In meinen Träumen seh ich dich - Monica James - E-Book
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In meinen Träumen seh ich dich E-Book

Monica James

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Beschreibung

Victoria will ihren Albträumen entkommen und zieht an einen neuen Ort. Am schönsten Tag ihres Lebens wurde sie überfallen, und ihr Freund Bryan half ihr nicht. Stattdessen rannte ein unbekannter Retter auf sie zu. Mehr weiß sie nicht mehr von dem schrecklichen Ereignis, nur dass sie Bryan nicht verzeihen konnte. Nun will sie Ruhe finden, doch die Begegnungen mit Jude lassen ihr Herz schneller schlagen. Bald weiß er alles über sie, hüllt sich jedoch selbst in Schweigen. Welches Geheimnis verbirgt er vor ihr? Eine große Liebe, die Raum und Zeit überwindet - spannend und romantisch.

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MONICAJAMES

In meinen Träumen seh ich dich

ROMAN

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoPROLOGErstes Stadium: Ei1.2.3.4.5.6.Zweites Stadium: Raupe7.8.9.10.11.12.13.Drittes Stadium: Puppe14.15.16.17.18.19.Viertes Stadium: Schmetterling20.21.EPILOG

Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?

Edward Lorenz, Der Schmetterlingseffekt

PROLOG

»Warte kurz, mein Schnürsenkel ist offen!«

»Schon wieder? Hast du den Spruch vergessen, mit dem man einen Knoten macht? Die Maus baut ein Haus, geht herum und kommt vorne wieder raus.« Ich schmunzele hinter vorgehaltener Hand.

Bryan hebt seine geschwungenen dunklen Augenbrauen. »Drehst du dich mal um? Wenn du zuguckst, kann ich das nicht.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und tappe ungeduldig mit dem Fuß. »Was kannst du nicht? Deine Schnürsenkel zubinden? Wie alt bist du, fünf?« Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Bryan auf dem Asphalt kniet, und kann mir das Lachen nicht verkneifen.

»Tori, bitte, könntest du mir einmal einen Gefallen tun?«

Ich konnte Bryan noch nie einen Wunsch abschlagen. »Von mir aus. Aber es würde sich bestimmt bewähren, einen doppelten Knoten zu machen.«

»Haha, sehr lustig. Du kannst von Glück sagen, dass du heute Geburtstag hast.«

Ich muss breit grinsen. »Stimmt, und du verschwendest gerade wertvolle Geburtstagszeit. Wenn du so weitermachst, bin ich bald achtundzwanzig.«

Es war mein Siebenundzwanzigster.

Kaum zu glauben, dass Bryan und ich nun schon seit zehn Jahren ein Paar sind. Er ist mein Traummann, der mich absolut glücklich macht, und in all der Zeit ist meine Liebe zu ihm sogar noch größer geworden.

»Was ist …?« Mir bleiben die Worte im Hals stecken. Vor mir kniet Bryan und hält mir ein rotes Samtkästchen hin.

Als wolle er die Ernsthaftigkeit der Situation unterstreichen, öffnet er den Deckel, und auf einem Polster aus weißer Seide erstrahlt ein eleganter Diamantring.

»D…d… das ist ein Ring«, stammele ich, die Augen so groß wie Untertassen.

»Ich weiß.«

Mit zitterndem Finger weise ich auf das Kästchen. »Was hat das zu bedeuten?«

»Ich möchte, dass du mich heiratest«, antwortet Bryan, wie aus der Pistole geschossen.

»Jetzt?« Was für eine dämliche Antwort! Ich weiß nicht, was ich sagen soll, habe Angst, in Tränen auszubrechen.

»Vielleicht nicht in diesem Moment, aber hoffentlich bald.« Er grinst.

Mein Herz schlägt Purzelbäume. Ich möchte Bryan so vieles sagen, aber mir fehlen schlicht die Worte, um auszudrücken, wie glücklich ich bin. So etwas Schönes wie diesen Ring habe ich noch nie gesehen – er funkelt mit den Sternen um die Wette.

»Und? Willst du mich nun heiraten oder nicht?«

Typisch Bryan, derart cool nachzuhaken. Ich hingegen stehe kurz vor der Schnappatmung. »I… ich … ich …« Ein einfaches Ja kommt mir so nichtssagend vor.

»Victoria?« Auf Bryans Stirn bilden sich kleine Falten.

Sprachlos stehe ich vor ihm.

»Willst du mich heiraten?«, wiederholt er. Jedes Mädchen wünscht sich, irgendwann diesen Satz zu hören. Endlich erwache ich aus meiner Schockstarre.

Das also ist der Grund, warum er sich beim Laufen insgesamt siebenmal die Schuhe zugebunden hat. Bei den ersten sechs Anläufen hatte er einfach nicht genug Mut. Jetzt hat er sich durchgerungen. Es ist so weit.

»Und ob ich das will. Ja, ja, ja!«, rufe ich. Tränen laufen mir über die Wangen.

»Wirklich?«, fragt er, und ich staune, dass er tatsächlich angenommen hat, meine Antwort könne anders lauten.

Ich nicke und muss schluchzen.

»O Tori!« Bryan springt auf, schlingt die Arme um mich und hebt mich hoch. Ich kann meine Freudentränen nicht zurückhalten.

Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, greift er nach meiner Hand und schiebt mir den Ring auf den Finger. Er passt perfekt. »Ich liebe dich so sehr. Du hast mich gerade zum glücklichsten Mann der Welt gemacht.«

Wir küssen uns selig und liegen uns eine gefühlte Ewigkeit in den Armen. Es ist perfekt; genau so soll es sein.

Auf dem Rückweg zum Auto strecke ich immer wieder die linke Hand aus und bewundere den Ring. Die Situation ist völlig surreal. Der heftige Wind nimmt an Stärke zu und heult uns um die Ohren. Ich kuschele mich an Bryan, suche seine Wärme. Als unser schwarzer Jeep in Sicht kommt, atme ich erleichtert aus. Es ist unheimlich hier auf der sonst so geschäftigen Straße.

»Und, erzählst du es gleich deiner Mutter?«, fragt Bryan und drückt mich so fest an sich, dass ich sein Aftershave rieche.

»Gleich morgen früh.« Ich muss gähnen. Wie spät es wohl ist? »Aber sobald wir im Auto sind, sage ich Matilda Bescheid.« Meine Schwester würde mir den Hals umdrehen, wenn sie es erst nach meiner Mutter erführe.

Bryan küsst mich auf den Scheitel, eine schützende Geste, die Geborgenheit vermittelt.

Plötzlich höre ich eine Flasche über den Asphalt schlittern. Ich schaue mich über die Schulter um, spähe angestrengt in die Dunkelheit, sehe allerdings nichts. Erleichtert atme ich aus. Im selben Moment stoße ich mit jemanden zusammen, von dem ein penetranter Gestank ausgeht. Instinktiv schreie ich auf, hebe beschwichtigend die Hände und entschuldige mich wortreich, nicht aufgepasst zu haben.

»Toller Ring«, sagt der Fremde grinsend. Seine langen gelben Zähne erinnern mich an eine Ratte.

Sofort zieht mich Bryan zur Seite. Keine Ahnung, warum, doch ich zittere plötzlich am ganzen Leib, denn ich spüre, dass etwas Schlimmes auf uns zukommt, das unser Leben verändern wird.

»Geh einfach weiter!«, flüstert mir Bryan ins Ohr. Unsere schnellen Schritte verraten, dass wir Angst haben. Der Jeep ist nur noch wenige Meter entfernt, da wird mein Kopf heftig nach hinten gerissen. Ein unerträglicher Schmerz fährt mir durch den Schädel in den Nacken. Automatisch ziehe ich den Kopf nach vorn, aber vergeblich.

Die nächsten Minuten nehme ich wie durch einen Schleier wahr. Ich begreife nicht, was geschieht, bloß dass Bryan laut schreiend versucht, mich zu befreien. Ich wehre und winde mich, damit der Schmerz an den Haarwurzeln aufhört. Verzweifelt probiere ich, mich loszureißen. Ich will laut um Hilfe rufen, doch bevor meine bebenden Lippen ein Geräusch ausstoßen können, spüre ich etwas Hartes im Rücken. Ich sacke in mir zusammen. Ein Arm wird auf meine Luftröhre gelegt, und ich gurgele nur noch erstickt.

Was ist hier los?

»Her mit den Schlüsseln!« Ein muffiger Geruch. Ich schluchze auf.

Bryan fleht den Angreifer mit erhobenen Händen an, mich loszulassen. »Hier! Aber lass sie gehen!« Er streckt den Arm aus und öffnet die Faust, in der der Schlüsselbund liegt.

Das reicht dem Fremden offenbar nicht. »Nicht so hastig!« Sein warmer Atem riecht nach saurer Milch. »Wirf sie rüber!«

Bryan gehorcht, ohne zu widersprechen. Er nickt mir aufmunternd zu, aber die nackte Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben. Nein, es wird nicht gut. Nichts wird je wieder gut.

»Heb die Schlüssel auf!«, zischt mir der Kerl ins Ohr. Fast berühren seine Lippen meine Ohrmuschel. Ich wimmere. Mein Herz hämmert so schnell in meiner Brust, dass ich Angst habe, es könne stehen bleiben.

Als ich mich vorbeuge, stößt der Angreifer das bösartige Lachen eines Wahnsinnigen aus. Er drückt den Arm fester auf meine Kehle, so dass ich kaum noch Luft bekomme. Ich hebe die Hände, kralle die Finger in sein Fleisch, um mich zu befreien.

»Lass sie los!«, schreit Bryan und will sich mit geballten Fäusten auf den Kerl stürzen. Der nimmt das kalte Metall aus meinem Rücken und hält es an meine Schläfe. Bryan bleibt stehen.

»Bryan …«, stöhne ich. Doch es wäre sinnlos, wenn er versuchte, mir zu helfen. Außer uns ist niemand hier. Keiner würde mich hören. »Lauf!«, schluchze ich. Die heißen Tränen auf meinen Wangen verraten meine Angst. Hilflos versuche ich, mich zu wehren, doch der Griff des Fremden ist zu stark.

»Nein, ich lasse dich nicht allein!«

Ich spüre Bryans Entsetzen bei der Vorstellung, dass ich mich für ihn opfere. Aber warum sollten wir beide draufgehen? Der Druck in meinem unteren Rücken sagt mir, dass es dem Schwein jetzt nicht mehr bloß um die Schlüssel geht.

»Ja, genau! Lauf nach Hause!« Der Fremde leckt mir über die Wange.

Bryan knirscht mit den Zähnen, will sich auf den Angreifer stürzen.

Ich schlage wie wild um mich, will mich befreien, doch meine Gegenwehr führt nur dazu, dass er mir den Unterarm noch fester an den Hals drückt. Ich würge, bekomme keine Luft mehr. Das Metall der Pistole fühlt sich inzwischen heiß an, die Wärme meiner Haut erhitzt den Lauf. Mich verlässt die Kraft. Ich weiß, dass ich keine Chance habe.

»Meine Schöne, es wird deutlich weniger weh tun, wenn du dich nicht wehrst.« Ich gebe mich geschlagen, bin aber entschlossen, ihn wie einen Pitbull zu attackieren, sobald seine Aufmerksamkeit nachlässt.

Bryan stehen Tränen in den Augen, mir ebenfalls. »Ich liebe dich«, flüstere ich. Der Angreifer legt seine große Hand auf meine Kehle und schleppt mich mit sich. Ich habe keine Wahl. Ich schnappe nach Luft.

Ich kratze an seinen Fingern, befürchte, das Bewusstsein zu verlieren, wenn er nicht bald loslässt. Er drückt bloß noch härter zu. »Nein!«

»Tori, nein!«

Bryans Schreie geben mir den Rest, jegliche Spannung verlässt meinen Körper, ich ergebe mich. Ich kann nicht ertragen, wenn er leidet. Das belastet mich mehr als mein eigener Schmerz. Mein Blick bohrt sich in seinen. Der schönste Abend meines Lebens wird gerade zum schlimmsten und wahrscheinlich auch zum letzten.

»Wenn du uns verfolgst, schwöre ich dir, mach ich euch beide kalt!« Ich kann mich bloß Bryan zuliebe fügen. Der Angreifer fuchtelt mit der Pistole vor meinem Gesicht herum und macht keinen Hehl daraus, dass er uns beide erschießt, wenn wir uns widersetzen.

Er schleift mich um die Ecke, durch eine schmutzige dunkle Gasse, und presst mich brutal mit dem Gesicht gegen eine Mauer. Ich denke an Bryan und mich, an all die Stunden, Minuten und Sekunden, die wir zusammen verbracht haben. Wir hatten so viele schöne Momente – alles umsonst. Es hilft nichts.

Mein Kleid wird hochgezerrt, der Slip runtergerissen. Der Fremde legt meine Hand auf die Backsteinwand, das Mondlicht fängt sich in meinem Diamanten. Eines Tages wäre ich die Frau von Bryan Moore geworden. Dazu wird es nicht mehr kommen.

»Du kannst schreien, so laut du willst. Macht mich nur noch geiler.« Dieser Mann wird mir gleich Gewalt antun, und ich weiß nicht einmal, wie er heißt. Er fängt an, mich zu begrabschen.

»Bitte, lass Bryan in Ruhe.« Mehr verlange ich nicht.

»Du hast nichts zu wollen!« Er zieht an meinem Verlobungsring, und ich begreife, dass er mir alles nehmen wird.

Sein kläglicher Versuch weckt das Tier in mir. Wut steigt auf. Ich will kein Opfer sein. Intuitiv schleudere ich den Kopf nach hinten. Es gibt ein Geräusch, als würde eine Apfelsine platzen.

Ein Handgemenge, meine Schreie, ich drehe mich blitzschnell um und attackiere den Ganoven, der die Hände vor seine blutende Nase hält.

»Du verfluchte Schlampe!«, schimpft er.

Die Mauern werfen mein Geheul zurück. Mir ist alles egal. Ich will dieses Schwein so schwer wie möglich verletzen. Plötzlich höre ich Schritte. Erleichtert schaue ich hoch, werde jedoch unsicher, als zwei Männer auf mich zugelaufen kommen. In der Ferne folgt Bryan, ein schattenhafter Umriss. Er muss Unterstützung geholt haben.

Ich weiche meinem Angreifer aus und stürme in Windeseile auf die erste Gestalt zu, die sich offenbar mehr anstrengt, mich zu retten, als mein eigener Verlobter. Bryan hält sich dezent im Hintergrund, wirkt verängstigt, ja, zögerlich. Es verletzt mich, dass er nicht entschlossener für mich kämpft. Aber das ist jetzt nicht vorrangig.

»Lauf!«, kreische ich, um meinen Retter in der Not zu warnen. Warum fühle ich mich ihm bloß so nah?

Jeden Moment bin ich bei ihm. Vor Erleichterung könnte ich heulen. Das war’s. Es ist vorbei. Ich werde überleben. Plötzlich ruft mein Retter: »Achtung!«

Voller Entsetzen höre ich ein Klicken und zwei ohrenbetäubende Schüsse, dann wird alles um mich herum schwarz.

Den Entwicklungsprozess des Schmetterlings nennt man Metamorphose. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet Verwandlung.

Erstes Stadium: Ei

1.

Neun Monate später

»Es tut mir unglaublich leid, Tori. Ich kann dir nicht helfen, obwohl ich es versprochen habe.«

Ich weiß noch, dass ich geistesabwesend aus dem Fenster unseres früher so geliebten Hauses sah und mich vollkommen leer fühlte.

»Ich hätte dir gerne beigestanden und dich beschützt. Ich hab’s einfach … vermasselt. Das werde ich mir nie verzeihen.«

Alles bloß Ausreden und Lügen.

»Ich kann hier nicht bleiben. Hier gibt es zu viele … Erinnerungen. Ich kann nicht länger in diesem Haus leben. Vergib mir! Ich habe versucht, stark zu sein, aber es geht einfach nicht. Du bist so … distanziert. So kalt. Du willst nicht zu mir zurück.«

»Du mieser Feigling!«, schrie ich Bryan an, das Erste, was ich nach Monaten des Schweigens von mir gab.

Tränen traten ihm in die Augen. Ohne ein weiteres Wort schloss er die Tür zu unserem Haus, unserer Zukunft.

Ein Sessel bleibt ein Sessel, auch wenn niemand darin sitzt.

Doch was ist, wenn dieser Sessel dein Leben zerstört hat, weil du mit ansehen musstest, wie dein Verlobter deine Schwester darauf vögelte? Als ich das anstößige Möbelstück betrachte, wird mir klar, dass ich es in Bridgeport hätte lassen sollen, zusammen mit meinem Exverlobten.

Ich streiche mit dem Zeigefinger über den feinen Seidenstoff. Er ist wunderschön glatt. Ich habe glückliche Erinnerungen an diesen Sessel. Er stand vor unserem Erkerfenster. Von dort blickte man auf unseren kunstvoll gestalteten Garten mit den farbenfrohen Ahornbäumen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich eingekuschelt in diesem Sessel saß und meine Lieblingsbücher las oder, was öfter vorkam, die Arbeiten meiner dritten Klasse korrigierte.

Wenn Bryan sich dann mit einem Chai-Tee hereinschlich, ihn vor mir abstellte und mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn gab, fühlte ich mich wie eine Königin auf dem Thron. Dann verschwand er wieder so lautlos, wie er gekommen war.

Als es keinen Tee und keine Küsse mehr gab, hätte ich ahnen müssen, dass etwas nicht stimmt. Aber ich war so sehr damit beschäftigt, die schwerste Zeit meines Lebens durchzustehen, dass mir alle Alarmzeichen entgingen. Doch selbst wenn: Hätte ich es wissen wollen? Obwohl es peinlich ist, lautet die Antwort: nein.

Ich bin feige, das weiß ich, bloß ist Unwissenheit manchmal ein wahrer Segen. Ich würde alles geben, wenn ich die Erinnerung an jenen Tag auslöschen könnte, als ich nach Hause kam und meinen Verlobten dabei überraschte, wie er es mit meiner Schwester trieb.

Die ständigen Albträume von der Nacht, die mein Leben für immer veränderte, waren nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den ich erlitt, als die beiden Menschen mir das Herz brachen, die ich am meisten liebte. Ob es eher am Schreck oder am Betrug lag, werde ich niemals wissen, aber mir wurde damals an Ort und Stelle schlecht.

Ich konnte einfach nicht glauben, dass mein Traummann eine Affäre mit meiner Schwester hatte. Wenn so ein Fall eintrifft, schaltet man in den Überlebensmodus. Man ist gezwungen, sich Dingen zu stellen, vor denen man sonst davonlaufen würde.

Deshalb weigerte ich mich zu glauben, dass mein Überlebenskampf umsonst gewesen sein sollte. Mein verstoßenes Herz ließ es auch nicht zu. Noch am selben Abend zog ich aus. Ich erwartete irgendeine Erklärung, eine Entschuldigung von Bryan oder Matilda, und bekam stattdessen einen weiteren Schlag ins Gesicht: Nur drei Wochen später wurde unser schickes großes Haus beim Makler angeboten und war innerhalb eines Monats verkauft. Es wurde als hochwertige Immobilie angepriesen, für mich dagegen war es eine Ruine, in der meine Träume gestorben waren. Ich hatte nichts einzuwenden, als ich das »Zu verkaufen«-Schild sah, denn ich konnte nicht in einem Haus wohnen, das so viele bittere Erinnerungen barg.

Seit Monaten hatte ich nicht mit Bryan gesprochen. Ich wusste, dass er keine Schuld an dem Überfall hatte, doch ich hatte das Interesse an den alltäglichen Dingen verloren. Ich war bloß noch ein schwaches Abbild der Frau, die ich mal gewesen war. Ich hatte mich von meiner Familie und meinen Freunden entfremdet, war distanziert. Ich hätte etwas fühlen müssen, irgendwas – ich meine, schließlich war ich überfallen worden und hatte meinen Verlobten mit meiner eigenen Schwester in flagranti erwischt, aber komischerweise war ich wie betäubt.

Jetzt bin ich den ersten Tag in meinem neuen Heim, einem abgelegenen, heruntergekommenen Häuschen an einem See im Nordosten von Connecticut, wo ich bereits mit vierzehn mal gelebt habe. Auch wenn es nichts Besonderes ist, bietet es mit dem ein Hektar großen, unberührten Grundstück die ideale Zuflucht vor den Umwälzungen, die ich gerade hinter mir habe.

Beim Einzug war ich voller Hoffnung, dass das neue Haus neue Erlebnisse bringen würde. Als ich mich allerdings in den abartigen Sessel fallen lasse, der diesen Umzug überhaupt ausgelöst hat, wird mir klar, wie lächerlich diese Hoffnung ist. Die Ereignisse liegen schon so lange zurück, und doch kommt es mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen.

Mein trauriges Spiegelbild schaut mich in der verschmierten Fensterscheibe an. Diese Frau hat keine Ähnlichkeit mit meinem früheren Ich. Das kastanienbraune Haar trage ich jetzt als kurzen Bob, der bis kurz über die Ohren reicht. Die Frisur betont meine großen graugrünen Augen, die noch nie so riesig gewirkt haben. Überfall und Liebeskummer haben jemanden aus mir gemacht, den ich nicht mehr kenne.

Mir fehlen meine langen Haare. Und nicht nur sie. Ich betaste die kurzen Strähnen. Sie wachsen ja nach. Irgendwann werden sie wieder lang sein, dann kann ich vielleicht vergessen, warum ich sie habe abschneiden lassen. Dasselbe gilt leider nicht für die wiederkehrenden Albträume, die sich einstellen, sobald ich die Augen schließe.

Ich will wieder gesund werden. Ich bin entschlossen zu leben. Das ist das Besondere an einer Posttraumatischen Belastungsstörung: Sie macht keinen Unterschied zwischen den Menschen, sondern zerstört alle gleichermaßen. Meine Entschlossenheit mag mir zwar das Leben gerettet haben, meine Beziehung jedoch nicht. Im Gegenteil: Sie hat uns endgültig auseinandergebracht. Ich sah es, wann immer Bryan mich betrachtete. Ich war ein Opfer. Er glaubte, mich im Stich gelassen zu haben. Er hatte mich nicht beschützt. In meiner Gegenwart fühlte er sich nicht mehr wie ein richtiger Mann. Wahrscheinlich war dieser Komplex einer der Gründe dafür, warum er mich mit Matilda betrog. Sie gab ihm das Gefühl, begehrenswert zu sein.

Ich hatte versucht, mit ihm zu reden, ihm zu erklären, was mit mir los war, aber jedes Mal, wenn ich etwas sagen wollte, blieben mir die Worte im Hals stecken. Ich ließ ihn nicht an mich heran, ohne es zu verstehen oder überhaupt zu wollen. Wahrscheinlich machte ich ihm innerlich doch Vorwürfe, nicht stärker um mich gekämpft zu haben. Wir lebten uns auseinander, auch wenn ich noch so sehr versuchte, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Ärzte meinten, das sei völlig normal nach allem, was ich durchgemacht hätte, aber ich konnte das nicht nachvollziehen.

Von daher ist es wohl verständlich, dass ich beim Anblick dieses Sessels nichts als Verachtung und Wut empfinde. Niemals wieder werde ich mit dem Möbelstück etwas Positives verbinden, denn es ist – wie mein Leben in den letzten zehn Jahren – eine einzige Farce. Anders als meine Erinnerungen, diese flüchtigen Schemen, kann ich diesen Sessel allerdings anzünden und verbrennen.

Die innere Ruhe von früher ist dahin. Doch allmählich fällt die Taubheit, die sich seit diesem verfluchten Tag auf mich gelegt hat, von mir ab, und plötzlich ist die Gleichgültigkeit, die Gelassenheit fort, und ich verspüre nichts als Zorn.

Ich springe auf, als würde der Sessel in Flammen stehen. Das Bild schürt meine Rage, und ich setze mich in Bewegung, bevor mein Verstand mich zurückhält. Ich habe es satt, gefasst und cool zu sein. Ich habe es satt zu verschweigen, was für ein verlogenes, feiges Schwein mein Verlobter war und wie unglaublich meine Schwester mich hintergangen hat. Aber am meisten habe ich mein grausames Schicksal satt. Warum ich? Womit habe ich das verdient? Ich bin völlig orientierungslos, habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.

Ich weiß nur eins: Meine Zukunft kann erst beginnen, wenn dieser verdammte Sessel vernichtet ist.

Irgendwas muss in mich gefahren sein, denn plötzlich kann ich mit meinen fünfzig Kilogramm den antiken Holzsessel über die Bodendielen ziehen. Adrenalin im Blut kann einen zum stärksten Menschen der Welt machen.

Ich nehme eine praktisch stehende Whiskeyflasche von der Küchentheke mit und stoße die Glastüren zu meinem großen Garten mit dem Fuß auf. Unter Aufbietung aller Kräfte hieve ich den Sessel nach draußen, poltere mit ihm über die verwitterten Treppenstufen, gebe nicht auf. Ich halte erst inne, als mein Körper vor Erschöpfung zittert. Ich bekomme kaum noch Luft, jeder Muskel tut mir weh, meine Stirn ist von Schweiß überzogen. In den Taschen meines Sommerkleids taste ich nach der Streichholzschachtel mit dem Joint.

Nachdem meine Finger ihn gefunden haben, drehe ich den Verschluss von der Whiskeyflasche. Ich trinke einen kleinen Schluck und verteile die braune Flüssigkeit dann auf dem makellosen Stoff des Sessels. Herrlich, wie die weiße Farbe sich vollsaugt. Ich höre erst auf, als nur noch ein Rest in der Flasche ist.

Jetzt ist es so weit. Ich ziehe das Streichholz über die raue Fläche, der Kopf entzündet sich zischend. Die flackernde Flamme ist so unruhig wie mein klopfendes Herz. Auf einmal setzt mein Verstand wieder ein, und ich erschrecke, als ich erkenne, was ich gerade im Begriff bin zu tun.

Was würden die Anwohner auf der anderen Seeseite von mir denken? Nicht mal vierundzwanzig Stunden im Haus, und schon störe ich die Ruhe mit meiner Rachsucht. Das Streichholz erlischt, und ich seufze auf. Warum bin ich bloß so eine Versagerin?

Ich trinke den letzten Schluck Whiskey und überlege, wofür der Sessel steht. Joints zu rauchen ist meine einzige Beruhigung, das Einzige, was mir über Albträume und das Ende meiner Beziehung hinweghilft.

»Victoria, musst du den wirklich rauchen?« Ich habe Bryans vorwurfsvolle Stimme noch deutlich im Ohr.

Ich traute mich nicht, es trotzdem zu tun, weil ich dem einzigen Mann gefallen wollte, den ich je geliebt hatte. Er hingegen pfiff auf meine Treue und ließ mich einfach sitzen.

Der kalte Wind weht über meine erhitzte Haut, ein Schauer geht über mich hinweg. Nun weiß ich, was ich mache.

Ich sehe mich über die Schulter um, da ich das Gefühl habe, beobachtet zu werden. Laut rufe ich: »Schluss mit den Skrupeln, Victoria! Ab heute bist du ein anderer Mensch. Du hast die härtesten Monate deines Lebens überstanden, aber nun bist du endlich frei! Jetzt kannst du leben!«

Ich stecke mir den Joint zwischen die Lippen, hole noch ein Streichholz heraus, reiße es an und schirme es mit zitternder Hand vor dem Wind ab. Dann nehme ich einen tiefen Zug. Sofort werde ich innerlich ruhig und genieße. Der Joint hilft zu vergessen, wie kaputt ich wirklich bin.

Die Glut des Streichholzes ist kurz davor, mir die Finger zu verbrennen. Anstatt es auszupusten, kneife ich die Augen zu und schnippe es ins dunkle Ungewisse. Dann habe ich Gewissheit: Es gibt kein besseres Gefühl, als die Vergangenheit in Flammen aufgehen zu lassen.

»Willkommen zu Hause, Victoria Armstrong! Auf dein neues Ich!«

2.

Es brennt.

Zufrieden stehe ich da und sehe zu, wie eines meiner wertvollsten Möbelstücke in Flammen aufgeht. Ich begreife, warum so viele Naturvölker im Feuer eine Gottheit sehen. Ich kann mich gerade noch zusammenreißen, keinen traditionellen Aborigines-Tanz um den flackernden Sessel hinzulegen. Ich will nichts verpassen.

Feuer nimmt und gibt, und im Moment schenkt es mir enorme Erleichterung, weil es den Schmerz betäubt.

Ich bin so sehr von den Flammen und ihrer Bedeutung gefesselt, dass ich die Gestalt im Kapuzenpullover nicht bemerke, die im Dunkeln auf mich zukommt. Plötzlich nehme ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Ich spähe zu einer riesigen Kiefer hinüber, hinter der sich jemand zu verstecken scheint. Bevor ich Zeit habe, meine geistige Gesundheit zu hinterfragen, kommt die Gestalt hinter dem Nadelbaum hervor.

In meinem Garten steht ein Fremder. Die Größe und die kräftige Gestalt legen nahe, dass es sich um einen Mann handelt. Ich stoße einen Schrei aus und recke die Whiskeyflasche wie eine Waffe.

Eigentlich müsste ich ins Haus laufen, die Tür verschließen und die Polizei rufen, doch der Sessel, der in meinem Garten lichterloh brennt, verleiht mir die Kraft, stehen zu bleiben und mit demonstrativ selbstsicherer Stimme zu rufen: »Wer ist da? Wenn Sie nicht sofort mein Grundstück verlassen, rufe ich die Polizei!« Allerdings liegt mein Handy im oberen Stock, wie mir siedend heiß einfällt.

Meine leere Drohung stößt auf taube Ohren, denn langsam kommt der Eindringling auf mich zu. Er hat die Kapuze über den Kopf gezogen und den Blick gesenkt, so dass ich sein Gesicht nicht sehen kann. Keine Ahnung, warum, aber ich habe keine Angst – obwohl es weiß Gott angeraten wäre. Stattdessen spüre ich eine unerklärliche Erregung und Vorfreude auf sein Antlitz – ich muss es einfach sehen. In fünf langen Schritten hat der Fremde meinen Garten durchquert und steht vor mir.

Ich lege den Kopf schräg und halte den Atem an. Er drückt mit seiner großen Hand vorsichtig die Flasche nach unten, mit der ich immer noch herumfuchtele. Aus unerfindlichen Gründen lasse ich den Arm wehrlos sinken. Der brennende Sessel ist uninteressant geworden, ich sehe nur noch die langen Finger des Fremden in der dunklen Nacht, als er langsam die Kapuze nach hinten zieht. Eine silberne Kette mit einem kleinen Anhänger kommt zum Vorschein. Das Mondlicht fängt sich in ihr.

Zögernd hebt er das Kinn, und mich durchbohren die tiefblauen Augen eines gutaussehenden Mannes, der Selbstsicherheit ausstrahlt. Er hat kantige Gesichtszüge und einen dunklen Bartschatten, was ihm ein geheimnisvoll rebellisches Aussehen verleiht. Es ist Vollmond, und der Sessel brennt so hell, dass ich sehen kann, wie fasziniert der Mann von mir ist. Genauso wie ich von ihm.

Er hat dunkelbraune Haare, die leicht zerzaust sind, da er sich wohl mit den langen Fingern hindurchgefahren hat. Mein Bauchgefühl sagt mir, mich besser nicht auf ihn einzulassen, deshalb reiße ich mich zusammen und starre den schönen Mann nicht allzu offensichtlich an. Schließlich könnte er ein Serienmörder sein.

Serienmörder hin oder her – ich habe noch niemanden gesehen, der so … so faszinierend ist. Vielleicht trifft es dieses Wort nicht am besten, aber es ist das einzige, das den Fremden in meinem Garten angemessen beschreibt. In mir erwacht ein kleines Feuer, von dem ich gar nichts mehr geahnt habe.

»Hallo!«

Seine tiefe Stimme erinnert mich daran, wo ich bin. Ich reiße den Blick von seiner breiten Brust los und konzentriere mich auf sein anziehendes Lächeln. Seine Unverblümtheit erwischt mich auf dem falschen Fuß. »Hallo«, antworte ich mit Verspätung und muss mir über die plötzlich trockenen Lippen lecken. Dann wird mir klar, dass ich ihm eine naheliegende Frage stellen muss: »Wer sind Sie, und was machen Sie in meinem Garten?«

Sein Mundwinkel zieht sich hoch zu einem angedeuteten Grinsen, und ich frage mich, wie er wohl aussieht, wenn er richtig lacht. Bestimmt umwerfend.

»Ich heiße Jude.«

Ich nicke und warte, dass er weiterspricht.

»Ich wohne auf der anderen Seite des Sees«, fährt er fort und weist auf ein einfaches, aber hübsches weißes Häuschen.

Ich fühle, wie ich knallrot anlaufe. Haben ihn etwa die anderen geschickt, um nachzusehen, was für ein Spinner hier eingezogen ist? Müllverbrennung – das ist auch eine Möglichkeit, sich in der neuen Nachbarschaft einzuführen …

Ich schaue an ihm vorbei auf den schwelenden Haufen. »Tut mir echt leid, das mit meiner Pyromanie. Bitte richten Sie den anderen aus, dass sie keine Angst haben müssen. Ich bin eigentlich ganz normal. Nur freitags nicht. Und bei jedem zweiten Vollmond wird es gefährlich.« Mein Gott, was rede ich für einen Blödsinn.

Zu meiner Überraschung lächelt er. Ich hatte recht: Er sieht umwerfend aus, wenn er das tut.

»Mich hat niemand geschickt.« Er schüttelt den Kopf.

»Wirklich nicht?« Ich mustere seine schwarzen Nikes, die schwarze Trainingshose und den grauen Sweater genauer und begreife, dass er sich unauffällig gekleidet hat, um seiner Patrouille unbemerkt nachgehen zu können. »Na, das freut mich.« Ohne nachzudenken, führe ich den Joint an die Lippen und nehme einen dringend nötigen Zug.

»Das könnte sich aber ändern, sobald Henry spitzkriegt, dass Sie hier sämtliche Gesetze brechen.«

Verständnislos hebe ich die Augenbrauen. »Wer ist Henry?«

Jude blickt zu einem großen zweistöckigen Haus hinüber und seufzt. »Henry Sands geht immer mit gutem Beispiel voran: Sonntags fehlt er nie in der Kirche, er fährt ein Elektroauto und trennt seinen Müll.«

»Der muss mal lockerer werden.« Ich puste eine Rauchwolke aus.

In Judes Wange bildet sich ein Grübchen. »Stimmt. Aber wahrscheinlich muss er es so genau nehmen, schließlich ist er der Sheriff.«

Fast verschlucke ich mich am Joint. Ich klopfe mir auf die Brust. »Ist er zu Hause?«

Jude nickt gelassen. »Klar, deshalb bin ich ja bei Ihnen im Garten.«

Schnell werfe ich den Joint weg und trete ihn mit bloßen Füßen aus. Vor Schmerz schnappe ich nach Luft. Alles der Reihe nach. Zuerst muss ich mich um das Inferno kümmern. »Verdammte Scheiße«, stoße ich aus. Wenn ich Panik bekomme, kommt bei mir immer der australische Akzent durch.

Auf der Suche nach dem Gartenschlauch oder einer anderen Wasserquelle sehe ich mich im Garten um. Ich muss dieses Feuer schnellstens löschen, damit mein Nachbar, der Dorfsheriff, nicht aufwacht und sieht, wie vor seinem Schlafzimmerfenster Flammen lodern.

Ich stürze los und stolpere fast über meine eigenen Füße. Beim besten Willen fällt mir nicht mehr ein, wann ich mich seit meiner Erkrankung so beeilt hätte. Vor meiner Gartenhütte bleibe ich stehen und fluche. Die Tür ist mit einem verrosteten Schloss verhängt. »Verdammt! So ein Scheißteil!« Vergeblich rüttele ich an der Klinke.

Ein tiefes Lachen hinter mir erinnert mich daran, dass ich nicht allein bin. Judes Grinsen gefällt mir nicht. »Was machen Sie da?«, fragt er, die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

»Falls es Ihnen entgangen sein sollte: In meinem Garten brennt ein großer Scheiterhaufen!«

»Das habe ich gesehen«, erwidert er süffisant grinsend.

Ich hole tief Luft. »Wie wär’s, wenn Sie nicht so dumm gucken würden wie ein Numbat, sondern mir helfen, den Brand zu löschen, ohne dass die Feuerwehr kommen muss?«

Er lacht nachsichtig. »Ein Numbat? Was ist denn das?«

»Ein australisches Beuteltier. Ist eine Redewendung bei uns«, brumme ich. »Und im Moment sehen Sie genauso aus.«

Er ignoriert meine Aufregung. »Wie lange sind Sie schon in Amerika?«, fragt er beiläufig.

Dies ist wirklich der schlechteste Zeitpunkt für eine lockere Unterhaltung, aber wahrscheinlich will er bloß freundlich sein. »Mit vierzehn bin ich von Darwin hergezogen«, erwidere ich geistesabwesend.

»Ich wollte schon immer mal nach Australien. Auf diesen Wahnsinnswellen surfen.«

Ich habe die große Krise, und er schwärmt von meiner Heimat! Als Antwort brumme ich nur.

Nie im Leben schaffe ich es, den brennenden Sessel in den See zu rollen. Ihn hier rauszuschleppen hat schon meine letzten Kraftreserven verbraucht. Ich hätte wirklich darüber nachdenken sollen, bevor ich ihn in meinem Garten in Brand steckte wie einen Weihnachtsbaum. Eigentlich wundert es mich, dass dieses Lagerfeuer den Sheriff noch nicht auf den Plan gerufen hat.

Während ich mir den Kopf zerbreche, wie ich dieses Problem lösen kann, ohne die Feuerwehr zu rufen, höre ich ein Platschen und Zischen. Der Sessel ist gerade wie ein Bleigewicht im See verschwunden.

»Ein Numbat könnte so was bestimmt nicht«, bemerkt Jude am Steg und sieht ruhig auf das brodelnde Wasser.

Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Ein hysterisches Lachen platzt aus mir heraus, ich kichere wie eine Wahnsinnige. Tränen laufen mir über die Wangen, aber ich wische sie nicht fort. Was ich heute Abend gemacht habe, wirkt wie die Tat einer Verrückten. Mit Sicherheit rudert Jude jeden Moment über den See zurück, bloß weg von mir.

Wann ist diese Achterbahn der Gefühle endlich vorbei? Mal bilde ich mir ein, alles im Griff zu haben, dann wieder … tja, dann stecke ich fast mein Haus in Brand. Ich verliere wirklich den Verstand.

»Danke, Jude«, sage ich, als ich endlich wieder sprechen kann. »Ich bin Ihnen was schuldig.«

Er dreht sich nicht zu mir um, sondern starrt weiter auf die Stelle, an der mein alter Sessel auf den Grund des Sees gesunken ist. »Warum haben Sie den eigentlich angezündet?«, fragt er unerwartet scharf.

Mir wird plötzlich kalt, ich reibe mir über die nackten Arme. »Setz dein Leben in Flammen. Suche Menschen, die dein Feuer schüren.«

Ich will den Spruch gerade erklären, da unterbricht mich Jude: »Sie ist verrückt, aber magisch. Ihr Feuer ist rein und wahr.«

Ich bin sprachlos. Wir stehen nebeneinander und schauen auf die Stelle im Wasser, die uns beide fasziniert. Ich habe diesen Mann gerade erst kennengelernt und fühle mich in seiner Gegenwart unglaublich wohl. So ging es mir schon sehr lange nicht mehr. Es macht mir Angst.

Ich kann keine weiteren Probleme gebrauchen, mein Leben ist auch so schon kompliziert genug. Ich räuspere mich. Das Geräusch reißt Jude aus seinen Gedanken. »Noch mal danke. Weiß ich wirklich zu schätzen.«

»Gern geschehen …« Er überlegt. »Wie heißen Sie überhaupt?«

Es ist nur höflich, ihm meinen Namen zu nennen, mahne ich mich. Was ist schon ein Name? Ich verdränge, was dieses Zitat bei Romeo und Julia bedeutet. »Ich heiße Victoria.«

Jude nickt beifällig. »Victoria. Gefällt mir.«

»Danke.« Keine Ahnung, warum ich mich bei ihm bedanke. Weil ihm mein Name gefällt? Wahrscheinlich will ich nur die greifbare Spannung zwischen uns auflösen. Sonst müsste ich mich in der Nähe eines Fremden fragen, wieso ich plötzlich so nervös bin.

Zum Glück unterbricht er das Schweigen: »Tut mir leid, dass ich dich gestört habe, Victoria. Ich darf doch du sagen, oder?«

Mit Blick auf die Asche des verbrannten Sessels winke ich ab. »Natürlich! Und du hast mich nicht gestört. Es wird sowieso noch etwas dauern, bis ich mit alldem hier Frieden schließe.« Wie auf ein Stichwort hin erstirbt das Licht auf der hinteren Veranda. Jetzt spendet bloß noch der Vollmond Licht.

»Gut, wenn du mich mal brauchst, weißt du ja, wo ich wohne.« Das ist kein zweideutiges, sondern ein aufrichtiges Angebot.

Zwischen uns schwebt die Erkenntnis, dass die Nacht bald vorbei ist, doch keiner von uns macht Anstalten, sich zu verabschieden. Ich rufe mir in Erinnerung, dass ich einen Neustart wagen will, und ignoriere die geheimnisvolle Anziehungskraft zwischen uns. »War nett, dich kennenzulernen.«

Nervös scharre ich mit den Füßen und beiße mir von innen auf die Wange. Jude beobachtet mich genau. Ich würde gerne wissen, was er denkt. Dabei habe ich eigentlich kein Interesse daran, jemanden kennenzulernen. Schließlich hatte ich einen guten Grund, in die Pampa zu ziehen – ich will mich auf mich selbst konzentrieren.

Genau das ist mein Ziel: ich und niemand anders.

»Gute Nacht.« Er scheint noch etwas hinzufügen zu wollen. Gerade will ich ihn fragen, ob alles in Ordnung sei, da wird sein Blick wehmütig. Judes schwere Schritte poltern über den Steg, und er verschwindet so lautlos über meine Einfahrt, wie er gekommen ist.

Ich bleibe wie angewurzelt zurück, unfähig, den Blick von der Stelle zu lösen, wo er gerade noch stand. Es klingt vielleicht verrückt, aber schon nach wenigen Minuten mit Jude hatte ich das Gefühl, dass er eine ebenso schwere Vergangenheit hat wie ich. Früher hätte ich ihn gefragt, ob er mit mir reden wolle. Doch mein altes Ich gibt es nicht mehr. Die neue Victoria will keine Freundschaften schließen, will sich nicht mal mit anderen unterhalten. Sie will einfach ihre Ruhe.

Ich steige die knarzenden Stufen zur Veranda hinauf, schlage die Hintertür zu, lehne mich dagegen und schließe die Augen. Diese mich niederdrückende Apathie ist furchtbar, aber immer noch besser, als mich auf neuen Herzschmerz einzulassen.

Ich hole eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. Dann lösche ich das Licht und gehe nach oben in mein Schlafzimmer, zu müde, um zu begreifen, dass hinter den Bäumen auf der anderen Seite des Sees jemand im Bett liegt, der mir ziemlich sicher Probleme machen wird.

3.

Voller Schreck wache ich auf. Ein Erdbeben erschüttert die Umgebung, das Epizentrum befindet sich in meinem Haus.

Doch der Boden bewegt sich nicht. Mir wird klar, dass es lediglich das klingelnde iPhone ist, das auf den Bodendielen vibriert. Es bringt die leere Weinfleische zum Summen. Ich stöhne. So wollte ich nicht an einem Samstagmorgen im neuen Haus aufwachen – mit einem Brummschädel und ohne mich an den Vorabend erinnern zu können. Ein Blick an mir herunter verrät mir, dass ich noch das Kleid von gestern trage. Offenbar bin ich darin eingeschlafen, nachdem ich in zwanzig Minuten eine ganze Flasche Weißwein geleert hatte.

Damit der Lärm aufhört, muss ich ans Handy gehen. »Hallo?«, brülle ich hinein, ohne vorher aufs Display zu gucken.

»Aah! Dir auch einen schönen guten Morgen!«

Ich löse den Apparat vom Ohr. Keine Ahnung, wer dran ist. »Wer ist da?«

Es kichert leise im Hörer. »Charley McMann. Wir waren zusammen auf der Highschool.«

Charley McMann? Woher hat die denn meine Nummer? Zu Schulzeiten waren wir beste Freundinnen, verloren uns dann aber aus den Augen, als sie nach New York zog, um auf die Juilliard zu gehen. Anscheinend ist sie zurück.

»Hey, Charley! Wie geht es dir?« Langsam setze ich mich auf und versuche, richtig wach zu werden. Nebenbei trinke ich eine Wasserflasche leer.

»Mir ist kalt.«

»Kalt? Wo bist du denn?«

»Vor deiner Tür.«

»Woher weißt du, wo ich wohne?«

»Du kennst doch diesen Ort, da weiß jeder über alles Bescheid.«

Sie hat recht. Mit Sicherheit hat sich unter den verzweifelten Singlefrauen herumgesprochen, dass Bryan wieder zu haben ist. Oder ist er das vielleicht gar nicht? Kann ja sein, dass er glücklich und zufrieden mit meiner Schwester zusammenlebt. Woher soll ich das wissen, ich rede ja mit keinem von beiden.

»Machst du auf?«

Charley war früher bereits die tollste Freundin, die man sich wünschen konnte. Vielleicht brauche ich genau jemanden wie sie für einen Neuanfang. Neue Freundinnen und neue Erfahrungen. Den Versuch ist es wert.

»Klar, warte kurz.«

Ich schwinge die Beine aus dem Bett und stelle mich hin. Bei der Berührung mit dem kühlen Holz läuft mir ein Schauer über den Rücken. Seit der Nacht, in der ich überfallen wurde, friere ich ständig. Mir kann noch so warm sein, tief in den Knochen steckt eine hartnäckige Kälte.

Etwas wackelig gehe ich nach unten und öffne die Tür. Vor mir steht meine einst beste Freundin Charley McMann. »Wahnsinn, dass du hier bist!«, rufe ich ins Handy.

Charley schmunzelt und klappt ihr Telefon zu. »Wo soll ich denn sonst sein?«

Sie hat sich hervorragend gehalten, sieht fast noch so aus wie bei unserem letzten Treffen. Befangen fahre ich mir durch das Vogelnest auf meinem Kopf. Sinnlos, meine Haare sind heute nicht zu bändigen.

»Wie kommst du klar?«, fragt sie voller Anteilnahme. Das habe ich immer schon an Charley gemocht: Sie hält sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf.

»Ganz ehrlich? Bei meinem Verbrauch sollte ich Taschentuch-Aktien kaufen.«

Charleys volle Lippen verziehen sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Gut so! Heul dir den Blödmann aus dem Leib.« Ohne Vorwarnung nimmt sie mich in die Arme und drückt mich fest an sich. Keine Ahnung, warum, aber ihre liebe Art bringt mich zum Weinen. Tränen sind eine Erleichterung, die ich mir nicht oft gestatte.

Halb lache, halb schluchze ich an Charleys Schulter. Erst als ich mich wieder halbwegs gefangen habe, löse ich mich von ihr und wische mir über die Augen. Mein Gefühlsausbruch ist mir nicht peinlich. Ich kenne Charley, seit ich nach Connecticut gezogen bin. Wir waren zusammen auf der Highschool und von Anfang an beste Freundinnen.

Charley ist mit mir durch dick und dünn gegangen, ich konnte mich stets bei ihr ausheulen.

»Komm rein!« Auf dem Kragen ihres feinen Sommerkleids prangen Schminkflecken, wie mir jetzt auffällt. »Oh, Entschuldigung, mein Make-up! Ich verspreche dir, dass ich deine Kleidung nicht noch mal dreckig mache.«

Charley lacht und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie hat schon immer mit anderen mitgelitten. Manches ändert sich nie.

Als sie mein schlichtes Heim betritt, sieht sie sich um, sagt jedoch nichts zu der tristen Einrichtung. Das Haus ist alt, schäbig und kaum noch bewohnbar, aber ich komme damit klar.

»Mist«, fluche ich auf dem Weg in die Küche. »Ich habe gar keinen Kaffee da.«

»Ich kenne dich doch.« Charley greift in ihre blaue Tasche und holt zwei Einwegbecher, eine Dose mit Kaffeepulver und Kaffeesahne heraus.

»Du bist meine Rettung! Ich gehe nur schnell duschen. Die Küchensachen sind da drin, glaube ich.« Zögernd weise ich auf einen Karton in der Ecke. Ich bin mir nicht sicher, ob er Töpfe und Pfannen enthält. Ich habe meine Siebensachen gepackt, ohne groß zu überprüfen, ob ich alles Wichtige mitgenommen habe. Mein Wahnsinn hatte keine Methode, als ich mein Leben in fünf Kisten lud und in den kleinen Umzugswagen hievte.

Charley winkt ab und macht sich daran, Ordnung ins Chaos zu bringen. Sie öffnet den geheimnisvollen Karton. »Los, geh, ich find schon alles.«

Ich nicke und stapfe nach oben, geradewegs ins Bad.

Ich ziehe mich aus, ohne einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken zu werfen, und springe unter die kleine veraltete Dusche. Das Wasser stelle ich ganz heiß, die Rohre ächzen und stöhnen, und irgendwann plätschert lauwarmes Wasser aus dem Duschkopf. Es ist kaum Druck auf der Leitung, aber das Wasser auf meinem geschundenen Körper fühlt sich herrlich an und erinnert mich an das aufregende Erlebnis der letzten Nacht.

Ich kann nicht leugnen, dass zwischen Jude und mir eine unerklärliche Anziehungskraft herrscht. Er sieht einfach toll aus, von daher war es wahrscheinlich eine normale Reaktion von mir. Ich weiß es nicht genau. Vor Bryan hatte ich keinen Mann; solche Gefühle sind mir fremd.

Es fällt mir schwer, nicht voller Hass an unsere Beziehung zurückzudenken, doch am Anfang hatte ich wirklich Schmetterlinge im Bauch. Sie flatterten, als er auf der Highschool als gefeierter Quarterback hinter dem Ball herlief. Schade nur, dass sie sich irgendwann in Motten verwandelten.

Kribbeln hin oder her – ich bin nicht in der richtigen Verfassung, um darüber nachzudenken. Trotzdem frage ich mich die ganze Zeit, welches Geheimnis Judes tiefblaue Augen bergen. Ich spüre, dass da etwas ist.

So viel dazu.

Ich stelle das Wasser aus, trockne mich schnell ab und gehe in ein Handtuch gewickelt ins Schlafzimmer. Mein Blick fällt auf das offene Fenster, vor dem sich die dünne Spitzengardine leicht im Luftzug bewegt – ich kann direkt zu Jude hinübersehen.

Ich ziehe das Handtuch um meinen Körper enger und achte darauf, dass man meine Beine nicht sehen kann, als ich zu den beiden Kartons neben meinem Schrank flitze. Ich öffne den einen und ziehe eine abgeschnittene Jeans und ein Tanktop heraus. Aus dem kleineren Karton rechts hole ich meine Unterwäsche.

Jemanden kennenzulernen, der so unglaublich gut aussieht wie Jude, gibt mir ein Gefühl der Unvollkommenheit, obwohl ich weiß, dass das albern ist. Wenn ich in den Spiegel schaue, bin ich bloß nicht mehr so selbstbewusst wie früher. Die hässliche rote Narbe quer über meiner Brust ist Sinnbild für alles, was ich verloren habe.

Es reichte dem Angreifer in jener Nacht nicht, meine Seele zu vernichten. Er nahm sich außerdem einen Teil meines Körpers, als sich die Kugel tief in meine Brust bohrte. Die Ärzte sagten, ich hätte Glück gehabt. Zwei Millimeter weiter rechts, und ich wäre tot gewesen. Aber das sehe ich anders, denn seit dem Überfall fühle ich mich durchgängig schlecht. Ich bin nicht nur seelisch, sondern auch körperlich vernarbt.

Ich lege das Handtuch ab und ziehe mich schnell an, ohne dass man mich von draußen sehen kann. Anschließend fahre ich mir mit den Fingern durch die feuchten Haare und springe die Treppenstufen hinunter. Von unten weht mir Kaffeeduft entgegen.

»Du bist ein Engel.«

Charley reicht mir lächelnd eine Tasse, die ich dankbar entgegennehme.

Ich stütze die Ellenbogen auf die Küchentheke und umfasse die Tasse gedankenverloren mit den Händen.

»Deine Geschichte stand in der Zeitung. Es tut mir so leid, Tori. Das hast du nicht verdient. Und dann die Geschichte mit Bryan …« Sie schüttelt den Kopf und runzelt die Stirn.

Ich greife nach ihrer Hand. »Danke, das wird schon wieder. Ich muss dringend ein normales Leben führen, aber dafür muss ich erst mal anfangen zu leben.«

Sie drückt meine Hand. »Ich habe deine starke Persönlichkeit schon immer bewundert.«

Tränen treten mir in die Augen, ich wische sie unauffällig mit dem Handrücken ab.

»Gut.« Charley stößt die Luft aus. »Jetzt bist du aber nicht mehr traurig. Ich finde, du solltest eine Einweihungsparty geben.«

»Nein!«, wiegele ich ab. »Ich bin nicht hier, um neue Freunde zu suchen.«

Charley klimpert mit den Wimpern.

»Charley!«, warne ich. »Ich will und brauche keine Einweihungsparty.«

Meine Bemerkung stößt auf taube Ohren. »Du musst gar nichts tun. Ich organisiere alles. Ich halte es auch ganz klein, versprochen.«

»Na klar.« Ich bin unentschlossen, befürchte, dass »ganz klein« bei Charley mindestens hundert Gäste sind.

Sie sieht mir an, dass ich Zweifel habe, und hebt drei Finger. »Großes Pfadfinderehrenwort.«

Ich muss lachen. »Du warst doch nie bei den Pfadfindern.«

Unbeeindruckt zuckt sie mit den Schultern. »Nein, aber wenn ich da gewesen wäre, hätte ich den Laden so richtig auf Vordermann gebracht.«

Was soll man darauf erwidern? »Na gut. Aber höchstens zwanzig Leute.« Nachdrücklich zeige ich mit dem Finger auf sie.

Charley reagiert nicht darauf, sondern springt durch die Küche und klatscht in die Hände. »Du wirst es nicht bereuen! Das wird sicher lustig!«

»Und keine Geschenke.«

»Blödsinn! Dein tristes Haus könnte ruhig ein wenig Deko vertragen.«

Ich widerspreche ihr nicht mehr.

»Und, gibt es irgendwen, den ich nicht einladen soll?«

»Ja, jeden«, brumme ich und trinke einen Schluck Kaffee. »Ich hab’s nicht so mit Feiern – und jetzt schon gar nicht. Ich will hier einfach vor mich hin leben, anonym sein. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen.«

Charley runzelt die Stirn. »Nach allem, was du durchgemacht hast, verdienst du ein bisschen Aufmerksamkeit. Mach dich locker! Das gehört alles zu deinem neuen Ich.«

Ich knibbele mit dem Fingernagel am Pappbecher. »Ich habe keine Ahnung, wer ich sein will. An die Nacht damals kann ich mich kaum erinnern. Manchmal kommt irgendwas im Traum hoch, aber ich könnte dir nicht sagen, was wirklich passiert ist. Die Ärzte sagen, ich sei angeschossen worden. Die Narben sind ja da. Erinnern kann ich mich daran allerdings nicht.«

»Was weißt du denn noch?«

Es wird still im Raum.

Ich schließe die Augen, atme tief durch. Jede Nacht träume ich dieselbe Szene: eine schmutzige dunkle Gasse, mein Herz klopft zum Zerspringen, ein Retter in der Not, der mir zuruft, ich solle aufpassen. Dann wache ich schweißüberströmt auf. Mir wurde erzählt, wie es weiterging, doch ich selbst kann mich nicht erinnern. Stimmt irgendwas nicht mit mir? Wer war der Mann, der mich gerettet hat? Wer war bereit, sein Leben für mich aufs Spiel zu setzen, während mein Verlobter sich dezent im Hintergrund hielt?

»Tori, ist alles in Ordnung?«

Ich reiße die Augen auf. Ich sehe auf Charleys Hand, die sanft meinen Unterarm drückt. »Wenn ich mich doch nur erinnern könnte! Es fühlt sich an, als würde etwas fehlen, ohne dass ich weiß, was es ist.«

Charley kaut auf ihrer Unterlippe und hört aufmerksam zu.

Ich beiße mir von innen auf die Wange, um nicht länger zu weinen. »Ich habe die ganze Zeit wahnsinnig große Angst. Fühle mich so hilflos. Ich hätte mir mehr Mühe geben müssen. Ich habe Bryan von mir gestoßen, weil ein Teil von mir ihn hasst, ohne dass ich wüsste, warum.« Ich trinke einen Schluck Kaffee, aber mein Gaumen verlangt plötzlich nach etwas Stärkerem.

»Und … was ist mit deiner Schwester?«, fragt Charley vorsichtig.

Jetzt brauche ich auf jeden Fall Alkohol.

»Ich habe keine Schwester mehr. Matilda ist für mich in dem Moment gestorben, als sie es mit meinem Verlobten getrieben hat.« Mein Ton ist schneidend, sofort tut es mir leid. Ich reibe mir über die Stirn und puste aus. »Weiß gar nicht, auf wen ich wütender bin, auf sie oder Bryan.«

Angewidert schüttelt Charley den Kopf. »Auf beide.« Sie greift in ihre Tasche und holt eine kleine Flasche Wodka heraus, schraubt sie auf, trinkt einen Schluck und bietet sie mir an.

Ich fahre mit dem Finger übers Etikett. Charley hat recht. Der eine Verrat ist ebenso schlimm wie der andere.

»Du schaffst das. Es wird besser von Tag zu Tag.«

Ich nicke halbherzig, nicht überzeugt.

»Wenn du reden willst, weißt du ja, wo du mich findest. Sicher, wie haben den Kontakt zueinander verloren, aber ich habe oft an dich gedacht. Du warst immer eine tolle Freundin. Manchmal bereue ich, dass ich weggezogen bin.«

Ich wundere mich, dass sie so trübsinnig klingt, und versuche, die Stimmung zu heben. »Du warst für mich auch immer eine tolle Freundin. Wie viel Spaß wir doch damals hatten, oder?«

Charley grinst, fast wehmütig. »Und wie!«

»Bist du denn eine weltberühmte Tänzerin geworden, wie du es vorhattest?«

Sie senkt den Blick und kaut wieder auf ihrer Unterlippe. »Die Dinge ändern sich. Was früher wichtig war, ist es jetzt nicht unbedingt mehr.«

Ihre ausweichende Antwort sagt mir, dass sie nicht über ihre Vergangenheit sprechen will. Das akzeptiere ich – ich kenne das Gefühl zu gut.

»Danke, dass du hier bist, Charley. Du bist echt eine große Hilfe.« Ich beschließe, aufrichtig zu sein. »Ich muss von vorn anfangen. Mein Herz tut immer noch weh …« Ob das je aufhört? »Ich weiß, ich hänge in den Seilen, aber deshalb bin ich ja hergezogen. Um an mir selbst zu arbeiten und neu anzufangen.« Fern der Erinnerungen, die ich gerne vergessen würde, füge ich in Gedanken hinzu. »Dass du hier bist, hilft mir dabei.«

Gerade will ich die Wodkaflasche austrinken, da guckt sie mit großen Augen an mir vorbei.

»Was ist?«, rufe ich und schlage panisch nach meiner Schulter aus Angst, dort würde eine Spinne krabbeln. Ein Schauder läuft über mich hinweg. Warum habe ich immer das Gefühl, hinter mir würde jemand stehen?

»Wer ist das?«

»Wer ist was?«, frage ich verwirrt.

»Das!« Sie weist an mir vorbei und beißt sich auf die Unterlippe.

Ich habe keine Ahnung, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, doch als ich mich umdrehe und sehe, wer da auf der Bildfläche erschienen ist, wird mir alles klar.

»Das ist Jude«, erkläre ich.

Er steht am Ufer, die Hände in die Hüften gestützt.

»Wer genau ist Jude, und woher kennst du ihn? O Gott, er sieht aus wie Scott Eastwood. So stark und gleichzeitig ganz nachdenklich.«

Ich kann mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Gut, dass ich nicht die Einzige bin, die sich von diesem Mann angezogen fühlt. »Er wohnt auf der anderen Seite des Sees«, sage ich. »Ich habe ihn gestern Abend kennengelernt. Da hat er mich gewarnt, nichts im Garten zu verbrennen und kein Gras zu rauchen, wenn der Sheriff in der Nähe ist.«

Charley hält die Luft an. »Ich weiß nicht, wie ich all diese Informationen auf einmal verarbeiten soll.«

Mein Blick ruht auf Jude. Bei Tageslicht sieht er noch besser aus. Er trägt eine Jeans und ein weißes T-Shirt, das seine muskulösen Arme und seine Sommerbräune zur Geltung bringt. Die hellen Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar fangen die Sonnenstrahlen ein.

»Stell mich mal vor!«, reißt mich Charley aus meinen Gedanken.

»Warum?«, frage ich ein wenig zu forsch und sehe sie fragend an. Sie öffnet die Lippen und grinst, und ich könnte mir in den Hintern treten, nicht den Mund gehalten zu haben. »Ich meine nur, warum willst du ihn kennenlernen?«, verbessere ich mich.

»Weil er heiß ist«, erwidert sie und fächelt sich Luft zu. »Und so …« – sie sucht das richtige Wort – »… männlich.«

Ich bin hier raus in die Pampa gezogen, weil ich mich von attraktiven Männern fernhalten wollte. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Nachbar in diese Kategorie fällt? »Wenn du ihn kennenlernen willst, bitte sehr!«, sage ich betont lässig in der Hoffnung, dass sie das Thema fallenlässt.

Doch ich sollte eigentlich wissen, dass meine Freundin vor keiner Herausforderung zurückschreckt.

»Charley, nein!«, rufe ich noch, da ist sie schon an mir vorbei und reißt die Tür auf. Als sie die Stufen hinunterspringt, wird Jude auf sie aufmerksam.

Ich habe keine Wahl: Ich kippe den Wodka hinunter und folge meiner entschlossenen Freundin nach draußen.

Es ist super peinlich, ohne dass ich sagen könnte, warum. Aufrecht bleibe ich stehen, will gefasst wirken. Aus einigen Metern Entfernung höre ich Charley rufen: »Tori hat mir gar nicht erzählt, dass Sie mit zum Haus gehören!«

Jude grinst breit. Ich bin ein wenig eifersüchtig, und es gibt mir einen Stich, den ich sofort verdränge.

»Ich bin Charley, Toris beste Freundin.« Sie streckt ihm ihre zarte Hand hin.

»Freut mich, Charley. Ich bin Jude.« Höflich begrüßt er sie mit Handschlag.

»Ui«, macht sie, »das ist aber ein fester Griff!«

Jetzt wird es höchste Zeit, mich einzumischen. »Guten Morgen, Jude.« Ich sehe meine Freundin an, die immer noch seine Hand hält.

Kaum hört er meine Stimme, lässt Jude Charleys Hand los und richtet seinen Blick auf mich. »Guten Morgen, Victoria.« So sanft habe ich meinen Namen noch nie ausgesprochen gehört.

Schluss damit! Ich reiße mich zusammen und lächele. »Ich will mich ja nicht wiederholen, aber was machst du bitte auf meinem Grundstück?«

Er grinst, und in seinen Wangen bilden sich Grübchen. »Ich dachte, ich wäre dir was schuldig.«

»Was denn?«

»Tja, ich habe hier ja was ins Wasser geworfen, da dachte ich, ich mach mal sauber.«

»Einen See saubermachen ist gar nicht so einfach«, necke ich ihn. Unheimlich, wie ich auf ihn reagiere …

Er macht einen Schritt auf mich zu und nimmt mein Handgelenk. Ich bin völlig überrumpelt. Seine Berührung fährt mir durch den ganzen Körper. »Darf ich dann vielleicht deinen Rasen mähen?«

Ich muss schlucken.

Ich bin nicht klein, doch in seiner riesigen Pranke sieht meine Hand winzig aus. »Danke für das Angebot, aber du hast schon genug getan.« Und damit meine ich nicht nur, mich vor dem Nachbarschaftsschreck Henry gerettet zu haben.

Erst als Charley sich räuspert, wird mir klar, dass Jude immer noch meine Hand hält und sanft mit dem Finger über meinen rasenden Puls streicht. Seine Berührung fühlt sich überraschend gut an, trotzdem ist es wohl angebracht, mich von ihm zu lösen. Er muss meinen beabsichtigten Rückzug spüren, denn bevor ich zurücktreten kann, zieht er mich an sich, bis ich bloß noch wenige Zentimeter von ihm entfernt bin. Er ist groß, knapp eins neunzig. Neben ihm wirke ich mit meinen ein Meter sechzig winzig.

Er betrachtet mich und beginnt langsam zu lächeln. Ich bekomme rote Wangen und wacklige Knie. Vom ersten Moment an wusste ich, dass er mir Probleme bereiten würde. Dummerweise genieße ich dieses Gefühlschaos.

»Wenn du mir nicht zufällig die Wasserrohre durchpusten kannst, verschwendest du gerade deine Zeit«, sage ich.

Charley ist schockiert, und ich laufe noch roter an. War wahrscheinlich nicht der schlaueste Spruch. Er klang wie eine billige Anmache. Wusste gar nicht, dass ich so was noch draufhabe. Irgendwie fühle ich mich befreit, auch wenn ich mich unglaublich schäme.

Jude grinst; mit seinen langen Eckzähnen wirkt er total süß und gleichzeitig gefährlich. »Ist schon eine Weile her, dass ich einer Frau die Rohre durchgepustet habe, aber ich tu mein Bestes.« Es kann wirklich nicht peinlicher werden. Ich entziehe ihm meine Hand und bin dankbar, dass er loslässt.