Leoparden im Tempel - Michael Maar - E-Book

Leoparden im Tempel E-Book

Michael Maar

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Beschreibung

Jedes große Werk der Literatur birgt Rätsel und Geheimnisse, und nicht selten findet sich der Schlüssel zur Lösung genau an jenem Punkt, an dem sich Leben und Schreiben ihrer Schöpfer berühren. In zwölf meisterhaften Porträts, von Hans Christian Andersen bis hin zu Jorge Luis Borges, spürt Michael Maar diese sensiblen Punkte auf – und stößt dort auf ganz Unerwartetes, manchmal Erheiterndes, aber ebenso auf innere Spannungen und Abgründe. Was bedeutete es für diese Schriftsteller, die allesamt auch Getriebene waren, wenn, wie es bei Kafka so bild- wie rätselhaft heißt, «die Leoparden in den Tempel einbrechen und die Opferkrüge leersaufen»? Wer wissen will, wie eng Thomas Mann mit dem Teufel verbandelt war, warum Marcel Proust kein Neujahrsgeschenk duldete, warum Virginia Woolf unterm Einfluss zweier Monde stand und Nabokovs Lolita Jungentracht trägt, woran Kafkas Käfer krepierte und was Robert Musil mit dem Giftzwerg Canetti verband: Herzlich willkommen. Ein Streifzug durch die Weltliteratur, mit feiner Ironie und reich an überraschenden Einsichten.

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Michael Maar

Leoparden im Tempel

Porträts großer Schriftsteller

 

 

 

Über dieses Buch

Jedes große Werk der Literatur birgt Rätsel und Geheimnisse, und nicht selten findet sich der Schlüssel zur Lösung genau an jenem Punkt, an dem sich Leben und Schreiben ihrer Schöpfer berühren. In zwölf meisterhaften Portraits, von Hans Christian Andersen bis hin zu Jorge Luis Borges, spürt Michael Maar diese sensiblen Punkte auf – und stößt dort auf ganz Unerwartetes, manchmal Erheiterndes, aber ebenso auf innere Spannungen und Abgründe. Was bedeutete es für diese Schriftsteller, die allesamt auch Getriebene waren, wenn, wie es bei Kafka so bild- wie rätselhaft heißt, «die Leoparden in den Tempel einbrechen und die Opferkrüge leer saufen»? Wer wissen will, wie eng Thomas Mann mit dem Teufel verbandelt war, warum Marcel Proust kein Neujahrsgeschenk duldete, warum Virginia Woolf unterm Einfluss zweier Monde stand und Nabokovs Lolita Jungentracht trägt, woran Kafkas Käfer krepierte und was Robert Musil mit dem Giftzwerg Canetti verband: Herzlich willkommen. Ein Streifzug durch die Weltliteratur, mit feiner Ironie und reich an überraschenden Einsichten.

Vita

Michael Maar, geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch «Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg» (1995), für das er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Zuletzt erschienen «Fliegenpapier. Vermischte Notizen» (2022) und «Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur», das lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand. Michael Maar hat zwei Kinder und lebt in Berlin.

Impressum

Neuausgabe

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Die Originalausgabe erschien 2007 im Berenberg Verlag, Berlin

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Der Dichter Cäsar Flaischlen am Schreibtisch. Gemälde von Heinrich Eduard Linde-Walther, 1912. Berlin, Nationalgalerie (akg-images)

ISBN 978-3-644-01912-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Die magnetische Eidechse

H.C. Andersen

Dieser Hans Christian hat die Welt verändert. Im Jahr 1820 entdeckte der dänische Physiker Hans Christian Ørstedt bei der Vorbereitung auf eine Vorlesung zufällig den Einfluß elektrischer Ströme auf eine Magnetnadel. Wenn Strom durch einen Leiter fließt, bildet sich um ihn herum ein Magnetfeld. Ohne diese Entdeckung, die sich in Europa in Windeseile verbreitete, gäbe es heute keinen Generator, kein Radio, keinen Fernseher, keinen Computer.

Fünfzehn Jahre nach der Entdeckung des Elektromagnetismus lieferte Professor Ørstedt einen weiteren Beweis seines Finderglücks und sicheren Gespürs. Einem befreundeten Dichter, der gerade erst zaghaft aus dem Dunkel hervorzutreten begann, sagte er voraus, seine Romane würden ihn vielleicht berühmt machen, seine Märchen aber unsterblich.

Der Naturforscher hatte den besseren Blick als die Literaten, die den Emporkömmling mit den Scheelaugen der Zunft betrachteten. Konnte der überhaupt korrekt schreiben? War sein Dänisch nicht voller Fehler? Recht behielt Ørstedt, und wie fulminant. Die Märchen Hans Christian Andersens zählen heute zu den sieben literarischen Weltwundern. Andersen ist in alle Sprachen übersetzt, seine Figuren sind Universalien geworden, ihr Schöpfer zu dem postumen Ruhm gelangt, der ihm äußerst mißfallen hätte, der aber der höchste ist: das sanfte Zurückgleiten in die Anonymität.

Dieses Zurückgleiten, mit dem aller peinliche Erdenrest abgestreift wird, hat gerade in seinem Fall etwas Tröstliches. Die Nachtseiten des Schwans aus Odense waren so auffällig, daß die Nachwelt nicht immer die Augen fromm vor ihnen verschließen könnte. Ob der mit vierzehn Jahren mittellos nach Kopenhagen gestreunte und vor Ehrgeiz glühende Bub nun aus Königs- oder Hurenhaus stammte (eher letzteres nach Auffassung der jüngsten Biographen), seine Kindheit muß, aller späteren Verklärung zum Trotz, das reine Elend gewesen sein. Und dann das Alter, das schlimme Alter, in dem Andersen zur Landplage geworden ist. Eine kleine Szene nur: Andersen liest heimlich Briefe seiner adligen Gastgeberin, wird zur Rede gestellt und erklärt, er habe nur herausfinden wollen, ob man in England noch von ihm spreche: Welche Enttäuschung, kein Wort über ihn, dabei habe er geglaubt, auf der Insel möge man ihn besonders! Als kranker und morphiumsüchtiger Greis wird Andersen ein unausstehlicher Egoist, roh, rücksichtslos, der in Restaurants sein Gebiß im Wasserglas reinigt und aus Geiz in der kalten Wohnung friert – eine böse queen, die nicht altern kann und auf die sich rachsüchtig die Furien stürzen, all das Verdrängte des Lebens, das ein Märchen nur dann war, wenn man Märchen wie Der Schatten meint.

War das ein später Zusammenbruch der Persönlichkeit? Eher ein Zusammenbruch der Fassaden und Palisaden, die den narzißtischen Kern dieser Persönlichkeit vor den Blicken mehr schlecht als recht geschützt hatten. Über diesen narzißtischen Kern erfährt man auch aus den neuen Biographien wenig; wie sie überhaupt immer dann, wenn sie sich einem heißen Kern nähern, einen kleinen Schlenker zur Seite machen und zum nächsten Thema übergehen.

Die Leiden des Orang-Utans

Andersens Leiden … Von der Triumphreise zurück, muß er erleben, wie unter seiner Kopenhagener Wohnung laut plaudernd nach oben gezeigt wird: «Sieh einer an, da steht unser im Ausland so berühmt gewordener Orang-Utan!» Enorme Füße, eine riesige Adlernase, Schweinsäuglein und überlang herabschlackernde Arme, eine dürr hochragende Gestalt, so daß er außer Orang-Utan auch Kranich genannt werden konnte, des Zappelns und Schwänzelns wegen aber auch Eidechse – so das Äußere des großen Dänen. Andersen litt ein Leben lang an ihm, galt dabei als furchtbar eitel; die überkompensierte Scheu des Häßlichen, der zu oft angestarrt wurde und sich noch als Sechzigjähriger in Seitengassen verzog, wenn Passanten sich lachend nach ihm umdrehten.

Der Körper war aber nicht nur häßlich, er war auch das hohe Tor, durch das jede Minute der Sensenmann treten konnte – verkleidet, so dumm war er nicht, als gutmütiges Zipperlein. Eine ahnungsweise Vorstellung von Andersens Hypochondrie und dem Wogen seiner Ängste bekommt man durch das Tagebuch eines seiner wechselnden jungmännlichen Reisebegleiter. Andersen verschluckt sich beim Essen und muß den Tisch verlassen, um sich auszuhusten. «Obwohl die Gastgeberin Widerspruch erhob, behauptete er, daß eine Nadel im Fleisch gewesen sei; er habe sie verschluckt und könne sie deutlich in seinem Körper spüren. An diesem Abend und am nächsten Tag machte er sich große Sorgen wegen der möglichen Folgen. Er war so verängstigt, daß er darüber die Befürchtung vergaß, aus einer kleinen Pustel über seiner Augenbraue könnte ein großer Auswuchs werden, der sein Auge verdecken würde – eine Sorge, über der er wiederum vergessen hatte, daß er sich einbildete, einen Bruch zu bekommen, weil ich ihn aus Versehen mit dem Spazierstock ganz leicht in der Magengegend angestoßen hatte, was ihn wiederum von dem Gedanken abbrachte, er könne sich Gelenkwassersucht zugezogen haben, worüber er sich bei der Ankunft in Wien große Sorgen gemacht hatte.»

Andersen wurde siebzig, die längste Zeit war nicht der Leib krank, sondern das Gemüt. Die innere Unruhe ließ ihn nirgends bleiben; wie Kleist und Nietzsche war er immer auf Reisen, die ablenken sollten und nie lange Linderung brachten. Anders als Nietzsche, der sich mit seinen Leiden zurückzog, war der im Zickzack durch Europa eilende Märchenmann eine gefürchtete Nervensäge. Durch heillosen Egozentrismus fiel er noch den geduldigsten Gastgebern zur Last. Charles Dickens machte, als der Besuch wieder abgereist war, seinen Gefühlen in einer Karte Luft, die noch lange danach ihr festes Plätzchen über der Frisierkommode im Gästezimmer behielt: «Hans Christian Andersen schlief in diesem Zimmer fünf Wochen – der Familie schien es eine EWIGKEIT.» Im Manchester Guardian war später zu lesen, wie man ihn hinter seinem Rücken genannt hatte – the bony bore –, und wie man vor Verlegenheit fast gestorben war, als er in einem seiner entzückenden Einfälle bei einem Dinner begann, einen Margeritenkranz zu flechten und auf dem Hut Wilkie Collins’ zu drapieren.

Der arme Andersen war lästig, die schlimmste Last aber blieb er sich selbst. Durch ständige Bewegung konnte er sie verschieben und die Druckstellen wechseln, abladen konnte er sie erst am letzten Tag. Als Diener ihres Herrn vagabundierten auch seine Symptome, die Zwänge, Tics und fixen Ideen. Andersen litt unter Depressionen und Wahnvorstellungen; Großvater und Vater starben im Irrsinn, er selbst blickte oft genug schwankend von der Klippe hinab. Wenn sich unbekannter Besuch anmeldete, schlief er nicht mehr, überzeugt davon, er erwarte seinen Mörder. Aus Angst vor Hausbränden führte er ein Seil im Koffer mit, und wie bei dubiosen Lokalen jeden Morgen dieselbe verblichene Tafel Heute frische Muscheln vor der Tür steht, lag auf seinem Nachttisch immer der Zettel: «Ich bin scheintot.»

Jungfrau im Männerwams

In gewissem Sinn war er es. Lebenslänglich auf der Gefängnisinsel, auf die er seit der Jugend verbannt wurde, in nie gelockerter Einsamkeit, von einem Gift, einer Wunde moros und mürbe gemacht … Von all diesen Leiden wollen Andersens Biographen nicht viel wissen. Ein kleines Kapitel immerhin widmet der gründlichste unter ihnen, ein Namensvetter Andersens, der berühmten Polemik Aus eines noch Lebenden Papieren von 1838, mit der sich Dänemarks zweiter großer Mann, damals noch unbekannter Theologiestudent, an Andersens Vernichtung versuchte. Warum war Kierkegaard so kiebig? Verrät sich der Grund in der nicht minder berühmten Fußnote, in der er Andersen als eine jener Blumen beschreibt, «bei denen das Männliche und das Weibliche auf einem Stengel beieinandersitzen» – was hübscher, aber nicht weniger giftig gemeint ist als die Stelle, an der er ihn mit einer Amphibie mit Froschbeinen und dem Schwanz eines Salamanders vergleicht? So wenig der Biograph der sich aufdrängenden Frage folgt, ob Kierkegaards überschießender Affekt nicht etwas mit Feindschaft aus Nähe und also der eigenen Konstitution zu tun haben mochte, so sehr mildert er alles herab, was mit Kierkegaards Angriffsziel zusammenhängt: Andersens bigeschlechtlicher Ausrichtung, wie er es nennt. Fast ist man ihm dankbar dafür, daß er nicht auch den Namen des homosexuellen Ballettänzers abschwächt, mit dem der alte Andersen eine Affaire hatte – er hieß «Scharff».

Eine gewisse Prüderie ging von der dänischen Andersen-Forschung schon immer aus. In jüngster Zeit tarnt sich diese Prüderie mit schwach französisch parfümierten Theorieschleiern. Weil es den Begriff «homosexuell» noch nicht gab, kann es Andersen also auch nicht gewesen sein, ungefähr darauf läuft es hinaus – als hätte es keine Diabetiker gegeben, als das Wort dafür noch nicht erfunden war. Das namenlose Gefühl, das Hans Christian Andersen ein Leben lang nicht in Ruhe ließ und durch Europa jagte, war Verliebtheit in junge Männer, deren Körper (und nicht nur schöne Seelen) ihn anzogen. Daß dieses Gefühl bei ihm womöglich nie oder nur viertelherzig in die wollüstige Tat umgesetzt wurde – was keineswegs sicher ist –, ändert nichts an der Polarität und Spektralfarbe seines Gefühlskosmos. Ein sprechendes Detail ist, daß er schon als Kind Mädchen im Wortsinne nicht riechen konnte. Der Geruchssinn ist, wie man heute weiß oder zu wissen beginnt, mit der sexuellen Präferenz gekoppelt, ob er sie nur anzeigt oder sogar steuert. Wie schwer erträglich ihnen die weiblichen Gerüche seien, ist eine wiederkehrende Klage der unglücklich verheirateten Homosexuellen schon in den Hirschfeldschen Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen, die sich der Erklärung des, wie es damals hieß, Uranismus widmeten. Was Andersen in den wenigen Fällen, in denen er sich auch von Frauen erotisch angezogen fühlte, in den Bann gezogen zu haben scheint, war nicht der Geruch, sondern offenbar die Stimme: bei der französischen Tragödin Rachel (die auch der junge Proust verehrte) und bei der dänischen Nachtigall Jenny Lind. In der Zeit, in der er Rachel sieht und auf Jenny Lind wartet, häufen sich in seinem Tagebuch die Kreuzchen, mit denen er den selbsterleichternden Akt markiert, den Thomas Mann mit der Formel «Ermächtigung und Auslösung» bedachte. Die Biographin Wullschlager liest diese Kreuzchenverdichtung als Zeichen von Andersens nicht strikt gleichgeschlechtlicher Affizierbarkeit und hat ein nicht der Prüderie geschuldetes, sondern solides Argument damit.

Die Betonung liegt auf «strikt». Daß Andersen sich vorwiegend und im Alter ausschließlich zu Männern hingezogen fühlte, war bereits den erwähnten Hirschfeld-Schriften zu entnehmen. Schon 1901 erschien dort der Aufsatz eines Albert Hansen aus Kopenhagen, der unter dem Titel «H.C. Andersen: Beweis seiner Homosexualität» all das versammelte, worum die dänische Forschung bis heute einen verlegenen Bogen schlägt. Wenn der Leiter des Andersen-Centers in Odense noch 1999 gewissermaßen von der Kanzel herab erklärt, Andersen habe nie ein realisiertes sexuelles Verhältnis zu einem Mann gehabt, wundert man sich nicht nur über seine Sicherheit – hat er ihm die Lampe gehalten? –, sondern fragt sich auch, warum es in hundert Jahren nicht möglich war, zwei spezielle Bemerkungen jenes Albert Hansen zu kommentieren, und wäre es nur, um sie zu entkräften. Bei Hansen war 1901 zu lesen, ein dänischer Schriftsteller M. K., wegen Sittlichkeitsverbrechen verhaftet, habe nicht wiederzugebende Äußerungen über sein Verhältnis zu Andersen gemacht, sei dann aber zum Dementi gezwungen worden. Was ist dran an dieser Geschichte, und wer ist glaubwürdiger, der Verpfeifer oder der Zurückgepfiffene? Andersen, fährt der Autor bedeutsam fort, werde schwerlich auf «jede Bethätigung seiner sexuellen Neigung verzichtet haben»; ihm, dem Verfasser, seien von noch lebenden älteren Homosexuellen Mitteilungen gemacht worden, welche das Gegenteil glaubwürdig erscheinen ließen.

Was immer es mit diesen Andeutungen auf sich haben mag, auf eines sollte man sich jedenfalls nicht berufen, wenn man Andersen als sittsame Jungfrau beschwört, nämlich auf seine Tagebücher. So offen und unzensiert sie erscheinen, sie haben ihre geheimen Rückseiten, wie uns der Diarist an einer Stelle selber wissen läßt. Vor allem aber das Werk, gerade das Märchenwerk, hat diese codierte Rückseite, auf der sich der Autor das gequälte Herz zu erleichtern sucht. Von der kleinen Seejungfrau, die am liebsten in Männerkleidung ausreitet, über ihre Verliebtheit nicht sprechen kann und vom Prinzen nicht ins Schlafgemach vorgelassen wird – vom Räubermädchen, das in der Schneekönigin zweideutige Spiele mit der Heldin Gerda treibt, bis zur Dryade, die eine tödlich dionysische Nacht in Paris erlebt – überall ist in den Märchen, deren Vorderseite für Kinder, deren Verso aber für Erwachsene bestimmt ist, von unerfüllter Sehnsucht die Rede und dem Leid der verbotenen Lust.

Hängt es mit dieser Sehnsucht zusammen, daß Hans Christian Ørstedt Recht bekam und die Märchen unsterblich geworden sind? Spannung ist darin, etwas Elektrisches, und das macht sie magnetisch: Das wäre eine zu Ørstedt passende Erklärung. Eine Quelle der Spannung liegt darin, daß das erotisch Begehrte zu Lebzeiten verwehrt bleibt. Die kleine Seejungfrau kann den Prinzen nicht küssen und stürzt sich selbstmörderisch ins Meer. Die Eisjungfrau des späten Märchens küßt den Helden zu Tode. Der stigmatisierte Zinnsoldat vereinigt sich mit seiner Tänzerin erst in den Flammen (ein gemeinsamer Liebestod, der den jungen Thomas Mann nicht weniger beeindruckte als jener im Tristan). In den Märchen pulst und glüht etwas, das man nur als Todeserotik bezeichnen kann. Dieselbe Spannung vibriert in seiner Lyrik. Auffälligerweise werden die Angebeteten in Andersens Poesie immer getötet, wie Heinrich Detering bemerkte – als werde der Akt der körperlichen Liebe durch den der Tötung vermieden. Dieses Gemeinsame, also die gleiche thematische Spannung in der Lyrik und in den Märchen, verweist aber auch auf den entscheidenden Unterschied. Nach Andersens Gedichten würde heute kein Hahn mehr krähen, hätten ihn die Märchen nicht in die Ewigkeit gerettet. Das Elektrisch-Magnetische allein genügt nicht. Es kommt noch anderes hinzu.

Eines hat abermals schon Ørstedt erkannt: Andersen malt mit der Feder. Diese Gabe des genauen Hinsehens und farbigen Nachmalens kommt jedem seiner Märchen zugute. Die größten von ihnen sind dabei die lakonischsten. Lakonik ist in Bewegung gehaltene Selbstkritik, die Stärke also, nicht zu früh aufzuhören, sondern immer weiter zu feilen, zu verknappen und zu verdichten. Mit dieser Stärke hängt eine andere zusammen, es ist die wichtigste überhaupt. Andersen hatte die Fähigkeit, sich selbst mit dem Adler- oder Storchenblick von oben zu betrachten. Er sah all seine unerfreulichen Eigenschaften selbst, und er bespöttelte sie. Was seine Märchen imprägniert und für alle Zeiten wasserdicht macht, ist dieser Sinn für Komik und Humor. Er fehlt auch in seinen Sehnsuchtsmärchen nicht. Selbst in der Kleinen Seejungfrau gibt es diese Einsprengsel, die Andersen vor dem Sentimentalen bewahren, und wäre es nur das Lob der Reinlichkeit, das die Meerhexe ausspricht, bevor sie ihren Kessel mit verknoteten Schlangen auswischt. Oder ein kulinarisches Beispiel: «In der Küche waren in Hülle und Fülle Frösche am Spieß, Schlangenhäute mit kleinen Kinderfingern darin und Salate von Pilzsamen, feuchten Mäuseschnauzen und Schierling, Bier vom Gebräu der Sumpffrau, leuchtender Salpeterwein aus Grabkellern, alles sehr solide; verrostete Nägel und Kirchenglasfenster gehörten zum Naschwerk.»

«Alles sehr solide» – dieser Halbsatz macht es, und er zeigt Andersens eigentliches Genie. Elektrisch-magnetisch, farbenreich, scharf gefeilt und komisch: das sind seine Märchen, das ist ihre unvergängliche Kunst. Große Autoren haben dieser Kunst offen oder verdeckt Tribut gezollt. Der Egomane aus Odense hat viele Eleven. So hat auch dieser Hans Christian die Welt verändert; die kleine, bessere der Literatur.

In jedem Mensch steckt ein Pferd, das leidet

Marcel Proust

Es ist jeden Januar das gleiche. Jedes Jahr beginnt damit, daß Marcel Proust in überhöflichen Briefen die Neujahrsgeschenke zurückweist, die ihm die Freunde geschickt haben. Es ist ein Gesetz, das keine Ausnahme duldet: Proust akzeptiert keine Geschenke. Ein Prachtbuch schickt er mit der Ausrede zurück, in seiner Räucherhöhle werde es nur verderben. Selbst ein Schokoladenpräsent, das er in den Himmel lobt, darf auch in zehn Jahren nicht wiederholt werden. Geradezu flehentlich schreibt er der Geliebten seines Freundes Louis d’Albufera, sie möge Louis doch unter allen Umständen davon abhalten, ihm ein Neujahrsgeschenk zu machen: nach unglücklichen Freundschaften, in deren Verlauf er solche Geschenke bekommen habe, sei er in dieser Hinsicht fast abergläubisch geworden, und kurzum, er sage es ihr in aller Offenheit, ein solches Geschenk werde ihm nicht nur den allergrößten Kummer machen, er werde es ihr, wenn sie es nicht zu verhindern wisse, persönlich als unfreundlichen Akt auslegen. Ist es aber wirklich Aberglaube, oder wirft es nicht ein Licht auf den wahren Proust, der es nicht erträgt, jemandem etwas schuldig zu sein, und hinter der äußeren Schwäche einen Willen aus Granit verbirgt?

Das ist eine der Fragen, die auftauchen, wenn man sich Proust durch seine Korrespondenz nähert und sich in das Meer seiner Briefe begibt – das zweite Hauptwerk neben der Suche nach der verlorenen Zeit. In einundzwanzig immer höher ansteigenden Wellen rollt dieses Meer auf den Leser ein (soviel Bände hat die Edition Philip Kolbs), und was tummelt sich da nicht an Bartwalen und Leuchtfischen, an schwebenden Medusen und Muränen, an Seekatzen und komischen Rochen. Die geschenkverweigernden Januarbriefe sind nur eine der vielen Spezies, die durch die Strömungen gleiten. Es gibt viele andere – die scherzhaften Briefe und die medizinischen, die seelsorgerischen und die finanztechnischen, die lyrischen, die eifersüchtigen und schließlich gar nicht so wenig manische. Der Hauptstrom führt all das Praktische mit, das bei Proust immer so leicht unpraktisch wird, all die liegend, fliegend geschriebenen Zweck-Briefe, die sich einem Ziel zuschlängeln, das am nächsten Tag schon wieder hinfällig ist. Viel dient der äußeren Organisation seines schwierigen Lebens; er muß die Wohnung wechseln, was Dutzende Erkundigungsbriefe erfordert; er muß die Frage klären, wo er den Sommer verbringen soll (ganz Südeuropa gerät in seinen Blick, am Ende fährt er doch wieder nach Cabourg). Neben den praktischen Aufträgen und den galanten Adressen an Gräfinnen gibt es die innigen Briefe an die chère petite maman, die man nicht lesen kann, ohne sich zu fragen, ob der aristophanische Mythos von den Doppelwesen, die nach der Spaltung durch Zeus ewig wieder zueinander streben, nicht ein Paar vergaß, Mutter und Sohn. Fast genauso schön und weniger schmerzhaft sind die Briefe an Reynaldo Hahn, von Pony an Bunibuls, den einstigen Geliebten und treuesten Jugendfreund, in einer Privatsprache verfaßt, in der das Unschöne «moschant» heißt (von häßlich, moche), auf das man «fasché» reagiert; ausgesprochen wie von einer englischen Kokotte, die mit Kinderstimme kickst und ein Mündchen spitzt.

Bei Reynaldo wie allen anderen Freunden spart Proust nicht mit Hilfe und Rat; er ist zwar ein schlechter Geschenkempfänger, aber ein vorzüglicher Beschenker, Kuppler, Versöhner, Lobvermittler. Außerdem ist er ein eminenter Arzt – für alle außer sich selbst –, der seine Freunde mit Diätvorschriften berät, ihnen Ferndiagnosen gibt und die beste Medizin empfiehlt. Die allerbeste hat er für den Tod: Marcel Proust schreibt die einfühlsamsten Kondolenzbriefe der Literatur.

Ab 1914 hat er zu dieser traurigen Pflicht häufiger Gelegenheit. Den Krieg, der alles umschmeißt und nur auf seinen Roman förderlich wirkt, verfolgt er genau. Er studiert den Lauf der Front auf Landkarten und liest in sieben Tageszeitungen von einem versenkten U-Boot, so daß er glaubt, man habe sieben versenkt; wenn er später, durch seinen Fehler belehrt, von verschiedenen liest, glaubt er, es handle sich immer um dasselbe. Wie Tante Léonie in