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Yann Sola

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Beschreibung

Moderne Schatzsucher, ein toter Professor und ein geheimnisvoller Club. In Banyuls-sur-Mer, am südwestlichsten Zipfel Frankreichs, ziert eine feine Schneeschicht den sonst so sonnenverwöhnten Strand. Perez, Hobbyermittler und Kleinganove, hat alle Hände voll zu tun, sich gegen die ungewohnten Witterungsbedingungen zu wehren, als sein Freund Mata, Taucher am Meeresbiologischen Institut der Côte Vermeille, spurlos verschwindet. Wenig später wird ein toter Professor in einem Pool gefunden, und hochgerüstete Boote befahren das Mittelmeer zwischen Frankreich und Spanien auf der Suche nach einem mysteriösen Wrack. Gemeinsam mit seiner Stieftochter und seinem Schwiegersohn macht sich Perez auf die Suche nach Mata und gerät in einen rasanten und komplexen Fall, der immer mehr Rätsel aufgibt. Welche Nachforschungen hat der Professor angestellt? Was hat es mit dem berüchtigten und geheimnisumwitterten Club auf sich, zu dem die Chefs der Bergungsunternehmen gehören sollen? Und was hat das alles mit Mata zu tun?

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Yann Sola

Letzte Fahrt

Ein Südfrankreich-Krimi

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Yann Sola

Über dieses Buch

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

I. Kapitel

II. Kapitel

Eine Woche später

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Inhaltsverzeichnis

Prolog

I

Perez spuckte in die Taucherbrille, verrieb die Spucke mit der Kuppe des Zeigefingers, von der Mitte der Glasfläche in konzentrischen Kreisen zum Rand hin, und spülte dann mit Meerwasser nach, bevor er das breite Gummiband umständlich über seine Locken zog. Einen Wimpernschlag später erfasste ihn eine Beklemmung, die sich in wild rudernden Armen Bahn brach.

Neben ihm im knietiefen Wasser stand sein Lehrer Francesc Puig. Braun gebrannt, in einem knappen Badeslip, der nicht zu seinem Alter passte.

»So was trägt man nicht«, hatte Perez noch an Land genuschelt und sich angewidert abgewandt. Die Übungsstunde fand in Paulilles statt, keine fünf Meter vom Strand entfernt. Perez’ rundlicher Leib steckte in einem menschenunwürdigen Neoprenanzug, eine Zehn-Liter-Sauerstoffflasche zerrte an seiner Schultermuskulatur und ließ ihn tief in den Sand einsinken. Er schwitzte, wie er noch nie in seinem Leben geschwitzt hatte.

Als Puig bemerkte, wie panisch sich der im flachen Wasser kniende Perez benahm, rief er:

»Stell dich nicht an, Perez«, und lachte laut und schadenfroh. »Klemm dir endlich das Mundstück zwischen die Zähne und tauch ab.«

Perez blinzelte durch die trotz aller getroffenen Maßnahmen stark beschlagene Taucherbrille zu seinem angeblichen Freund auf und schüttelte wütend den Kopf, um keine dreißig Sekunden später genau das zu tun, was Puig ihm aufgetragen hatte.

Kaum klemmte der Lungenautomat zwischen seinen Zähnen, saugte Perez auch schon wie ein Asthmatiker Luft ein.

»Ruhig atmen, gaaaanz ruhig.« Puig legte sich im Stile eines Yogalehrers, der seinen Schülern die Bauchatmung erklärt, die Hände auf den Bauch. »Nicht saugen, gaaaanz ruhig atmen, schön mit Gefühl.«

In diesem Augenblick wurde Perez von einer unsichtbaren Kraft unter Wasser gedrückt.

Vergeblich kämpfte er dagegen an, doch die Kraft drückte ihn unerbittlich nach unten, und was er dort sah, verstärkte sein Unwohlsein nochmals gewaltig. Erst starrte er nur in den Sand zu seinen Füßen, kleinste Steine nahmen die Dimensionen mächtiger Felsbrocken an. Dann erst wurde er der Fische gewahr, die sich vor ihm zum Angriff sammelten.

In Todesangst tastete Perez nach der Sauerstoffflasche auf seinem Rücken, nur um unmittelbar darauf Puigs Fußgelenk umklammert zu halten. Es war sein Freund, der ihn unter Wasser drückte. War sie das, die Rache für das, was in den letzten Monaten zwischen ihnen vorgefallen war? Perez spuckte den Lungenautomaten aus, versuchte zu atmen, bekam Wasser in die Lunge, drohte zu ersticken …

II

… und erwachte mit einem spitzen Schrei.

Er drückte seinen schweißnassen Körper in eine sitzende Position. Sah sich verwirrt im Schlafzimmer um, während er durch den staubtrockenen Mund zu atmen versuchte. Er wischte sich die Stirn und strich sich die schweißnassen Haare aus dem Gesicht.

Es klingelte an der Haustür. Er reagierte nicht. Das Läuten wurde drängender, die Abstände zwischen den Intervallen verkürzten sich. Irgendwem war es verdammt wichtig, zu ihm vorzudringen.

Perez taumelte hinüber zum Fenster, öffnete die Schlagläden und wurde von einer kalten Bö erfasst. Er beugte sich über die Brüstung. Unten standen, in feinstem Ornat, seine leibliche Tochter Marie-Hélène, die Tochter seiner Lebensgefährtin Marianne, Stéphanie, sowie sein Freund, Geschäftspartner und Koch Haziem. Alle drei fuchtelten wild mit den Armen in der Luft, als sie seiner ansichtig wurden.

Perez verstand weder, was sie riefen, noch bot ihm diese Aufstellung irgendeine Orientierung. Seine kleine Familie bis auf Marianne vollständig vor der Wohnungstür versammelt? Aus dem Lärm, den die drei verursachten, drang immer wieder ein Wort an sein Ohr: Aquarium.

Langsam dämmerte es ihm.

»Wie spät?«, rief er nach unten.

»Viertel vor elf«, brüllte Stéphanie zurück. »Hast du uns etwa vergessen?«

»Quatsch«, rief er und stand auch schon unter der Dusche.

 

Um Punkt elf trat er aus der Tür.

»Gehen wir? … Was seht ihr mich so an? Warum die Hektik?«, fragte er und versuchte sich an einem Lächeln, nach dem ihm nicht war. Der Albtraum wirkte noch nach.

»Papa!«, sagte Marie-Hélène streng. »Die Eröffnungsfeierlichkeiten beginnen um elf.«

»Ach was«, sagte er. »Los zum Wagen, in zwei Minuten sind wir drüben.«

»Mit dem Auto?«, riefen alle im Chor, als sei es der größte Unsinn seit Einführung der Parkscheibe in Banyuls vor wenigen Monaten.

»Wie sonst? Zu Fuß vielleicht? Das Aquarium liegt jenseits des Baillaury, schon vergessen? Mindestens einen Kilometer entfernt. Außerdem ist es kalt wie in Sibirien.«

Fünf Minuten später parkte Perez den Wagen direkt vor dem Tresor, einem alten, vergessenen Bunker, in dem seine Delikatessen lagerten. Er grenzte unmittelbar an das Gebäude des neuen Aquariums.

»Schon da«, sagte er. »Mesdames, Monsieur, allez-y, on attaque!«

*

»… Meine Damen und Herren, die Entscheidung von Professor Lacaze-Duthiers für Banyuls war richtig, wenn man auch sagen muss, dass sie auf eine nicht ganz regelkonforme Art und Weise zustande kam. Sicher wissen die meisten hier im Saal, dass das erste Observatoire Océanologique, besser bekannt als Laboratoire Arago, in Port-Vendres stehen sollte. Nachdem Lacaze-Duthiers die Station biologique de Roscoff am Ärmelkanal gegründet hatte, wollte er eine weitere hier an der Côte Vermeille einrichten, weil unser Meer einen Artenreichtum aufweist, wie er kaum andernorts an der französischen Mittelmeerküste zu finden ist. Ein Institut für Meeresbiologie und Ozeanografie im Département Pyrénées-Orientales.

Nun war der Hafen von Port-Vendres seit jeher einer der wichtigsten Häfen der Region, und in jenen Tagen, wir sprechen von den 1880er-Jahren, kam man, wollte man wirtschaftlich wachsen, um einen Ausbau nicht herum. Damit geriet der Standort der neuen meeresbiologischen Forschungsstation der Sorbonne in Gefahr. Das erfuhren natürlich auch die Verantwortlichen von Banyuls, man sagt, der Tramontane habe es ihnen zugetragen … Jedenfalls machten sie dem Professor ein Angebot, das dieser schlichtweg nicht ablehnen konnte: eine schöne Summe Geldes, eine Art Lebensrente auf zwanzig Jahre und einen Standort für das Laboratoire nach eigener Wahl. Die Entscheidung war gefallen, bereits 1882 wurden die Türen für die Öffentlichkeit geöffnet.

Ja, so eine korrupte Vergabepolitik erregte schon damals die Gemüter und provozierte eine gewisse Feindschaft zwischen den Nachbarorten. Heute wäre so etwas undenkbar. Ein Neubauprojekt wie dieses, das wir nun gleich eröffnen werden, durchläuft unzählige streng geregelte Prozesse, von der ersten Anfrage über die öffentliche Ausschreibung, Informationsabende für interessierte Bürger und unzählige Vorstellungen in den diversen Gremien und Ausschüssen, bis es endlich zur Genehmigung kommt. Ich schwöre also bei meinem Leben …« Der Direktor reckte die Hand zum Schwur in die Höhe. »Ich beziehe lediglich mein Gehalt, keine Leibrente oder anderweitige Vergünstigungen!«

Allgemeines Geraune im Saal. Man sah dem Gesicht des Redners – ein Pariser durch und durch – an, dass er mit dieser launigen Pointe auf fröhliche Lacher des Publikums gesetzt hatte. Stattdessen schien man sich im Saal über seine Naivität zu amüsieren. Die Leute stießen einander an, schüttelten wissend die Köpfe. Perez entfuhr ein leises »Pah«.

»Nun ja«, fuhr der Direktor ein wenig irritiert fort, »auf vielfachen Wunsch möchte ich noch erklären, woher der Name Arago stammt. Es ist, wie in manchen Reiseführern behauptet, kein Schreibfehler und sollte nicht Aragon heißen. Professor Lacaze-Duthiers hat sich aufgrund seiner Bewunderung für den Astronomen, Physiker und Politiker François Arago für diesen Namen entschieden. Arago stammte aus Estagel, einem kleinen Dorf nordwestlich von Perpignan, und forschte unter anderem mit seinem Freund und Kollegen, dem großen Alexander von Humboldt, über den Erdmagnetismus.

Der Forschungsstation in Banyuls wurde bereits im Jahr 1883 ein Aquarium angeschlossen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, alle in der Réserve Marine beheimateten Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, zu zeigen. Zu jener Zeit eine echte Sensation. Man darf nicht vergessen, dass es noch keine Unterwasserfotografie gab – wie Sie sicherlich wissen, wurde auch das erste Unterwasserfoto überhaupt hier in Banyuls gemacht –, und so war das Einzige, was die Menschen aus dem Meer kannten, das, was die Fischer in ihren Netzen hatten. Unter diesem Aspekt ist es nicht erstaunlich, dass Lacaze-Duthiers im Jahre 1898 von über eintausend Besuchern pro Tag berichtete.

Aber nun genug Geschichtliches! Ich freue mich, nach nur drei Jahren Bauzeit dieses wunderbare, hochmoderne Aquarium der Öffentlichkeit zugänglich machen zu dürfen. Hier zeigen wir nicht nur die Vielfalt des Meeres und geben mit den neuesten technischen Mitteln der Museologie Anschauungsunterricht, wir beherbergen in unserem ozeanografischen Institut zudem auch drei Forschungszweige der Pariser Université Pierre-et-Marie-Curie. Hier finden einhundertsechzig Wissenschaftler, Techniker, Rechercheure und Hilfskräfte Beschäftigung. Unsere Arbeit beruht auf drei Säulen: Forschung. Unterricht. Beobachtung. Wir kümmern uns um die Meeresbiologie, die Biotechnologie und die Biochemie. Eintausendfünfhundert Studenten aus aller Welt kommen nach Banyuls, um die Ökologie des Mittelmeers zu erforschen, dessen Mikrobiologie, die Ozeanografie und vieles mehr. Und nicht zuletzt sind wir stolz, eine der bestausgestatteten Bibliotheken zur Ozeanografie unser Eigen zu nennen. Über zehntausend Werke, darunter nahezu fünfhundert Originale aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Man kann ohne Übertreibung sagen: Die Bibliothek bildet das Rückgrat unserer Forschung.

Meine Damen und Herren, haben Sie vielen Dank für Ihre Geduld. Bitte sehen Sie sich um, lassen Sie sich inspirieren von der faszinierenden Unterwasserwelt Ihrer Heimat. Sollten Sie Fragen haben, helfen Ihnen unsere jungen Museumsmitarbeiter gerne weiter. Mit großer Freude erkläre ich das neue Aquarium für eröffnet!«

 

Während Marie-Hélène und Stéphanie mit einem iPad in der Hand von Becken zu Becken zogen, begeistert von der modernen Technik und dem künstlich erschaffenen Ebenbild der Natur hinter den Scheiben, und während Haziem gedankenverloren vor einem Becken mit zarten Seepferdchen stand, streifte Perez unruhig durch die Räume. Das Meer war nicht sein Element und dessen Bewohner nur dann interessant, wenn sie tot, geschuppt und ausgenommen vor einem begabten Küchenchef lagen.

Nach einigen Gesprächen mit Bekannten und Freunden, seinen Kollegen vom Conseil Municipal sowie einer verflossenen Liebschaft sah er ganz am Ende des Raums Timoteo Mata stehen, einen alten Schulfreund. Erst bei dessen Anblick wurde ihm bewusst, dass sie sich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten. Perez schritt auf den kleinen, hageren Mann zu.

»Du bist ja noch dünner geworden«, sagte er zur Begrüßung und klopfte ihm vorsichtig auf die Schulter.

Mata kniff die Augen zusammen, als erkenne er sein Gegenüber nicht. Dann verzog er den Mund zu einem Grinsen.

»Perez!«, sagte er. »Was machst du denn hier? Doch nicht etwa Fische gucken?«

»Meine Töchter wollten unbedingt, dass ich mitkomme. Ich kann ihnen nichts abschlagen. Mein Gott, Timi, wir haben uns eine kleine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Geht’s dir gut?«

»Ça va. Geht ganz gut.«

Perez schaute ihm prüfend in die Augen. Darin loderte plötzlich ein Feuer, das dort vorher nicht gewesen war.

»Die Tage der Entbehrung sind bald vorüber, Perez«, sagte Mata und drückte den Rücken durch. Er sagte es in einer Art, die verriet, dass er kaum an sich halten konnte.

»Von welcher Entbehrung sprichst du?«

Mata antwortete mit einer wegwischenden Handbewegung. »Ich bin vor einiger Zeit auf eine Sache gestoßen, also, wenn du wüsstest, was das ist …«

»Timi! Du redest ja immer noch wie in der vierten Klasse. Erzähl’s mir oder lass es bleiben.«

Mata fasste Perez am Arm. »Ich kann dir im Augenblick nichts Näheres dazu sagen. Zunächst war alles sehr schwierig, aber jetzt, Perez, jetzt habe ich es geschafft. Ich habe einen Partner für diese Sache gewinnen können, weißt du … einen finanzstarken Partner. Mit ihm an meiner Seite …«

Perez’ Gedanken schweiften ab. Geldgeschäfte, mein Gott, konnte es Langweiligeres geben? Und Mata, der hatte doch früher nicht mal vier und vier zusammenzählen können. Sein Magen knurrte. Kein Frühstück und bis jetzt, es war inzwischen halb eins, auch noch kein Mittagessen. Sein Blick suchte über Matas Schulter hinweg nach Haziem. Das Conill, sein kleines Restaurant, das Haziem führte und das Dreh- und Angelpunkt aller seiner Unternehmungen war, müsste eigentlich längst geöffnet haben. Er hatte ganz vergessen, mit Haziem darüber zu sprechen.

»… na ja«, hörte er Matas Stimme in seine Überlegungen eindringen, »es könnte also sein, dass noch ein paar Anteile gezeichnet werden können. Wenn das der Fall sein sollte, kann ich dir nur raten einzusteigen, Perez. Es wird das Geschäft deines Lebens.«

Endlich entdeckte er Haziem. Perez zeigte auf den groß gewachsenen Maghrebiner. Mata drehte sich um.

»Das da drüben ist mein Freund Haziem. Sprich ihn an. Er versteht ’ne Menge von Geldgeschäften. Ich bin dafür nicht geeignet. Okay? War schön, dich mal wieder zu sehen. Mach’s gut, Timi.«

Inhaltsverzeichnis

Eine Woche später

Kapitel 1

»Mann, ist das kalt«, brummte Perez. Die Mietwohnung hatte keine Heizung.

Er durchsuchte den Schrank nach warmer Kleidung. Vor langer Zeit hatte hier mal eine Jeans gelegen, daran erinnerte er sich genau. Ansonsten besaß er noch einen Anzug. Er hatte ihn vor Kurzem auf der Hochzeit seiner Tochter Marie-Hélène getragen. Der Rest waren Shorts, Slipper für die Füße und gestreifte Oberhemden. Irgendwo musste der Pullover sein, den Marianne ihm vor langer Zeit geschenkt hatte. Er fand ihn schließlich hinter ein paar aufgestapelten Kartons.

Für gewöhnlich kannten die Bewohner der Côte Vermeille keinen Frost, nur höchst selten einmal fiel das Thermometer unter zehn Grad. Es war das Mittelmeer vor der Haustür, das im Winter für Wärme und im Sommer für eine frische Abkühlung sorgte. Aber an diesem Morgen schien entweder der Mechanismus der Natur gestört, oder aber Perez hatte sich eine Erkältung zugezogen.

Als er versuchte, sich in die Jeans zu zwängen, wäre er fast gestürzt. Sie zu schließen war unmöglich. Beleidigt sah er das Kleidungsstück an.

»Na dann ist es eben nicht kalt«, entschied er. Er zog die gewohnten Shorts an und stieg in seine ausgelatschten Espadrilles. Dann schnell das Hemd, bis oben geschlossen, und darüber den Pullover. »Lächerlich«, rief er seinem Spiegelbild entgegen, bevor er aus der Wohnung ging.

Unten öffnete er die Haustür und blieb wie angewurzelt stehen. Er machte einen Schritt zurück ins Haus, verschloss die Tür schnell wieder, zündete sich eine Zigarette an und überlegte. Nach dem letzten Zug unternahm er einen erneuten Anlauf.

»Merde!«, rief er in die kalte Luft. Während das Wort mit dem Atemhauch gemächlich in Richtung Meer waberte, fluchte er weiter. »Was in drei Teufels Namen ist das denn?« Er stand ähnlich ratlos vor dem ganzen Weiß, wie Timoteo Mata früher vor der Lösung einer Rechenaufgabe gestanden hatte.

»Schnee!«, brüllte er ins makellose Blau des Himmels. Niemand antwortete. »Hilfe«, schickte er zögerlich hinterher, doch wer hätte ihm helfen sollen? In der Nacht waren sicher an die zehn Zentimeter grellweißer Neuschnee gefallen. Und wenn Minusgrade schon unbekannt waren, dann bedeutete Schnee in Banyuls eine Ungeheuerlichkeit.

Erst jetzt bemerkte er, dass er nicht allein in der winterlichen Tundra stand. Ein Mann von gegenüber war ebenfalls vors Haus getreten. In Parka, Pudelmütze und Handschuhen. Trotz der Snowboard-tauglichen Ausrüstung stand der Nordmann hilflos vor seinem eingeschneiten Wagen.

»Und jetzt?«, rief Perez über die Straße hinweg.

Der andere schüttelte den Kopf. Er wischte den Schnee von der Fahrertür, riss sie auf und stieg ein. Obwohl Perez entsetzlich fror, wollte er sich den Ausgang der zu erwartenden Rutschpartie nicht entgehen lassen. Doch dazu kam es erst gar nicht.

Der Motor würgte ein paarmal, bis schließlich ein metallisches Klicken der Zündung das Ende aller Aktionen verkündete. Der Mann stieg wieder aus und trat die Tür mit einem lauten Fluch zu, rutschte dabei aus und landete auf dem Hosenboden. Perez ging zurück in seine Wohnung.

 

Nach einmaligem Läuten nahm Kommissar Boucher das Gespräch an.

»Es hat geschneit«, sagte Perez in einer Mischung aus Verzweiflung und Vorwurf.

Boucher lachte laut auf. »Perez, guten Tag! Ja, es hat geschneit, so was kennt ihr hier unten nicht, stimmt’s?« Wieder lachte er laut, er schien sich prächtig zu amüsieren. »Im Elsass haben wir jedes Jahr Schnee gehabt. Einmal, lassen Sie mich nachdenken, muss so 2010 oder 2011 gewesen sein, damals war derart viel Schnee gefallen, dass ich für die Befragung eines Verdächtigen durch das Fenster im ersten Stock ins Haus klettern musste. Können Sie sich das vorstellen?«

Perez dachte nicht daran, auf eine so unsinnige Äußerung zu reagieren. Schnee bis zur ersten Etage, ja wo kommen wir denn da hin?, dachte er.

»Nun, das scheinen Sie sich offensichtlich nicht vorstellen zu können«, fuhr der ehemalige Straßburger Polizeichef fort, »aber, mein Lieber …«

»Wir haben den 16.«, ging Perez trocken dazwischen.

»Et alors?«

»Unsere Verabredung …«

Boucher stutzte kurz, dann entfuhr ihm: »Wir treffen uns gleich zum Essen. Oh Gott, wenn ich das vergessen hätte, wie peinlich. Bitte sehen Sie es mir nach. Hier auf der neuen Wache herrscht das blanke Chaos. Umso besser, dass Sie angerufen haben. Hat der Schnee doch sein Gutes. Und Sie sind eingeladen, das habe ich nicht vergessen, keine Widerrede«, fügte er an, als hätte Perez dieses kleine, aber nicht unwesentliche Detail vergessen können. »Aber nun verraten Sie mir, was unsere Verabredung mit dem Schnee zu tun hat?«

»Ich fahre einen Kangoo. Ein altes Fahrzeug mit müder Batterie und abgenutzten Reifen. Wahrscheinlich kann ich es unter den Schneemassen nicht einmal mehr finden. Bei solch einer Naturkatastrophe setzen sich ohnehin nur Selbstmörder ans Steuer. Ich kenne niemanden«, schloss Perez, »der sich bei einem solchen Wetter auf die Straße traut, absolut niemanden.«

Nachdem Perez das darauf einsetzende keckernde Möwengekreisch als Lachen identifiziert hatte, löste der Elsässer das Problem.

»Ich hole Sie ab«, sagte Boucher. »Für den Notfall habe ich Schneeketten, werden wir aber für das Fitzelchen Schnee nicht brauchen. Also machen Sie sich keine Sorgen, die Polizei, dein Freund und Helfer, ist im Anmarsch.«

*

Perez hatte sich angesichts der bevorstehenden Reise in eine ungewisse Zukunft doch noch an den Inhalt der mit Klebeband fest verschlossenen Kartons erinnert, die seit Jahren im Schrank hinter seiner Kleidung aufgestapelt standen. Das meiste, was er darin fand, zog er jetzt an: eine hellgraue Pluderhose – seine Freundin Marianne würde das Teil als ausgeleierte Jogginghose bezeichnen –, einen schweren grüngrauen Wollmantel, der allein einen der Kartons ausfüllte und übel nach Mottenpulver müffelte, sowie klobige Schnürstiefel. Die Klamotten hatten zu seiner Einkleidung beim Militär gehört. Zwar hatte er nicht länger als drei Tage in der Kaserne verbringen müssen, bevor er unehrenhaft entlassen worden war, aber Hose, Mantel und Schuhe waren ihm geblieben.

Wohlgemerkt, er trug alles, was er zuvor schon getragen hatte, noch unter den Militärklamotten, und so eingepackt verstärkten all die Kleidungsstücke seinen Körperumfang um einiges. Einmal im Restaurant, würde er sich auf der Toilette in den gewohnten Perez zurückverwandeln. Deshalb steckten seine Espadrilles auch in der Manteltasche.

 

»Haben Sie zugenommen?«, fragte Boucher zur Begrüßung, als Perez vierzig Minuten später in dessen Wagen einstieg.

»Können wir?«, fragte Perez, ohne auf Bouchers unverschämte Bemerkung einzugehen. »Ich bin sehr hungrig. Wegen des Schnees konnte ich nicht frühstücken.« Boucher sah ihn fragend an. »Der Weg zum Catalan ist viel zu gefährlich«, erklärte Perez. Das Café le Catalan gehörte seinem Schwiegersohn Jean-Martin und seiner Tochter Marie-Hélène. Dort pflegte Perez sein Frühstück einzunehmen und seine morgendliche Zeitungslektüre zu zelebrieren.

»Na, dann mal los«, sagte Boucher mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. »Ich werde Sie in ein Restaurant führen, das seinesgleichen an der Côte Vermeille sucht. Sie werden überrascht sein, mein lieber Perez. Aber Sie haben es sich verdient.«

Boucher spielte auf den letzten Fall an, den Perez auf nicht ganz ungeschickte Art und Weise aufgeklärt hatte und der dem Kommissar, obwohl nahezu unbeteiligt an den Ermittlungen, erhebliche Reputation eingebracht hatte. Dieses Essen sollte eine Art Dankeschön sein, ohne dass der Kommissar es je so ausgedrückt hätte. Ein Restaurant an der Côte Vermeille, das Perez nicht kannte, musste allerdings erst noch eröffnet werden. Doch er ließ dem Kommissar seine Freude.

 

Nach einer ziemlichen Rutschpartie, die, wie selbst Kommissar Boucher zugeben musste, nicht völlig gefahrlos verlaufen war, landeten sie gegen 12.30 Uhr wohlbehalten im La Bartavelle.

Das kleine Restaurant lag mitten im historischen Ortskern von Argelès, also weit genug vom Campingplatztourismus von Argelès-Plage entfernt. Hier einen Platz zu ergattern war tatsächlich Glücksache, Beziehungen halfen dabei nicht. Boucher musste sich also sehr früh um einen Tisch bemüht haben, was Perez zu schätzen wusste.

Perez mochte den stämmigen hoch talentierten Koch und seine quicklebendige, stets fröhliche Frau sehr. Natürlich stand das Bartavelle auf der Liste derer, die er mit seinen Delikatessen belieferte, und ebenso natürlich aß er dort, wann immer er die Waren anlieferte.

Und so war es nicht verwunderlich, dass das Besitzerehepaar alles stehen und liegen ließ, um Perez gebührend zu begrüßen. Hinter Boucher stehend, winkte Perez heftig ab. Er wollte doch dem Kommissar den Spaß nicht verderben.

»Bonjour, Madame«, fing der auch gleich an. »Mein Name ist Capitaine Boucher, ich hatte für zwei Personen reserviert. Ich möchte meinem Freund hier Ihre vortreffliche Küche zur Kenntnis bringen.«

Élodie, so hieß die junge Frau, schloss aus Bouchers Worten und Perez’ Gesten das Richtige und tat erfreut über den neuen Gast.

 

Die Speisen waren vorzüglich, wenn es auch Perez nicht entsprach, an fein gedeckten Tischen zu sitzen. Er schätzte das Essen viel zu sehr, als dass er dabei auf Etikette achtete. Und auch auf die ausufernden, wenn auch kompetenten Erklärungen zu den Gerichten und vor allem den dazu passenden Weinen hätte er verzichten können.

Mit dem ersten Glas Wein wurde Boucher förmlich.

»Mein lieber Perez«, begann er, »ich erhebe mein Glas auf Sie, meinen Gast heute Mittag. Ich möchte Ihnen mit diesem kleinen Mahl für Ihre famose Arbeit danken. Mir ist bewusst, dass jener Fall meinen Vorgesetzten zumindest den letzten Impuls gegeben hat, mir die Leitung der neuen Gendarmerie in Port-Vendres anzubieten. Ich will nicht sagen, dass ich den Posten sonst nicht bekommen hätte, aber … danke für Ihre Unterstützung.«

»Keine Ursache«, murmelte Perez. »Wirklich. Machen Sie kein Aufhebens darum. Schade nur, dass Sie Ihr schönes Büro in Banyuls räumen mussten.«

»Man kann nicht alles haben.«

»Und mal sehen, vielleicht kommen Sie ja doch noch eines Tages nach Paris.«

Boucher war seinerzeit nicht nach Paris befördert worden, weil er sich mit dem Bürgermeister von Straßburg angelegt hatte. Zumindest hatte er es Perez gegenüber so dargestellt.

Perez speiste mit Lust und Heißhunger und fand auch, nach einer Phase der Eingewöhnung, in ein interessantes Gespräch mit Boucher. Schließlich war er an Polizeiarbeit interessiert, und so ließ er den Kommissar, befeuert von seinen neugierigen Fragen, über die unterschiedlichen Dezernate ebenso referieren wie über die verschiedenen Ansichten darüber, was gute Polizeiarbeit ausmachte, die Boucher sowohl im Elsass als auch zuvor in seiner eigentlichen Heimat, der Bresse, kennengelernt hatte.

Nach der Vorspeise verschwand Perez und tat das, was er längst hätte tun sollen: Er entledigte sich der Militärklamotten. Und als hätte sie ihn erst jetzt erkannt, wollte sich die achtjährige Tochter des Hauses nach seiner Rückkehr voller Freude auf ihn stürzen – normalerweise brachte er ihr immer etwas zum Naschen mit, wenn er eine Bestellung auslieferte –, aber ihre aufmerksame Mutter konnte die Kleine gerade noch daran hindern. Ihr Weinen, das für einen kurzen Moment zu hören war, tat Perez in der Seele weh und hätte ihn um ein Haar zur Aufgabe seiner Maskerade gebracht.

 

Élodie trat gerade mit zwei Desserttellern an ihren Tisch, als Bouchers Telefon klingelte. Er entschuldigte sich blumig und wirkte zu Beginn des Telefonats noch beschwingt. Im Laufe des Gesprächs verdunkelte sich seine Miene jedoch zusehends.

»Es tut mir leid«, sagte er zerknirscht, nachdem er geendet hatte. »Ich fürchte, Sie müssen ohne mich zu Ende essen. So eine Sch… Entschuldigung. Ist doch zum Verrücktwerden: Kaum hat man sich mal gemütlich niedergelassen, passiert da draußen ein Verbrechen. Und bei einem Toten …«

»Mord?«, sagte Perez einen Tick zu laut. Die Köpfe in dem voll besetzten Raum wendeten sich ihnen zu. »Wer wurde ermordet?«, zischte er.

»Keine Ahnung. Muss kein Mord sein. Ein Mann wurde tot in einem Swimmingpool gefunden. Wenigstens hier in Argelès«, fügte Boucher an, als ob das die Sache besser machte.

»In einem Swimmingpool?«, fragte Perez zweifelnd.

»Stimmt. Jetzt, wo Sie es sagen … Das ist ungewöhnlich um diese Jahreszeit! Vielleicht wollte der Tote Schlittschuh laufen und ist ins Eis eingebrochen.«

Da ist er wieder, der eigenartige Humor der Menschen aus dem Norden, dachte Perez. Boucher grinste nicht einmal.

»Sie können mich hier nicht zurücklassen«, sagte Perez bestimmt. »Schon vergessen, Sie sind mein Chauffeur. Wie soll ich nach Hause kommen?«

Boucher fuhr sich durch die roten Haare. Er dachte kurz nach. Willigte dann in das Unvermeidliche ein.

»Dann kommen Sie eben mit«, sagte er. »Aber Sie warten im Wagen, damit das klar ist. Am Tatort haben Sie nichts zu suchen.«

»Natürlich nicht«, sagte Perez in stiller Vorfreude.

Kapitel 2

Die Ansammlung der Polizeifahrzeuge, die hintereinander am Straßenrand der viel befahrenen Straße geparkt standen, markierte den Tatort.

»Arme Leute, vermute ich«, sagte Perez.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Würden Sie Ihr Haus an einer Nationalstraße gegenüber von einem Gewerbegebiet bauen? Sehen Sie das Schild an der Mauer: Quincaillerie Hubert. Eisenwaren, damit ist heutzutage kein Geld mehr zu verdienen.«

Boucher zuckte mit den Schultern, holte in einem weiten Bogen aus und steuerte sein Ungetüm mit Anlauf die steile Rampe hinauf. Fast wären sie rückwärts zurück auf die Straße gerutscht. Perez krallte sich am Haltegriff über der Tür fest.

Die vereiste Betonpiste war der Grund, weshalb die übrigen Polizeifahrzeuge unten an der Straße geparkt waren. Normale Dienstfahrzeuge im Süden verfügten über keinerlei Winterbereifung.

Von einem Haus war hier oben allerdings nichts zu sehen. Auch fehlte jeglicher Eisenschrott, den man hier doch eigentlich erwartet hätte. Stattdessen schlängelte sich ein schmaler Weg zwischen Bäumen hindurch in Richtung des Waldgürtels, der Argelès von Argelès-Plage trennte. Erst der Dachfirst, der bald hinter einer enorm hohen Hecke auftauchte, verriet die Lage des Hauses. Zusätzlich zur Hecke war es von einer mächtigen Mauer umgeben. Wer hier lebte, wollte sich offenbar sicher fühlen. Das rostige Metalltor an der Straße und das verrottete Firmenschild waren nichts als Camouflage.

Boucher brachte seinen Allradwagen im zertrampelten Schnee vor dem mächtigen Portal aus Zedernholz zum Stehen.

»Perez!«, sagte er scharf.

»Ja«, antwortete Perez.

»Sie bleiben im Wagen!« Perez schwieg. »Perez?«

»Machen Sie wenigstens die Heizung an«, brummelte er und vermied es, den Kommissar anzusehen.

Boucher stieg aus, holte den Schlüssel aus der Tasche und schien für einen Moment zu wünschen, er könnte Perez im Wagen einsperren. Schnell entschwand er in Richtung Eingang.

Perez wartete einen Moment, dann öffnete er die Tür. »Will mich bloß mal strecken«, murmelte er.

 

Perez zog sich die Militärklamotten wieder über, bevor er die Vorderfront des zweistöckigen Gebäudes abschritt. Es war groß, aber nicht protzig. Im Stil eines katalanischen Landhauses entworfen, geschmackvoll und zurückhaltend. Seine Außenmauern leuchteten im strahlend hellen Rot, für das die Côte Vermeille berühmt war. Perez versuchte durch die Fenster einen Blick ins Innere des Hauses zu werfen, was ihm aber aufgrund seiner Körpergröße misslang.

Zwei große Pinien und eine Reihe Zypressen umrahmten das Haus und spendeten Schatten, ohne bedrohlich zu wirken. Entlang der Mauer wuchsen unterschiedlichste Sträucher. Oleanderbüsche, Bougainvillea, eine kleine Dattelpalme sowie Feigenkakteen. Alles wirkte organisch, und doch war es sorgsam konzipiert worden, etwas zu sorgsam vielleicht.

Als Perez um die nordöstliche Hausecke bog, breitete sich vor ihm das riesige Gartenareal aus. Direkt vor ihm stand eine Gruppe von Polizisten und starrte auf ein Loch – der Swimmingpool. Sprach man hier überhaupt noch von Pool, fragte sich Perez angesichts der Ausmaße der Schwimmanlage. Sicher an die zwanzig Meter in der Länge und fünf Meter in der Breite maß das Becken, das einer Kleinstadt als öffentliches Freibad zur Ehre gereicht hätte.

Einer der Flics wurde auf Perez aufmerksam, schien aber keinen Grund zu sehen, ihm den Zugang zu verweigern. Im Gegenteil begrüßte er den Neuankömmling durch ein Kopfnicken. Perez, derart willkommen geheißen, schritt furchtlos weiter auf den Pool zu. Solange ihn niemand daran hinderte, sah er keinen Grund zur Zurückhaltung. Im Rücken der bis auf Boucher uniformierten Gendarmen und Polizisten blieb er stehen.

Im Pool befand sich kein Wasser, Schlittschuh war hier also niemand gelaufen. Jungfräulicher Schnee bedeckte den Boden des gefliesten, etwa drei Meter tiefen Beckens. Mitten im gleißend hellen Schnee lag ein Mann seltsam verrenkt auf dem Bauch, sein Gesicht war nicht zu erkennen. Um seinen Kopf herum eine Blutlache, wie Ölfarbe auf einer Malerpalette verspritzt. Perez’ Gefühl schwankte zwischen Faszination, in einem so frühen Stadium der Ermittlung dabei zu sein, und Beklommenheit.

»Gibt es schon einen Hinweis, um wen es sich handelt?«, hörte er Boucher fragen.

»Vielleicht der Hausherr«, antwortete einer der Beamten.

»Vielleicht reicht mir nicht. Wann kommt der Doc?«

»Steckt irgendwo im Verkehr fest. Der Schnee …«

»Mein Gott, das bisschen Weiß …«, schimpfte Boucher.

Perez trat ein wenig zur Seite, sodass er das Gesicht des Kommissars sehen konnte. Es war knallrot. Zusammen mit dem roten Haar und den Sommersprossen ergab sich ein Effekt, der ideal zur Côte Vermeille passte.

»Name?«, fragte Boucher in diesem Moment.

»Das Haus gehört einer Familie Delhaize. Belgier. Sind ziemlich bekannt in der Gegend. Eigentlich, so sagte man uns, kommen sie nur im Sommer für ein paar Wochen her. Madame Delhaize bleibt wohl gerne länger. Monsieur, wie seine Geschäfte es zulassen.«

»Haben Sie schon versucht, die Delhaizes zu erreichen?«

»Nein, wir wollten eigentlich auf die Gerichtsmedizin warten. Also zunächst natürlich auf Sie, Monsieur le Capitaine«, beeilte sich der Sprechende hinzuzufügen, »und dann auf die Spurensicherung. Sobald die den Tatort freigeben, können wir den Mann umdrehen. Vielleicht hat er ja Papiere bei sich.«

»Delhaize sagen Sie?«, fuhr Boucher fort. »Und eine bekannte Familie? … Das gibt Ärger! So was rieche ich gegen den Wind. Wer hat den Toten gefunden?«

»Die Haushälterin.«

»Et alors?«

»Sie steht unter Schock. Malherbes hat ihr einen Tee gekocht. Sie liegt drinnen auf der Couch. Armes Mädchen.«

»Na dann wollen wir uns mal etwas näher mit diesem Mädchen befassen«, sagte Boucher und wandte sich zum Gehen. Als er Perez entdeckte, stoppte er abrupt mitten in der Bewegung.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, zischte er. Seine Augen funkelten zornig, seine Gesichtsfarbe wechselte von Leuchtendrot zu Purpur. »Ich hatte Sie um etwas gebeten, Perez«, sagte er so leise, dass niemand der Umstehenden seine Worte verstehen konnte.

»Sieht irgendwie hübsch aus«, stammelte Perez und deutete auf den Toten im Pool.

Kapitel 3

Kaum war Boucher im Haus verschwunden und die Polizisten wieder untereinander ins Gespräch vertieft, schlich Perez zu einem offen stehenden Fenster. Wahrscheinlich hatte dieser Malherbes es geöffnet, um der schockstarren Haushälterin etwas frische Luft zu verschaffen. Und da alle Fenster auf der Rückseite des Hauses bodentief waren, erlangte Perez einen guten Blick auf das Geschehen. Gleichzeitig lag das Fenster so, dass er weder von den Beamten am Pool noch von Boucher gesehen werden konnte.

Das Innere des Hauses war so geschmackvoll eingerichtet, wie das Äußere es hatte vermuten lassen. Kein Pomp, keine neureichen Materialien, weder Carrara-Marmor noch Goldtapete. Keine schlechte Kunst an den Wänden, sondern alles stilvoll nach den Vorbildern alter Herrschaftshäuser gestaltet. Helle Farben, viel Licht, wenige, dafür aber geschmackvoll ausgewählte Möbel auf sehr schönen alten Fliesen. An der Wand hinter der beigen Couchlandschaft hing ein sicher vier Meter langes Gemälde. Es zeigte ein schmales Langboot. Darunter ein historisches Paddel, das zur Periode, in der solche Boote benutzt worden waren, passte und aussah, als hätte es jahrelang am Strand gelegen und auf den Künstler gewartet. Von Sonne und Meer ausgebleicht.

Sehr schön, dachte Perez. Ein solches Stück moderner Kunst würde ihm auch gefallen. Allerdings würde das Bild in seiner kleinen Wohnung bis hinaus ins Treppenhaus reichen.

Die Frau versuchte gerade, sich aufzusetzen, Boucher stand vor ihr und kehrte Perez den Rücken zu.

»Geht es?«, hörte er den Kommissar fragen. »Würden Sie mir Ihren Namen verraten, Madame?«

»Mademoiselle«, hörte er die Frau antworten. Ihre Stimme klang fest.

»Pardon. Alors, Ihr Name?«

»Noémie Schneider.«

»Staatsangehörigkeit?«

»Ich bin Französin. Mein Urgroßvater war Schweizer.«

Die Frau war zierlich, hatte volles schwarzes Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug keinerlei Make-up. Unterhalb ihres linken Auges ein Muttermal, das ihrem Gesicht etwas Auffälliges verlieh.

»Mademoiselle Schneider, Sie sind die Haushälterin der Familie Delhaize, ich nehme an, das ist korrekt?«

»Ich bin die Putzfrau. Ich komme einmal die Woche und lüfte das Haus, wenn die Herrschaft nicht da ist. Im Sommer komme ich täglich. Ich putze und koche. Genauer gesagt, ich treffe die Vorbereitungen. Kochen tut Madame dann selbst. Sie haben fast jeden Abend Gäste, sonst gehen sie ins Restaurant.«

»Und Sie haben den Toten gefunden?« Die Frau nickte. »Ein Schock für Sie, das verstehe ich gut. Man findet nicht jeden Tag eine Leiche. Ist es Monsieur Delhaize?«

»Nein!« Sie wirkte überrascht. »Die Familie ist nicht hier. Nein, dass ist ein Fremder, ich kenne ihn nicht. Man sieht ja auch nur …«

»Den Rücken, ja. Also ist es nicht Monsieur Delhaize … Vielleicht ein Bekannter der Familie? Ein Freund?« Die Frau zuckte mit den Achseln. »Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Gab es vielleicht Zeichen eines Einbruchs, Fußspuren, … irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte?«

Die junge Frau fing an zu weinen. Perez schloss es aus dem Taschentuch, mit dem sie sich die Augen tupfte.

»Nein«, hörte er sie sagen. Deutlich leiser als zuvor.

»Nein, was? Keine Fußspuren?«

»Es war doch alles zugeschneit.«

»Ja, der verdammte Schnee, der macht es euch hier unten leicht.«

Der spinnt, dachte Perez. Als ob der Schnee im Elsass keine Fußspuren bedecken würde. Und was war das überhaupt für eine blöde Frage? Natürlich mussten dort Fußspuren zu sehen gewesen sein. Der Tote war sicher nicht aus einem Flugzeug gestürzt und im Pool gelandet.

»Dann sind Sie bitte so freundlich und geben mir die Telefonnummer von Monsieur und Madame.«

Die Frau nickte, während sie ihr Mobiltelefon aus der Hosentasche zog, kurz darauf herumtippte, bevor sie Boucher die Nummer nannte.

»Sie bleiben hier sitzen, bis wir draußen fertig sind. Vielleicht brauche ich Sie noch.«

Boucher wandte sich zur Tür, vermutlich um zu schauen, ob die Experten inzwischen eingetroffen waren. Und tatsächlich kamen die vier Personen just in diesem Augenblick um die Hausecke gestapft. Perez war sofort in den Schutz der Außenmauer zurückgetreten.

»Na endlich«, rief Boucher und deutete auf den Pool. Dann drehte er sich wieder zu Mademoiselle Schneider um. Perez ging erneut auf Position.

»Was sind das für Leute, Ihre Herrschaft?«

Noémie Schneiders Mundwinkel zuckten, als wollte sie sagen: Na, reiche Leute eben.

»Geht’s etwas genauer?«, Boucher dachte nicht in diesen Kategorien.

»Sie bezahlen mich gut«, war die Antwort.

»Haben Sie noch eine andere Arbeit als diese hier, Mademoiselle?«

»Ich pflege meinen kranken Vater.«

»Verstehe. Madame Delhaize, sagten Sie, verbringt den Sommer hier?« Sie sah ihn fragend an. »Richtig, das haben ja gar nicht Sie gesagt, aber es ist doch so, nicht wahr?«

»Meistens kommt sie im Mai und bleibt bis September. Zwischendrin fliegt sie schon mal woandershin, um Urlaub zu machen.« Boucher räusperte sich. »Letztes Jahr musste ich sie nach Barcelona zum Flughafen bringen. Von dort flog sie übers Wochenende nach New York, zusammen mit einer Freundin aus Madrid.«

»Aus dem Urlaub in den Urlaub«, sagte Boucher mehr zu sich selbst. »Ist sie streng zu Ihnen?«

»Nein.«

»Sie ist also nett und freundlich?«

»Nein.«

»Mademoiselle …«

»Sie beachtet uns nicht.«

»Uns?«

»Patrice, den Gärtner, und mich.«

»Patrice und weiter?«

»Patrice … Ich weiß es leider nicht. Ich kenne ihn eigentlich gar nicht, er kommt meist nur an den Wochenenden, wenn ich freihabe.«

Boucher entwich ein resignativer Zischlaut. »Und Monsieur, ist der nett oder abweisend oder übersieht er Sie auch?«

»Er ist nicht oft da.« Perez entging nicht, dass sich die Körpersprache der Frau veränderte, als die Rede auf den Herrn des Hauses kam. Aus Niedergeschlagenheit war Anspannung geworden. Boucher schien das nicht zu bemerken.

»Nett? Abweisend …?«, fragte er.

»Monsieur le Capitaine. Bitte geben Sie mir etwas Zeit …«

»Capitaine Boucher«, rief einer der Polizisten von draußen durch die Tür. »Wir sind jetzt bereit, den Mann umzudrehen.«

Boucher sah noch einmal auf Noémie Schneider hinab, bevor er hinaus und durch den Schnee hinüber zum Becken ging. Perez beobachtete noch, wie die junge Frau zum Telefon griff, bevor ihn der Tote doch wieder mehr interessierte als die Haushaltshilfe.

»Na dann mal los. Drehen Sie ihn um«, rief Boucher vom Poolrand den Beamten zu. Er ging in die Hocke.

Vier Hände bewegten den Mann. Die Mediziner traten beiseite, sobald die Leiche auf dem Rücken lag. Im Schein der Januarsonne erkannte man nun alle Details. Das nasse lange Haar, den verfilzten Bart, der das Gesicht fast vollständig bedeckte, die gebrochenen Augen.

Mitten in die aufkommende Stille hinein ertönte Perez’ Stimme.

»Der Professor«, sagte er tonlos und hob vor Schreck die Hand vor den Mund.

Alle Blicke richteten sich auf ihn. Erst jetzt schienen sich viele der Beamten zu fragen, wer dieser seltsame Mann in den altmodischen Militärklamotten wohl sein mochte. Wahrscheinlich hatten Mantel und Stiefel ihn bislang vor Fragen bewahrt. Ein Soldat am Tatort war nicht ungewöhnlich, man durfte nicht vergessen, dass auch die Gendarmen zum Militär gehörten. Wahrscheinlich hatten sie in ihm einen Kollegen vermutet. Nun aber besahen Sie ihn sich genauer.

»Er gehört zu mir«, sagte Boucher ohne Freude im Tonfall. »Sie kennen den Mann, Perez?«

»Nicht wirklich. Ich habe ihn schon einmal gesehen, aber eigentlich kenne ich nur seinen Namen. Seinen Spitznamen, besser gesagt. Man nennt ihn den Professor.« Perez überlegte. »Vielleicht wissen die Leute im Café le Catalan mehr über ihn. Wenn mich nicht alles täuscht, ist er mir dort vorgestellt worden. Muss Jahre her sein. Ich erinnere mich bloß an dieses Gesicht und den langen Bart. So was trägt ja kaum noch einer.«

»Na schön«, sagte Boucher. »Das werden wir dann wohl schnell herausfinden. Der Professor, ja? Immerhin hat der Tote schon mal einen Spitznamen.«

 

Während Boucher Noémie Schneider den Anblick der nun umgedrehten Leiche zumutete, um sie erneut nach der Identität des Toten zu befragen, machte die Spurensicherung ihre Arbeit.

Eine Stunde später stand Perez direkt neben Boucher, als die Beamtin in einem Overall, der mit dem Schnee um das hellste Weiß des Tages wetteiferte, einen ersten und, wie sie betonte, noch sehr vorläufigen Bericht abgab.

»Leider hat der Schnee mögliche Spuren vernichtet. Und was der Schnee nicht geschafft hat, das ist den Stiefeln Ihrer Männer gelungen.« Boucher knurrte. »Im Augenblick deutet nichts auf eine Gewalttat hin. Es scheint, als habe das Opfer das Gleichgewicht verloren und sei ins Becken gestürzt. Dabei ist der Mann mit dem Kopf gegen den Beckenrand geschlagen. Ob ihn dieser Schlag tatsächlich umgebracht hat oder ob er im Becken liegend erfroren ist, kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich den Mann bei mir auf dem Tisch habe. Bis auf Weiteres gehe ich von einem Unfall aus. Warum der Mann hier war, was er so nah am Beckenrand gewollt haben könnte, das herauszufinden, Capitaine Boucher, wird wohl jetzt Ihre Aufgabe sein, wenn das überhaupt von Belang ist. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, sind wir hier erst einmal fertig.«

In Bouchers Gesicht war Erleichterung zu erkennen. Ein komplizierter Mord war nichts, was er im Augenblick gebrauchen konnte, er hatte andere Probleme.

Und die hatte auch Perez, der es plötzlich eilig hatte, nach Hause zu kommen. Während der Erläuterungen der Medizinerin war ihm nämlich schlagartig wieder eingefallen, woher er Professor Abel Pasquier tatsächlich kannte.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen lag noch immer Schnee, die Temperaturen bewegten sich weiterhin im Null-Grad-Bereich. Perez hatte auf dem Weg zum Catalan mit äußerster Vorsicht immer schön einen Fuß vor den anderen gesetzt und war doch mehr geschlittert als geschritten. Sein Outfit war inzwischen Dorfgespräch, niemand, der ihn nicht auf den ollen Mantel und die unbequemen Knobelbecher, wie die Stiefel im Militärjargon genannt wurden, angesprochen hätte. In diesem Augenblick lag der Mantel über der Lehne eines Stuhls, im Café gab es glücklicherweise eine funktionierende Heizung. Trotzdem war es frisch.

Neben Perez saß Jean-Martin, sein Schwiegersohn, und bearbeitete ohne Unterlass die Tastatur seines Laptops. Jean-Martin war zu einer Art Frühstücksschatten geworden.

»Sag mal«, knurrte Perez, ohne den Blick zu heben. »Du hast nicht zufällig Marianne gesehen? Ich suche seit gestern Nachmittag nach ihr.«

»Nein. Hast du mal bei ihr angerufen?«

»Geht nicht ran. Nur die vermaledeite Mailbox.«

»Ausgeschaltet oder leerer Akku«, sagte der Dürre. »Steph war hier, wie jeden Morgen vor der Schule, hast du sie gefragt?«

»Was denkst du wohl?«

»Warst du bei Marianne zu Hause?«

Als Antwort erhielt Jean-Martin ein weiteres bedrohliches Knurren. Seit Perez Marianne vor einigen Monaten mit einem flüchtigen Liebhaber überrascht hatte, vermied er unangemeldete Besuche bei seiner Liebsten. Das Drama einer offenen Beziehung. Doch davon wusste Jean-Martin nichts.

Perez hob den Blick und sah zu seiner Tochter hinüber. Wie erwartet hatte sie unmittelbar nach der Hochzeit damit begonnen, im Café zu arbeiten. Und wie vorausgesagt hatte sie ihren Liebsten fast ebenso unmittelbar entmündigt. Seit vergangenem Sommer bestimmte nur noch Marie-Hélène die Geschicke des Catalan. Auch diesem Umstand verdankte Perez seinen neuen Frühstückspartner, denn hinter dem Tresen war für die Bohnenstange, le grand échalas, wie er längst nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, kein Platz mehr.

Und doch war Perez ein stolzer Vater. Im Café herrschte, seit Marie-Hélène das Zepter schwang, ein anderer Wind. Alles war akkurat aufgeräumt und sauber. Das Metall der Maschinen blitzte, Tische wurden sofort abgeräumt und abgewischt, nachdem die Gäste gegangen waren, und manchmal gab es sogar frische Blumen. Für die Terrasse hatte Marie ein neues Frühstückskonzept entwickelt, mit frisch gepressten Fruchtsäften, einem Kaffee nach Wahl, leicht gebutterter Baguette, verschiedenen Marmeladen und Croissants zu einem attraktiven Gesamtpreis. Es gab nun Aschenbecher und bequemere Korbstühle. Auch die Fernseher über der Bar hatte sie zunächst stilllegen lassen, sich allerdings schlussendlich den Protesten der Gäste beugen müssen. Keine Fußballspiele, kein Rugby, keine Pferderennen, was würde als Nächstes kommen, hatten sich die Leute gefragt. Würde die Neue ihnen gar das Rumispielen verbieten?

Marie-Hélènes nächster Coup stand unmittelbar bevor. Der vordere Teil des Cafés sollte abgetrennt und zur Rue St. Pierre hin in einen Eissalon verwandelt werden. Der Gatte sollte dafür eigens zu einem Lehrgang nach Italien geschickt werden, den der Hersteller vorschrieb, um dessen glace artisanale vertreiben zu dürfen. Für Perez’ Geschmack war das eine Veränderung zu viel. Nicht umsonst wurde solch ein Quatsch nur in Italien unterrichtet.

»Sag mal, JeMa«, sagte Perez deshalb auch, »kannst du nicht irgendetwas gegen dieses unsinnige Eiscafé unternehmen?«

»Versuch du doch, ihr das auszureden, Schwiegerpapa. Weißt ja, wie schwer das ist. Sie ist besessen von dem Gedanken.«

»Mais oui«, sagte Perez mehr zu sich selbst. »Ich habe dich gewarnt, JeMa. Oder habe ich nicht?«

»Aber ich liebe sie.«

Perez schmunzelte. »Das möchte ich dir auch geraten haben«, sagte er, um Ernst in der Stimme bemüht, bevor er sich wieder auf seine Zeitungen konzentrierte.

Auf Seite drei der spanischen Tageszeitung La Vanguardia stieß Perez auf einen Artikel, der seine Aufmerksamkeit erregte. Schatzsucher vor der katalanischen Küste lautete die Überschrift.

Ein auf die Bergung gesunkener Schiffe spezialisiertes Unternehmen mit Sitz in Madrid verhandelte mit dem katalanischen Regionalparlament in Barcelona über die