Tödlicher Tramontane - Yann Sola - E-Book
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Tödlicher Tramontane E-Book

Yann Sola

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Beschreibung

Gestatten: Perez – Lebemann, Kleinganove, Hobbyermittler Alles in dem kleinen französischen Städtchen Banyuls-sur-Mer, nur wenige Kilometer vor der spanischen Grenze, könnte so entspannt sein, wenn nicht dieser verdammte Tramontane, der von den Pyrenäen herabfallende Wind, die Menschen verrückt machte. Perez, Kleinganove und Hobbydetektiv, würde gern in aller Ruhe sein Restaurant und seinen florierenden Schwarzhandel mit spanischen Delikatessen betreiben. Doch dann tritt der neue Polizeichef aus dem Norden seinen Dienst in Banyuls an, und in Strandnähe explodiert eine stattliche Yacht. Von der Besatzung keine Spur. Und als auch noch Perez' Freundin Marianne spurlos verschwindet, die zuvor mit ungewöhnlichen Mitteln gegen die geplante Erweiterung des Hafens demonstriert hat, ahnt Perez, dass es an der Côte Vermeille nicht mit rechten Dingen zugeht. Gemeinsam mit Mariannes Tochter und seinem Koch Haziem begibt er sich an die Ermittlungen und erfährt allerhand über mächtige Konzerne und korrupte Strippenzieher. Als er dann auch noch selbst des Mordes verdächtigt wird, hat Perez endgültig genug …

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Seitenzahl: 422

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Yann Sola

Tödlicher Tramontane

Ein Südfrankreich-Krimi

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Yann Sola

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Impressum

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Einige Monate später

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Das Schnellboot, das in der klaren Nacht über die windgepeitschte See flog, als könne es der Schwerkraft trotzen, drosselte seine beiden Außenborder, sobald das Leuchtfeuer von La Redoute du Fanal in Sicht kam. Gleichzeitig erloschen alle Positionslichter an Bord. Unterhalb des Leuchtturms glitt es nur mehr im Schritttempo dahin. Dicht an der Kaimauer, den Schatten dort ankernder Schiffe ausnutzend, nahm das Boot Kurs auf die voll belegte Marina.

Der Skipper saß gebeugt hinter der Steuerkonsole der nachtschwarzen Black Fin vom Typ Elegance 10. Sein Körper steckte in einem Neoprenanzug. Eine weitere Person kletterte neben ihm aus der Kabine. Selbst die Bekleidung konnte nicht verbergen, dass es sich bei dieser um eine Frau handelte. Beide trugen schwarze Kappen, die lediglich Augen, Mund und Nase freiließen.

Im Bug der Black Fin stand eine schwarze Alukiste, groß wie ein Überseekoffer, mit Spanngurten gegen Erschütterung festgezurrt. Im Heck lagerte eine Batterie Zehn-Liter-Tauchflaschen.

In der Mitte des Hafens verbreiterte sich das Becken hin zum Denkmal vor der Mairie. Die beiden Elektromotoren brachten vielleicht nicht die größte Reichweite, aber für eine Situation wie diese hatte sie der Mann am Steuer ausgewählt. Mit hoher Geschwindigkeit schoss die Black Fin elegant und nahezu geräuschlos über die von allen Seiten einsehbare Wasserfläche, bis sie mit der Außenwand eines Containerschiffs unter der Flagge Panamas fast verschmolz und ihre Fahrt wieder drosselte.

Das Ziel lag nun direkt vor ihnen. Eine außergewöhnlich schöne, außergewöhnlich stattliche, außergewöhnlich teure Yacht. Eine Sunseeker. Annabelle, der Name des Schiffs, zierte das Heck. Der Skipper steuerte die Black Fin backbords gegen die Yacht und vertäute sie an einem der herabhängenden Fender.

Die Ruhe, mit der der Mann sich anschließend zum Tauchgang bereit machte, verriet den Profi. Unterdessen entnahm die Frau der Alubox sechs Pakete in der Form von Zigarrenkisten und schaffte sie hinüber zu dem Mann im Heck, der zum Tauchen vollständig ausgerüstet auf einer der Luftkammern des Bootes saß, bereit, sich rückwärts ins dunkle Wasser des Hafenbeckens gleiten zu lassen. Das Pfeifen des Windes in den Masten der gut vertäuten Boote übertönte jedes andere Geräusch. Für irgendetwas muss der Tramontane ja gut sein, dachte der Mann, bevor er unter die Yacht tauchte, wo er die Sprengladung mit sicherer Hand anbrachte.

 

Nur fünfzehn Minuten später sah man ein schwarzes Boot mit zwei Schatten an Bord der offenen See entgegenfliegen. Man hätte aber auch denken können, Wind, Wellen und dahinstiebende Wolkenfetzen vor dem Ball des Mondes hätten eine Sinnestäuschung hervorgerufen, denn schaute man erneut, sah man dort nur noch die beiden Leuchttürme und die dahinterliegende schwarze Fläche des Mittelmeers.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Ein gewaltiger Krach riss Perez aus dem Schlaf. Der Wind hatte einen der morschen Schlagläden aus der Verankerung gerissen und gegen die Hauswand knallen lassen. Die Scharniere quietschten, Sonnenlicht flutete den kleinen Raum.

»Nein«, flüsterte der korpulente Mann in seine Nackenrolle und warf sich empört auf die andere Seite. Alle Versuche, in den unterbrochenen Traum zurückzufinden, scheiterten. Das Unabänderliche akzeptierend, erhob er sich wenig später und watschelte auf seinen kurzen Beinen hinüber zum Fenster. Er schob die Gardinen beiseite und half seinem massigen Bauch auf die Fensterbrüstung. Nachdem er den Störenfried mithilfe des grünen Reiters wieder festgestellt hatte, drückte er auch den zweiten Schlagladen beiseite und streckte den Kopf aus dem Fenster. Sofort versuchte der Wind seine Haare in Richtung Meer davonzutragen.

»Verfluchter Tramontane«, brummelte er. Der von den Bergen herabfallende Wind war typisch für die Côte Vermeille, diesen Küstenabschnitt zwischen Collioure und Cerbère, wo die Ausläufer der Pyrenäen steil ins Meer abfielen.

Banyuls-sur-Mer lag ziemlich genau in der Mitte dieses letzten Stücks Frankreich. Doch war das tatsächlich noch Frankreich? Ginge es nach den Einheimischen, würde das gesamte Département Pyrénées-Orientales gar nicht zur Grande Nation gehören. Spanien war es für sie allerdings auch noch nicht. Wenngleich die Grenze keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt lag. Man befand sich ganz einfach im französischen Teil Kataloniens, in Catalunya del Nord.

Und Perez, Sohn eines spanischen Vaters und einer französischen Mutter, war einhundert Prozent Catalán.

An den Wind aber würde er sich in hundert Jahren nicht gewöhnen, ob er nun Tramontane oder Tramuntana hieß. Einen Tag lang konnte man das verdammte Zerren an allem und jedem gut ertragen, nach zwei Tagen wurde der Wind zum unvermeidlichen Gesprächsstoff unter den Einheimischen, ab Tag Nummer sieben jedoch wurde bloß noch darüber geflucht. Dauerte der Sturm länger als eine Woche, wurden die Menschen verrückt.

»Noch immer dieser verdammte Tram, Perez. Hundertachtzig Stundenkilometer am Cap Béar, ist das nicht zum Verrücktwerden? Meine Schwiegermutter verlässt das Haus nicht mehr.«

Der Postbote auf seinem gelben Roller sah zu Perez hinauf und schickte dem Gesagten eine Geste der Verzweiflung hinterher.

»Bring sie doch um die Ecke«, entgegnete Perez und kratzte sich den nackten Bauch. Wie ernst er es mit dieser Aufforderung meinte, war seinem Gesichtsausdruck nicht zu entnehmen. Der Postbote schien den Vorschlag ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Schließlich war Perez nicht irgendwer in Banyuls-sur-Mer. Für einen Moment versank er in den Anblick seiner staubigen Turnschuhe, bevor er sich wieder auf den Roller schwang, um die drei Meter zum Briefkasten von Madame Argenteuil, Perez’ scheintoter Nachbarin, knatternd zurückzulegen.

Perez versuchte vergeblich, am Stand der Sonne die Zeit abzulesen. Er deutete dem nächsten Passanten durch ein Tippen auf sein linkes Handgelenk an, dieser möge ihm die Uhrzeit nennen.

»Kurz vor elf, Monsieur.«

Ein Fremder. Niemand hier verwendete eine solche Anrede.

Kaum war ihm die Dimension der Antwort so richtig bewusst geworden, meldete sich auch schon sein Magen mit einem lang gezogenen Knurren. Zeit, einen neuen Tag zu beginnen.

Perez zwängte sich unter die Dusche, die für andere Menschen als ihn konzipiert worden war, für Menschen, denen der Body-Mass-Index mehr bedeutete als fette Weinbergschnecken oder saftige Pasteten, und versuchte, sich in der engen Kabine, so gut es ging, abzuseifen. Danach klaubte er die Kleidung vom Vortag vom Canapé, zog Shorts und Hemd über, schlüpfte in seine Slipper und verließ das Haus.

Vor der Tür lief er seiner Tochter in die Arme.

»Salut Perez«, rief diese fröhlich und vervollständigte ihr hübsches Gesicht mit einem Lächeln. Sie hatte in etwa Perez’ Körpergröße, was ihnen bei den Begrüßungsküssen auf die Wangen entgegenkam. Auch sonst hatten sie viel Ähnlichkeit miteinander, behaupteten die Leute. Die Farbe der Augen etwa oder die Form der Nase. »Du bist spät dran«, sagte sie und schüttelte dabei ihren Pagenkopf wie einst Mireille Mathieu. Allerdings war ihr Haar weizenblond und nicht schwarz wie das der Demoiselle d’Avignon.

Perez schien zu überlegen, bevor er durch ein Zucken der Schultern andeutete, dass er dazu keine Meinung hatte.

»Salut Marie«, sagte er. »Was machst du hier?«

»Mich von dir verabschieden.« Sie bemerkte seinen ratlosen Augenaufschlag und lachte laut. »Papa, du hast es schon wieder vergessen. Maman und ich verreisen in zwei Stunden.«

»Aber was denn …«

»Nach Grenoble, wie jedes Jahr.«

»Ski fahren«, jetzt fiel es Perez wieder ein.

»Jaaa, Papa«, sagte sie gedehnt, »ich weiß, du kannst es nicht verstehen, dass man freiwillig in den Schnee fährt.«

Perez stellte fest, und dies nicht zum ersten Mal, dass sich allein beim Gedanken an Minusgrade seine Haut zusammenzog.

»Stimmt«, sagte er tapfer den Kälteschauer ignorierend. »Wie lange bleibt ihr?«

»Vierzehn Tage, wie jedes Jahr, seit ich drei bin.«

Er umarmte seine Tochter, als würde sie nicht vierzehn Tage, sondern dieselbe Anzahl an Jahren fortbleiben, und beeilte sich, das Zeremoniell hinter sich zu bringen. Abschiede waren nichts für seine Nerven. Tapfer wünschte er seiner geliebten Marie-Hélène einen traumhaften Urlaub und hörte sich doch tatsächlich ein flüchtiges »Ski heil« murmeln.

»Danke, Papa, hab du auch ein paar schöne Tage.«

»Hm«, brummelte Perez, während die junge Frau bereits in einer Seitenstraße verschwand. Er sammelte sich für einen Moment, steckte sich eine Zigarette an und ging schließlich die abschüssige Rue Édouard Branly hinab zur Rue Saint-Pierre.

Trotz kleinerer und größerer Bausünden in den Randzonen war Banyuls doch ein wunderbarer Flecken Erde, stellte er wie jeden Tag erfreut fest. Besonders wenn die Sonne noch nicht zu hoch stand und alles in dieses magische Licht tauchte, für das die Côte Vermeille berühmt war. Zitrusduft überstrahlte das Potpourri der üppig blühenden Vegetation. Lavendel, Jasmin und die großen Schneeballhecken.

Aus der Poissonnerie rief man ihm ein »Guten Morgen, Perez« hinterher, während eine Frau, die ihr Gemüse in der Fußgängerzone verkaufte, ihm im Vorbeigehen einen Zettel mit einer Bestellung zusteckte. Der Besitzer des Schreibwarenladens lief unter dem Gelächter der übrigen Ladenbesitzer einem seiner Postkartenständer hinterher, den der Tram vor sich hertrieb.

Bevor Perez das Café erreichte, warf er einen Blick hinüber zum Strand. Auf den Bänken rund um die Skulptur der Sardana-Tänzer hockte eine kleine Gruppe Obdachloser und stieß aus Drei-Liter-Flaschen auf einen weiteren Tag unter südlicher Sonne an. Viele von ihnen stammten aus Deutschland, von wo sie sich, verlässlich wie die Zugvögel, jedes Jahr in den Süden durchschlugen, um dem frostkalten Winter ihrer Heimat zu entgehen. Die Einheimischen versuchten sie mit allen Mitteln zu vertreiben, was nicht gelang, weil die Stadt ein Einsehen hatte und den Fremden eine Unterkunft für die Nacht gewährte. Perez hatte sich sehr dafür eingesetzt.

 

»Salut Perez!«

Perez nickte dem Wirt grußlos zu, bevor er sich einen vor Wind, Sonne und Mitbürgern geschützten Platz im Inneren der Bar suchte. Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee und Reinigungsmittel. Über dem geschwungenen Tresen flimmerten zwei Plasmabildschirme. Ein Fußballspiel links, ein Pferderennen rechts. Selten gab es anderes als Sport, höchstens noch Musikvideos oder Nachrichtensendungen – immer ohne Ton, so wollte es die Gewohnheit in dieser Zufluchtsstätte der Einheimischen vor den Touristen. Kurz vor den Toiletten, am Ende des quadratischen Raums, konnte man in aller Ruhe seine Wettscheine ausfüllen und einlösen. Am Tisch gegenüber spielten alte Männer Rami, um Geld selbstverständlich, sonst hätte es den wett- und spielsüchtigen Banyulencs keinen Spaß gemacht.

Der Wirt brachte Perez eine große Tasse Café au lait. Dazu legte er einen Stapel Tageszeitungen, von denen sich Perez allerdings nur für die französische Libération, die katalanische La Vanguardia und den L’Indépendant, das kleine Regionalblatt aus Perpignan, interessierte. Außerdem stellte Jean-Martin, der Juniorchef des Café le Catalan, noch einen Korb mit frischen Croissants vor Perez auf den Tisch. Es waren nicht die besten Hörnchen, die an der Côte zu bekommen waren, selbst der Kaffee war bestenfalls Mittelmaß. Aber das Catalan war die nächstgelegene Bar zu Perez’ Wohnung. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, am frühen Morgen mehr Schritte zu tun als unbedingt notwendig – so schlecht waren die Croissants nun auch wieder nicht.

Perez’ Laune stieg mit jedem Bissen. Nach zwei Hörnchen, dem Milchkaffee und den wichtigsten Nachrichten des Tages richtete er sich auf, strich sich genussvoll über den Bauch und ließ einen Seufzer des Wohlbehagens erklingen. Er warf einen Blick aus dem Fenster. Der Wind prügelte Platanen und Palmen gleichermaßen, aber die Sonne schien ihm direkt aufs Gesicht. Was machen bloß all die armen Menschen, die anderswo leben, an solch einem herrlichen Morgen, fragte er sich nicht zum ersten Mal in seinem nun schon neunundfünfzig Jahre andauernden Leben.

Bereit für den Tag, zog er sein Notizbuch aus der Brusttasche und sah nach, was unaufschiebbar war und was noch etwas Zeit hatte. Eine Reihe von Namen, hinter den meisten von ihnen der Buchstabe »C«, was für Creus stand, den Wein, der die Basis seines überschaubaren Wohlstandes bildete. Die anderen erlesenen Spezialitäten, Schnecken, Schinken, Würste, Spirituosen, rundeten das Sortiment lediglich ab. Der Creus aber war unter den Weinen, was der echte spanische Safran unter den Gewürzen darstellte: der Gipfel allen Genusses. Und das Knapperwerden des weißen Goldes trug nur umso mehr zu seinem Mythos bei.

Perez’ Mobiltelefon meldete sich mit der Melodie eines Sardana-Klassikers, die an einen schwermütigen Tango erinnerte. Eigentlich ignorierte er die Störung gern, vor allem, wenn er frühstückte, zu Mittag oder zu Abend aß. Aber an einem solch schönen Morgen und bei so blendender Laune konnte man schon mal eine Ausnahme machen.

»Ja bitte?«, seufzte er.

Er lauschte und zählte, noch bevor das Telefonat beendet war, Geld auf den Tisch, quetschte sich aus der Bank und verließ die Bar schnellen Schrittes.

Draußen lief er Bertrand Valoteau über den Weg. Ein Karrierist, der erst vor einiger Zeit die Leitung der Sparkasse übernommen hatte und sich seither bemühte, ein gewichtiger Player im dörflichen Spiel um Einfluss und Macht zu werden. Noch bevor der Sparkassendirektor seine Beschwerde über die sich ständig verzögernde Lieferung vorbringen konnte, winkte Perez bereits ab.

»Nicht jetzt, Bertrand.«

»Was ist denn los?«, fragte Valoteau und setzte sein dümmstes Gesicht auf.

Perez ließ ihn stehen, es war keine Zeit zu verlieren, nicht wenn es um Marianne ging. Stéphanie, deren Tochter, war am anderen Ende der Leitung gewesen und hatte ihn gebeten, sofort zu kommen.

 

»Nun sieh sich einer das an«, stieß Perez hervor, vom schnellen Gang etwas außer Atem. Er blickte die unzähligen Stufen der Rue Napoléon hinauf. Auf Höhe der Rue Frédéric Mistral überspannten bunte Fähnchen die Straße. Darunter ein Menschenauflauf. »Was hat sie sich denn jetzt wieder ausgedacht?«, sprach er halblaut vor sich hin und setzte ein belustigtes Grinsen auf. »Dieses verrückte Weib.«

Unter Schnaufen erklomm er die kunstvoll gemauerten Stufen und blieb einen Absatz unterhalb des Aufruhrs stehen. Nachdem er festgestellt hatte, dass man von dieser Stelle aus keinen guten Blick auf das Geschehen hatte, lief er die Rue C. Pelletan bis zur nächsten Ecke hinunter und folgte von dort der Rue Richelieu durch eine Rechtskurve, bis er oberhalb des Geschehens wieder auf die Napoléon stieß.

Keuchend ließ er sich auf ein Mäuerchen sinken. Was von Meeresniveau aus noch wie eine Kette aus bunten Girlanden angemutet hatte, war bei klarem Blick auf die Szenerie eine Aneinanderreihung von Büstenhaltern aller Farben und Formen.

»Überlegst du, welche von denen du schon mal geöffnet hast?«, fragte eine Stimme in seinem Rücken. Christopher Ryan, Engländer und Nachbar von Marianne, lachte scheppernd. »Wenn man nur wüsste, was sie damit bezweckt.«

»Ich habe keinen blassen Schimmer«, japste Perez. »Aber sieht es nicht wunderbar aus? Ein kleines Kunstwerk.«

Ryan deutete auf die Reihe der Schaulustigen. »Selbst die Polizisten haben ihren Spaß. Ganz im Gegensatz zu den anwesenden Damen. Denen scheint die BH-Show weitaus weniger zu gefallen.«

»Ach was. Der Einzige, der etwas betreten dreinschaut, ist unser Neuer.« Perez deutete mit der Kinnspitze auf den Elsässer, der sich noch im Hintergrund hielt. Sicher hatte er bei seinem ersten Einsatz auf etwas Eindeutigeres gehofft als das hier.

Im Eingang ihres Hauses stand, erhobenen Hauptes, Marianne Finken, wie einst ihre französische Namenscousine auf Eugène Delacroixs Gemälde Die Freiheit führt das Volk. »Die Deutsche«, wie sie immer noch abfällig gerufen wurde, obwohl sie seit über zwanzig Jahren in Banyuls-sur-Mer lebte.

Als habe er nur auf Perez’ Auftauchen gewartet, schob in diesem Moment Kommissar Boucher die Schaulustigen beiseite, um sich vor Marianne aufzubauen. Deren Gesicht strahlte vor Angriffslust.

Was für eine Frau!, dachte Perez. Sie kannten sich nun schon so lange. Bereits vor der Geburt von Mariannes Tochter hatten sie zum ersten Mal eine Nacht miteinander verbracht. Gelegentlicher Sex war geblieben, viel wichtiger war aber, dass sie mit den Jahren zu wirklich guten Freunden geworden waren, zu Vertrauten.

Was Boucher in diesem Augenblick zu Marianne sagte, konnte Perez nicht hören; dass das Gespräch zunehmend heftiger wurde, bemerkte man allerdings, auch ohne ein Wort zu verstehen. Es endete abrupt. Marianne trat einen Schritt zurück und schlug dem Neuen die Haustür vor der Nase zu. Sein daraufhin durch die Luft sausender, die Linie der Büstenhalter nachzeichnender Zeigefinger ließ keinen Zweifel, wie seine Anweisung lautete: Weg mit dieser Provokation!

Unter lautem Gemurre der Banyulencs und »Bravo«-Rufen der Banyulencques stieg ein Beamter gemächlich auf eine Leiter und durchtrennte die Schnur auf seiner Seite der Straße. Darauf rutschten die feinen Dessous von der nun senkrecht herabhängenden Leine und bildeten einen Textilhaufen zu Füßen eines anderen Beamten, der ob dieser delikaten Beweisstücke prahlerisch in die versammelte Menge strahlte. Allerdings nur, bis sich zwei Stockwerke über ihm das Fenster öffnete.

»Bringt mir bitte einer von euch meine BHs wieder rauf oder benötigt der Herr Kommissar sie noch für seine Recherchen?«, rief Marianne zornig.

Der Polizist klaubte die Wäschestücke vom Boden, bevor er unter dröhnendem Gelächter die Türklinke mit dem Ellbogen niederdrückte und im Hauseingang verschwand.

Von alldem bekam Boucher schon nichts mehr mit. Von seinem Logenplatz aus sah Perez nur noch dessen flatternde Uniformjacke, als er sich schneller als all die anderen dem Ende der Rue St. Pierre näherte.

 

Die Menschenmenge zerstreute sich rasch in alle Himmelsrichtungen. Einzig ein junges Mädchen und der groß gewachsene Engländer blieben vor dem Haus von Marianne Finken zurück.

»Stéphanie«, rief Perez und winkte ihr zu. Leichtfüßig nahm sie die Stufen hinauf zu ihm.

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und legte ihren Kopf an seine Schulter. Perez schnippte die Zigarette weg und nahm das Mädchen in den Arm. Neben Marie-Hélène war Stéphanie Finken seine zweite Tochter, auch wenn er nicht ihr leiblicher Vater war. Er unterschied nicht zwischen Blutsbanden und erwählten Töchtern.

»Na, na. Warum denn die Tränen?«

»Perez, warum macht sie das immer?« Sie schluchzte, dann trocknete sie sich mit den Handballen die Tränen.

»Nun beruhige dich erst einmal wieder.«

»Das ist so eklig, ich hasse sie.«

»Aber nein, du hasst sie nicht.« Er hielt ihr ein Taschentuch hin. »Das wird schon wieder. Weißt du, was diese Aktion bedeuten sollte?«

»Sie hat es ja laut und deutlich herausgeschrien und mit ihrem Transparent gewedelt!« Perez blickte sie fragend an. »Die Polizisten haben es konfisziert«, erklärte sie.

»Und was stand darauf?«

»KEINE HAFENERWEITERUNG IN BANYULS.« Sie schielte zu ihm hoch. »Du machst ein dummes Gesicht. Haha. Voll lustig.« Jetzt lachte sie.

»Hab ich hier irgendwas verpasst?«, fragte er und drehte sich zu dem Engländer um.»Hast du eine Ahnung, worüber Stéphanie spricht?«

»Ich bin kein Banyulenc«, antwortete Ryan und zuckte etwas zu theatralisch mit den Achseln.

»Da ist irgend so ein Kerl, der den Hafen vergrößern will, damit mehr Boote oder größere Boote nach Banyuls kommen können«, sagte Stéphanie. »Davon musst du doch wissen, Perez. … Maman will jedenfalls etwas dagegen unternehmen. Weil dann alles noch teurer wird, sagt sie, und außerdem müsste dafür ein Teil der Réserve Naturelle geopfert werden. Das eben war bloß der Anfang.«

Perez kratzte sich den Bauch. »Eine Hafenerweiterung?«, fragte er konsterniert. »Wenn so etwas zur Debatte stünde, dann hätten wir im Stadtrat darüber diskutiert. … Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Bist du sicher, dass du das alles richtig verstanden hast?« Sie sah ihn böse an. »Oh, Pardon, ich meine natürlich, ob du dich nicht vielleicht verhört hast?«

Stéphanie zog die Mundwinkel nach unten, als wolle sie sagen: Schon möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.

»Na gut.« Er klatschte in die Hände. »Ich werde mal mit ihr sprechen. Aber jetzt ist kein guter Moment dafür, wir kennen ja deine Mutter, geben wir ihr Zeit, sich zu beruhigen.«

Wie zur Bestätigung brüllte Marianne in diesem Augenblick nach ihrer Tochter. Das Mädchen zuckte zusammen. »Ich hau ab, wenn das so weitergeht. Sie macht mich verrückt.«

»Quatsch. Sie hat sicher wieder ihre Migräne. Aber versprich mir, wenn du jemals weglaufen solltest, dann kommst du zuallererst zu mir.«

Perez blieb noch eine Weile sitzen und dachte über das nach, was er soeben gehörte hatte. Schließlich drückte auch er sich hoch und stieg gemächlich die Treppen wieder hinunter. Unter ihm lag das strahlend helle Dorf. Die Mittagssonne verwandelte das tiefblaue Wasser in ein Meer aus Kristall. Ein ganz normaler Tag in Banyuls-sur-Mer, allerdings einer unter dem Einfluss des Tramontane.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Um zu Bett zu gehen, war es noch ein wenig früh. Nicht nur deshalb entschied sich Perez, Marianne einen Besuch abzustatten. Vielleicht gelang es ihm, in Ruhe einen Wein mit ihr zu trinken und dabei herauszufinden, was der ganze Aufruhr eigentlich sollte.

Am Nachmittag hatte er einige unaufschiebbare Kommissionen zugestellt und nebenbei versucht, etwas über diesen ominösen Hafenausbau herauszufinden. Schließlich konnte man über Marianne und ihre Freunde denken, was man wollte, bisher hatte noch immer ein Funken Wahrheit in ihren Enthüllungen gesteckt. So hatten sie lange, bevor es öffentlich wurde, herausgefunden, dass eine nicht unwesentliche Parzelle in Mas Reig, oberhalb von Banyuls, als Bauland ausgewiesen werden sollte, obwohl dafür alter Baumbestand geopfert werden musste. Sie hatten vor dem Rathaus demonstriert, nachdem ruchbar geworden war, dass der völlig unsinnige Kreisverkehr am Ortseingang von Banyuls ausschließlich deshalb gebaut werden sollte, um der einzigen Großkellerei des Ortes eine gut erreichbare Zufahrt zu gewährleisten.

Nein, Marianne war alles andere als eine Verschwörungstheoretikerin. Perez war sicher, dass an dieser Hafengeschichte etwas dran sein musste. Was ihn ärgerte und seinen ansonsten eher unterentwickelten Ehrgeiz anstachelte, war, dass er rein gar nichts in dieser Sache hatte herausfinden können.

Marianne öffnete, als hätte sie seine Ankunft bereits erwartet.

»Da bist du ja endlich.« Sie strich sich die Locken aus dem Gesicht und schlug Perez zur Begrüßung mit dem Handrücken gegen den Bauch.

»Ja«, sagte Perez und trat über die Schwelle.

»Kommst du mit hoch auf die Terrasse?«, rief sie ihm wenig später aus der Küche zu.

»Bei dem Sturm?«

»Na wenn schon!«

Der Tramontane war das eine, was gegen einen Abend auf der Dachterrasse sprach, das andere waren die steilen Stiegen, die einer Hühnerleiter glichen.

»Ich geh erst noch mal zur Toilette.«

Er hörte ihr Lachen in seinem Rücken. Sie wusste, warum er das tat. Pinkeln zu müssen war ein viel zu geringer Anlass, um sich der Tortur des Ab- und Wiederaufstiegs auszusetzen, deshalb erledigte er gern alles, was eventuell zu erledigen war, bevor er sich daranmachte, den Tour de la Marianne, wie er ihn insgeheim nannte, zu besteigen.

Mit geröteten Wangen zwängte er sich wenig später durch die nicht einmal mannshohe Luke zur Terrasse. Sofort zerrte der Wind an seiner Kleidung und verwuschelte sein Haar. Dennoch verstand man, warum es Marianne bei Wind und Wetter hier heraufzog. Die Aussicht über die weit geschwungene Bucht und das friedlich daliegende nächtliche Dorf war grandios. Als Zugabe erhielt man den Duft der Kirschblüten, gemischt mit dem Jodgeruch des Meeres.

Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann ließ er sich neben Marianne, die windgeschützt vor dem Giebel des angrenzenden Hauses hockte, zu Boden plumpsen und lachte erleichtert auf.

»Ich hoffe, es gibt ausreichend kühlen Wein.«

»Warm wird er hier oben nicht«, entgegnete sie.

In der nächsten halben Stunde plauderten sie über alles und nichts und umschifften dabei das eigentliche Thema wie ein Skipper die Untiefen vor dem Cabo de Creus. Sie taten so, als wäre dies ein Tag wie jeder andere gewesen.

Das hatte Tradition. Perez tat sich schwer, Probleme direkt anzusprechen. Wusste aber andererseits, dass Marianne es ihm nicht durchgehen ließ, zu kneifen. Er wartete auf den richtigen Augenblick. Marianne blieb vorerst gelassen. Sie kannte ihren Perez.

»Gibst du mir noch etwas Wein?«, fragte er nach einer weiteren Zigarette.

»Du hast fast schon die ganze Flasche leer getrunken.«

»Seit wann kontrollierst du meinen Alkoholkonsum?«

»Tu ich ja gar nicht«, sie gab ihm einen Kuss. »Den gleichen noch mal?«

»Wenn du vielleicht einen Roten hättest? … Oder einen Punsch?«

»Du frierst doch nicht etwa?«

»So eine Frage kann nur eine Deutsche stellen. Wirklich, Marianne. Wir hocken mitten im Winter bei eisigem Tramontane auf dem Dach… Fehlt bloß noch, dass es anfängt zu schneien. Wie sollte ich da nicht frieren?«

»Es ist Mitte April, Perez. Kurz vor Ostern.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hole dir einen Rectorie, was hältst du davon?«

Perez grunzte zufrieden. »Einen Orientale, wenn du hast, der täte mir jetzt gut. Und von der anderen Seite wärmst du mich, ma belle.«

»Wollen wir vielleicht mal über heute Nachmittag reden? Ich brauche nämlich deine Hilfe, du sturer Hund.«

»Bitte nicht!« Perez schüttelte den Kopf. »Lass uns über Wein sprechen oder über gutes Essen, über den Tram oder irgendwas anderes. Du warst schon lange nicht mehr im Conill.«

Das Conill amb Cargols gehörte Perez, seit er es vor etwa zehn Jahren einem Marokkaner abgekauft hatte, der das Land in aller Eile verlassen musste. Das kleine Restaurant mit seinen nur fünfzehn Plätzen bildete die ideale Ergänzung zu Perez’ Delikatessenimport, außerdem ersetzte es ihm die eigene Küche, weshalb er die in seinem Appartement sofort nach Einzug in eine Abstellkammer umgewandelt hatte. Perez wohnte mehr oder weniger in dem Lokal, dort aß er, wärmte sich auf und besprach sich mit Haziem, seinem Koch und Freund. Nur zum Schlafen ging er nach Hause.

»Woher willst du das wissen?«

»Haziem hat nach dir gefragt, er macht sich Sorgen. Deine Kleine ist häufiger da als du …«, sagte Perez und richtete sich auf. »Apropos: Über Stéphanie müssen wir reden, das ist viel wichtiger.«

»Wusste ich’s doch!« Marianne stand jetzt direkt über ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. »Denkst du, ich hätte euch beide nicht gesehen, wie ihr heute Mittag da unten vor dem Haus zusammengehockt und getuschelt habt? Hat sie sich wieder bei dir ausgeheult? Über ihre blöde Mutter?«

»Rabenmutter.«

»Ich?« Marianne beugte sich zu ihm herab und packte ihn am Hemdkragen. »Ich?«, wiederholte sie noch lauter. »Ich soll eine Rabenmutter sein?« Sie zerrte ihn an den Rand der Terrasse und zeigte nacheinander auf die Gebäude in ihrer Nähe. »Wenn ich eine Rabenmutter bin, dann findest du dort hinter jedem Fenster eine weitere, viel schlimmere Rabenmutter als mich. Ich tue alles, was ich kann, für Stéphanie. Sie soll sich nicht immer so anstellen, als lebte sie in einem Waisenhaus mit lauter bösen Aufsehern und schlimmen Geschichten.«

Mit diesen Worten entließ sie Perez aus ihrem Griff und stürmte beherzt die Stiegen hinunter.

Mit einer Flasche Orientale in der Hand trat sie kurze Zeit später wieder hervor. Schnell aufgebracht, ja, das war Marianne, aber niemals nachtragend, nicht Perez gegenüber.

»Merci«, sagte Perez kleinlaut, nachdem sie ihm eingeschenkt hatte, »setz dich zu mir und hör mir zu. Und keine Ausbrüche mehr, versprich es.«

»Bist du verrückt geworden? Wer bist du, mein Vater?«

»Pssst. Ist ja schon gut. … Was war das für eine Aktion vorhin? Was bezweckst du damit? Ich höre einfach nur zu, einverstanden?« Er versuchte sich an einem zuckersüßen Lächeln.

»Es interessiert dich doch überhaupt nicht.«

»Wäre ich dann so schnell gekommen, heute Morgen?«

»Es war schon Mittag.«

»Hätte ich sonst alles stehen und liegen lassen, wenn du mich nicht interessieren würdest?«

»Wir müssen etwas gegen diesen Hafenausbau tun. Darum geht es. Wir sind fest entschlossen, uns das nicht gefallen zu lassen.«

Perez hielt die Augen einen Tick zu lange geschlossen, der Wein war vorzüglich.

»Was ist?«, fragte Marianne scharf.

»Wer ist ›wir‹?«, beeilte er sich zu fragen, weil ihm gerade keine bessere Antwort einfiel.

»Frag doch nicht so blöde. Claire, Guillaume und ich. Du kennst meine Freunde.«

»Die beiden von der Tauchbasis?« Perez schüttelte sich. Gab es Unglaublicheres, als seinen Kopf freiwillig unter Wasser zu stecken?

»Ich weiß, du magst das Meer nicht …«

»Boff«, sagte er und zog die Mundwinkel nach unten, als wolle er sagen: Das kann man so nun auch wieder nicht sagen. Und doch war es so.

»Die kleine Blonde ist süß«, sagte Perez.

»Und er erst«, entgegnete Marianne. Sie pfiff durch die Zähne. »Wäre ich ein paar Jahre jünger …«

»Da liegt das Problem deiner Tochter …« Perez biss sich auf die Zunge. Er hatte doch nicht wieder davon anfangen wollen. Nicht wieder anmerken wollen, dass die freizügig gelebte Sexualität der Mutter der heranwachsenden Tochter ziemliche Probleme bereitete. Dass er es nun doch wieder getan hatte, lag am Alkohol. Unsinn, es lag an diesem verdammten Tramontane, er blies einfach schon zu lange.

Marianne schwieg, was kein gutes Zeichen war. Perez suchte nach seinem Handy und beleuchtete mit dem Display Mariannes Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen. Er nahm sie in den Arm. »Tut mir leid, Marianne, sei nicht böse.«

»Ich bin dir nicht böse. Manchmal weiß ich nur einfach nicht mehr weiter. Es ist mir alles zu viel. Früher …«, sie brach ab.

»War alles einfacher, wolltest du sagen? Kann sein, obwohl ich meine Zweifel daran habe. Jedenfalls hat Stéphanie es sehr schwer neben einer so starken Frau wie dir.«

»Quatsch«, sie drückte Perez von sich weg. »Du tust gerade so, als wären wir Konkurrentinnen und nicht Mutter und Tochter.«

»Komm, Marianne, dafür bist du zu intelligent. In diesem Alter seid ihr natürlich auch Konkurrentinnen. Aber jetzt sag mir endlich, was du mit den ganzen BHs vorhattest. Und wieso überhaupt BHs?«

»Ist doch völlig egal. Hauptsache, ich konnte mit irgendetwas Aufmerksamkeit erregen. Und wenn sich in diesem verklemmten Kaff eine Frau zu ihrer Sexualität bekennt, dann ist dir Aufmerksamkeit aber so was von sicher. Außerdem … außerdem sahen die BHs doch aus wie die Wimpel an einem Schiffsmast. Und Schiffsmasten wirst du bald mehr zu sehen bekommen, als dir lieb sein kann … wenn’s nach denen geht, jedenfalls!«

»Sag Aufregung statt Aufmerksamkeit, das trifft es besser. Alle haben darüber geredet, wirklich alle. Du hättest Gaillard hören sollen.« Paul Gaillard, der Bürgermeister des Ortes.

»Kann ich mir denken, dass der sich empört, zumindest öffentlich.«

»Alors«, sagte Perez, »wer will nun diesen Hafen ausbauen und weshalb? Und das Wichtigste: Wieso weiß ich nichts davon?«

»Das schwörst du, oder Perez?«

»Natürlich!«, rief er ehrlich aufgebracht. »Wie kommt ihr überhaupt darauf?«

»Claire! Sie hat zwei Gäste aus meinem Hotel auf einem Törn begleitet. Die Typen wollten ein paar Tauchgänge machen und suchten dafür einen erfahrenen Guide, also haben sie sich an Claire und Guillaume gewandt.«

Marianne arbeitete für einen reichen Schweden, der in Banyuls ein Privathotel mit wenigen exklusiven Zimmern betrieb. Sie nannte es stets mein Hotel, weil sich der Schwede dort so gut wie nie blicken ließ. So selten jedenfalls, dass Perez ihn für ein Phantom hielt. Die meiste Zeit des Jahres stand das Haus zudem leer. Bei den wenigen Gästen handelte es sich zumeist ebenfalls um Schweden, betuchte Menschen, die gern im eigenen Jet anreisten und sich in Girona von einem Chauffeur am Flughafen abholen ließen. Das Haus lag völlig unauffällig am Ende einer Sackgasse mitten im Ort.

»Und was ist dann passiert?«

»Sie haben den ganzen Tag auf dem Meer verbracht. Mittags haben sie sich von einer Barkasse an Land bringen lassen und dort in einem Strandrestaurant drei Stunden lang getafelt, während Claire sich an Bord mit ihrem Baguette begnügen musste. Egal. Jedenfalls war Claire nach dem letzten Tauchgang gerade dabei, die Geräte und Anzüge vom Salzwasser zu reinigen, während die beiden sich bei weiteren Drinks unterhielten. Und dabei hat sie es aufgeschnappt.«

»Claire spricht Schwedisch?«

Marianne schüttelte den Kopf. »Englisch. Die beiden haben sich auf Englisch unterhalten.«

»Ich dachte, es waren Schweden?«

»Habe ich nicht gesagt. Sie haben Englisch gesprochen, und Claire hat aufgeschnappt, dass sie sich mit einem »Maître« einig wären und die Hafenerweiterung beschlossene Sache sei. Die Unterschriften unter dem Verkaufsdokument wären nur noch Formsache. Hörst du, was ich sage? Formsache. Das bedeutet doch wohl, dass es fünf vor zwölf ist.«

»Mmmh.«

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«

»Ich denke nach.«

»Was gibt es da nachzudenken?«

»Eine ganze Menge. Wir brauchen einen Plan …«

»Ha! Dann bist du also dabei?«

»Was für ein Maître war das wohl, von dem die Typen gesprochen haben?«

»Wir haben nur einen, der bei allen vorangegangenen Schweinereien immer seine manikürten Finger im Spiel hatte.«

»Maréchal«, sagte Perez und holte tief Luft.

»Mais oui! Dein guter Freund Maître Paul Maréchal.«

»Aber nein.«

»O doch!«

»Er ist kein Freund, also wirklich, Marianne, du verdrehst die Tatsachen so lange, bis sie dir in den Kram passen.«

»Wie viele von deinen Feinschmeckereien gehen denn an diesen noblen Herrn?«

»Na ja, also Paul ist … ein Feinschmecker, das ist richtig.«

»Und wenn er nun dieser Maître ist? Dein feiner Freund Paul? Was sagst du dann?«

»Zunächst einmal ist das nicht sicher. Es gibt noch weitere Notare in Banyuls.«

»Aber ja! Für den Fall, dass du einen Gemüsegarten verkaufen willst, vielleicht. Für große Transaktionen gibt es nur Maréchal und basta.«

»Es gibt gute Notare in Argelès, in Collioure, in Perpignan. Natürlich … einer aus Perpignan wird es gewesen sein. Wenn überhaupt etwas dran ist an dieser Geschichte.«

»Was gedenkst du zu tun?«

»Ich höre mich mal um. Der Général muss etwas wissen. Und vielleicht sogar Valoteau.« Er dachte an die morgendliche Begegnung. »Wenn es stimmt, muss einer dafür die Kohle bereitstellen.«

»Noch so ein paar feine Herren, unser sabbernder Bürgermeister und dieser aalglatte Sparkassenheini, bravo.«

»Also willst du nun, dass ich etwas unternehme oder nicht?«

»Du fragst Gaillard?«

»Ja, Marianne, ich frage Gaillard. Gleich morgen früh.«

»Habt ihr eine Sitzung?«

»Wenn es nur das wäre.«

»Also?«

»Gaillard hat mich dazu verdonnert, mit ihm den neuen Chef der Gendarmerie zu begrüßen, als Abgesandter der Bürgerschaft sozusagen. Er will, dass ich diesem Straßburger Crétin eine ganze Kiste von meinem Creus überreiche, als Willkommensgeschenk. Hat man so was schon mal gehört? Gleich einen ganzen Karton! Gaillard weiß genau, was er da von mir verlangt.«

»Er wird wohl wissen, warum er dich darum bitten kann.«

»Aber was soll denn das, Marianne? Ich mache meine Geschäfte, bon! Aber tue ich damit jemandem weh?«

»Das hatten wir schon.«

»Ja, das hatten wir schon. Aber der schöne Creus …«

»Du und dein Creus!« Sie schüttelte den Kopf. »Sieh es mal andersherum: Immerhin lernst du so den Neuen persönlich kennen. Obwohl … kennen müsstest du ihn doch eigentlich schon. Warst du nicht am vergangenen Sonntag bei seiner Inthronisation?«

»Hm.«

»Du warst nicht da.« Sie strahlte ihn an.

»Nein.«

»Bravo!«

»Nun ja, siehst du mal. Gibt es dafür vielleicht eine kleine Belohnung?«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3

Sie trafen sich vor dem Gebäude der Police Municipale. Sogleich sah Perez sich schweren Vorwürfen ausgesetzt. Seine notorische Unpünktlichkeit war das Erste, was der Bürgermeister bemängelte, ein schmales Männlein, dessen Hals aus einem viel zu weiten Hemdkragen ragte. Noch bevor er sich über Perez’, seiner Meinung nach, unangebrachte Kleidung aufregte. Perez ließ die Tiraden des ersten Bürgers seiner Heimatstadt milde lächelnd über sich ergehen. So war der alte Gaillard nun einmal. Perez hielt vereinbarte Zeiten für Richtwerte, so wie das jeder gute Südfranzose tat. Traf er tatsächlich einmal als Erster zu einem Rendezvous ein, nahm er eben noch einen Kaffee oder hielt ein Pläuschchen, irgendwer stand dafür immer bereit. Und was die Kleidung betraf, so trug er schon sein Leben lang bequeme Shorts und weite Hemden, was seiner Meinung nach viel besser zum mediterranen Klima passte als enge Anzüge. Tatsächlich besaß er sogar einen Anzug. Ob die Motten über die Jahre noch viel von dem ehemals kostspieligen Kleidungsstück übrig gelassen hatten, hätte er allerdings nicht zu sagen gewusst.

»Ein bisschen eigentümlich ist das schon«, sagte Perez, anstatt auf Gaillards Genörgel einzugehen, »dass der Neue sich so mir nichts, dir nichts ein zweites Büro unter den Nagel reißt. Nur damit er einen Blick aufs Meer hat. Aber gut, das ist ja deine Sache. Und, verstehen kann man ihn, wer will schon freiwillig in der Vilarem sitzen, wenn er ebenso gut die Aussicht aufs Meer genießen kann?«

Perez deutete mit der freien Hand über die weit geschwungene Bucht von Banyuls. Die Police Municipale hatte ihren Sitz direkt am Strand, zwischen Île Petite und La Baillaury, dem Fluss, der, aus den Bergen kommend, in Banyuls ins Meer mündete.

Die Municipale stand unter dem Befehl des Bürgermeisters, während die etwas außerhalb des Zentrums in einem Zweckbau der Rue Amiral Vilarem gelegene Gendarmerie dem Innenministerium in Paris unterstand. Es war deshalb nicht ohne eine gewisse Pikanterie, dass sich Capitaine Boucher ein Büro in der Municipale hatte zusichern lassen, schuf er sich damit doch gleichsam eine autonome Insel inmitten der Hoheitsgewässer des Bürgermeisters. Wie genau er sich dieses Privileg verschafft hatte, darüber wurde in der Bürgerschaft derzeit heftig diskutiert. Man nahm allgemein an, dass es sich um eine Bedingung des Straßburgers gehandelt habe, eine Bedingung, ohne die er seiner Versetzung in die Provinz nicht zugestimmt hätte. Es blieb abzuwarten, welche Zugeständnisse man ihm darüber hinaus noch gemacht hatte.

Gaillard zuckte mit den Achseln, wie er es gern in Situationen tat, in denen es eigentlich nichts weiter zu sagen gab, weil ohnehin jeder wusste, dass die Sache einen haut-goût hatte.

»Sag mal, Perez«, entgegnete er stattdessen, »was hat deine Kleine denn da gestern wieder für einen Zirkus veranstaltet?«

»Sie ist nicht meine Kleine, mon Général!«

»Ach nein, was ist sie dann?«

»Zunächst mal niemandes Kleine. Eine unabhängige Frau. Eine Bürgerin, die hart für ihren Lebensunterhalt arbeitet und – was dich erfreuen sollte – brav ihre Steuern zahlt. Wenn du unbedingt mehr über ihre Protestaktion wissen möchtest, dann musst du sie schon selbst danach fragen. Sie macht dir doch keine Angst?«

»Mir? … Angst? … Eine Frau? … Pah! … Und nenn mich nicht schon wieder mon Général … nicht in der Öffentlichkeit.«

»Was ist jetzt, gehen wir endlich rein und bringen es hinter uns? Ich sage dir: Dafür, dass ich diesem Deutschen …«

»Elsässer«, unterbrach Gaillard ihn.

»Ist das nicht dasselbe?«, fragte Perez mit einem naiven Augenaufschlag.

Gaillard spitzte die Lippen, was Zustimmung signalisierte und ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber allen Nichtkatalanen. Elsässer, Deutsche, Schweizer, wer kannte sich dahinten schon aus?

»Jedenfalls«, fuhr Perez fort, »dafür, dass ich ihm einen ganzen Karton Creus überlassen muss, schuldest du mir was, und zwar mehr als nur den bloßen Gegenwert.«

»Ich? Dir? Warum?«

»Mon dieu, Paul, hast du einen Fragenkatalog gefrühstückt? Allez, geben wir ihm sein Geschenk, ich muss gleich noch rüber nach Spanien.«

»Jamón?«

»Oui, mon Général. Aber davon darfst du überhaupt nichts wissen.«

»Pssst!«, machte der alte Mann mit dem Finger vor den Lippen. »Ich würde vielleicht für Ostern eine halbe Seite brauchen«, flüsterte er. »Aber nur vom Besten!«, fügte er an, quengelig wie ein kleines Kind, dessen wöchentlich erlaubtes Süßigkeitenkontingent soeben abgelaufen war.

Stöhnend zog Perez seine Kladde heraus, leckte den Bleistift an – eine Marotte, die er sich in einem alten französischen Film abgeguckt hatte – und notierte: »Général Gaillard 1 x Bellota«.

Halbe Seiten gab es nicht, wie auch? Er würde ihm ein ausgebeintes Stück vorbereiten. Auf ein Ausrufezeichen hinter Gaillards Bestellung verzichtete er vorerst, man musste es schließlich nicht übertreiben, selbst nicht bei einem für Perez’ Geschäfte so wichtigen Mann im Ort. Obwohl er genau betrachtet schon darauf bedacht war, den Bürgermeister stets und überall bei Laune zu halten – ohne dabei allerdings unterwürfig zu erscheinen. Kein leichtes Unterfangen! Das war es, was Marianne unterschätzte oder nicht verstehen wollte.

 

Der diensthabende Polizist erhob sich zackig, als die beiden Männer die Amtsstube betraten. Er versuchte seinen Körper in eine Stellung zu bringen, die er für angemessen hielt. Besuch vom Bürgermeister war schließlich nicht alltäglich. Beim Militär hätte ihm dieser Salut einen Extratag in den Latrinen beschert.

»Bonjour, Monsieur le Maire«, schmetterte der Uniformierte. Unter seinen Achseln zeigten sich untertellergroße Schweißflecken.

Perez deutete mit einer Scheibenwischerbewegung seines linken Arms an, was er von der übertriebenen Aufmerksamkeit hielt.

»Bleiben Sie sitzen«, sagte Gaillard, der Perez’ Ansicht ganz offensichtlich teilte. »Ist der Neue zu sprechen?«

Der Beamte eilte auf eine Tür im hinteren Teil des Raums zu.

»Mon Capitaine«, brüllte er dort hinein, »Monsieur le Maire möchte Sie sprechen.«

Er wandte sich wieder den beiden Männern zu und winkte sie heran. Gaillard schritt auf die Tür zu, Perez hielt sich hinter ihm.

»Ah, die Herren!«, rief Boucher, nachdem die beiden Männer vor ihm Aufstellung genommen hatten. »Nehmen Sie doch Platz.«

Er selbst saß mit dem Rücken zum großen Fenster, durch das man über den Kiesstrand auf die See blicken konnte.

An Tagen, an denen sich das Meer aus seinem Bett erhob, was bei den Winterstürmen nicht selten der Fall war, bekam man auf der Polizeistation von Banyuls nasse Füße.

»Was verschafft mir das Vergnügen?«

Aalglatt, dachte Perez und versuchte gute Miene zu dieser Posse zu machen. Um sich abzulenken, verschwendete er einen Gedanken an den Namen des Neuen: Boucher – Schlächter. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Alors«, begann Gaillard, »ich hoffe, dass Ihnen mein Büro gefällt?« Er hüstelte. »Also, ich meine natürlich Ihr neues Büro. Meine Polizisten mussten ordentlich zusammenrücken, aber es ist wirklich schön geworden, und auf diese Weise sind Sie tatsächlich mittendrin im Geschehen, wie Sie es gewünscht haben, kein Vergleich zur Vilarem.«

Er setzte eine bewusste Pause. Die beiden belauerten sich, während Perez interessiert auf den Fortgang des Gesprächs wartete. Über kurz oder lang würden sich diese beiden in die Quere kommen, so viel stand fest, die Frage war nur, wie lange Gaillard mitspielen würde und um welchen Preis? Dieser Boucher schien jedenfalls kein Mann für die zweite Reihe zu sein und schon gar keiner, der sich von einem Provinzpolitiker den Schneid abkaufen ließ.

In der kurzen Gesprächspause verzog er jedenfalls keine Miene. Der Schlächter war eindeutig der bessere Pokerspieler von beiden.

»Vergangenen Sonntag, im Rahmen Ihrer Vorstellung im Rathaus, Capitaine Boucher«, fuhr Gaillard fort, »schien mir … und auch Monsieur Perez hier …«, er deutete auf Perez, »nicht die richtige Gelegenheit zu sein, um Ihnen ein Geschenk zu überreichen. Dieses Präsent«, er gab Perez das Zeichen, dem Kommissar den Wein rüberzuschieben, »soll Ihnen zeigen, wie glücklich wir sind, endlich wieder einen Chef der Gendarmerie in Banyuls zu haben.«

Perez konnte nicht umhin, Gaillard für dessen diplomatisches Geschick zu bewundern. Man sei froh, den Posten des Gendarmeriechefs endlich wieder besetzt zu wissen, d’accord, aber Gaillard sagte nicht, dass man sich freue, dass die Wahl dabei ausgerechnet auf Boucher gefallen war, und auch nichts zu den Bedingungen, die er offensichtlich zu akzeptieren hatte.

»Wir möchten Ihnen gerne diese Spezialität überreichen, etwas, von dem man sich in Banyuls nur hinter vorgehaltener Hand erzählt«, schloss Gaillard.

Perez trat dem Bürgermeister unter dem Tisch gegen das Schienbein. Es war eine Sache, dass einige wenige handverlesene Einheimische über Perez’ Geschäfte Bescheid wussten, aber eine ganz andere, wenn dieser nicht einzuschätzende Boucher anfangen würde, ihm Fragen zur Art seiner Arbeit zu stellen.

»Na ja«, fuhr Gaillard fort, »vielleicht ist das etwas übertrieben, aber dieser Wein ist wirklich sehr selten.«

»Er will sagen«, schaltete sich Perez ein, »dass es sich um eine kleine Anbaufläche mit sehr geringem Ertrag handelt und der Wein deshalb nicht in jedem Weinkontor zu finden ist. Kurzum, ein sehr guter Tropfen zu Ihrem Einstand.«

Boucher zeigte ein dünnes, überheblich wirkendes Lächeln.

»Und«, fragte er, nachdem Perez geendet hatte, »welchem Umstand verdanke ich Ihre Anwesenheit heute Morgen, Monsieur … wie war doch gleich Ihr Name?«

»Perez«, fiel der Bürgermeister ein, während Perez an seiner Seite vor Wut kochte. Mit dem Kerl würde es noch Spaß geben. Offensichtlich war Boucher nicht entgangen, dass er bei seiner Vorstellung im Rathaus gefehlt hatte. »Monsieur Perez ist eines der ältesten Mitglieder des Conseil Municipal, leider war er am Sonntag familiär verhindert. Ihm verdanken wir die Möglichkeit, Ihnen, Capitaine Boucher, heute diese Rarität überreichen zu dürfen. Sie schätzen doch guten Wein?«

Boucher winkte ab.

»Perez, ja, vor Ihnen hat man mich bei meinen Amtsantritt gewarnt.« Perez machte ein verdutztes Gesicht, obwohl er sich denken konnte, aus welcher Richtung der Wind wehte. »Sie sind der Hobbydetektiv«, ließ Boucher die Erklärung folgen, »von dem erzählt wird, dass er sich gerne einmal in Angelegenheiten einmischt, die nicht die seinen sind. Ich hoffe, Monsieur, Sie gewöhnen sich das ab. Zumindest so lange, wie ich hier das Sagen habe. Ich mag keine Laien, müssen Sie wissen.«

Die beiden fixierten sich. Bouchers Vorgänger hatte geplaudert, das war offensichtlich, und er war kein allzu großer Perez-Fan gewesen. Obwohl im Ort jeder wusste, dass die kleine Janine Lladó niemals zu ihren Eltern zurückgekehrt wäre, hätte Perez seinerzeit nicht einen Weg gefunden, mit den Entführern zu verhandeln – ohne die Polizei hinzuzuziehen.

Auch die Christusstatue, die übermütige Jugendliche kurz vor den Feierlichkeiten des heiligen Vincent von Collioure vom Kreuz geschraubt hatten, wäre ohne ihn nicht rechtzeitig zum Feuerwerk wieder aufgetaucht.

Die Aufklärung des Mords an einem tunesischen Lastwagenfahrer im vergangenen Jahr, dem letzten »Fall« seiner noch jungen Karriere als Zufallsdetektiv und der, über den Bouchers Vorgänger Gomis zu Fall gekommen war, war bislang sein Meisterstück gewesen. Es hätte noch Jahrzehnte gedauert, bis einer dieser Crétins aus der Vilarem hinter das schmutzige Geheimnis des untadligen Monsieur Jallabert gekommen wäre. Perez hingegen hatte nur seinen Verstand und seine Kontakte nutzen müssen, um alsbald einem System von Betrügern auf die Spur zu kommen, die ihre Beute in Frankreich machten, diese nach Spanien brachten, um sie von dort wieder in alle Welt zu verkaufen.

Dabei war es nicht so, dass Perez der Polizei ihre Arbeit abnehmen wollte. Er geriet nur manchmal in diese Situationen – und natürlich kooperierte man als guter Banyulenc niemals mit der Polizei. Die Contrebandiers, die Schmuggler, die Banyuls einst bevölkert hatten und von denen Perez in direkter Linie abstammte, hatten zu allen Zeiten ihre Probleme selbst gelöst. Ein Kodex, eine Frage der Ehre. Und, so gab er durchaus zu, manchmal waren diese kleinen Herausforderungen auch ein Vergnügen, boten sie ihm doch etwas Ablenkung vom Alltag eines Delikatessenimporteurs.

»Nun, meine Herren«, sagte Boucher, nachdem er feststellen musste, dass Perez nicht die Absicht hatte, sich dazu zu äußern, »dann danke ich Ihnen sehr für diese großzügige Geste. Zu meinem allergrößten Bedauern kann ich das Geschenk jedoch nicht annehmen.« Er setzte eine theatralische Pause, bevor er fortfuhr. »Sie werden verstehen, Sonntag, vor aller Augen und sozusagen als Präsent der anwesenden Bürgerschaft, wäre es etwas anderes gewesen. Aber so – entre nous – riecht es doch etwas nach … nun ja, also in jedem Fall weiß ich Ihre Geste zu schätzen.« Er erhob sich ruckartig, drückte das Kreuz durch und stand in militärisch einwandfreier Haltung vor ihnen. »Sie werden mich entschuldigen müssen, ich habe viele Akten zu sichten, Gespräche zu führen und mich außerdem noch um diese Verrückte von gestern zu kümmern. Aber sagen Sie, Monsieur le Maire, wo wir gerade dabei sind, was können Sie mir eigentlich zu den Ausbauplänen für den Hafen sagen, über die diese Frau krakeelt hat? Ist da irgendetwas dran? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«

Gaillard sprang ebenfalls auf. »Der Hafenausbau? … Kommen Sie, das ist doch alles rein spekulativ. Diese Frau, Marianne Finken, die Deutsche, wie sie hier bei uns genannt wird, sie ist wirklich, wie soll ich sagen …? Nun ja … Sie kennen doch die Deutschen, Capitaine – als Elsässer.«

Perez, der als Einziger im Raum weiterhin auf seinem Stuhl saß, das abgelehnte Geschenk auf den Knien balancierend, warf Gaillard einen drohenden Blick zu.

»Na ja«, fuhr Gaillard fort, »Sie wissen schon, wie die Frauen manchmal sind. Besonders wenn der Tramontane bläst.« Er lachte verschwörerisch. »Ist es nicht so, Perez?« Er klopfte Perez auf die Schulter. »Doch, doch, der Tram macht die Menschen verrückt, das weiß hier unten jedes Kind. Also, mein lieber Boucher, machen Sie aus dieser Mücke mal keinen Elefanten. Und, unter uns«, er schmatzte ekelerregend, »ist sie nicht ein tolles Weib?«

Weder Perez noch Boucher gingen auf diese Entgleisung ein.

»Wie dem auch sei«, fuhr der Bürgermeister fort, »hier in Banyuls geschieht nichts, was nicht zuvor ausführlich und mit allem gebotenen Ernst im Rat besprochen worden wäre. Insofern freue ich mich, Sie exklusiv darüber informieren zu können, dass es zwar bald einen Antrag auf Hafenerweiterung geben könnte, aber bislang noch überhaupt nichts Genaues bekannt ist und folglich auch noch nichts diesbezüglich entschieden wurde. Ob eine solche Veränderung dann durch den Rat ginge … ich bin mir nicht sicher … Warten wir es ab!«

Perez’ Kinnlade klappte herunter. Hatte er sich gerade verhört? Es wäre nicht das erste Mal, aber bei einer Maßnahme, wie sie die Erweiterung des Yachthafens darstellte, würde Gaillard keinen seiner Alleingänge wagen. Das würde er nicht machen, nicht einmal er. Lag ihm aber tatsächlich bereits eine Anfrage vor, und das hatte er ja soeben mehr oder weniger bestätigt, so waren dieser zwangsläufig Besprechungen zwischen Antragsteller und Stadt, also Gaillard, vorausgegangen. Das roch nicht nur nach einer Schweinerei, das war schon jetzt eine ausgemachte Sauerei. Ein Hafenausbau würde den Betrieben in und um Banyuls eine Menge Aufträge einbringen – Arbeiten, die Gaillards Sohn, der inzwischen dessen Baufirma leitete, ganz sicher zu den besten Konditionen anbieten würde, wenn es nicht ohnehin schon Teil des Plans und der Vereinbarung zwischen den Parteien war. Marianne, die man hier gerade in seinem Beisein beleidigt hatte, war offensichtlich auf der richtigen Spur. Gut gemacht, Frau Finken!, dachte Perez, aber jetzt war es an ihm, als Mitglied des Conseil Municipal, dieses Komplott vollständig aufzudecken.

»Um wen handelt es sich bei dem Antragsteller, Monsieur le Maire?«, wollte nun auch Boucher wissen. Perez nickte dazu grimmig.

»Ah, Capitaine, das kann ich Ihnen beim besten Willen zu diesem Zeitpunkt noch nicht verraten.« Gaillard hatte begonnen, im Zimmer auf und ab zu gehen. Boucher hatte wieder seinen Platz gegenüber von Perez eingenommen. »Schließlich«, fuhr Gaillard fort, »ist das keine Angelegenheit für die Polizei, sondern für die Politik.«

Der kleine Gaillard war bei diesen Worten um zehn Zentimeter gewachsen.

»Dürfte ich fragen«, mischte sich Perez ein, »was das alles mit Madame Finken zu tun hat?«

»Monsieur Pe…«, antwortete Boucher, »darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft erteilen, es handelt sich um ein schwebendes Verfahren. Keine Sache für die Politik, sondern Polizeiangelegenheit.«

Perez drehte sich in seinem Stuhl um. Zwischen dem am Fenster stehenden Gaillard und dem davor sitzenden Boucher hindurch starrte er hinaus in das gleißende Licht des Tages. Er musste sich auf irgendetwas außerhalb dieses Raumes konzentrieren, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

Das Meer war durch den Tramontane aufgewühlt, die Luft darüber allerdings so klar, dass man den Eindruck hatte, man betrachte die weite Bucht durch ein Vergrößerungsglas. Das Licht der Côte Vermeille, es hatte die Menschen schon immer fasziniert. Und die Künstler angezogen. Picasso hatte hier gelebt und gearbeitet ebenso wie Matisse und viele Fauvisten.

Auf den Wellen tänzelte eine schlanke Yacht von mindestens fünfundzwanzig Metern Länge. Ein beeindruckendes Schiff. Für Perez’ Geschmack befand es sich gefährlich nah am Strand. Ihm war, als seien Menschen an Bord zu sehen, doch im nächsten Augenblick waren sie wieder verschwunden. Perez wollte etwas sagen, hatte bereits die Hand erhoben, um auf das Schiff zu deuten, ließ sie aber wieder sinken. Stattdessen dachte er darüber nach, wo er die Yacht schon einmal gesehen hatte und was ein solches Luxusgefährt wohl kosten mochte. Sicher weit über eine Million Euro. Vielleicht sogar zwei? Er kannte sich nicht aus mit Booten, fuhr so gut wie nie aufs Meer hinaus. Sein Zuhause war das Land.