Lilith Parker 2: und der Kuss des Todes - Janine Wilk - E-Book

Lilith Parker 2: und der Kuss des Todes E-Book

Janine Wilk

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Beschreibung

Grauweiße Wolken hängen tief über der Insel St. Nephelius und verbreiten eine gruselige Stimmung. Lilith fühlt sich dennoch wohl in ihrer neuen Heimat, nicht zuletzt dank ihrer Tante und ihren Freunden Matt und Emma. Doch es ereignen sich mysteriöse Mordfälle in Bonesdale, bei denen der Verdacht ausgerechnet auf Lilith fällt. Denn sie ist die einzige Banshee auf der Insel - und ein Kuss von ihr kann tödlich sein. Als Lilith sich dem Rat der Vier stellen muss, droht sie für immer von der Insel verbannt zu werden ... Janine Wilk wurde am 07.07.1977 als Kind eines Musikers und einer Malerin in Mühlacker geboren. Schon von Kindesbeinen an war die Literatur sehr wichtig für sie, mit elf Jahren schrieb sie ihre ersten Geschichten. Mit Anfang zwanzig begann sie mit der Arbeit an ihrem ersten Buch und schon bald folgten die ersten Veröffentlichungen im Bereich Lyrik und Kurzprosa. Janine Wilk lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von Heilbronn.

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Buchinfo:

Grauweiße Wolken hängen tief über der Insel St. Nephelius und verbreiten eine gruselige Stimmung. Lilith fühlt sich dennoch wohl in ihrer neuen Heimat, nicht zuletzt dank ihrer Tante und ihren Freunden Matt und Emma. Doch es ereignen sich mysteriöse Mordfälle in Bonesdale, bei denen der Verdacht ausgerechnet auf Lilith fällt. Denn sie ist die einzige Banshee auf der Insel – und ein Kuss von ihr kann tödlich sein. Als Lilith sich dem Rat der Vier stellen muss, droht sie für immer von der Insel verbannt zu werden …

Autorenvita:

© Thienemann Verlag GmbH

Janine Wilk wurde am 07.07.1977 als Kind eines Musikers und einer Malerin in Mühlacker geboren. Schon von Kindesbeinen an war die Literatur sehr wichtig für sie, mit elf Jahren schrieb sie ihre ersten Geschichten. Mit Anfang zwanzig begann sie mit der Arbeit an ihrem ersten Buch und schon bald folgten die ersten Veröffentlichungen im Bereich Lyrik und Kurzprosa. Janine Wilk lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von Heilbronn.

www.janine-wilk.de

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http://www.facebook.com/#!/pages/Janine-Wilk/165977963418085

»Greynock. Gestern Abend wurde eine junge Frau im Industriegebiet in Höhe Benton Street und Oldfield Road von einem offensichtlich geistig verwirrten Mann angegriffen. Die Schichtarbeiterin war gegen 23.30 Uhr auf dem Weg zur Bushaltestelle, als sie von einem grauhaarigen, ungepflegt wirkenden Mann angefallen wurde. ›Er stand so urplötzlich vor mir, als käme er aus dem Nichts!‹, berichtete sie der Polizei. ›Ich wollte ihm mein Geld geben, doch er sagte, er wolle etwas viel Wertvolleres – mein Blut!‹ Arbeitskollegen hörten die Schreie der jungen Frau und eilten ihr zu Hilfe, woraufhin der Angreifer flüchtete. Die Polizei fahndet nach dem Mann und bittet die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise.«

Greynock Daily, Sonderausgabe 11/2012

Jetzt rück endlich raus mit der Sprache!«, forderte Lilith, während sie den Flur zu Emmas Zimmer entlanggingen. Sie platzte fast vor Neugierde. »Was ist denn so unglaublich geheim, dass du es uns nicht in der Schule verraten konntest?«

Emma fuhr mit einem verärgerten Blick zu ihr herum. »Pscht! Nicht hier.« Sie legte verschwörerisch den Zeigefinger an die Lippen, wobei sie an ihrer etwas zu lang geratenen Nase hängen blieb.

»Entschuldigung«, flüsterte Lilith und sah zu Matt, der grinsend die Schultern in die Höhe zog.

Als sie Emmas Zimmer unter dem Dach betraten, schlug ihnen schwülwarme Luft entgegen, die vom würzigen Geruch feuchter Erde und fremdartiger Pflanzen getränkt war. Unter den großen Fenstern, die in die Dachschräge eingelassen waren, züchtete Emma vom Aussterben bedrohte magische Gewächse, die zur Herstellung eines Hexentranks unerlässlich waren. Auch wenn sich erst an ihrem dreizehnten Geburtstag herausstellen würde, ob sie die Hexenkräfte ihrer Mutter geerbt hatte, beschäftigte sie sich schon jetzt voller Eifer mit der Hexenkunst. Das euphorische Lachkraut fand Lilith zwar noch witzig, da es bei jeder Berührung in Gelächter und Gekicher ausbrach, aber mit einem brenzligen Distelhorn, das tödliche Feuerdornen besaß, oder einem hackenden Messerfarn hätte sie niemals freiwillig ihr Zimmer geteilt. Im Vorbeigehen achtete sie darauf, keiner dieser angriffslustigen Pflanzen zu nahe zu kommen. Matt jedoch war weniger vorsichtig.

»Nicht den gemeinen Fingerbeißer anfassen!«, rief Emma in letzter Sekunde, als seine Hand nur noch wenige Zentimeter von einer Pflanze entfernt war, deren Blüte aus einer rosafarbenen Kugel mit Plüschhaaren bestand, die so flauschig waren, dass man den unwiderstehlichen Drang verspürte, sie zu berühren. Hastig zog Matt seine Finger zurück und murmelte etwas von »gemeingefährlich«.

»Meine Güte, ist das heiß hier drin!«, stöhnte Lilith.

»Tut mir leid, aber die Pflanzen mögen keine Kälte.«

Sie zogen ihre Jacken aus, auf denen gerade die letzten Schneeflocken den Kampf gegen die Hitze aufgaben und zu Wasser zerschmolzen. Da Emma sie direkt von der Schule zu sich nach Hause gelotst hatte, trugen sie alle noch die Schuluniform der St.-Nephelius-Schule. Matt warf seinen Rucksack achtlos auf den Boden und setzte sich neben Lilith aufs Bett. »Also, was ist los?«

Emma ließ sich ihnen gegenüber auf ihren Schreibtischstuhl sinken, nur um einen Moment später wieder aufzuspringen und aufgeregt im Zimmer umherzugehen.

»Ich brauche eure Hilfe. Meine Mutter hat bald Geburtstag und ich möchte ihr etwas ganz Besonderes schenken. Etwas wirklich Seltenes, das schwierig zu bekommen ist.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Friedhofsgras!«

Sie warf den beiden einen erwartungsvollen Blick zu, während Lilith und Matt regungslos zurückstarrten. Friedhofsgras? Emma schien wieder einmal vergessen zu haben, dass sie beide erst kürzlich in das Geheimnis der Untotenwelt eingeweiht worden waren und somit keine Ahnung hatten, von was sie redete.

Matt zog eine Augenbraue in die Höhe. »Und was ist das für ein sagenhaftes Gras?«

»Es ist eine wichtige Zutat für Hexentränke«, ließ sich Emma zu einer Erklärung herab. »Wie der Name schon sagt, wächst das Gras auf dem Friedhof und kann nur bei Vollmond um Punkt Mitternacht geerntet werden. Der richtige Zeitpunkt ist exakt dann, wenn es anfängt zu schluchzen.«

Erstaunt stellte Lilith fest, wie selbstverständlich sie diese Information hinnahm. Noch vor Kurzem, bevor sie zu Tante Mildred auf die unheimliche Insel St. Nephelius gekommen war, hätte sie jeden für verrückt erklärt, der ihr von einem schluchzenden Friedhofsgras erzählt hätte. Ursprünglich hatte ihr Vater sie zu seiner Schwester geschickt, da er befürchtete, dass Lilith »unnatürliche« Fähigkeiten besitzen könnte, und er sollte recht behalten: In der Halloweennacht, der Nacht ihres dreizehnten Geburtstages, hatte sich Lilith zu einer Banshee gewandelt, und seither waren für sie Zombies, Dämonen, Geister, Hexen, Magier, weiße Frauen oder Nachtmahre mehr als reine Fantasiegestalten. Seit dieser Nacht stand ihr Leben kopf, denn die Wandlung zur Todesfee blieb nicht die einzige unglaubliche Veränderung in ihrem Leben …

»In letzter Zeit sind die Preise für Friedhofsgras in astronomische Höhen gestiegen«, fuhr Emma fort. »Niemand weiß, warum, doch die Werwölfe sind neuerdings kaum mehr unter Kontrolle zu bringen und greifen alles an, was sich bewegt. Deswegen ist es jedem verboten, den Friedhof in der Nacht zu betreten.«

Die Werwölfe lebten tagsüber in den Grüften auf dem Friedhof und wurden nur in der Nacht freigelassen, wenn die Friedhofstore fest verschlossen waren. Leider hatte Lilith trotzdem schon mit einem von ihnen Bekanntschaft schließen müssen, da ein entlaufener Werwolf sie und Emma quer durch den Schattenwald gejagt hatte – mit der festen Absicht, sie als Abendmahlzeit zu verspeisen.

Matt blinzelte Emma ungläubig an. »Moment mal, versuchst du uns damit zu sagen, dass du in den Friedhof einbrechen willst, um dieses Gras für deine Mutter zu ernten?«

»Nein, natürlich nicht!« Emma ließ sich mit einem Seufzer auf den Stuhl sinken und nestelte am Rock ihrer Schuluniform herum. »Alleine ist das viel zu gefährlich. Deswegen wollte ich euch darum bitten mitzukommen.«

»Was?«, entfuhr es Lilith. »Bist du verrückt geworden?«

»Das ist sicher nicht so gefährlich, wie behauptet wird«, meinte Emma. »Es geht auch ganz schnell, versprochen. Wir schleichen uns auf den Friedhof, ernten das Gras, und ehe uns die Werwölfe bemerken, sind wir schon wieder weg. Aber wenn es euch beruhigt, können wir natürlich auch Waffen mitnehmen, damit wir uns im Ernstfall verteidigen können.«

Lilith starrte sie sprachlos an: Emma schien den Verstand verloren zu haben. Hatte sie etwa schon vergessen, dass dieser blutrünstige Werwolf sie um ein Haar bei lebendigem Leib zerfleischt hätte? Und jetzt wollte sie in den Friedhof einbrechen, wo sie ein ganzes Rudel erwartete? Dieses Friedhofsgras musste ihr wirklich ungeheuer wichtig sein.

»Wenn ich daran erinnern darf, haben wir erst kürzlich einen Erzdämon besiegt, da werden wir doch mit ein paar Werwölfen spielend fertig«, setzte Emma mit einem optimistischen Lächeln hinzu und ließ dabei völlig außer Acht, dass ihr Kampf mit dem Erzdämon Belial nur mit Glück ein gutes Ende genommen hatte. »Außerdem bist du eine Banshee, Lilith, und deine übernatürlichen Fähigkeiten werden uns bestimmt hilfreich sein.«

»Soll ich euch während eines Kampfs mit den Werwölfen vielleicht sagen, dass ich das Todesmal über euren Köpfen sehe und ihr in den nächsten Minuten sterben werdet?« Lilith verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte auf. »Genau, das wäre sicherlich sehr hilfreich.«

»Jetzt sei doch nicht so negativ«, maulte Emma. »Das wird garantiert nicht so schlimm werden wie im Schattenwald, schließlich sind wir dieses Mal vorbereitet.«

Lilith warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Wenn es so ungefährlich war, wie Emma behauptete, wären sicherlich schon mehr Hexen auf die Idee gekommen, das Gras trotz des Verbotes zu ernten. Abgesehen davon hatte sie das ungute Gefühl, dass Emma ihnen etwas verschwieg. Es ehrte sie zwar, dass sie für ein Geburtstagsgeschenk ihrer Mutter bereit war, solche Gefahren auf sich zu nehmen, aber steckte da nicht mehr dahinter?

»Emma, wenn du Geld brauchst, kann ich dir gerne etwas leihen«, bot Matt großzügig an. Seit seine Mutter Eleanor, ihres Zeichens Horrorschriftstellerin, nach Bonesdale gezogen war, befand sie sich in einem Inspirationsrausch. Gerade hatte sie ihr zweites Buch innerhalb kurzer Zeit verkauft, was Matt ein beneidenswert hohes Taschengeld einbrachte. »Wir können das Friedhofsgras für deine Mutter auch ganz legal kaufen, dann müssen wir nicht so ein Risiko eingehen.«

Lilith atmete erleichtert auf. Wenigstens einer ihrer Freunde schien noch bei Verstand zu sein.

»Aber wenn dir das unangenehm wäre und du es trotzdem machen willst«, fuhr er fort, »werde ich dir natürlich helfen und dich auf den Friedhof begleiten, das versteht sich von selbst.«

Lilith fuhr zu ihm herum. »Was?«

»Das heißt wie bitte«, korrigierte er sie hoheitsvoll. »Als Führerin des Nachtvolkes solltest du dich nicht so lasch ausdrücken.«

»Hey, wenn du jetzt auch noch anfängst, mir vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe, gibt es Ärger!«

Matt hob abwehrend die Hände. »Das sollte nur ein Witz sein, sei doch nicht gleich so gereizt!«

Lilith ließ ihre Schultern sinken. Ihre Freunde hatten wohl recht und sie war heute tatsächlich nicht besonders gut drauf. »Entschuldige«, lenkte sie ein. »Seit mich das Amulett meiner Mutter als Führerin der Nocturi auserwählt hat, höre ich von Tante Mildred nur noch, was mich in Zukunft für unglaublich wichtige Pflichten erwarten und wie ich mich verhalten muss. Das nervt einfach mit der Zeit.«

Automatisch fasste sie an das Amulett, das sie unter ihrer Bluse um den Hals trug: ein fünfspeichiges Zepter, in dessen Inneren ein leuchtender Bernstein schwebte. Ein hauchzarter silberner Faden wickelte sich um die goldenen Speichen und magische Runen zierten die Zwischenräume. Für Lilith war dieses Amulett die einzig greifbare Erinnerung an ihre Mutter, die kurz nach ihrer Geburt gestorben war. Erst hier in Bonesdale hatte Lilith entdeckt, dass ihre Eltern in einer Welt aufgewachsen waren, in der übernatürliche Fähigkeiten zum Alltag gehörten, und ihre Mutter aus der einflussreichen Nephelius-Familie abstammte. Ausgerechnet von dem Erzdämon Belial musste sie erfahren, dass das Zepter ihrer Mutter weit mehr als nur ein Schmuckstück war. Mit dem Anlegen des Amuletts hatte sie sich als Führerin der Nocturi beworben, und wenn es sie am Ende der Prüfungszeit für unwürdig befunden hätte, wäre sie von ihm einfach pulverisiert worden. Sie konnte sich somit glücklich schätzen, dass sie überlebt hatte.

»Dabei habe ich mir das alles nicht ausgesucht«, fügte Lilith kaum hörbar hinzu.

Emma sah sie mitfühlend an. »Deine Tante ist von dieser Sache eben so begeistert, dass sie es momentan etwas übertreibt. Du wirst sehen, sobald sie sich daran gewöhnt hat, normalisiert sich wieder alles.«

»Hoffentlich.«

Liliths Blick fiel auf Emmas Nachttisch. Dort stand ein mit weißen Haaren bedeckter Kaktus, dessen lange Strähnen wie Krakenarme hin- und herschlingerten und nun aufgeregt in Liliths Richtung zeigten, wie ein Baby, das die Arme nach seiner Mutter ausstreckte.

»Was ist denn das?«, fragte sie.

»Das ist ein olfaktorischer Hexenhaarkaktus«, erklärte Emma. »Er ernährt sich von Duftmolekülen und imitiert für einen kurzen Moment den Duft von demjenigen, der sich ihm nähert.«

Neugierig beugte sich Lilith über ihn und schnupperte an ihm. »Ach du lieber Himmel!« Sie verzog das Gesicht. »Ich rieche wie eine Ladung fauler Eier? Warum sagt mir das denn niemand?«

»Hallihallöchen«, ertönte direkt neben ihr eine quäkende Stimme. »Habt Ihr mich vermisst, Eure Ladyschaft?«

Aus einer Nebelsäule tauchte ein rundlicher kleiner Dämon auf, dessen spitz zulaufende Ohren aufgeregt wackelten.

Strychnin war Liliths persönlicher Dämon, den jeder Träger des Bernstein-Amuletts als Diener erhielt. Was ihrer Meinung nach bedeutend mehr Nach- als Vorteile mit sich brachte. Der Kleine grapschte alles an, was ihm zwischen die Dämonenfinger kam (und danach war es mit Sicherheit kaputt), mischte sich in jede Unterhaltung ein und tat grundsätzlich nie, was man ihm sagte. Er war der einzige Dämon, der in seiner wahren Gestalt in die Menschenwelt wechseln konnte – dieser Anblick war nicht gerade schön und ihn umgab stets eine unangenehm riechende Schwefelwolke.

»Tragen wir heute Exkrementenbraun?«, fragte Matt augenzwinkernd und spielte damit auf Strychnins wechselnde Hautfarbe an. Er hatte den kleinen Dämon in sein Herz geschlossen, ganz im Gegensatz zu Emma, die Strychnin voller Misstrauen begegnete und keine Gelegenheit ausließ, Lilith vor ihm zu warnen. Ihrer Meinung nach durfte man keinem Dämon vertrauen, ganz egal, wie naiv und schusselig sie auch sein mochten.

»Nur dieses rosafarbene T-Shirt passt nicht ganz zu deiner dämonischen Erscheinung«, bemerkte Matt.

»Ich weiß«, heulte Strychnin auf und nickte so eifrig, dass ihm einige Schmalzbrocken aus den Ohren flogen. Was für ihn nicht dramatisch war, er hatte genug davon. »Ganz meine Meinung, Freund meiner Ladyschaft!«

Er warf Lilith einen vorwurfsvollen Blick zu. »Eure Tante hat mich gezwungen, dieses scheußliche Ding anzuziehen! Sie meinte, der Anblick meines Dämonenhinterns verderbe ihr den Appetit.«

Lilith konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Tante Mildred hatte Strychnin ein »Hello Kitty«-Shirt übergezogen, das ihm aufgrund seiner Größe fast bis zu den Füßen reichte.

»Was machst du eigentlich hier? Ich habe dich doch gebeten, zu Hause auf mich zu warten.«

»Euer Durchlaucht seid nicht zur üblichen Zeit daheim erschienen und ich wollte mich vergewissern, ob Ihr Euch wohl befindet.« Er blinzelte sie unschuldig an, doch Lilith wusste, dass er nur auf den Moment gewartet hatte, sich über ihren Befehl hinwegzusetzen. Während sie in der Schule war, langweilte er sich fast zu Tode.

»Und? Befindet Ihr Euch wohl?«

Lilith nickte seufzend. »Ja, danke, alles bestens.«

»Das erfreut mein Dämonenherz, Euer Allerlieblichkeit.« Er zückte eine Pergamentrolle. »Dann kann ich, als Euer höfischer Terminator, mit Euch die Termine für den heutigen Nachmittag durchgehen.«

Konzentriert starrte er auf das Pergament, als müsse er die Fülle an Informationen erst verarbeiten. Lilith konnte jedoch sehr genau erkennen, dass neben Punkt eins »Schule« nur noch ein einziger Termin vermerkt war.

»Jetzt sag schon!«, drängelte sie.

»In einer halben Stunde fängt Euer Unterricht bei Sir Elliot an«, näselte er pikiert.

Lilith schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Mist, den Runenunterricht habe ich vollkommen vergessen. Dabei bin ich mit der Übersetzung noch gar nicht fertig.«

Drei Mal in der Woche bekam sie nach der Schule zusätzlichen Unterricht oder, wie Emma es nannte, »primitive Unkundigen-Nachhilfe«. Damit sie über die Welt der Untoten besser Bescheid wusste, hatten sich die Heimbewohner aus Tante Mildreds Seniorenstift dazu bereit erklärt, Lilith die wichtigsten Dinge beizubringen. Isadora und Melinda, die beiden Vampirschwestern, lehrten sie die notwendigen Umgangsformen und Verhaltensweisen und bei Arthur, dem Zombie, lernte sie alles über die unterschiedlichen Wesen und deren Vergangenheit. Zuerst hatte sie befürchtet, dass dieser geschichtliche Teil öde und langweilig werden würde, doch Arthur gestaltete den Unterricht derart unterhaltsam und interessant, dass sie sich auf die Stunden sogar freute. Das konnte sie von Sir Elliots Runenunterricht leider nicht behaupten.

Lilith zog einen verknitterten Zettel aus ihrem Rucksack und warf ihrer Freundin einen Hilfe suchenden Blick zu.

»Gib schon her!« Emma überflog den Text, stöhnte einige Male auf und korrigierte die Fehler.

»Ist es so schlimm?« Lilith wusste, dass ihre Leistungen im Runenunterricht bemerkenswert waren – bemerkenswert schlecht. Das lag nicht nur an den fremdartigen Schriftzeichen, die sie mühsam auswendig lernen musste, auch mit der Schriftsprache der Nocturi hatte sie gewaltig zu kämpfen. Die Mondsprache, auch Laluschâr genannt, bestand hauptsächlich aus Zischlauten und ein einziges Wort besaß unzählige Bedeutungen. Laluschâr klang wie das Heulen des Windes, wie ein Wispern, das man in der Nacht im Hausflur hört.

»Es geht so«, beruhigte Emma sie, doch die Lüge war unüberhörbar. »Sasss la ssakiel sabâth tenom schachas zirrâ. Das heißt eigentlich: Du darfst keinem die Seele rauben, bevor seine Zeit gekommen. Du hast jedoch geschrieben: Du darfst der Zeit nicht ihre Seele rauben.«

Lilith räusperte sich verlegen. »Ich dachte, das wäre ein philosophischer Text. So etwas wie Carpe diem oder … Hatschi! Entschuldigung.« Sie zog ein Taschentuch hervor und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Bist du krank?«, fragte Matt. »Du hast schon in der Schule dauernd geniest.«

Lilith winkte ab. »Ach, ich bin nur etwas erkältet. Seit dem letzten Sturm ist vom Dach unserer Villa fast nichts mehr übrig. Wahlweise regnet oder schneit es jetzt herein.«

Die Parker-Villa war in einem erbärmlichen Zustand, doch da Tante Mildred die Heimbewohner umsonst bei sich wohnen ließ, fehlte das Geld, um das Dach renovieren zu lassen. Immerhin wusste Lilith nun, dass auch Banshees nicht vor einer Erkältung gefeit waren.

Emma gab ihr den korrigierten Text zurück und tippte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich an die Lippen. »Wie wäre es denn, wenn ihr umzieht?«

Lilith blinzelte sie verständnislos an. »Umziehen? In ein anderes Haus?«

»Nein, ich dachte eigentlich an etwas Größeres. So etwas wie …« Auf Emmas Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. »Eine Burg!«

Es dauerte einen Moment, ehe Lilith begriff. »Du meinst Nightfallcastle? Die Burg meines Großvaters?«

»Warum denn nicht? Sie steht schon seit Jahren leer und du bist die rechtmäßige Erbin. Du könntest dir die Burg wenigstens mal ansehen, oder?«

Daran hatte Lilith überhaupt noch nicht gedacht. Dabei war die Burg das Erste gewesen, das Lilith bei ihrer Ankunft von St. Nephelius gesehen hatte: Auf dem höchsten Felsen ragte Nightfallcastle gleich einem verkrüppelten Finger aus dem wabernden Nebel, der die Insel wie eine Dunstglocke umgab. Lilith hatte noch Eleanors Stimme im Ohr: »Die Insel der Finsternis. Das Grabesdunkel eines uralten Landes, das unter seinem Nebelschleier die Geheimnisse des Bösen in sich trägt.« Damals ahnten Eleanor, Matt und Lilith nicht, dass ihre Worte einiges an Wahrheit enthielten, und Eleanor wusste bis heute nicht, dass bei dem Halloweenspektakel, das in Bonesdale täglich als Touristenattraktion veranstaltet wurde, so gut wie alles echt war. Denn eines der wichtigsten Gesetze in der Welt der Untoten besagte, dass Sterbliche nicht in ihr Geheimnis eingeweiht werden durften. Ein Gesetz, gegen das Lilith wissentlich verstieß, als sie Matt die Wahrheit erzählt hatte.

»Wie wäre es mit einem Deal?«, schlug Emma vor. »Morgen nach der Schule helfe ich dir, zur Burg des Barons zu kommen, und dafür hilfst du mir, das Friedhofsgras zu ernten.«

»Wir gehen zur Burg? Au ja, au ja!« Strychnin hüpfte vor Begeisterung auf der Stelle. »Darf ich mit? Bitte, bitte, bitte!«

Lilith ignorierte ihn geflissentlich. »Danke, aber ich bin nicht blind, den Weg zur Burg finde ich sicher auch alleine.«

Emma grinste spitzbübisch. »Wir sind hier in Bonesdale. Glaubst du etwa, dass dort jeder Ortsfremde einfach so hinauflaufen kann?«

»Das war ja klar«, stöhnte Lilith auf. Wahrscheinlich musste man zuerst einen halsbrecherischen Hindernisparcours überwinden, um bis zur Burg zu gelangen. Aber die Verlockung war zu groß, um widerstehen zu können. Sie fragte sich, wie das Innere der Burg wohl aussah. Vielleicht hatte Emma sogar recht und Nightfallcastle war tatsächlich als neues Zuhause geeignet? Womöglich konnte sie in der Burg sogar etwas über ihre Mutter Cathy herausfinden, immerhin war sie dort aufgewachsen.

»Also gut, sehen wir uns Nightfallcastle einmal aus der Nähe an.« Sie warf Strychnin einen mahnenden Blick zu. »Du darfst aber nur unter einer Voraussetzung mitkommen: Kein Wort zu Tante Mildred, hast du verstanden?«

Wahrscheinlich würde es ihre Tante sofort persönlich nehmen, wenn sie sich nach einer neuen Wohnstätte umsah.

Strychnin nickte glücklich. »Euer Wunsch ist mir Befehl, Eure Bösartigkeit!«

»Dann kommt ihr mit auf den Friedhof?«, hakte Emma nach. »Bis zum nächsten Vollmond dauert es nicht mehr lange.«

»Was gibt es denn auf dem Friedhof?«, fragte Strychnin neugierig.

»Nichts«, antworteten alle drei wie aus der Pistole geschossen.

»Darf ich dabei auch mitmachen? Bitte, bitte, bitte!«

»Wir könnten ihn als Köder für die Werwölfe verwenden«, raunte Matt ihr augenzwinkernd zu.

»Nein, du bleibst zu Hause«, befahl Lilith. Die ganze Sache war gefährlich genug, da wollte sie sich nicht noch um Strychnin kümmern müssen.

»Kommt ihr jetzt mit oder nicht?«

»Na schön«, sagte Lilith. »Das ist zwar eine echt bescheuerte Idee, aber bevor ihr beiden allein hineingeht, komme ich zur Sicherheit lieber mit. Dann ist wenigstens jemand mit Verstand dabei.«

»Also darf ich doch mit, Eure Ladyschaft?«, fragte Strychnin frech.

»Nein«, kamen Emma und Matt Lilith zuvor.

Emma warf einen glückseligen Blick in die Runde. »Ich bin richtig froh, dass ihr beide nach Bonesdale gekommen seid. Was habe ich all die Jahre nur ohne euch gemacht?«

»Jetzt übertreib mal nicht«, wiegelte Lilith ab.

Matt setzte ein schiefes Lächeln auf. »Sie meint wahrscheinlich, dass sie auf zwei so leichtgläubige Idioten aus der Menschenwelt sehnlichst gewartet hat.«

»Genau«, stimmte Lilith ihm zu. »Die doof genug sind, ohne groß zu überlegen, einem fliegenden Selbstmordkommando zuzustimmen, nur um ein paar Büschel Gras zu ernten.«

Emma zuckte lachend mit den Schultern. »Sag ich doch: Wir sind ein Spitzenteam!«

Dicke Schneeflocken tanzten zwischen den Bäumen in der Luft. Sie schwangen sich auf und ab wie spielende Kinder, die dagegen rebellierten, sich auf dem Boden in den Schlaf zu betten. Lilith zog fröstelnd ihren Mantel um sich und trat aus den Baumreihen hinaus auf eine Lichtung. Wo war sie hier nur? Der Teil des Waldes war ihr völlig unbekannt.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Nicht weit von ihr entdeckte sie einen kleinen Jungen, der an eine Eiche gelehnt im Schnee saß und weinte. Er war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt und in seinen dunkelbraunen Locken glitzerten die Schneeflocken wie kleine Sterne. In seiner rechten Hand, die schon rot vor Kälte war, hielt er einen Strauß aus Totenkopfprimeln. Lilith runzelte die Stirn. Was machte ein so kleiner Junge nur hier draußen allein im Wald? Obwohl sie um einiges älter war als er, wurde Mildred nie müde, sie daran zu erinnern, welche Gefahren hier lauerten. Wo waren nur die Eltern des Kleinen? Als sie auf ihn zuging, ließ ihn das Knirschen des Schnees erschrocken aufsehen. Seine Augen, die von langen Wimpern umrandet waren, hatten die Farbe von dunkler Schokolade.

»Du musst keine Angst haben. Ich will dir nur helfen«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Ich heiße Lilith. Und du?«

Er blinzelte sie unsicher an. »Vincent.«

Lilith ging neben ihm in die Knie. »Hast du dich verlaufen, Vincent? Du siehst ganz schön durchgefroren aus.«

Er nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Ich suche meine Mama. Hast du sie gesehen?«

Lilith schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid.«

»Die habe ich für sie gepflückt.« Er hielt Lilith die Totenkopfprimeln unter die Nase. »Die wachsen nämlich im Winter unter dem Schnee, aber nur hier in Bonesdale.«

»Darüber wird sich deine Mutter bestimmt freuen. Sollen wir sie zusammen suchen gehen?«

Er nickte und sein Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Spielen wir dabei Fangen? Dann wird uns wieder warm.« Er stupste sie mit dem Zeigefinger an und grinste, wobei er eine Zahnlücke entblößte. »Du bist dran!«

Schon sprang er auf die Beine und rannte über die Lichtung.

»Hey, Moment«, beschwerte sich Lilith. »Das ist aber nicht fair.«

Plötzlich bildete sich über seinem Kopf ein schwarzer Strudel, der immer dunkler und dichter wurde. Das Todesmal! Lilith keuchte schmerzerfüllt auf. Jedes Mal wenn sie es sah, war es wie ein Schlag in die Magengrube.

»Vincent, warte!«, schrie sie. »Bleib bei mir!«

Doch er war schon zwischen den Baumreihen verschwunden und schien sie nicht mehr zu hören. Hastig wollte sie ihm folgen, aber der tiefe Schnee ließ sie nur langsam vorankommen. Wie hatte der kleine Vincent die Lichtung nur so schnell überqueren können? Endlich erreichte sie die Bäume, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte.

»Vinc…« Sie stockte überrascht.

Von einer Sekunde auf die andere hatte sich ihre Umgebung verändert. Plötzlich befand sie sich auf einem breiten Bürgersteig in einer ihr unbekannten Stadt und unzählige Passanten, die mit Einkaufstaschen behängt waren oder entnervt in ihre Handys brüllten, drängten sich an ihr vorbei. Nach der sanften Stille des Waldes war der Lärm der hupenden Autos, das Klappern der Schritte, das Gemurmel, Rufen und Fluchen fast unerträglich.

»Lilith! Da bist du ja endlich.« Vincent stand einige Schritte von ihr entfernt und winkte ihr zu. »Du bist viel zu langsam. So kriegst du mich nie!«, rief er ihr lachend zu und verschwand in der Menge.

Lilith spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Das Todesmal hatte sich schon auf Vincent herabgesenkt und hüllte ihn ein. Sie musste ihn einholen! Jeden Moment würde dem Kleinen etwas Schreckliches zustoßen.

»Vincent, komm sofort zurück!«, rief sie ihm hinterher, doch ihre Stimme wurde vom Straßenlärm verschluckt.

Verzweifelt wühlte sie sich durch den Strom der Passanten, doch sie kam kaum vorwärts. Immer wieder wurde sie angerempelt oder rücksichtslos beiseitegestoßen.

»Vincent? Wo bist du denn?«

Lilith sah sich suchend um, doch sie konnte ihn nirgendwo entdecken. Dafür bemerkte sie einen älteren Mann, der ihr entgegenkam und sie mit stechendem Blick fixierte. Auch über seinem Kopf schwebte das Todesmal! Wieder löste der Anblick bei Lilith einen körperlichen Schmerz aus. Keuchend blieb sie stehen, fasste sich an ihren Bauch und musste dem Drang widerstehen, in die Knie zu gehen. Blinzelnd sah sie auf. Der Mann kam direkt auf sie zu, während sein Gesicht vor ihren Augen zu zerfallen schien. Voller Entsetzten wollte sie zurückweichen, doch er hatte schon ihren Arm gepackt.

»Du musst mir helfen!«, stöhnte er. »Ich will nicht sterben.«

Der süßliche Geruch von Verwesung stieg Lilith in die Nase und ließ sie würgen.

»Ich … ich kann nichts dagegen tun«, stammelte sie.

Keine Macht der Welt hätte ihn noch aus den Klauen des Todes befreien können.

Lilith versuchte, sich von ihm loszumachen, doch seine knochigen Finger gruben sich nur noch tiefer in ihren Arm. Aber sie durfte keine Zeit mehr verlieren, sie musste Vincent folgen – ihn konnte sie womöglich noch retten!

Hilfe suchend blickte sie sich um, doch was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Plötzlich schwebte über allen Passanten das Todesmal! Sie blickte auf ein Meer aus schwarzen Strudeln, die über den Köpfen der Menschen schwebten. Der Schmerz traf sie dieses Mal wie ein Peitschenhieb, sie stöhnte auf und bunte Sterne tanzten vor ihren Augen. Taumelnd stolperte sie zurück und wäre wahrscheinlich zu Boden gegangen, wenn der todgeweihte Mann ihren Arm nicht eisern umklammert gehalten hätte. Alle Blicke waren auf sie gerichtet.

»Hilf uns!«, verlangten die Menschen in vielstimmigem Chor. »Wir wollen nicht sterben. Hilf uns, Lilith!«

»Ich kann nicht«, schrie sie. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen. »Ich kann euch nicht alle retten.«

Die Menge kreiste sie ein, Hunderte von Händen streckten sich nach ihr aus.

»Hilf uns, Lilith!«

»Bitte lasst mich in Ruhe!«, flehte sie.

Sie kamen näher, immer näher. Lilith glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, so eng schloss sich der Kreis um sie. Schützend legte sie ihren Arm um den Kopf und presste die Augen zusammen, trotzdem spürte sie die eiskalten Hände, die an ihr zogen und zerrten. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment in Stücke gerissen zu werden.

»Lilith. Lilith. Lilith.«

Mit einem Schrei schlug sie die Augen auf und blickte in die dunklen Augenhöhlen eines Skelettschädels.

»Lilith? Ist alles in Ordnung?«, fragte Sir Elliot besorgt.

Es dauerte einen quälend langen Moment, ehe sie begriff, dass alles nur ein Traum gewesen war. Erst nach und nach wichen die Schreckensbilder aus ihren Gedanken und machten der Wirklichkeit Platz. Dafür wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie während des Runenunterrichts eingeschlafen war – schon wieder! Dabei hatte Mildred ihr nach der letzten Unterrichtsstunde eine gewaltige Standpauke gehalten und Lilith musste ihr versprechen, sich in Zukunft mehr Mühe zu geben. Sie richtete sich hastig auf und strich sich die langen Haare glatt.

»Es geht schon wieder«, murmelte sie. »Tut mir leid.«

Sie warf einen Blick aus Sir Elliots Fenster, unter dem sich die mächtige Friedhofsmauer erhob. Es dämmerte bereits und der Schnee vom Nachmittag war einem grauen Nieselregen gewichen. Zwischen den Bäumen des Friedhofs breiteten sich tiefe Schatten aus, die seltsam lebendig wirkten, und das schwindende Tageslicht ließ die Grabskulpturen, Kreuze und efeubewachsenen Grüfte noch unheimlicher erscheinen. Ein böiger Wind wehte feine Tropfen gegen die Scheibe, wo sie wie hauchzarte Tränen herunterliefen. Lilith hoffte, dass der Regen nicht stärker werden würde und sie, wie beim letzten Mal, im ganzen Haus Eimer und Töpfe aufstellen mussten.

»Nach deinem Schrei zu urteilen, hattest du einen ausgesprochen schlechten Traum. Insofern bin ich erleichtert, wenn er dir nicht allzu schlimm zugesetzt hat.« Sir Elliot tätschelte ihren Arm, wobei die Knöchel seiner Finger leise klackerten. Lilith musste einen Schauer unterdrücken. Von einem lebendigen Skelett berührt zu werden, fand sie immer noch gewöhnungsbedürftig.

»Aber natürlich kann ich dein Verhalten nicht billigen«, setzte er rügend hinzu. Er kehrte wieder zu seinem Sessel zurück und strich sorgfältig sein bordeauxfarbenes Seidenjackett glatt, nachdem er Platz genommen hatte.

»Man könnte den Eindruck gewinnen, mein Unterricht langweilt dich. Dabei muss ich dir nicht sagen, wie wichtig es für dich ist, Laluschâr und die Runenschrift zu beherrschen. Ich wünschte, du würdest deinen Studien mehr Ernst und Respekt entgegenbringen, junge Dame!«

»Entschuldigung.« Lilith spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. Sie schenkte ihm einen Blick, der, wie sie hoffte, ausreichend zerknirscht und reuevoll wirkte. »Es war ein langer Tag.«

Das stimmte zwar, allerdings war Sir Elliots Unterricht nicht gerade der spannendste. Während er in einem der zahlreichen Bücher seiner Privatbibliothek las, musste Lilith Texte übersetzen, in denen es ausschließlich um Gesetze, Verhaltensvorschriften oder uralte Fehden ging. Heute hatte er ihr einen Text über die Ernährungsweisen ätherischer Wesen vorgelegt. Jedenfalls vermutete sie das.

»Hast du die Übersetzung schon fertig?«

»Ähm.« Lilith starrte auf das Papier, das sich auf dem Tisch vor ihr befand. Es war fast leer und vieles von dem, was sie aufgeschrieben hatte, war wieder durchgestrichen. »Fast, es fehlen nur noch ein paar Kleinigkeiten.«

Ehe sie es verhindern konnte, hatte Sir Elliot ihre Übersetzung an sich genommen. Während er sie überflog, zog er scharf die Luft ein.

»Geistwesen jeglicher Art sollten niemals feurige Wut zu sich nehmen, da sie ansonsten unter Bauchkrämpfen und Blähungen leiden?«, las er vor, wobei ihm das goldene Monokel aus der Augenhöhle fiel.

»Das ist falsch, oder?«, erschloss sie messerscharf.

Soweit sie wusste, ernährten sich Geister von den Gefühlen anderer Lebewesen und es war ihr durchaus logisch erschienen, dass ein so negatives Gefühl wie Wut einem Geist auf den Magen schlagen konnte.

»Das ist ein Text über den Krieg der ätherischen Wesen gegen die wütenden Feuergeister«, klärte Sir Elliot sie pikiert auf.

Lilith brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Dann habe ich das Thema wohl knapp verfehlt. Aber Sie können meinen Text gerne in Ihre Privatbibliothek aufnehmen, sicher gibt es dort nichts über Geisterblähungen«, witzelte sie.

Sir Elliot starrte sie wortlos an und Liliths Lächeln gefror in ihrem Gesicht. Wieder einmal hatte sie mit dem Thema des Textes völlig danebengelegen, aber schließlich hatte in der Mondsprache ein einziges Wort so viele unterschiedliche Bedeutungen, dass eine Übersetzung einem Glücksspiel glich. Lilith seufzte betrübt auf. »Das wird doch nie etwas«, murmelte sie. Sie hatte das Gefühl, dass sie Laluschâr niemals lernen würde, ganz egal, wie viel Mühe sie sich gab. Insgeheim beneidete sie Emma, die alles, was die Welt der Untoten betraf, von Kindesbeinen an gelernt hatte. Wie sollte Lilith das jemals nachholen? Sie hatte keine Chance – sie würde nie wirklich dazugehören.

»Keine Sorge, du wirst das schaffen«, widersprach ihr Sir Elliot. »In ein paar Wochen wird es dir schon viel leichter fallen, du wirst sehen.«

Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »Ich würde sagen, wir beenden den Unterricht für heute.« Er gab ihr die Übersetzung zurück. »Bis zu unserer nächsten Stunde versuchst du es bitte noch einmal.«

Lilith nickte erleichtert. »Vielen Dank!«

Sie stürmte aus seinem Zimmer und polterte die Treppen hinab in die Küche. Hier war der Lebensmittelpunkt der Hausbewohner: Meist saß Arthur, der Lilith mit seinem freundlichen Lächeln und dem weißen Bart immer an den Weihnachtsmann erinnerte, am Kaminfeuer und trank Tee. Oder die beiden Vampirschwestern Isadora und Melinda besserten am blank polierten Holztisch die Kostüme für das Halloweenspektakel aus, während Mildred das Essen vorbereitete.

Zu Liliths Überraschung stand sie nun jedoch in einer menschenleeren Küche. Wo waren heute Abend nur alle? Wenigstens war von Regius, dem miesepetrigen Magier, ebenfalls keine Spur zu sehen. Mit seinen bösartigen Kommentaren schaffte er es immer wieder, allen die Laune zu vermiesen, und Lilith war froh, dass er sich meist im Keller bei seinen Experimenten aufhielt.

Seltsam, durchfuhr es Lilith, es musste schon Wochen her sein, dass sie das letzte Mal hier unten alleine war. Plötzlich erinnerte sie sich: Es war an Halloween gewesen, dem Abend ihres Geburtstages, als Belial versucht hatte, ihren Vater umzubringen, um an Liliths Bernstein-Amulett zu kommen. Sie schlang fröstelnd die Arme um sich und verscheuchte die Erinnerungen an jenen Abend. Auch wenn alles ein gutes Ende genommen hatte, war es besser, nicht darüber nachzugrübeln. Jedes Mal wenn sie an ihren Vater dachte, versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich.

Ein lautes Scheppern ließ sie herumfahren. Hannibal stand direkt hinter ihr und starrte sie erwartungsvoll an. Als Lilith nicht sofort reagierte, stieß die schwarze Riesendogge die Futterschüssel erneut mit der Pfote an, sodass sie klappernd vor Liliths Füßen landete.

Sie tätschelte ihm den Kopf, wozu sie sich aufgrund seiner Größe nicht einmal bücken musste. »Du hast wohl Hunger, oder?«

Hannibal zog eine Augenbraue nach oben. Er war offenbar der Meinung, dass dank seines eindeutigen Zeichens diese Frage überflüssig war und Lilith endlich seine Schüssel füllen sollte.

»Wir müssen leise sein«, warnte sie ihn, während sie eine Dose Hundefutter öffnete. »Strychnin schläft zwar oben in meinem Zimmer, aber wenn er hört, dass du etwas zu essen bekommst, flitzt er bestimmt wie ein geölter Blitz nach unten.«

Hannibal war ein treuer und gutmütiger Hund, doch dass er einen Dämon im Haus dulden musste, ging ihm gewaltig gegen den Strich. Kein Wunder, Strychnin ärgerte ihn, wo er nur konnte. Obwohl zu den Lieblingsspeisen des Dämons Katzen und Hühner gehörten, bereitete es ihm große Freude, Hannibals Futter zu klauen. Natürlich hatte Lilith Strychnin den ausdrücklichen Befehl erteilt, Katzen von seinem Ernährungsplan zu streichen, aber sie hatte ihn erst kürzlich dabei erwischt, wie er sabbernd am Fenster klebte und die Katze ihrer Nachbarin, Misses Clearwater, beobachtete. Insofern konnte sie sich glücklich schätzen, wenn er sich damit begnügte, nur Hundefutter zu stibitzen.

Hannibal begann mit seinem üblichen genussvollen Schmatzen, das Futter zu verschlingen. Lilith seufzte auf und zählte in Gedanken: fünf, vier, drei …

»Essenszeit!«, hörte man von oben eine Stimme begeistert kreischen. »Ich komm… ups!«

Es folgte ein Poltern, ein brauner Schemen kugelte die Stufen herunter und blieb mit ausgestreckten Armen am Treppenabsatz liegen.

»Nix passiert, Eure Ladyschaft«, ächzte Strychnin und rappelte sich wieder auf. Aufgrund seiner kurzen Beine stand er mit Treppenstufen auf Kriegsfuß.

»Nur damit du es weißt, ich habe überhaupt kein Mitleid mit dir«, meinte Lilith und hob mahnend ihren Zeigefinger. »Du lässt Hannibal in Ruhe sein Futter essen, hast du gehört? Wir alle leben hier zusammen wie eine große Familie und nehmen Rücksicht aufeinander.«

Strychnin stülpte schmollend die Unterlippe vor. »Ich habe aber Hunger!«

»Ich schau mal nach, ob ich für uns etwas zu essen finde.«

Gerade als sie einen Blick in den fast leeren Kühlschrank warf, wurde die Tür aufgerissen, ein eisiger Windstoß fegte durch die Küche und wehte einen Stapel Papiere vom Tisch.

»Was für ein scheußliches Wetter!«, keuchte Mildred.

Sie stand unter der Tür, beladen mit einem Einkaufskorb und mehreren Taschen, und ihre blonden langen Haare hingen ihr in nassen Strähnen ins Gesicht.

»Du bist schon wieder zurück?«, fragte Lilith erstaunt, während sie Mildred die Taschen abnahm. Ihre Tante arbeitete seit Kurzem bei Emmas Vater im Restaurant »Frankenstein« in der Küche.

»Tom hat mich früher heimgeschickt, da fast keine Gäste im Restaurant waren. Wenn das so weitergeht, bekomme ich niemals genug Geld für die Renovierung des Daches zusammen.«

Mildred fuhr sich über das feuchte Gesicht, sie sah müde aus. Das Seniorenstift, die Arbeit im Restaurant und die finanziellen Sorgen schienen ihr zu schaffen zu machen. Und, so musste sich Lilith eingestehen, sie selbst hatte es ihrer Tante in den vergangenen Monaten auch nicht gerade leicht gemacht.

Sie dachte an Emmas Vorschlag, Nightfallcastle zu beziehen. Sich nach einem neuen Zuhause umzusehen, war vielleicht tatsächlich keine schlechte Idee. Trotzdem warf sie Strychnin einen mahnenden Blick zu, um sicherzugehen, dass er nichts von ihrem morgigen Ausflug verriet. Es war besser, Lilith sah sich die Burg erst einmal allein an – immerhin war sie seit dreizehn Jahren unbewohnt und es konnte durchaus sein, dass sie sich in einem noch erbärmlicheren Zustand als die Parker-Villa befand.

Mildred stieß einen geräuschvollen Seufzer aus. »Zu allem Überfluss musste ich auch noch zu Fuß heimlaufen, weil ich Arthur und den anderen die Kutsche für ihr GHA-Treffen gegeben habe.«

»Stimmt«, erinnerte sich Lilith, »heute ist ja dieses wichtige Treffen der Gilde der Halloweenakteure!« Arthur, Isadora, Melinda und Regius waren deswegen schon seit Tagen in heller Aufregung.

Mildred schälte sich aus ihrem pitschnassen Mantel. »Heute beschließen sie die Aktionen für die Vorweihnachtszeit. Ich hoffe wirklich, sie haben sich einige gute Dinge einfallen lassen. Zu keiner Zeit des Jahres kommen so wenig Touristen nach Bonesdale wie an Weihnachten.« Sie deutete auf den Korb. »Hast du Hunger? Tom hat mir einen Großteil des Tagesessens mitgegeben.«

Sofort linste Strychnin in eine der Schüsseln. »Was ist denn das?«

»Gespensterdurchfall mit Monsterrotz«, antwortete Mildred. »Was übersetzt bedeutet: Kartoffelbrei mit Fleischbällchen in Spinatsoße.«

Lilith und Strychnin verzogen fast gleichzeitig das Gesicht, was Mildred wohlweislich übersah.

»Sei doch bitte so nett und setz einen Tee auf«, bat sie Lilith. »Ich dusche schnell und ziehe mir trockene Sachen an. Ich bin vollkommen durchgefroren!«

»Ich dachte, als Sirene magst du Wasser?«

»Nicht, wenn es vom Himmel kommt und eisig kalt ist«, gab Mildred zerknirscht zurück und stapfte die Treppe hinauf.

Als sie einige Minuten später zurückkam, hatte Lilith schon das Essen aufgewärmt und zwei Tassen Tee standen auf dem Tisch bereit.

Mildreds Haare fielen ihr in sanften Wellen bis zur Hüfte und der bequeme beigefarbene Hausanzug betonte ihre gute Figur. Lilith konnte sich einen neidischen Blick nicht verkneifen. Gegenüber ihrer Tante kam sie sich mit ihren schwarzen langen Haaren und der blassen Haut vor wie ein unterernährtes Gothic-Girl. Lilith hätte durchaus nichts dagegen gehabt, wenn sie sich an ihrem dreizehnten Geburtstag zu einer anmutigen Sirene gewandelt hätte.

»Du bist ein Schatz!« Mildred lächelte sie dankbar an und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

»Kein Problem, hab ich doch gern gemacht.«

Natürlich gab es immer noch Tage, an denen Lilith London schmerzlich vermisste – ihre Freunde, ihre Haushälterin Clara und besonders natürlich ihren Vater. Aber sie genoss auch das fröhliche Treiben im Seniorenstift und mit ihrer Tante verstand sie sich von Tag zu Tag besser.

Mildred trank einen Schluck und stieß einen wohligen Seufzer aus.

»Und dabei heißt es immer, Teenager würden einem nur Ärger und Sorgen machen …«

»Das stimmt in der Regel auch. Besser du gewöhnst dich nicht daran, so umsorgt zu werden«, warnte sie ihre Tante vor. »Und denk an dieses warme Gefühl der Dankbarkeit mir gegenüber, wenn ich dich nachher bitte, mir für morgen Nachmittag deinen roten Pulli auszuleihen.«

»Meinen Lieblingspulli?«, japste Mildred. »Das kannst du vergessen, nur über meine Leiche.«

»Du solltest die Ladyschaft des Nachtvolkes wirklich mit mehr Respekt behandeln«, meinte Lilith verschnupft.

Mildred schnaubte auf. »Treib es nicht zu weit, junge Dame«, drohte sie mit erhobenem Zeigefinger, aber ihre Mundwinkel umspielte ein Lächeln.

»Schon gut, schon gut.«

»Wo ist denn die kleine Nervensäge?«, fragte Mildred und steckte sich ein Fleischbällchen in den Mund.

»Wenn du Strychnin meinst: Der sitzt mit seinem Essen vor dem Fernseher und sieht sich die Wiederholung seiner neuen Lieblingsserie ›Buffy – Im Bann der Dämonen‹ an.« Lilith rollte mit den Augen. »Und am Ende heult er jedes Mal wie ein Baby, weil die Dämonen verloren haben.«

»Und wie war der Runenunterricht?«, fragte Mildred betont beiläufig.

Lilith stocherte in ihrem Kartoffelbrei herum. »Du hast oben Sir Elliot getroffen, nicht wahr?«, tippte sie.

»Er macht sich Sorgen. Er vermutet, dass du wieder einen Banshee-Albtraum hattest.«

Die Albträume hatten schon vor Liliths Wandlung eingesetzt und nun wurden sie immer schlimmer. Die Nächte konnte sie nur mithilfe eines Schlaftrunks von Emmas Mutter überstehen, der sie in einen traumlosen Tiefschlaf versetzte. Ohne ihn erlebte sie immer wieder die letzten Momente anderer Personen kurz vor ihrem Tod so real, als wäre sie selbst es, die dabei stirbt. Lilith verbrannte, ertrank, fiel von einer Klippe, wurde hinterrücks niedergeschlagen – die Liste war ebenso grauenvoll wie endlos. Dabei schienen die Visionen keinem Muster zu folgen, Lilith wandelte in ihren Visionen durch die Zeit, quer durch die Jahrhunderte, mal trug sie mittelalterliche Kleidung, mal ritt sie im Damensattel auf einem Pferd, ein anderes Mal hatte sie Frack und Zylinder an. Die Todesszenen hatten nur eines gemein: Die Sterbenden hatten in Bonesdale gelebt. Mildred und die anderen meinten, sie müsse lernen, die Todesbilder abzublocken, die eine Banshee wie ein Magnet anziehe, doch wie diese Abwehr konkret funktionierte, konnten sie ihr auch nicht sagen. Banshees waren selten und über ihre Fähigkeiten war kaum etwas bekannt, da Todesfeen nur gegenüber ihresgleichen über ihre Gabe sprechen durften. Lilith seufzte gequält auf. Wieder einmal stellte sie die Geheimnistuerei, die in der Welt der Untoten anscheinend zum guten Ton gehörte, vor ein fast unlösbares Problem. Es wäre wenigstens ein Anfang gewesen, wenn Lilith sich mit einer anderen Banshee hätte austauschen können, doch weit und breit war sie die einzige Todesfee.

»Lilith, du musst lernen, dich zu schützen!«

»Aber heute Mittag hatte ich gar keine Todesvision«, versuchte sie ihre Tante zu beruhigen. »Zuerst sah ich nur einen süßen kleinen Jungen im Wald, doch plötzlich stand ich einer fremden Stadt zwischen Menschen, von denen jeder einzelne das Todesmal trug. Alle haben mich bedrängt, dass ich sie vor dem Tod beschützen soll, dabei zerfielen sie vor meinen Augen schon zu Staub …« Ihre Stimme erstarb.

Mildred griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Dich quält die Frage, ob du sie retten könntest, weil du das Todesmal siehst«, stellte sie fest. »Das ist ganz normal bei dieser außergewöhnlichen Gabe. Deiner Mutter ging es am Anfang ihrer Wandlung genauso, und das, obwohl sie von ihrer Familie schon seit ihrer Geburt darauf vorbereitet wurde. Für dich ist das natürlich sehr viel schwerer zu bewältigen.«

Mildred schob ihren Teller von sich und sah Lilith mit so sorgenvoller Miene an, dass sie augenblicklich ein schlechtes Gewissen bekam. Ihre Tante hatte momentan schon genug Probleme, da wollte Lilith sie nicht auch noch zusätzlich belasten.

»Eigentlich war der Traum gar nicht so schlimm«, wiegelte sie ab. »Ich komme mit meiner Gabe sogar immer besser klar. Wenn ich im Dorf einen Touristen mit dem Todesmal sehe, macht mir das kaum noch etwas aus. Ihr habt mir jetzt oft genug gesagt, dass der Tod zum natürlichen Kreislauf unseres Daseins gehört.« Sie lächelte, wobei sich die Muskeln in ihrem Gesicht seltsam verkrampft anfühlten.

»Wenn du meinst«, entgegnete Mildred skeptisch und Lilith musste sich alle Mühe geben, ihrem prüfenden Blick standzuhalten. »Natürlich würde ich mich freuen, wenn du dich so schnell mit den Schattenseiten deiner Gabe abgefunden hast.«

Mildred erhob sich und begann, den Tisch abzuräumen. »Nichtsdestotrotz muss ich dich darum bitten, Sir Elliots Unterricht in Zukunft ernster zu nehmen. Nur weil dich das Bernstein-Amulett auserwählt hat, bedeutet das nicht, dass du dich faul zurücklegen kannst. Bis du offiziell die Führerin der Nocturi werden kannst, musst du noch viel lernen.«

Lilith nickte, erleichtert, dass die Standpauke dieses Mal so milde ausfiel. Führerin der Nocturi … Sie fragte sich, ob sie sich jemals an diese Bezeichnung gewöhnen würde. Hätte sie das Amulett auch angelegt, wenn sie gewusst hätte, dass sie sich damit als neue Herrscherin des Nachtvolkes bewarb? Wahrscheinlich nicht. Aber immerhin blieb ihr noch Zeit, sich an ihre neue Rolle zu gewöhnen. Zachary Scrope, offiziell Bonesdales Bürgermeister, hatte sich in den letzten Jahren um alle Belange der Nocturi gekümmert und so sollte es auch fürs Erste bleiben.

»Lilith?« Mildreds Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Möchtest du mir mit dem Tagesabwasch helfen?«

Lilith sah zu der mit Tassen und Tellern beladenen Spüle.

»Wenn du mich schon fragst«, setzte sie lahm an, »eigentlich nicht. Immerhin habe ich schon den Tisch gedeckt und als Teenager muss ich darauf achten, dass mein Ruf nicht zu gut wird.«

Mildred betrachtete den Geschirrberg. »Weißt du was? Ich habe eigentlich auch keine Lust.«

Sie zog einige Briefe aus ihrer Manteltasche, die sie im Postamt abgeholt hatte. Die Umschläge wellten sich von der Feuchte, die durch die Manteltasche gedrungen war, und Lilith beobachtete gespannt, wie ihre Tante die Briefe für jeden der Heimbewohner auf verschiedene Stapel sortierte. Ob ihr Vater ihr endlich geschrieben hatte? Seit Wochen hatte sie nichts von ihm gehört, sie wusste nicht einmal, ob er gerade als Archäologe auf irgendeiner Ausgrabungsstelle arbeitete. Doch je weniger Briefe es in Mildreds Hand wurden, umso mehr schwand auch ihre Hoffnung.

Wahrscheinlich hat er nur keine Zeit, um mir zu schreiben, versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem versetzte die Enttäuschung ihrem Herzen einen schmerzhaften Stich. Gerade als sie aufstehen wollte, um Strychnin Gesellschaft zu leisten, zog Mildred scharf die Luft ein und starrte mit bleichem Gesicht auf ein nachtschwarzes Kuvert.

Lilith sank auf ihren Stuhl zurück. »Ist irgendetwas mit diesem Brief ?«

Mildred versuchte so hektisch, das Kuvert zu öffnen, dass Lilith im ersten Moment dachte, sie wolle es zerreißen. Sie zog ein ebenfalls nachtschwarzes schweres Büttenpapier hervor, in dessen oberer Ecke ein prunkvolles perlmuttfarbenes Siegel eingeprägt war, das auf dem dunklen Grund wie ein Mond in dunkler Nacht erstrahlte. Es zeigte einen Kreis, in dem sich vier einzelne Zepter zu einem Kreuz vereinigten – es war das Zeichen des Rats der Vier.

Mildreds Augen flogen wie im Fieber über die Zeilen, wobei sich tiefe Falten auf ihrer Stirn bildeten. Lilith konnte ihre Neugier nicht länger unterdrücken und beugte sich vor, um einen Blick auf den Inhalt erheischen zu können.

Runenschrift, verflixt! Nur mit Mühe konnte sie den Fluch, der ihr auf der Zunge lag, zurückhalten.

»Jemand hat es ihnen erzählt«, flüsterte Mildred kaum hörbar, während sie langsam den Brief sinken ließ.

»Was denn? Jetzt sag doch endlich etwas!«

Zerstreut sah Mildred auf, als habe sie völlig vergessen, dass sie nicht allein in der Küche war. »Es ist eine Vorladung. Der Rat der Vier wird über dich Gericht halten, weil du das Gesetz gebrochen hast.« Ihre Tante sah sie mit schreckgeweiteten Augen an. »Sie wollen dich verbannen.«

»Def. Banshee, allgemein: früher ›bean nighe‹, im Volksmund häufig ›Frau aus dem Feenreich‹ oder ›Todesfee‹ genannt; dem Volk der Nocturi angehörig. Sie wird beschrieben als eine Frau mit bleicher Haut und schwarzen Haaren, die das Nahen des Todes erspürt, weshalb man ihr Weinen und Klagen oft in der Nähe von Sterbenden hört. Ihr ist es jedoch nicht erlaubt, in den Kreislauf von Leben und Tod einzugreifen, auch ist es ihr nicht möglich, den Tod ihrer Eltern und Kinder vorherzusehen. Man schreibt den Banshees eine besondere Verbindung zu den Tieren der Nacht zu; sie sind auch in der Lage, Todesvisionen zu empfangen. Ihre stärkste Waffe ist der sogenannte Todeskuss: Eine Banshee kann die Trauer, die sie durch ihre Gabe erfahren musste, an eine andere Person weiterleiten, indem sie ihn auf die Stirn küsst und gleichzeitig sein Herz berührt – diese Fülle an Todesangst und Schmerz führt bei demjenigen unweigerlich zum Herzstillstand. In seltenen Fällen können Mütter die Gabe auch an ihre Söhne vererben, sie werden Bansidhe genannt. Bei männlichen Nachkommen steht die visionäre Gabe im Vordergrund; sie sind weniger empathisch und in ihrem Wesen sehr dominant.«

aus »Untote von A–Z. Umfassendes Nachschlagewerk paranormaler Wesen«von Professor Albertus von Knüttelsiel, erschienen 1969

Emma blieb stehen und riss ungläubig die Augen auf. »Sie wollen was?« Die blattlosen Bäume erhoben sich zu beiden Seiten des Waldweges wie eine Armee aus stillen Wächtern. Der gestrige Regen, der sich in den Vertiefungen gesammelt hatte, war zu Eis gefroren und begleitete jeden ihrer Schritte mit einem Knacken und Splittern. Strychnin hoppelte vor ihnen her und schlitterte jauchzend über jede zugefrorene Pfütze, die er entdeckte.

»Mich verbannen«, wiederholte Lilith müde. Die halbe Nacht hatte sie mit Mildred und den Bewohnern des Seniorenstifts in der Küche verbracht und über die Vorladung diskutiert. Dass der Rat der Vier über jemanden Gericht hielt, geschah äußerst selten und nicht einmal der belesene Sir Elliot konnte auf Anhieb sagen, was Lilith erwarten würde.

»Aber weshalb?«, stieß Matt verständnislos aus, wobei seine Atemluft kleine Wölkchen bildete.

»Weil ich dir an dem Abend, als wir meinen Vater befreit haben, von der Welt der Untoten erzählt habe. Leider verstößt das gegen die oberste Regel und wird mit Verbannung bestraft.«

Emma verschränkte wütend die Arme vor der Brust. »Aber du hattest keine andere Wahl. Du musstest dich mit Belial anlegen, einem Erzdämon! Matt einzuweihen war die einzig richtige Lösung. Nur weil er ein Mensch ist, konnte er Belials Einfluss widerstehen.«

Lilith verzog das Gesicht. »Das musst du mir nicht sagen. Mildred befürchtet jedoch, dass der Rat dieses Argument nicht akzeptieren wird. Bei den bisherigen Gerichtsverhandlungen haben sie sich anscheinend streng an die Gesetze gehalten und keine Milde walten lassen.«