternehmen … Du und Marie, ihr seid euch natürlich mal wieder einig. Einig gegen mich«, fügte sie an.

»Marielle …«

»Willst du das etwa bestreiten?«, fragte sie mit einer Kälte in der Stimme, die jede Klimaanlage überflüssig machte.

Er zuckte mit den Schultern.

»Jetzt rede schon!«

»Wenn du mich zu Wort kommen lassen würdest, könnte ich es dir erklären.«

Marielle setzte sich auf den Stuhl gegenüber und schaute ihn herausfordernd an.

»Auf dem Weg zur Weinprobe bekam ich einen Anruf von Jean-Martin …«, begann er und fuhr fort, ihr den Ablauf der Ereignisse zu schildern.

»Diesen Schwachkopf mir vorzuziehen, ist eine Frechheit«, fuhr Marielle ihn an, unmittelbar nachdem er geendet hatte. »Aber die noch viel größere Dreistigkeit ist es, dich zuerst mit Marie zu treffen, anstatt dir meine Sicht der Dinge anzuhören und mit mir gemeinsam eine Strategie zu erarbeiten.«

»Unsere Tochter ist kein Geschäftsmodell, Marielle. Wir brauchen keine Strategie.«

Marielle zuckte zusammen. Perez hatte unsere Tochter gesagt, im vollen Bewusstsein, dass der familiäre Plural seine Ex auf die Palme brachte. Für Marielle war Marie ganz allein ihre Tochter, Perez nur mehr Teil eines biologischen Vorgangs aus grauer Vorzeit.

»Findest du Jean-Martin etwa gut genug?«, stieß sie hervor.

»Ich bin auch nicht begeistert. Allerdings sind unsere Beweggründe nicht dieselben.« Perez stand vom Stuhl auf, er lief ein paar Schritte durch den Raum. Schob die Zigarette zurück in das Päckchen. »Marianne findet, dass die beiden sehr gut zueinanderpassen«, sagte er.

»Wie schön«, entfuhr es Marielle. Der sarkastische Unterton war unüberhörbar. »Offenbar weiß der ganze Ort bereits davon. Ich sag dir was, Perez: Was deine Deutsche davon hält, interessiert mich wirklich nicht.«

»Sie ist meine beste Freundin. Ihre Meinung ist mir wichtig. Sie hat eine feine Nase für das Zwischenmenschliche. Gemeinhin höre ich auf sie, eigentlich verlasse ich mich sogar auf sie.«

Natürlich war es feige, sich hinter Marianne zu verstecken. Als strategische Entscheidung vorerst aber nicht so schlecht, fand Perez. Immerhin gewann er dadurch Zeit.

»Was versuchst du mir zu sagen? Dass die Deutsche …«