Keinem schlägt die Stunde - Charles Bukowski - E-Book

Keinem schlägt die Stunde E-Book

Charles Bukowski

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Beschreibung

Charles Bukowskis Erzählband »Keinem schlägt die Stunde« bildet die ganze Bandbreite der Kunst des Dirty Old Man ab – ein Schatz aus der Truhe des verstorbenen Schriftstellers, jetzt erstmals auf Deutsch. Von frühen, bislang unveröffentlichten Erzählungen aus den vierziger Jahren bis zu den späten Stücken, die Charles Bukowski in den Achtzigern schrieb, führt der mit einem Seitenhieb auf Hemingway betitelte Band »Keinem schlägt die Stunde« durch Bukowskis ganze Entwicklung als Schriftsteller. In seinen autobiographischen Geschichten verarbeitete Bukowski Wunden seiner Kindheit und Jugend: das problematische Verhältnis zu seinem Vater, seinen Außenseiter-Status als Deutsch-Amerikaner. Seine Erzählungen spielen vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Turbulenzen der USA der sechziger Jahre, Bukowski schrieb Science-Fiction und experimentierte mit dem Verschwimmen von Fakt und Fiktion und er illustrierte einige seiner Erzählungen selbst. Charles Bukowskis Erzählungen sind skandalös und frech, sie sind zynisch und lüstern. »Keinem schlägt die Stunde« öffnet einen neuen Blick auf die Vielfalt des großen US-amerikanischen Schriftstellers Charles Bukowski – ein Geschenk für Fans des Dirty Old Man und ideal, um Bukowskis Werk kennenzulernen. »In jeder Schaffensphase pochten seine Geschichten vor Leben.« Kirkus Review

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Seitenzahl: 408

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Charles Bukowski

Keinem schlägt die Stunde

Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortEin gütiges, verständnisvolles GesichtDie Welt rettenWie die Toten liebenOpen City, 10.–16. August 1967Open City, 1.–7. November 1968Keine QuickiesNOLA Express, 9.–23. September 1971In der KlapseTanzen mit NinaNOLA Express, 27. Januar 1972L. A. Free Press, 25. Februar 1972L. A. Free Press, 12. Mai 1972L. A. Free Press, 2. Juni 1972L. A. Free Press, 16. Juni 1972L. A. Free Press, 28. Juli 1972Ein Stück KäseL. A. Free Press, 15. Dezember 1972L. A. Free Press, 30. März 1973L. A. Free Press, 20. April 1973L. A. Free Press, 11. Mai 1973L. A. Free Press, 8. Juni 1973Ein Tag im Leben eines PornobuchverkäufersL. A. Free Press, 6. Juli 1973L. A. Free Press, 14. Dezember 1973L. A. Free Press, 29. März 1974L. A. Free Press, 14. Juni 1974L. A. Free Press, 9. August 1974L. A. Free Press, 27. September 1974L. A. Free Press, 20. Dezember 1974L. A. Free Press, 27. Dezember 1974L. A. Free Press, 3. Januar 1975L. A. Free Press, 21. Februar 1975L. A. Free Press, 28. Februar 1975L. A. Free Press, 8.–14. August 1975L. A. Free Press, 14.–20. November 1975L. A. Free Press, 2.–6. Januar 1976Eine ganz unbedeutende AffäreEinbruchFliegen ist die sicherste Art zu reisenFly the Friendly SkiesDie Lady mit den BeinenWillst du nicht mein Herzblatt sein?Ein schmutziger Schachzug gegen GottKeinem schlägt die StundeQuellen

VorwortCharles Bukowskis Graphic und Pulp Fiction

David Stephen Calonne

Charles Bukowski hatte vom Beginn seiner Laufbahn an ein Faible für die heute so genannte »Graphic Fiction«: Eine seiner frühesten Arbeiten, »The Reason Behind Reason«, veröffentlicht 1946 in Matrix, schmückt eine anschauliche Zeichnung, in der der Antiheld Chelaski mit rudernden Beinen und ausgestreckten Armen einen Baseball im Flug zu fangen versucht.[1] Während seiner Wanderjahre 1942–47, als er kreuz und quer durch die Staaten zog und manchmal aus Geldmangel seine Schreibmaschine versetzen musste, legte Bukowski auch Whit Burnett, dem Herausgeber der berühmten Zeitschrift Story, eine Reihe in Druckschrift geschriebener, illustrierter Storys vor, darunter »Ein gütiges, verständnisvolles Gesicht«, die zeigen, dass er Bild und Text oft zusammen konzipierte und zueinander in Beziehung setzte. Im November 1948 schrieb er Burnett aus Los Angeles: »Gerade hier finde ich die Zeichnungen besonders gelungen, und ich hoffe, es kommt nichts weg.«[2] Burnett drängte Bukowski, seine Zeichnungen in Buchform zu sammeln, und fragte ihn auch wiederholt, ob er sich vorstellen könne, einen Roman zu schreiben. Außerdem setzte Bukowski am 9. Oktober 1946 einen illustrierten Brief an Caresse Crosby auf, die Verlegerin des Magazins Portfolio. Damals hatte er schon den klaren Stil seiner an Thurber erinnernden, reizenden minimalistischen Zeichnungen entwickelt, die berühmte Zeitschriftenmacher wie Crosby und Burnett unweigerlich für ihn einnehmen mussten. Ein weggetretener Mann mit Strichaugen und Flasche liegt trinkend und rauchend im Bett, nackte Glühbirne, Vorhang mit Zugschnur, Flaschen auf dem Boden. Später sollte er noch Sonne, fliegende Vögel und gesellige Hunde hinzufügen. Psychologisch gesehen hatte er mit diesen witzig anmutenden Zeichnungen offensichtlich eine Möglichkeit gefunden, den nicht unerheblichen Verletzungen seiner Kindheit beizukommen: den Misshandlungen seines Vaters, dem Ausbruch der Acne vulgaris, seinem Status als unangepasster Deutsch-Amerikaner. Hier war ein Medium, in dem er spielen und unterhalten konnte, so wie er es auch im Schreiben anstrebte. Die autobiographische Story »Ein gütiges, verständnisvolles Gesicht« (1948) schildert zu Beginn, wie eine verkrüppelte Spinne bei lebendigem Leib von Ameisen zerlegt wird, und gibt damit das Thema vieler späterer Geschichten vor: Natur, an Klaue rot und Zahn[1]. Der Protagonist Ralph entzieht sich wie der junge Bukowski der Einberufung, hat journalistische Ambitionen und durchstreift das Land von Miami bis New York und Atlanta. Ralph steht zwar in mancher Hinsicht für den Autor, doch in der Story sind Vater und Mutter bereits tot, während Bukowskis Mutter Katherine erst 1956 starb und sein Vater Henry 1958. Die Erzählung schildert eine Reihe merkwürdiger, unzusammenhängender Ereignisse und endet mit drei rätselhaften Zitaten, die ohne Quellenangabe angehängt sind: eins aus Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, Fünftes Buch, Kapitel 30, »Wie wir auf das Atlaß-Eiland kamen«, eins aus George Santayanas »Ultimate Religion« (1933) und ein Verweis auf den französischen Chemieingenieur René Warcollier (1881–1962), der ein Verfahren zur Herstellung synthetischer Edelsteine entwickelte und zudem 1938La Telepathie experimentale veröffentlichte.[3] Da ferner vom Kopulieren und Defäkieren in der Öffentlichkeit die Rede ist, wäre es denkbar, dass Bukowski mittlerweile die Schriften des Kynikers Diogenes (ca. 412 v. Chr. – 323 v. Chr.) kennengelernt hatte. So wie die Erzählung selbst in sich zerfahren ist, scheinen diese drei Zitate im Abschiedsbrief des jungen Ralph eine Art fragmentarisches Rätsel oder eine geheime Botschaft darzustellen, die der Leser zusammensetzen und entschlüsseln soll: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Diogenes, dem sonderbaren Mantichoren, der abgehobenen Sprache Santayanas und der Verfertigung von Edelsteinen aus Fischschuppen? Man denkt an Vladimir Nabokov: Das menschliche Leben ist »nichts als eine Serie von Fußnoten zu einem gewaltigen, unverständlichen und unvollendeten Meisterwerk«.[2] Die Bandbreite dieser recht ausgefallenen Zitate lässt erkennen, wie belesen Bukowski war, und wenn sie da so hintereinanderstehen, mag das ein Hinweis darauf sein, wie absurd die Suche nach dem Sinn ist und wie unentschlüsselbar ein unbekanntes, unvollendetes Leben.

Vom Beginn seiner Laufbahn an hat Bukowski die schreckliche Begegnung des Menschen mit dem Anderen dargestellt: insbesondere Insekten (hier Spinnen und Ameisen) durchwuchern viele seiner frühen Gedichte und Storys. Sein Werk zeigt auch den Einfluss von Robinson Jeffers’ Falken und Reihern sowie von D.H. Lawrence, dessen Birds, Beasts and Flowers im Titel von Bukowskis erstem Gedichtband nachklingt, Flower, Fist and Bestial Wail. Spottdrosseln, Wildpferde und Hunde erscheinen im Titel dreier weiterer Gedichtbände. Im vorliegenden Band kommt es zur beängstigenden Begegnung mit einem Schwein, und eine Story, die in Bolivien spielt, schildert den bizarren Psychokampf zwischen einem Mann, einer Frau und einem Affen, ein Thema, das Bukowski in der späten Erzählung »Der Eindringling« (1986)[4] erneut aufgreift. Und »Keinem schlägt die Stunde« endet nach einem starken Bild: »Auf einmal sah ich ein Tier vor mir. Es sah wie ein großer Hund aus, ein wilder Hund. Der Mond stand hinter mir und schien dem Tier in die Augen. Die Augen waren rot wie Kohlenglut.«

In derselben Matrix-Ausgabe wie »Hinter der Vernunft« erschien auch Bukowskis Gedicht »Soft and Fat Like Summer Roses« über die Dreiecksbeziehung zwischen einer Kellnerin, ihrem Mann und ihrem griechischen Liebhaber; demnach könnte Bukowski James M. Cains Roman The Postman Always Rings Twice (1934) gekannt haben, eine sehr ähnliche Story, nur dass der Restaurantbesitzer Grieche ist und der andere Mann ihm die Frau stiehlt. Cain hat bekanntlich den Stil von Albert Camus’ Der Fremde geprägt – die französischen Existentialisten waren den coolen, harten amerikanischen Privatdetektiven etwas schuldig –, und auch Bukowski sah in Cains Stil einen wichtigen Einfluss auf sein Werk.[5] Wie Cain hält Bukowski oft eine klinische Distanz zum Verbrechen, und den Stil seiner vielen »hartgesottenen« Krimistorys, die in einer Hommage an das Genre – seinem letzten Roman »Pulp« (1994)[6] – gipfelten, könnte man als Los Angeles Noir bezeichnen. Als Irene der Bukowski-Figur in einer unserer Erzählungen sagt, er sei der größte Schreiber seit Hemingway, antwortet er: »Ich bin eher eine Mischung aus Thurber und Mickey Spillane«: Der Held von »Pulp« heißt bezeichnenderweise »Nick Belane«, mit klarem Anklang an »Mickey Spillane«. Natürlich leiten sich Bukowskis Dialogkunst, sein silbenarmer Wortschatz und seine karge, entschlackte Prosa von Hemingway her, ergänzt aber durch Elemente, die ihm bei Hemingway oft fehlten: Humor sowie eine ordentliche Dosis Slang, Flucherei, Unflätigkeiten und Obszönität. Der Titel »Keinem schlägt die Stunde« spielt offensichtlich auf Hemingways Roman Wem die Stunde schlägt an, während sich in einer anderen Story ein Pornoverleger und seine Frau humorvoll über Hemingway unterhalten.

Bukowski kam oft wehmütig auf die legendären Outlaws der 1930er Jahre zurück, und in dem Gedicht »Die Frau im roten Kleid« erinnert er sich: »der schönste Tag war, als John Dillinger aus dem / Gefängnis ausbrach, und der traurigste Tag als die Frau / im roten Kleid ihn verpfiff und er abgeknallt wurde als / er aus diesem Kino kam. / Pretty Boy Floyd, Baby Face Nelson, Machine Gun / Kelly, Ma Barker, Alvin Karpis – wir verehrten sie alle.«[7] Für Bukowski, genau wie für seinen schriftstellerischen Widerpart William Burroughs (der Jack Blacks autobiographische Schilderung von Abenteuern in der Unterwelt, You Can’t Win, 1926, zu seinen Lieblingsbüchern zählte), war das Machtgefüge der Vereinigten Staaten im Innersten kriminell und spiegelte sich in den gewalttätigen Gestalten wider, die es bekämpften.[8] Cain, Spillane, Dashiell Hammett und Raymond Chandler stellten ein hartes, amoralisches Universum dar, das keine Gnade kennt, und lieferten Bukowski die Tradition, in der er seine mythologisierte Autobiographie schildern konnte. Seine Begegnung mit Jane Cooney Baker in der Glenwood Bar auf der Alvarado Street wird zur endlos neu erzählten, umgeformten und verfeinerten Geschichte. In einer 1967er Story für Open City sagt er von Jane, »sie hatte herrliche Beine, eine enge kleine Spalte und ein Gesicht aus gepudertem Schmerz. Und sie kannte mich. Von ihr lernte ich mehr als aus den Büchern großer Philosophen« – und macht sie damit zur Femme fatale in einem Film noir. Und die Gewalt dieser kaputten Welt geht immer weiter. Wallace Fowlie schrieb einmal über Henry Miller: »Ich glaube, die Gewalt war das Erste, was mich an Mr Millers Schriften anzog. Nicht die Gewalt des Gesagten, sondern der Art und Weise, wie es gesagt wurde. Die Gewalt der Empfindung ist in seinem Werk zur Gewalt des Stils geworden, die seine vielen verschiedenen Leidenschaften und verstreuten Erfahrungen zu einer einzigen Spracherfahrung zusammenschweißt.«[9] Ähnlich hat auch Bukowski seine ganz eigene, fein modulierte »Sprache« zur Abbildung einer modernen Welt entwickelt, in der die erlösende Kraft der Liebe ständig bedroht ist.

»Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«, lautet ein Ausspruch des ismailitischen Gründers der Assassinen, Hasan-i Sabbah (ca. 1050–1124), den William Burroughs wie ein Mantra wiederholte. In den Brüdern Karamasow erklärt Dostojewskij: »Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt«, und einer der Brüder wird in »Schmutziger Schachzug gegen Gott« zitiert. Ein anderer Liebling Bukowskis, Friedrich Nietzsche, schrieb in Zur Genealogie der Moral:

»Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinen-Orden stießen, jenen Freigeister-Orden par excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgendwelchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholz-Wort, das nur den obersten Graden, als deren secretum, vorbehalten war: ›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹ … Wohlan, das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt … Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt? kennt er den Minotauros dieser Höhle aus Erfahrung? … Ich zweifle daran.«[10]

Die »labyrinthischen Folgerungen« einer solchen Philosophie werden zum Gegenstand der wiederholt von Bukowski dargestellten Begegnung seiner Figuren mit dem Minotauros der Höhle des unerbittlichen Chaos. Das Verbrechen wird zur Metapher für ein ungerechtes Universum, in dem Lohn und Strafe oft keinen erkennbaren Bezug zur Tugend haben: Die knallharte und brutale Story »Einbruch« enthält ein ausdrückliches Statement zur Ungerechtigkeit der Gesellschaft, und oft sieht der Erzähler bei Bukowski den Ereignissen hilflos und kommentarlos zu. Er ist Quasi-Beteiligter und Zuschauer zugleich.

Doch in diesen Storys zeigt sich auch die große Bandbreite Bukowskis; er kann geistreich, salopp, intim und einnehmend sein, und er versucht sich in vielerlei Genres: Science-Fiction, eine Western-Parodie, Storys von Jockeys und Footballspielern. Wenn er den Sturm und Drang seines privaten Gefühlslebens wiedergibt, werden oft auch die politischen und sozialen Umbrüche von Mitte bis Ende der sechziger Jahre ins Bild gerückt, wie in »Die Welt retten«, wo es um die Beziehung zu seiner Partnerin Frances Smith geht. Bukowski macht sich zwar über Frances’ liberales Engagement lustig, doch er kannte – und schätzte – Dorothy Healy, der er Cold Dogs in the Courtyard und Crucifix in a Deathhand mit Widmung schenkte. Will Inman, dem Herausgeber von Kauri, schrieb er: »Dorothy Healey, die Wortführerin der Kommunistischen Partei, war bei mir. Ich fühlte mich geehrt. Ich bin zwar unpolitisch, aber geehrt fühlte ich mich trotzdem.«[11] In einer Story malt sich Bukowski den apokalyptischen Sieg von George Wallace und seinem Vizepräsidentschaftskandidaten, Air-Force-General Curtis Le May, bei der Präsidentenwahl von 1968 aus; andere kommentieren bissig die Rückkehr amerikanischer Kriegsgefangener nach dem Ende des Vietnamkriegs und spielen auf Bukowskis Befragung durch das F.B.I. an, als wegen seiner vermeintlich aufrührerischen Texte für die Undergroundpresse gegen ihn ermittelt wurde.

Die politische Unruhe der Zeit – von ungefähr 1967 bis 1973 – fällt genau mit einer der besten und ergiebigsten Schaffensphasen Bukowskis zusammen. Man könnte behaupten, der damalige Ausbruch dionysischer Sexualenergie stehe in direktem Zusammenhang mit der Antikriegshaltung jener Zeit: Make love, not war. Die allmähliche Lockerung der Zensurbestimmungen gewährte Schriftstellern und Künstlern neue Freiheiten im Selbstausdruck. Im Haight-Ashbury-Bezirk von San Francisco hatte 1968 mit dem Erscheinen des berühmten Zap Nr. 1 der Höhenflug des Underground-Comics begonnen.[12] Bukowski selbst zeichnete und malte weiter aus dem Vollen und lernte schließlich die drei Leitfiguren des Comix-Underground persönlich kennen: Robert Crumb, Spain Rodriguez und S. Clay Wilson.[13] Als Bewunderer von Bukowskis Texten fing Robert Crumb deren tragikomische, deutsch-expressionistische Essenz in seinen Illustrationen zu Bring Me Your Love, There’s No Business und The Captain Is Overboard and the Sailors Have Taken Over the Ship ein.[14] Bukowski selbst fing jetzt an, Cartoons für seine Storys in Open City und der Los Angeles Free Press zu zeichnen. Er schuf auch mehrere eigenständige Comicstrips wie »Dear Mr Bukowski« – die urkomische Schilderung eines überdurchschnittlich verrückten Tags in seinem Leben –, der in der Free Press vom 27. Juni 1975 erschien und 1979 in 50 signierten Exemplaren als Siebdruck aufgelegt wurde, und eine Serie mit dem Titel »The Adventures of Clarence Hiram Sweetmeat«, die in der Free Press vom 24. Oktober 1974 und 19. September 1975 erschien. Die Folge vom 3. Oktober 1975 wurde 1986 in Buchform unter dem Titel The Day It Snowed in L.A. nachgedruckt

Genau wie Burnett in den vierziger Jahren drängte John Martin, der seit 1966 Einblattdrucke von seinen Gedichten herausgab, Bukowski, einen Roman zu schreiben. Er hatte ein Manuskript mit dem Titel The Way the Dead Love in Arbeit, das unvollendet blieb, doch mehrere Kapitel daraus wurden in Zeitschriften veröffentlicht.[15] Ein Kapitel, das 1967 im Congress erschien, schildert die sexuellen Späße zwischen »Hank« (Bukowski), »Lou« und einer jungen Kellerbewohnerin und führt den flotten, neuen Stil vor, in dem Bukowski Erotik beschreibt. Dass er Anfang der siebziger Jahre zur Ergänzung seines Einkommens für Herrenmagazine zu schreiben begann, schien eine ganz natürliche Entwicklung. Vier Storys im vorliegenden Band – »In der Klapse«, »Tanzen mit Nina«, »Keine Quickies« und »Ein Stück Käse« – erschienen zuerst in der von Arv Miller in Chicago herausgegebenen Fling. »Hairy Fist Tales« nannte Bukowski die Serie, wahrscheinlich in Anlehnung an ein Gedicht, das er 1966 in der Grande Ronde Review6 veröffentlicht hatte, »die haarige, haarige Faust, und die Liebe stirbt«, eine grimmige, beklemmende Beschreibung des Am-Boden-Zerstörtseins: »deine Seele / voll mit / Schlamm, Fledermäusen und Flüchen / und die Hämmer kommen / die haarigen, / haarigen / Fäuste, und / die Liebe / stirbt.«[16] Die Erzählungen sind jedoch heiter und ausgelassen. Bukowski hatte Boccaccio gelesen, und die auch von Chaucer her bekannte Fabliau-Technik der Volkserzählung schlägt sich in »Keine Quickies« nieder, wo sich wie im Witz der gleiche Hergang mehrmals wiederholt und zu einem überraschenden Ende führt.

Bukowski schrieb eine Reihe von Erzählungen über die Frauen, die er in den Jahren 1970–76 kennengelernt hatte. Letztlich wurde der Roman Women daraus, und die Los Angeles Free Press brachte die von einem Redakteur als »laufender Roman« bezeichnete Serie von der Wochenausgabe vom 13. Februar 1976 an unter dem Titel Love Tale of a Hyena (den die deutsche Ausgabe des Romans beibehielt: Das Liebesleben der Hyäne).[17] Seine Beziehung mit Linda King wird geschildert. Liza Williams erscheint in mehreren Geschichten; auf einer ihrer Partys lernt Bukowski Robert Crumb kennen, verzichtet aber darauf, Paul Krassner, den Herausgeber des Realist, kennenzulernen. Schreiben und Frauen bilden einen ständigen Kontrapunkt in seinen Erzählungen. Er taucht in den Schoß aus Liebe, Leidenschaft und Sex ein in der Hoffnung, die Wunden seiner Vergangenheit zu heilen, in der Hoffnung, in romantischer Liebe ein Mittel gegen die ihn bedrängenden Dämonen zu finden. Doch diese Erlösung findet er nur vorübergehend, dann kehrt er zu sich zurück und gewinnt Abstand zu seiner Einsamkeit, indem er das Erlebte in Erzähltes umformt. Sein Leben dient vor allem dazu, in Worte umgesetzt und verwandelt zu werden. Er geht nach Arizona, beschreibt sich als Schreibenden, kommt sofort auf Gertrude Stein und Hemingway zu sprechen und flicht seine Begegnungen mit Frauen und Kindern und dem Leben in der unmittelbaren Umgebung mit ein. Sex heißt gelegentliche Ekstase und häufiges Gelächter; Liebe ist eine Sache auf Leben und Tod: Er gibt uns beides im Wechsel. Die Storys veranschaulichen auch die Geschlechterkämpfe jener Zeit im Rahmen der Frauenemanzipation. Bukowski kehrt die Situation gern um und zeigt uns, wie leicht sich die »politisch korrekte« Haltung auf den Kopf stellen lässt. Allerdings nimmt er auch die Männer aufs Korn und führt vor, wie absurd die ganze Angelegenheit der romantischen Liebe ist. Pathos, Farce, Tragödie: Oft rettet Humor die Situation. Er kann den Schmerz entschärfen, indem er sich über die ganze Absurdität von Liebesbeziehungen ein wenig lustig macht. Massagesalons, ein Pornoverleger bei nächtlichen Diskussionen mit seiner Frau, Pornobuchläden, ältere Frauen, die jüngere Männer aufgabeln: Das ganze Spektrum der verblassenden sexuellen Revolution wird bespöttelt und durch den Kakao gezogen.

Als sich Bukowski 1970 entschloss, vom Schreiben zu leben, änderte sich in mancher Hinsicht seine Arbeitsweise. Er hatte immer schon den gleichen Stoff in Gedichten und Kurzgeschichten verarbeitet, doch jetzt nahm er sich die Zeit, Romane zu schreiben und Herrenmagazine zu beliefern. An mehreren Storys im vorliegenden Band sieht man, wie er seinen Stoff verarbeitet und umgedichtet hat. Er schafft die Erzählung neu; er kopiert nicht, sondern fängt von vorn an. Immer erzählt er aus seinem Leben, aber er greift andere Details heraus, erfindet neu, statt neu zu fassen. Von »Eine ganz unbedeutende Affäre« etwa findet sich auch eine Version in Women, doch die Erzählweise und der Schwerpunkt sind anders. Und die Story »Ich schreibe nur Gedichte, um Frauen ins Bett zu kriegen« gibt es auch als den hier vorgelegten »Dirty Old Man«-Beitrag: Die Handlung wird zum Teil beibehalten, die Begegnung mit Gregory Corso aber ganz anders dargestellt.[18] Das ist typisch für Bukowskis Methode, Episoden aus seinem Leben herauszugreifen und umzugestalten, wobei er bestimmte Details hinzufügt und meistens die Realität ausschmückt, indem er sie durch erfundene Handlungselemente ergänzt. Er ist fortwährend damit beschäftigt, sein Leben zu erzählen und neu zu erzählen und verleiht ihm die Struktur des Mythos, um beides untrennbar miteinander zu verbinden. Die Grundstruktur seines Lebens ist mythisch, eine Variation der Heldenfahrt, des Helden, der seinem Stern folgt: die vernachlässigte Kindheit, die Urverletzung durch den Vater, die Hautentstellung, die Wanderungen in der Wüste, der Beinahtod durch die Alkoholkrankheit 1954 und die Wiederauferstehung.[19]

Diese Storys aus den Jahren 1948 bis 1985 dokumentieren Bukowskis Entwicklung als Kurzgeschichtenschreiber. Er verfeinert nach und nach seine Kunst und lernt, das Tragische und das Komische zwanglos miteinander zu verbinden. In der Spätphase führt ihn sein Stil zu einer lakonischen, fein modulierten Prosa, wie wir sie in »Keinem schlägt die Stunde« sehen. Der Ton ist schnell hergestellt, und kein Wort wird vergeudet. Bukowskis Ziel war, unterhaltsam zu erzählen, und doch trieb es ihn, die dunklen Seiten zu erkunden, Nietzsches Höhle mit dem monströsen Minotaurus. In seinen eigenen Worten: »Benennen kann ich es nicht. Es ist einfach da. Das Ding ist da. Ich muss es mir ansehen. Das Ungeheuer, den Gott, die Ratte, die Schnecke. Was immer da draußen ist, ich muss hingehen und es mir ansehen und es aushalten und vielleicht auch nicht aushalten, aber es muss sein. Das ist alles. Ich kann es wirklich nicht erklären.«[20] Das unsagbare, monströse, unergründlich gewalttätige und sanfte Geheimnis im Herzen des Daseins lässt ihm keine Ruhe.

Ein gütiges, verständnisvolles Gesicht

Die Eltern starben früher als üblich, der Vater zuerst, die Mutter kurz darauf. Zur Beerdigung des Vaters ging er nicht, aber zu der anderen. Einige Nachbarn erinnerten sich an ihn als Kind und fanden, er war ein »netter Junge«. Andere kannten ihn nur als Erwachsenen, der ab und zu für ein oder zwei Wochen zu Besuch kam. Er war immer irgendwo weit weg in einer Großstadt, Miami, New York, Atlanta, als Journalist, wie die Mutter sagte, und als der Krieg kam und er kein Soldat wurde, erklärte sie, er habe es am Herzen. Die Mutter starb 1947, und er, Ralph, kam nach Hause und blieb im Viertel wohnen.

Er wurde scharf beobachtet, denn es war ein anständiges Viertel mit Durchschnittsbürgern, die lieber im eigenen Heim wohnten statt irgendwo zur Miete, man legte also Wert auf Beständigkeit. Ralph sah älter aus, als er hätte aussehen sollen, etwas verbraucht. Manchmal aber, bei günstigen Lichtverhältnissen, war er beinah schön, und das untere Augenlid links zuckte bisweilen am geradezu fröhlich strahlenden Auge. Er redete wenig und meistens wie im Scherz, aber dann ging er entweder zu abrupt davon oder schlich, die Hände in den Taschen, plattfüßig seines Wegs. Mrs Meers fand, er habe ein »gütiges, verständnisvolles Gesicht«. Andere sahen Hohn darin.

Das Haus war gut in Schuss – die Hecken, der Rasen, die Einrichtung. Der Wagen verschwand, und bald tummelten sich drei Kätzchen und zwei Hundewelpen im Garten. Mrs Meers von nebenan bekam mit, dass Ralph oft in der Garage war und mit einem Besen den Spinnweben zu Leibe rückte. Einmal sah sie, wie er den Ameisen eine angematschte Spinne vorwarf und zuschaute, wie sie die lebendig zerstückelten. Das war, abgesehen von einem anderen Vorfall, das Erste, was Anlass zu Gerede gab. Das andere Mal war er den Hang runtergekommen und Mrs Langley begegnet und hatte zu ihr gesagt: »Bis die Leute lernen, öffentlich ihre Notdurft zu verrichten und zu kopulieren, können sie weder mit Anstand primitiv noch von Herzen modern sein.« Ralph war angetrunken gewesen, und man ging davon aus, dass er trauerte. Aber er schien auch den Kätzchen beinah demonstrativ mehr Zeit zu widmen als den Hündchen, und das war natürlich schon seltsam.

Er trauerte weiter. Der Rasen und die Hecken verdorrten. Er bekam Besuch, der lange blieb und manchmal morgens noch gesehen wurde. Es waren Frauen, kräftige, laut lachende Frauen, viel zu dünne Frauen, schäbige Frauen, alte Frauen, Frauen mit englischem Akzent, Frauen, bei denen sich jedes zweite Wort aufs Bett oder aufs Klo bezog. Bald waren Tag und Nacht Leute da. Ralph sah man mitunter tagelang nicht. Irgendjemand setzte eine Ente in den Garten. Mrs Meers fing an, die Tiere zu füttern, und ihr Mann schloss eines Abends aus Wut seinen Gartenschlauch an Ralphs Wasserhahn an und nässte das Grundstück gründlich ein. Niemand bremste ihn oder bemerkte ihn auch nur bis auf einen »grässlichen dünnen Mann«, der mit einer Zigarre im Mund aus der Fliegengittertür kam, an Mr Meers vorbei zum Abfallverbrenner ging, einen Blick hineinwarf, ihn wieder schloss und an Mr Meers vorbei ins Haus zurückkehrte.

Manchmal schlugen sich die Männer abends im Garten, und einmal rief Mrs Roberts (von der anderen Seite) die Polizei, aber bis die kam, waren alle wieder im Haus. Die Polizei ging rein und blieb eine Zeitlang. Aber sie kam allein wieder raus.

Es wurde fast zu viel, doch auf einmal merkten die Nachbarn, dass die Leute verschwunden waren. Die Ente war auch nicht mehr da. Ruhige Nächte kehrten ein. Tagsüber sah man nur noch eine schmalgesichtige Frau, die mit englischem Akzent sprach und Allüren hatte, sich aber sauber anzog und jünger war als ihre Vorgängerinnen. Ralph kam mit Bibliotheksbüchern unterm Arm nach Hause und verließ das Haus jeden Morgen um Viertel nach sieben im Blaumann. Er sah jetzt besser aus, obwohl Mrs Meers jedes Mal, wenn sie sich mit der Frau unterhielt, eine Whiskeyfahne roch. Ralph fing an, den Garten zu wässern und zu pflegen. Das untere Augenlid links beruhigte sich. Er redete mehr. »Die Menschen sind gut. Jeder ist gut. Ich hoffe, wir können gute Freunde sein«, sagte er zu Mrs Roberts. »Ich glaube, ich war fast mein Leben lang ein Kind. Ich werde gerade erst erwachsen, glaube ich. Und stören Sie sich nicht an Lila. Sie ist … im Grunde ist sie …« Er führte es nicht aus. Er lächelte nur, winkte und richtete den Wasserstrahl auf einen Strauch.

Am Wochenende sah man ihn manchmal betrunken und sie natürlich auch; aber immer arbeitete er und war freundlich, ein richtig gutmütiger Mensch. »Wäre sie doch nur so wie Ralph. Ach, ich weiß schon, dass er trinkt! Aber er ist ein patenter Kerl – und der Job fordert ja auch! Er ist so nett. Aber irgendwie braucht er sie wohl.«

»Einmal sah sie, wie er den Ameisen eine angematschte Spinne vorwarf und zuschaute, wie sie die lebendig zerstückelten.«

Die anderen musste er auch gebraucht haben. Sie kamen alle wieder, erst nur ein paar, dann die übrigen. Der Frau, Lila, gefiel das offenbar am wenigsten. Sie war wütend, aber Ralph lachte nur. Dann kam die Ente. Als die Ente kam, verfiel Lila in Schweigen. Die Katzen und Hunde waren jetzt beinah ausgewachsen, und die Ente, einst Chef im Garten, hatte es schwer. Der »grässliche dünne Mann, der zum Abfallverbrenner gegangen war« baute ihr einen Stall, und von da an wurde die Ente von den Nachbarn als Eigentum des »grässlichen dünnen Manns, der zum Abfallverbrenner gegangen war«, betrachtet.

Einer der Hunde starb. Sie kauften ein Klavier und spielten eine Woche lang fast ununterbrochen darauf, Tag und Nacht, dann war es gut. Sie begruben den Hund hinter der Garage und versenkten eine Whiskeyflasche, aus der ein Kreuz ragte, halb in der Erde. Aber sie hatten den Hund nur verscharrt, und es fing an zu stinken. Eines Abends räuberte eine stämmige Frau das Grab und steckte die Überreste laut und derb fluchend in den Abfallverbrenner, kotzte und rief: »Nicht der Tod schmerzt uns, sondern das Alt- und Älterwerden … runzlige Hände, Runzelgesicht … Gott, sogar mein Hintern ist runzlig! Herr Jesus, ich hasse das Alter! Ich hasse es!«

Anscheinend verkauften sie den Kühlschrank. Alle halfen den Transporteuren, den Kühlschrank einzuladen. Es wurde viel gelacht. Das Klavier nahmen sie auch mit. Lila, so hörte man, hatte einen Selbstmordversuch unternommen. Mehrere Tage lang lief sie volltrunken in einem extrakurzen Rock auf zehn Zentimeter hohen Absätzen umher. Sie redete mit jedem, auch mit den Nachbarn.

Einige Leute verkrümelten sich. Angeblich verlangte Ralph Miete. Er wurde dünner und stiller. Er kaufte Saat, legte einen Rasen an und teilte die neue Fläche mit Pflöcken und Schnur ab. Frühmorgens verließ er das Haus im Anzug, und mehrere Wochen später verließ er es wieder um Viertel nach sieben in seinem Blaumann. Die Leute blieben zwar, waren aber nicht mehr ganz so laut. Die Nachbarschaft hatte das Haus irgendwie akzeptiert. Der Rasen gedieh, und nicht selten sah man Ralph abends im Gespräch mit Mrs Meers, während sie beide im Garten arbeiteten. Von den anderen Hausbewohnern ging eine gewisse Voreingenommenheit und Geringschätzung aus, doch Ralph war nett, sogar an den Wochenenden, wenn er zur Flasche griff. Er ließ sich einfach zu viel von diesen Leuten gefallen, und an Lila, das merkte man, lag ihm wirklich etwas.

Das Klavier kam wieder. Der Kühlschrank kam wieder. Lila fing an, Ralphs Sachen zu waschen, auch wenn Mrs Meers im Gespräch mit ihr immer noch Whiskey roch. Lila hatte etwas Hartes an sich. Im Grunde war sie ein für Ralph bestimmtes Mädchen aus der Oberschicht. Sie sei trotz allem nicht so wie die anderen, meinte Mrs Roberts. Beide seien gebildet und wohlerzogen, das merke man. Ralph sei Journalist gewesen …

Ralphs Selbstmord kam daher wirklich überraschend. Das ist natürlich immer so, auch wenn es heißt, jaja, das alte Lied, nichts Neues. Der Abschiedsbrief schien in einem Rausch der Verzweiflung entstanden zu sein. Und auf der Rückseite standen ein paar unzusammenhängende Lesezitate, so sonderbar wie alles andere:

Sah Mantichoren, sehr närrische Thier; sie haben Leiber wie die Löwen, fuchsrothes Haar, Gesicht und Ohren wie Menschen, und drey Reihen Zähn, die in einander greifen wie wenn ihr die Finger der Händ verschränkt: im Schwanze führen sie Stachel, damit stechen sie wie die Skorpionen; und ihre Stimm ist wunderlieblich. – Rabelais

Die absolute Liebe zu etwas geht einher mit der Liebe zum allgemeinen Guten, und die Liebe zum allgemeinen Guten geht einher mit der Liebe zu allen Geschöpfen. – Santayana

Warcollier machte sich vor dem Ersten Weltkrieg einen Namen mit der Erfindung eines Verfahrens zur Herstellung von künstlichem Schmuck aus Fischschuppen. In Frankreich und den Vereinigten Staaten wurden Fabriken eröffnet …

Der Rasen verkam.

Die Welt retten

Sie kam herein, und mir fiel auf, dass sie gegen die Wände lief und ihre Augen schwammen. Es war am Tag nach der Schreibwerkstatt, und sie wirkte immer so, als hätte sie etwas genommen. Vielleicht nahm sie ja was. Sie ohrfeigte das Kind, weil es ihren Kaffee verschüttet hatte, dann hängte sie sich ans Telefon und führte eins ihrer endlosen »intelligenten« Gespräche mit irgendwem. Ich spielte derweil mit dem Kind, das meine Tochter war. Sie legte auf. »Geht’s dir gut heute?«, fragte ich.

»Wieso?«

»Du scheinst nicht ganz … bei dir zu sein.«

Ihre Augen sahen wie die von »Verrückten« im Film aus.

»Mir geht’s gut. Geht’s dir auch gut?«

»Nee. Ich bin doch immer konfus.«

»Schon was gegessen heute?«

»Nein. Könntest du ein paar Kartoffeln aufsetzen? Der Topf steht zum Einweichen in der Spüle.«

Ich kam gerade aus dem Krankenhaus und war noch nicht ganz fit.

Sie ging in die Küche, dann blieb sie stehen und schaute auf den Topf. Sie stützte sich am Türrahmen ab und wankte, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Am Zustand der Küche konnte es nicht liegen, denn sie war die schlechteste Hausfrau unter meinen Exfrauen.

»Was hast du?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht.

»Der Topf ist okay. Steht nur Spülwasser drin. Schrubb ihn kurz aus und schütt es weg.«

Schließlich kam sie wieder raus, lief ein bisschen herum, stieß gegen einen Stuhl und drückte mir ein paar Zeitschriften in die Hand: PROGRAM OF THE COMMUNIST PARTY U.S.A. und AMERICAN DIALOGUE. Auf dem Cover von DIALOGUE schlief ein Baby in einer Hängematte aus Patronengürteln mit vorstehenden Projektilen. Und das Cover verwies auf den Inhalt: DIE MORAL UNSERER ZEIT. ZUR ÜBERLEGENHEIT DES NEGERS.

»Na ja, Kind«, sagte ich, »mit Politik generell hab ich’s nicht so. Davon versteh ich zu wenig. Aber dann les ich das mal.«

Ich sah mir einige Sachen an, während sie in der Küche Fleisch zubereitete. Sie rief mich, und die Kleine und ich gingen rein. Wir machten uns ans Essen.

»Ich hab das von der Überlegenheit des Negers gelesen«, sagte ich. »Mit Negern kenn ich mich ja aus. Bei mir auf der Arbeit sind hauptsächlich Neger …«

»Konzentrier dich lieber auf die Weißen.«

»Tu ich schon. In dem Artikel war die Rede von ›guter, kräftiger Muskulatur‹. Von der ›schönen, tiefen Farbe, den vollen, breiten Gesichtszügen, dem eleganten Kraushaar des Negers‹ und davon, dass die Natur, als sie sich den Weißen vornahm, schon ziemlich erschöpft war, ihm aber schnell noch ein eigenes Gesicht verliehen hat, so gut es ging.«

»Ich kannte mal einen kleinen Farbigen. Er hatte ganz weiche, kurze Haare, wunder-, wunderschön waren die.«

»Das kommunistische Parteiprogramm schau ich mir heute Abend mal an«, sagte ich.

»Stehst du im Wählerverzeichnis?«, fragte sie.

»Bis jetzt nicht.«

»Am Neunundzwanzigsten kannst du dich bei euch in der Schule eintragen lassen. Dorothy Healey kandidiert als Steuereinschätzerin für den Kreis.«

»Marina wird jeden Tag schöner.« Ich sprach von meiner Tochter.

»Das stimmt. Hör zu, wir müssen los. Sie soll um sieben ins Bett. Und auf KPFK kommt was, das ich hören will. Neulich Abend haben sie einen Brief von mir vorgelesen.«

KPFK war ein Radiosender.

»Okay«, sagte ich.

Ich schaute ihnen nach. Sie schob die Kleine im Kinderwagen über die Straße. Immer noch derselbe steife Gang. Nichts Flüssiges in Sicht. Eine bessere Welt. Herr Jesus. Jeder hat ein anderes Rezept dafür, jeder eine andere Idee, und alle sind sich ihrer Sache ganz sicher. Sie auch, die holzsteife Frau mit den irren Augen und den grauen Haaren, die gegen ihre Wände lief, die sich vom Leben und von der Angst verrücktmachen ließ und schwer davon zu überzeugen war, dass ich sie und ihre vielen Freunde nicht hasste, die zwei- oder dreimal die Woche zusammenkamen und gegenseitig ihre Gedichte lobten und einsam waren und miteinander schliefen und Transparente trugen und sehr engagiert und ihrer Sache sicher waren und mir nicht abnahmen, dass ich nur allein sein und meine Ruhe haben wollte, um meine Haut zu retten und darüber nachdenken zu können, wer sie waren und wo angeblich der Feind saß.

Trotzdem war es schön, allein zu sein.

Ich ging ins Haus und machte mich langsam an den Abwasch.

Wie die Toten lieben

Anderthalb Wochen lang tat mir der Kopf weh. So schöne Kater hatte ich öfter. Lou machte sich an den Wein und entschuldigte sich, bis es mir hochkam. Ein paar Tage habe ich sogar noch Güterwagen beladen. Lou fand auf dem Klo einer Kneipe eine Brieftasche mit fünfunddreißig Dollar. Also machten wir weiter. Eine Zeitlang. Aber ich hatte das Gefühl, Lou etwas schuldig zu sein. Und eines Abends begriff ich auch, was. Lou redete von seiner Freundin.

»Dieser Körper! Diese Brüste! Und sie ist jung, Hank, jung!«

»Und?«

»Nur mit dem Saufen kann sie nicht aufhören. Sie ist ständig blau. Kriegt ihre Miete nicht bezahlt. Jetzt sitzt sie im Keller.«

»Im Keller?«

»Dahin werden die verfrachtet, die kein Geld für die Miete haben.«

»Ist sie jetzt da?«

»Ja.«

Wir tranken eine Weile. Dann sagte ich: »Heute Abend muss ich früher Schluss machen, Lou. Hab noch was zu erledigen.«

»Klar, Junge.«

Er verschwand, und ich zog los und kaufte eine Flasche Whiskey. Ich ging in den Keller. Da gab’s nur eine Tür. Ich klopfte an. Die Tür ging auf, und vor mir stand ein junges Ding auf hohen Absätzen, mit nichts als einem dünnen Negligé über Höschen und BH. Ich schob mich an ihr vorbei.

»Raus hier!«, schrie sie. »Hau ab hier!«

Ich nahm die Flasche aus der Tasche und hielt sie ihr vor die Nase.

»Hau ab«, sagte sie etwas leiser.

»Schön hast du’s hier. Wo sind deine Gläser?«

Sie zeigte es mir. Ich goss zwei Wassergläser halb voll, und wir setzten uns auf die Bettkante.

»Trink aus. Ich wohne oben.«

Ich legte ihre Brüste frei. Sie waren gut. Ich küsste sie auf den Hals und den Mund. Ich war in Form. Wir tranken noch ein Glas, dann zog ich ihr den Slip aus und drang in sie ein. Auch das war gut. Ich blieb die ganze Nacht, wir machten es noch einmal und dann noch mal am Morgen, bevor ich ging. Sie schien mich zu mögen. Und es war sehr gut mit ihr.

Eines Abends saß ich oben bei Lou und fragte ihn: »Warst du in letzter Zeit noch mal bei deiner Freundin?«

»Neenee, wollte ich dir noch sagen. Die haben sie rausgeworfen. Raus aus dem Keller. Ich kann sie nirgends finden. Ich hab sie überall gesucht. Das macht mich ganz krank. So ein Weib! Du ahnst ja nicht, wie es mir geht!«

»Doch, Lou.«

Schweigend hoben wir das Glas auf sie.

Notizen eines Dirty Old Man

Open City, 10.–16. August 1967

Ich habe allerhand Schriftsteller, Künstler, Verleger, Professoren, Maler kennengelernt, und nicht ein unverbildeter, wirklich interessanter Mensch war darunter. Sie sahen auf dem Papier oder in Farbe besser aus, und das mag etwas für sich haben, trotzdem ist es sehr unangenehm, diesen Figuren gegenüberzusitzen und sie reden zu hören oder ihnen ins Gesicht zu sehen. Ihr Lebenssame, falls vorhanden, verliert sich in ihrer Arbeit. Unterhaltung, Erfüllung, Anmut und Aufrichtendes musste ich woanders suchen. Und im scheinbar so gleichförmigen Menschenschwarm findet sich immer noch der einzelne Irre oder Heilige. Ich habe viele gefunden, beschränke mich hier aber auf einige wenige.

Nehmen wir das Hotel Ecke Beverly und Vermont. Wir hingen am Wein, meine Freundin und ich. Jane war ein Naturtalent, sie hatte herrliche Beine, eine enge kleine Spalte und ein Gesicht aus gepudertem Schmerz. Und sie kannte mich. Von ihr lernte ich mehr als aus den Büchern großer Philosophen. Wir sahen vielleicht einen Mann oder eine Frau durch die Halle laufen, und sie rochen wie Kotze, Pest und Tod nach Verrat, und ich bekam das auch mit, ertrug es aber stumm in meinem morgendlichen Katerschatten, wieder mal zerschmettert von der Erkenntnis, wie tief der Mensch ohne Anlauf sinken konnte. Und während mir das durch den Kopf ging, hörte ich sie plötzlich sagen: »Der Dreckskerl! Das halt ich nicht aus! Der macht mich krank!« Dann lachte sie, und jedes Mal dachte sie sich einen Spitznamen für die Kreaturen aus wie Grünmaul, Mückenauge oder Plüschohr.

Aber weiter im Text, eines Abends saßen wir Portwein süffelnd in unserem Zimmer, und sie sagte: »Weißt du, ich sollte dich vielleicht mit dem FBI bekanntmachen.« Sie war Zimmermädchen in dem Laden und kannte die Gäste.

»Vergiss es, Herzchen«, gab ich zurück, »das FBI kenn ich schon.«

»Na gut.«

Wir schnappten uns die halbleere Weinflasche und die zwei oder drei vollen, und ich ging mit ihr in die Halle hinunter. Es war finsterste Hölle, zig Leute lehnten an der Tapete, alle mit der Miete im Rückstand, tranken Wein, drehten sich Zigaretten, alle lebten von gekochten Kartoffeln, Reis, Bohnen, Kohl und Schweinskopfsuppe. Wir gingen ein paar Meter, und dann klopfte Jane, das beharrliche kleine Klopfen, das ausdrückt: alles gut.

»Ich bin’s – Jane. Ich bin’s.«

Die Tür öffnete sich, und eine kleine Dicke stand da, ziemlich hässlich, leicht gefährlich, verrückt, aber trotzdem okay.

»Komm rein, Jane.«

»Das ist Hank«, stellte sie mich vor.

»Hallo«, sagte ich. Ich trat ein und setzte mich auf einen Stuhl, und eine der Ladys lief herum und füllte die großen Wassergläser mit brutal stinkendem Wein.

Unterdessen saß, nein, fläzte sich auf dem Bett ein Mann, der zehn Jahre jünger war als ich.

»Wie geht’s, Scheißkerl?«, fragte ich ihn.

Er gab keine Antwort. Er sah mich nur an. Ein Typ, der im normalen Gespräch keinen Wert auf eine Erwiderung legt, ist ein Wilder, ein Naturmensch. Ich wusste, dass ich in der Klemme steckte. Er FLÄZTE sich da einfach so unter dem schmutzigen Laken, Weinglas in der Hand, und obendrein sah er auch noch ziemlich gut aus. Jedenfalls, wenn man wie ich findet, dass Geier gut aussehen. Sein Schnabel und seine Augen lebten, und er hob das Glas und goss sich den ganzen brutal stinkenden Wein auf einmal hinter die Binde, ohne mit der Wimper zu zucken, so dass mir als dem schwersten Säufer der letzten zweihundert Jahre nichts anderes übrigblieb, als die Giftsuppe ebenfalls in mich hineinzuschütten, mich geistig am Stuhl festzuhalten und keine Miene zu verziehen. Nachschub. Er machte es noch einmal. Ich machte es noch einmal. Die beiden Ladys saßen nur da und schauten zu. Fieser Wein für fiese Tristesse. Wir genehmigten uns noch zwei Gläser. Dann fing er an zu quasseln. Kraftvolle Sätze verworrenen Inhalts. Trotzdem taten sie mir gut. Dazu das helle Licht der großen Lampe und die beiden betrunkenen, verrückten Frauen, die sich über irgendetwas unterhielten. Irgendwas.

Dann war es soweit – ausgefläzt. Er richtete sich im Bett auf. Die schönen Geieraugen und das Lampenlicht umfingen uns. Er sagte ganz leise und mit selbstverständlicher Autorität: »Ich bin das FBI. Ihr seid verhaftet.«

Und damit nahm er uns alle fest, seine Frau, meine, mich, und das war’s. Wir fügten uns, und der Abend konnte weitergehen. Ich weiß nicht, wie oft er mich im darauffolgenden Jahr festgenommen hat, aber es war immer der magische Moment des Abends. Nie habe ich ihn aufstehn sehen. Wann er scheißen oder pinkeln ging, aß, Wasser trank oder sich rasierte, war mir schleierhaft. Ich kam zu dem Schluss, dass er das alles einfach nicht machte – es spielte sich anders ab, wie der Schlaf, atomare Kriegsführung oder die Schneeschmelze. Er hatte erkannt, dass das Bett die größte Erfindung der Menschheit war – die meisten von uns werden drin geboren, schlafen drin, ficken drin, sterben drin. Wozu aufstehen? Eines Abends wollte ich seine Frau rumkriegen, aber sie meinte, wenn er dahinterkäme, würde er mich umbringen. Damit hätte man ihn also wohl aus den Federn holen können. Gekillt von einem FBI-Agenten in dreckiger Unterwäsche. Ich ließ es sein. So gut sah sie auch wieder nicht aus.

Ein andermal hatte Jane wieder eine Überraschung für mich. Wir becherten. Dasselbe billige Zeug natürlich. Ich hatte ein- oder zweimal mit ihr geschlafen, und viel mehr lag nicht an, da sagte sie: »Willste mal ’n Mörder kennenlernen?«

»Von mir aus«, sagte ich, »jederzeit.«

»Dann komm.«

Sie erläuterte mir das Ganze unterwegs. Wen er umgebracht hatte und weshalb. Jetzt war er auf Bewährung draußen. Der Bewährungshelfer war ein guter Kerl und besorgte ihm immer Tellerwäscherjobs, aber er soff sich immer zu und verlor sie.

Jane klopfte an, und wir gingen rein. So, wie ich den FBI-Mann nie außerhalb des Betts gesehen habe, sah ich auch die Freundin des Mörders niemals aufstehen. Sie hatte total schwarze Haare und schrecklich weiße, ultramagermilchweiße HAUT. Sie war todkrank. Das Einzige, was sie der Schulmedizin zum Trotz am Leben hielt, war Portwein.

Ich wurde dem Mörder vorgestellt:

»Ronnie, Hank. Hank, Ronnie.«

Er saß da im dreckigen Unterhemd. Und er hatte kein Gesicht. Nur Hautschichten. Kleine Furzaugen. Wir gaben uns die Hand und machten uns an den Wein. Ich weiß nicht, wie lange wir gebechert haben. Ein bis zwei Stunden, dabei wurde er aber immer wütender, was unter Durchschnittssäufern ziemlich verbreitet ist, besonders beim Wein. Aber wir haben gequasselt und gequasselt, ich weiß nicht, über was.

Dann packte er plötzlich seine Schwarzweißfrau, hob sie aus dem Bett und schwang sie wie eine Weidengerte. Immer wieder knallte er ihren Kopf gegen das Kopfbrett:

peng peng

    peng peng peng

       peng peng peng peng

 peng

Dann sagte ich: »Lass das!«

Er sah zu mir rüber. »Was ist denn?«

»Wenn du noch einmal ihren Kopf gegen das Kopfbrett haust, bring ich dich um.«

Sie war weißer denn je. Er legte sie wieder ins Bett, strich ihr die Haare glatt. Sie sah beinah glücklich aus. Wir fingen wieder an zu trinken. Wir tranken, bis der Wahnsinnsverkehr auf den Straßen tief unter uns wieder losging. Dann ging richtig die Sonne auf. Strahlend hell, und ich stand auf und gab ihm die Hand. »Ich muss gehen«, sagte ich, »auch wenn’s mir schwerfällt; du bist ein guter Kerl, aber ich muss los.«

Dann gab es noch Mick. Die Wohnung war in der Mariposa Avenue. Mick arbeitete nicht. Seine Frau arbeitete. Mick und ich tranken oft zusammen. Einmal gab ich ihm fünf Dollar, damit er meinen Wagen einwachst. Der Wagen damals war nicht schlecht, aber Mick hat ihn nie eingewachst. Ich sah ihn vor der Haustür sitzen. »Es sieht nach Regen aus. Da kann ich mir das Wachsen sparen. Wenn schon, dann mach ich das richtig. Es soll ja kein Murks werden.« Betrunken saß er da. »Okay, Mick.« Dann saß er wieder betrunken da und sah mich. »Ich überlege gerade, was ich machen soll. Du hast ja so Kratzer da dran. Die werd ich erst mal übermalen. Muss ich mir Farbe besorgen …«

»Um Himmels willen, Mick. Vergiss es!«

Er vergaß es, aber er war ein prima Kerl. Eines Abends behauptete er hartnäckig, ich sei betrunken, obwohl er derjenige war, der einen sitzen hatte. Und er bestand darauf, mir die drei Treppen hoch zu helfen. In Wirklichkeit half ich ihm. Aber es war ein schwerfälliger, schweratmiger Aufstieg, und ich glaube, wir haben das ganze Apartmenthaus mit unserem Gefluche und unseren Ausfallschritten gegen Türen und Geländer aufgeweckt. Jedenfalls bekam ich die Tür auf, und dann stolperte ich über einen seiner großen Füße. Runter ging’s, und ich fiel der Länge nach auf einen Couchtisch mit einem fünf Millimeter dicken Glaseinsatz. Der ganze Tisch krachte auf den Boden – ich wiege knapp zwei Zentner –, und alle vier Tischbeine knickten weg, die Platte riss an vier Stellen, aber der Glaseinsatz blieb schön ganz. Ich stand auf. »Danke, Alter«, sagte ich. »Keine Ursache«, meinte er. Dann setzte ich mich und hörte mir an, wie er gegen Türen krachte und die Treppe runterschlitterte. Es war, als stände der ganze Bau unter Bombenbeschuss. Aber er kam an, die Schwerkraft war auf seiner Seite.

Er hatte eine gute Frau. Ich weiß noch, wie sie mir einmal das Gesicht mit Watte und irgendeinem Desinfektionsmittel abgetupft haben, als es von einer bösen Nacht in der Stadt völlig ramponiert war. Sie gingen sehr sanft, fürsorglich und vorsichtig mit meinem ramponierten Gesicht um, und es war ein ganz komisches Gefühl für mich, diese Fürsorge.

Jedenfalls setzte der Alkohol Mick zu, und das tut er ja bei jedem anders. Micks Körper schwoll an, aufs Zwei- und Dreifache an manchen Stellen. Er bekam seine Hose nicht mehr zu und musste sich die Hosenbeine anschlitzen. Im Veteranenkrankenhaus hatten sie angeblich keinen Platz für ihn. Ich nahm eher an, er wollte nicht hin. Irgendwann kam er jedenfalls auf die dumme Idee, es mit dem Allgemeinkrankenhaus zu versuchen.

Nach ein paar Tagen rief er mich an. »Herrgott nochmal, die bringen mich um! So was hab ich ja noch nie erlebt. Nirgends ein Arzt, und die Schwestern kümmern sich um nichts, nur die Krankenträger laufen rum wie die Kings und freuen sich, dass alle siech sind und es nicht mehr lange machen. Wo bin ich hier? Die Toten werden im Dutzend rausgeschleppt! Das Essen wird durcheinandergebracht! Man kommt nicht zum Schlafen! Wegen nichts halten sie einen die ganze Nacht wach, und wenn die Sonne aufgeht, wird man geweckt. Sie werfen dir einen nassen Lappen zu und sagen, fertig machen fürs Frühstück, und das Frühstück, wenn man es so nennen will, kommt dann gegen Mittag. Ich wusste nicht, dass man gegenüber Kranken und Todgeweihten so grausam sein kann! Hol mich hier raus, Hank! Ich bitte dich, Alter, ich fleh dich an, hol mich aus diesem Höllenloch raus! Ich will in meiner Wohnung sterben, da bleibt mir wenigstens noch etwas Hoffnung!«

»Was soll ich machen?«

»Na, ich wollte, dass sie mich entlassen, und sie geben mir den Schein nicht. Sie haben meine Kleider. Also komm mit deinem Wagen her. Komm zu mir rauf, und wir türmen!«

»Sollten wir nicht lieber Mona fragen?«

»Mona hat von nichts ’ne Ahnung. Da ich sie nicht mehr ficken kann, interessier ich sie nicht mehr. An mir ist alles aufgequollen außer meinem Schwanz.«

»Mutter Natur kann manchmal grausam sein.«

»Genau. Wie ist es nun, kommst du her?«

»Bin so in fünfundzwanzig Minuten da.«

»Okay«, sagte er.

Ich kannte den Laden, war selbst zwei- oder dreimal da gewesen. Ich fand einen Parkplatz beim Eingangsgebäude und ging rein. Ich wusste, welche Station. Wieder stank es nach Hölle. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass ich eines Tages in diesem Bau sterben würde. Vielleicht auch nicht. Hoffentlich.

Ich fand Mick. Die drückende Hilflosigkeit hüllte alles ein.

»Mick?«

»Hilf mir hoch«, sagte er.

Ich holte ihn auf die Beine. Er sah unverändert aus.

»Gehen wir.«

Wir tappten den Flur entlang. Er hatte so ein hinten offenes Hühnerkackehemd an, das einem die Schwestern nicht zubanden, weil die Schwestern ausschließlich daran interessiert waren, sich einen unternormalen fetten jungen Arzt zu angeln. Und im Gegensatz zu den Patienten bekamen die Schwestern auch schon mal Ärzte zu Gesicht – in den Aufzügen, zwicke-zwacke, oh! Hihi! – während es ringsum nach Tod stank.

Die Aufzugtür öffnete sich. Ein dicker, Eis am Stiel lutschender Junge mit Pickeln im Gesicht saß drin. Er sah Mick mit seinem Hemd an.

»Haben Sie einen Entlassungsschein, Sir? Sie brauchen einen Entlassungsschein, um hier rauszukommen. Meine Instruktionen …«

»Ich hab mich selbst entlassen, Jungchen. Jetzt fahr das Ding ins Erdgeschoss, bevor ich dir dein Eis in den Arsch ramme!«

»Sie haben den Mann gehört«, vermittelte ich.

Wir kamen blitzschnell ins Erdgeschoss, und auf dem Weg zum Ausgang sprach uns niemand an. Ich half ihm ins Auto. Eine halbe Stunde später war er wieder daheim.

»Ach du Scheiße«, sagte Mona. »Was hast du gemacht, Hank?«

»Er wollte es. Ich finde, einem Menschen sollte man so weit wie möglich seinen Willen lassen.«

»Aber hier wird ihm doch auch nicht geholfen.«

Ich ging ihm einen Liter Bier kaufen und ließ die beiden das unter sich ausmachen.

Ein paar Tage später schaffte er’s ins Veteranenkrankenhaus. Dann kam er wieder. Dann war er im Krankenhaus. Dann wieder da. Ich sah ihn vorm Haus sitzen.

»Gott, könnte ich ein Bier gebrauchen!«

»Was sagst du dazu, Mona?«

»Von mir aus, verdammt, aber er sollte es lassen!«