Spiegelherz - Janine Wilk - E-Book

Spiegelherz E-Book

Janine Wilk

0,0
11,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Romantische Mystery mit Gänsehaut-Garantie ab 12 Jahren!

Anna zieht mit ihrer Familie an den Fuße des Blocksbergs und macht eine unglaubliche Entdeckung: Sie soll angeblich Hexenkräfte besitzen! Genau wie der gut aussehende, aber arrogante David. Mit ihm soll sie in den Kampf gegen eine böse Macht ziehen, die im Blocksberg gefangen ist und kurz vor ihrer Erweckung steht. Als wäre das nicht schon genug, sieht Anna ständig ein Jungen-Gesicht im Spiegel, das ihr Nachrichten zukommen lässt. Kann das wirklich Nebruel, der Sohn des Teufels, sein? Hin- und hergerissen zwischen David und Nebruel muss sich Anna in der alles entscheidenden Walpurgisnacht auf dem Blocksberg den Mächten stellen...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Romantische Mystery mit Gänsehaut-Garantie

„Ich habe so viele Fragen und niemand außer dir kann sie mir beantworten. Alles ist so unglaublich verwirrend und ich weiß einfach nicht mehr, wer gut und wer böse ist.“

Anna macht eine unglaubliche Entdeckung: Sie soll angeblich Hexenkräfte besitzen! Genau wie der gut aussehende, aber arrogante David. Mit ihm soll sie in den Kampf gegen eine böse Macht ziehen, die im Blocksberg gefangen ist und kurz vor ihrer Erweckung steht. Doch was hat es mit dem dunkelhaarigen Jungen auf sich, der über Spiegel immer wieder versucht, Anna Nachrichten zukommen zu lassen? Ist das wirklich Nebruel, der Sohn des Teufels? Hin- und hergerissen zwischen David und Nebruel muss sich Anna in der alles entscheidenden Walpurgisnacht auf dem Blocksberg den Mächten stellen …

Die Autorin

Janine Wilk wurde am 07.07.1977 als Kind eines Musikers und einer Malerin in Mühlacker geboren. Schon von Kindesbeinen an war die Literatur sehr wichtig für sie, mit elf Jahren schrieb sie ihre ersten Geschichten. Mit Anfang zwanzig begann sie mit der Arbeit an ihrem ersten Buch und schon bald folgten die ersten Veröffentlichungen im Bereich Lyrik und Kurzprosa. Janine Wilk lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von Heilbronn.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch! Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.thienemann-esslinger.de​

Planet auf Facebook: www.facebook.com/​thienemann.esslinger

Viel Spaß beim Lesen!

Für meine Mutter

als Dank für deine Hilfe

und Unterstützung

»Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe«

Gedicht »Was es ist«, Erich Fried

1.

»Aber abseits, wer ist´s?

Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,

Hinter ihm schlagen

Die Sträuche zusammen,

Das Gras steht wieder auf,

Die Öde verschlingt ihn.«

Auszug aus »Harzreise im Winter«, Johann Wolfgang von Goethe

Pflatsch! Ein Schneeball landete in meinem Nacken und löste sich in seine Einzelteile auf. Schneeklümpchen schoben sich unter den Kragen meiner Jacke und zogen eine eisige Bahn über meinen Rücken. Ich quiekte erschrocken auf. Reflexartig machte ich ein Hohlkreuz, um der plötzlichen Kälte zu entgehen. Ich ließ den Umzugskarton, den ich gerade aus dem Kleintransporter wuchten wollte, los und drehte mich langsam um.

»Wer war das?«, fragte ich mit zusammengekniffenen Augen.

Meine Eltern und mein kleiner Bruder Jonas standen mit unschuldigen Mienen vor mir. Jedenfalls versuchten sie, unschuldig auszusehen, doch es gelang ihnen nicht besonders gut. Mein fünfjähriger Bruder grinste von einem Ohr zum anderen und präsentierte dabei seine zwei Zahnlücken, mit denen er einfach zum Abknutschen aussah. Mein Vater presste angestrengt seine Lippen zusammen und die Schultern meiner Mutter bebten vor unterdrücktem Lachen.

»Was ist denn, mein Schatz?«, fragte sie kichernd.

Gespielt vorwurfsvoll stemmte ich die Hände in die Taille. »Das ist also der Dank dafür, dass ich hier schon den ganzen Tag Umzugskartons schleppe? Ihr greift mich ohne jede Vorwarnung aus dem Hinterhalt an!« Ich ging vor Jonas in die Knie und zog streng die Augenbrauen zusammen. »Du weißt doch, dass das gegen den Kodex der weißen Ritter ist?«

Er nickte eifrig, sodass seine braunen Locken auf und ab wippten. »Das war auch Papa«, plauderte er unversehens aus.

»Du verrätst mich, Ritter Jonas?« Mein Vater fasste sich getroffen an sein Herz. »Deinen eigenen König?«

»Aber du hast die Prinzessin angegriffen«, meinte Jonas und deutete dabei auf mich.

Mein Herz schmolz dahin. Ich verstrubbelte sein Haar und erhob mich wieder. »Ich glaube, der König wollte nur einen Spaß machen«, beruhigte ich Jonas.

»Genau, das war ein ganz liebevoll gemeinter Schneeball«, sagte Papa.

Er zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Ich kuschelte mich an ihn und die Anspannung der letzten Stunden fiel ein wenig von mir ab. Noch heute Morgen hatten wir uns fast sechshundert Kilometer entfernt in unserem früheren Zuhause in München befunden. Für unsere Familie sollte hier im Harz, direkt am Fuße des sagenumwobenen Brocken, ein neues Leben beginnen. Mir wurde schon ganz flau im Magen, wenn ich an meinen ersten Tag an der neuen Schule dachte. Das würde bestimmt kein Spaß werden!

»Du hast uns ganz großartig geholfen, mein Engel«, sagte Papa mit seiner tiefen Stimme. »Deine Mutter und ich sind dir wirklich dankbar. Auch dafür, dass du dir den Umzug nicht so zu Herzen nimmst wie deine Schwester.«

Er blickte seufzend auf ein Fenster im zweiten Stock. Dort befand sich das neue Reich meiner dreizehnjährigen Schwester Sofie. Sie hatte aus Protest die Musik so laut aufgedreht, dass die Fensterscheibe rhythmisch vibrierte. Das Wummern des Basses drang bis zu uns in den Hof. Wie hielt Sofie das nur aus? Mir hätten bei dieser Lautstärke wahrscheinlich schon die Ohren geblutet. Seit wir in Schierke, einem winzigen Dorf mitten im Harz, angekommen waren, hatte sie sich in ihr Zimmer verzogen und schmollte. Tja, meine jüngere Schwester nahm sich den Umzug wirklich sehr zu Herzen! Sie hatte meine Eltern sogar allen Ernstes gefragt, ob sie bei ihrer besten Freundin Sarah in München wohnen bleiben könnte. Mit dreizehn!

»Sieh es doch positiv, Papa«, meinte ich. »Sofie hat immerhin ihre heiß geliebte Anlage aufgebaut. Somit hat sie nicht vor, heute Nacht mit Sack und Pack abzuhauen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, erwiderte er trocken.

Im Gegensatz zu meiner Schwester versuchte ich mich auf die Vorteile unseres Umzugs zu konzentrieren. Zum Beispiel hatten wir hier in Schierke ein ganzes Haus für uns alleine. In unserer kleinen Wohnung in München war es fast ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, ungestört mit meiner Freundin zu quatschen oder in Ruhe ein Buch zu lesen. Ab sofort hatte jeder von uns sein eigenes Reich und Streitereien wegen der Überschreitung unsichtbarer Zimmergrenzlinien gehörten der Vergangenheit an. Außerdem wohnten wir nun mitten in der Natur und irgendwie gefiel es mir, so nah am Waldrand zu leben. Von meinem neuen Zimmer aus konnte ich den Sonnenaufgang über den Spitzen der dunklen Tannen sehen, und wenn ich im Sommer bei geöffnetem Fenster zu Bett ging, würde mich das stetige Plätschern und Gurgeln des kleinen Bachlaufs direkt neben unserem Garten in den Schlaf lullen.

Ich musterte das dreistöckige Haus mit den grasgrünen Klappläden, den zwei Erkern und dem runden Fenster unter dem Dachgiebel. Es hatte früher meiner Großmutter Trudi gehört und stand am Hang eines Berges, in dessen Tal sich das Dorf befand. Von uns drei Geschwistern war ich wohl die Einzige, die sich noch an Großmutter erinnern konnte. Sie war vor zehn Jahren gestorben, kurz nach meinem sechsten Geburtstag.

»Irgendwie fehlt mir Oma Trudi«, murmelte ich.

Mama, die gerade eine Zimmerpflanze mit ziemlich welken Blättern im Arm hielt, folgte meinem Blick. Über ihr Gesicht mit den Lachfältchen und dem energischen Kinn legte sich ein Schatten. »Es fühlt sich seltsam an, dass sie nicht mehr hier ist, oder?«, fragte sie traurig. »Ständig erwarte ich, dass sie an der Eingangstür auftaucht und uns hereinwinkt, weil sie den Apfelkuchen gerade aus dem Backofen geholt hat.«

»Der war echt superlecker!«, seufzte ich.

Als Großmutter noch lebte, war ich unheimlich gerne hier gewesen und hatte mit meinen Eltern die Sommerferien bei Oma verbracht. Durch ihren plötzlichen Herzinfarkt hatte diese schöne Tradition ein Ende genommen. Nach Omas Tod hatte meine Mutter das Haus vermietet und deswegen waren wir nicht mehr hergekommen. Bis heute.

Mama drückte mich mit ihrer freien Hand an sich. »Ich glaube, dass deine Großmutter immer noch irgendwie bei uns ist. In unseren Herzen«, meinte sie mit einem aufmunternden Lächeln. »Und sobald wir alles ausgepackt haben, probiere ich mal ihr Apfelkuchen-Rezept aus.«

Ich zog eine Grimasse, sagte jedoch nichts. Mamas Koch- und Backkünste waren in der ganzen Familie gefürchtet. Meistens war das Essen versalzen oder zu scharf. Zum Glück schmeckten wir davon nicht mehr viel, weil es in der Regel auch noch verkohlt war. Meine Mutter liebte genau wie ich Bücher und hatte die leidige Angewohnheit, beim Kochen nebenbei zu lesen. Kein Wunder also, dass jedes Schnitzel in der Pfanne anbrannte oder Nudeln bis zur Unkenntlichkeit verkocht waren.

In diesem Moment zupfte Jonas am Ärmel meiner Winterjacke. »Anna, baust du mit mir im Garten einen Schneemann?« Er zog eine Schnute. »Biiiitte!«

Ich blickte fragend zu meiner Mutter.

Sie nickte mir zu. »Geh ruhig! Dein Vater und ich schaffen den Rest auch alleine.«

Ich konnte meine Erleichterung kaum verbergen. So ein Umzug war anstrengender, als ich gedacht hatte. Mein Rücken tat schon weh und meine Arme fühlten sich von der vielen Schlepperei ganz ausgeleiert an.

Jonas griff sofort nach meiner Hand und zog mich mit sich. »Der Schneemann soll gaaanz groß werden«, verlangte er. »Bis nach oben zu meinem Zimmerfenster.«

Ich grinste. »Das wird schwierig werden. Aber wenn wir uns Mühe geben, wird er vielleicht so groß wie Papa. Das wäre doch auch cool, oder?«

Als wir um die Ecke bogen, blieb ich bewundernd stehen. Obwohl es schon Mitte März war, hatte es noch einmal einen Wintereinbruch gegeben. Die dicke Schneeschicht im Garten war unberührt und im Licht der Nachmittagssonne wirkte sie wie eine mit glitzernden Diamanten bestickte Decke. Fast tat es mir leid, dass wir diese Winteridylle gleich mit unseren Fußspuren zerstören würden. Die kleinen Tannen am Rand des Gartens waren so beladen mit Schnee, dass von ihren Ästen nichts mehr zu sehen war und sie wie kunstvolle Schneeskulpturen aussahen. Jonas stapfte auf das kleine Gartenhäuschen zu, an dessen Dachvorsprung sich Eiszapfen nebeneinanderreihten, als wären es winzige Orgelpfeifen.

»Wintereis!«, jubelte er und streckte verlangend die Hand nach den Eiszapfen aus. Obwohl er sich auf die Zehen stellte, kam er nicht an sie heran. Klein zu sein war echt doof!

Ich brach einen Zapfen ab und drückte ihn Jonas in die Hand. »Du weißt doch, dass die überhaupt keinen Geschmack haben.«

»Gar nicht!« Er leckte genüsslich daran und behauptete voller Überzeugung: »Die schmecken nach Vanilleeis.«

Tatsächlich war ich eine Sekunde lang versucht, mir ebenfalls einen Eiszapfen abzubrechen, doch ich riss mich zusammen. Natürlich schmeckten Eiszapfen nicht nach Vanilleeis!

Wir fingen mit der ersten Kugel für unseren Schneemann an. Schnell stellte ich fest, dass diese Arbeit fast so anstrengend war, wie Umzugskisten zu schleppen. Schon bald schwitzte ich unter meiner Jacke, meine langen Haare klebten mir im Gesicht und die eisige Winterluft brannte in meinen Lungen. Es überraschte mich nicht, dass es meinem kleinen Bruder irgendwann zu langweilig wurde.

»Mir ist kalt«, jammerte er. »Und ich hab keine Lust mehr. Gehen wir rein?«

Ich hatte auch keine Lust mehr. Wirklich nicht. Am liebsten hätte ich mich in mein neues Zimmer verzogen und meine Handynachrichten gecheckt. Aber ich gab mich ganz als erwachsene große Schwester.

»Nein, wir machen den Schneemann jetzt fertig, Jonas«, beharrte ich. »Was man angefangen hat, bringt man auch zu Ende. Es fehlt doch nur noch der Kopf.«

Ich betrachtete unser bisheriges Werk. So schief, wie die zweite Kugel auf der ersten saß, hatte unser Schneemann offenbar ganz schlimme Rückenprobleme. Armer Kerl!

Ich trug Jonas auf, im Garten Äste für die Arme und Steine für das Gesicht des Schneemanns zu sammeln. Damit war er wenigstens ein Weilchen beschäftigt.

Nachdem ich endlich auch den Kopf des Schneemanns fertiggestellt hatte, blickte ich mich suchend um. »Jonas? Wo steckst du?«

Keine Antwort. Ich runzelte die Stirn. Ob er vielleicht hinter einer der schneebedeckten Tannen stand?

»Das ist nicht witzig, Jonas!«, rief ich ärgerlich. Ich strich mir mit meinem Handschuh, dessen Wolle mit Schneekügelchen verklebt war, eine Strähne aus dem Gesicht. »Wir spielen jetzt kein Verstecken. Komm her!«

Ich suchte mit den Augen den Garten ab. Keine Spur von Jonas. Das war eigentlich nicht seine Art. Normalerweise wusste er, wann die Zeit für Späße vorbei war.

»Jonas?« Angst und Sorge ließen meine Stimme gepresst klingen. »Wo bist du?«

Endlich entdeckte ich seine Fußspuren im Schnee. Sie verliefen am Pfad entlang, der vom Garten aus direkt in den angrenzenden Wald führte. Ich kniff die Augen zusammen. War das da oben nicht seine hellblaue Jacke? Direkt am Waldrand? Dort reihten sich die hochgewachsenen Tannen wie eine Armee aus Soldaten aneinander. Sie wirkten ganz und gar nicht so harmlos wie die kleinen Tannen in unserem Garten, sondern gewaltig und Furcht einflößend. Als stünde mein Bruder vor dem Eingang zu einer Welt aus Finsternis und Gefahr. Die feinen Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich ein ungutes Gefühl in der Magengegend.

»Jonas?« Ich rannte los. »Jonas, geh da nicht rein!«

Auf dem Pfad ragten spiegelglatte Wurzeln unter der Schneedecke hervor. Trotzdem lief ich, so schnell ich konnte. Dabei wusste ich nicht einmal, was mich derart in Panik versetzte. Immer wieder rief ich nach meinem Bruder, doch er reagierte nicht. Ohne sich umzublicken, lief er direkt in den Wald hinein.

»Jonas!«, brüllte ich.

Endlich passierte auch ich die Grenze zum Wald – und tauchte ein in eine andere Welt. Von der friedlichen Winteridylle war hier nichts mehr zu sehen. Die Bäume standen so eng beieinander, dass die Nachmittagssonne kaum bis zum Boden vordringen konnte. Schon nach wenigen Schritten umgab mich düsteres Zwielicht. Die Luft schien um einiges kälter zu sein und mein hektisch ausgestoßener Atem schwebte wie ein dichter Nebelschleier vor meinem Gesicht.

»Da bist du ja!«, rief ich erleichtert.

Mein Bruder stand regungslos mit dem Rücken zu mir auf dem Weg. Ich ging in die Knie und riss ihn zu mir herum.

»Tu das nie wieder!«, fuhr ich ihn an. »Verdammt, Jonas, was fällt dir ein, einfach wegzulaufen?«

Erschrocken zuckte er vor mir zurück. Tränen sammelten sich in seinen großen blauen Augen. In diesem groben Tonfall hatte ich noch nie mit ihm geredet.

»Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich sofort. Ich legte ihm die Hände an die Wangen und versuchte zu lächeln. »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Was willst du denn im Wald?«

Jonas beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr: »Er ruft nach dir, Anna!«

»Wen meinst du denn? Papa?« Ich schaute über meine Schulter zurück, doch unser Haus war von hier aus nicht mehr zu sehen.

»Nein.« Jonas schüttelte den Kopf. »Hör doch!«

Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Ich folgte seinem Blick.

Obwohl es heute absolut windstill war, schwangen die Äste über uns sanft hin und her. Schneeflocken lösten sich und rieselten auf uns herab. Erst nach und nach nahm ich das Wispern wahr. Was anfangs nur wie das Rauschen der Tannen geklungen hatte, formte sich zu einem Wort: Anna! Anna! Annaaaa!

Ich erstarrte. Das bildete ich mir nur ein, oder? Wahrscheinlich war ich lediglich übermüdet. Von der langen Autofahrt und dem Umzug. Mit zittrigen Knien erhob ich mich. Doch egal, in welche Richtung ich mich auch drehte, drang von allen Seiten mein Name an mein Ohr.

Anna! Anna! Annaaaa!

Nur nebenbei bekam ich mit, dass Jonas etwas zu mir sagte.

»Was … was ist das?«, stammelte ich geschockt.

»Der Wald hat auf dich gewartet.« Jonas lächelte mich beruhigend an, als wäre es das Normalste der Welt. Seine kleine Hand legte sich in meine. »Er freut sich, dass du da bist.«

*

»Sofie?« Ich hämmerte mit der Faust gegen ihre Zimmertür. »Steh endlich auf! Die Schule fängt bald an.«

Die Antwort war ein äußerst liebevolles: »Verpiss dich, Anna!«

Ich verdrehte die Augen. »Nur zur Erinnerung, Schwesterherz: Ich kann nichts dafür, dass wir umgezogen sind und du dich von Sarah trennen musstest.«

Sarah war Sofies allerbeste Freundin seit dem Kindergarten. Papa hatte die beiden bei ihrem Abschied in München fast mit Gewalt voneinander losreißen müssen, weil sie sich tränenüberströmt aneinander festgeklammert hatten. Obwohl Sofie sich seither wie ein Ekelpaket verhielt, hatte ich Mitleid mit ihr.

»Ich hasse euch«, rief sie mir durch die geschlossene Tür zu. »Alle zusammen!«

Okay, mein Mitleid wurde gerade etwas weniger. »Mir doch egal«, blaffte ich zurück. »Dann hasst du mich eben. Sag mir einfach Bescheid, wenn du noch Haare von mir brauchst, um eine Voodoo-Puppe zu basteln.«

»Die Puppe ist schon fertig«, kam die schlagfertige Antwort zurück. »Hast du zufällig gerade Kopfschmerzen?«

Ich ließ entnervt meine Faust sinken. Kopfschmerzen hatte ich zwar nicht, aber dafür war mir ziemlich übel. Vor Aufregung hatte ich in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugemacht. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich die Schule wechseln. Meine Mutter, die selbst Lehrerin war, meinte jedoch, dass das keine große Sache wäre und wir problemlos in den Unterricht einsteigen könnten. Klar, dass sie das behauptete. Schließlich hatten meine Eltern uns diesen Umzug aufgezwungen. Der Schulstoff war allerdings nicht meine größte Sorge. Ob die Neue zu sein tatsächlich so schlimm war, wie es in vielen Büchern und Filmen dargestellt wurde? Schon sah ich mich als Opfer einer brutalen Mädchen-Clique, die mich in den Pausen dazu zwang, aus der Toilette zu trinken. Bäh! Vielleicht sollte ich vorsichtshalber ein Mundwasser zum Ausspülen mitnehmen? Womöglich verbrachte ich aber auch meine letzten beiden Schuljahre damit, die einsame Außenseiterin zu sein, mit der nicht einmal die anderen Außenseiter befreundet sein wollten. Oh Mann …

In diesem Moment nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, wie Papa mit Jonas im Arm auf das Badezimmer zusteuerte. Wie der Blitz fuhr ich herum und sauste in meinem Entchen-Pyjama den Flur entlang. Im letzten Moment schlüpfte ich vor den beiden ins Bad und schlug meinem Vater die Tür vor der Nase zu. »Besetzt!«, rief ich von drinnen.

»Aber ich muss Jonas fertig machen«, beschwerte er sich. »Er hat seinen ersten Tag im Kindergarten.«

»Geh doch unten mit ihm ins Bad!«

Mein Vater stieß einen leidvollen Seufzer aus. »Da drin ist deine Mutter schon seit einer halben Stunde.«

»Na, dann ist sie bestimmt bald fertig!«, entgegnete ich zuversichtlich.

Mein Vater murrte etwas von »zu viele Frauen im Haus« und seine Schritte entfernten sich. Er tat mir zwar ein bisschen leid, doch zu spät in den Kindergarten zu kommen, war schließlich kein Drama. Ich dagegen stand vor der Aufgabe, das Beste aus meinen widerspenstigen Haaren und den Schatten unter meinen Augen zu machen. Während ich mit meiner langen kastanienroten Mähne schon immer zu kämpfen hatte, waren die Augenringe neu. Seit unserem Einzug wurde ich nämlich jede Nacht von einem seltsamen Albtraum heimgesucht: Ich rannte durch einen finsteren Wald und wurde von etwas verfolgt, das mir panische Angst einjagte. Über kurz oder lang strauchelte ich bei meiner Flucht und fiel in einen Spiegel, der mit einem ohrenbetäubenden Knall in Tausende Scherben zersprang. Wenn ich mich dann jedoch aufrappelte, war der Wald verschwunden und ich war nur noch von unzähligen Spiegeln umgeben. Wohin ich auch blickte, sah ich mein eigenes Spiegelbild. An diesem Punkt wachte ich jedes Mal schweißgebadet auf und konnte stundenlang nicht mehr einschlafen. Keine Ahnung, was dieser Traum zu bedeuten hatte.

Seit meinem Erlebnis mit Jonas war ich jedenfalls nicht mehr in den Wald gegangen. Mittlerweile hatte ich mir erfolgreich eingeredet, dass ich mich von Jonas’ blühender Fantasie lediglich hatte anstecken lassen. Schließlich glaubte mein kleiner Bruder auch, dass Eiszapfen nach Vanilleeis schmeckten. Zu denken, dass der Wald meinen Namen geflüstert hatte, war bestimmt nicht weniger kindisch.

Hastig putzte ich mir die Zähne und sprang unter die Dusche. Ich entschied mich dafür, meine Lieblingsjeans und einen eng anliegenden dunkelroten Pullover anzuziehen, der gut zu meiner Haarfarbe passte. Obwohl ich kein großer Fan von Schminke war, legte ich heute etwas Wimperntusche und einen zartrosa Lipgloss auf.

Ich warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Wie immer war mein Teint etwas zu blass und ein paar Strähnen hatten sich schon aus meinem Pferdeschwanz gelöst. Aber im Großen und Ganzen war ich recht zufrieden mit meiner Erscheinung. Wenn nur diese Schatten unter den Augen nicht gewesen wären … Nun bereute ich, dass ich nicht einmal einen Abdeckstift besaß. Ich zuckte mit den Schultern. Besser bekam ich es jetzt sowieso nicht mehr hin.

Ich strich noch einmal meinen Pullover glatt und nickte meinem Spiegelbild ermutigend zu.

»Auf in den Kampf!«, murmelte ich.

2.

»Heller wird es schon im Osten

Durch der Sonne kleines Glimmen,

Weit und breit die Bergesgipfel

In dem Nebelmeere schwimmen.«

»Auf dem Brocken«, Heinrich Heine

Unsere neue Schule in der Stadt Wernigerode war erstaunlich groß und bestand aus drei Gebäudekomplexen. Sofie und ich warteten in einem schönen Altbau vor dem Lehrerzimmer auf unsere Mutter. Bisher war es Mama immer wichtig gewesen, nicht an derselben Schule zu unterrichten, die auch ihre Kinder besuchten. Um nicht Familiäres und Schulisches miteinander zu vermischen. Doch das würde sich ab heute ändern. Da die Auswahl an Gymnasien im Harz nicht so groß war wie im Großraum München, würde mir meine Mutter ab sofort täglich im Schulflur über den Weg laufen. Trotz meines Vorsatzes, unseren Umzug optimistisch anzugehen, war es mir noch nicht gelungen, dieser Tatsache etwas Positives abzugewinnen.

Meine Schwester lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und starrte böse die Luft vor ihrer Nase an. Gemäß ihrer düsteren Stimmung trug sie heute ausschließlich Schwarz. Das stand ihr sogar richtig gut. Mit ihren glatten dunkelblonden Haaren und ihren Augen, die wie bei Jonas leuchtend blau waren, erinnerte Sofie mich an einen wunderschönen Racheengel. Natürlich besaß ich genug Feingefühl, ihr das nicht offen ins Gesicht zu sagen. Gut auszusehen war bestimmt das Letzte, was Sofie wollte. Immerhin befand sie sich mitten in einem rebellischen Teenager-Kreuzzug.

Endlich öffnete sich die Tür und meine Mutter kam heraus. Sie hatte dieses strahlende Lächeln aufgesetzt, mit dem Eltern ihren Kindern immer weismachen wollten, dass alles super und in bester Ordnung war.

»Sofie, du kommst in die 7b«, sagte sie und hielt meiner Schwester den Stundenplan hin. »Dein Klassenzimmer ist ein Stockwerk unter uns und hat die Nummer …«

»Find ich schon«, knurrte Sofie. Sie riss Mama den Zettel aus der Hand und wandte sich um.

»Viel Glück!«, rief ich ihr hinterher.

Sofie zögerte kurz. Ohne sich noch einmal umzudrehen, sagte sie leise: »Dir auch, Anna.«

Meine Mutter blickte ihr nach und stieß einen sehr tiefen Seufzer aus.

»Und in welche Klasse gehe ich?«, fragte ich.

»In die 10a.« Sie räusperte sich. »Ich bringe dich hin.«

»Och, Mama, muss das sein? Ich werde mich schon nicht verlaufen.«

Ohne auf meine Beschwerde einzugehen, marschierte meine Mutter los. Ich musste mir Mühe geben, mit ihr Schritt zu halten.

»Aber nur bis zum richtigen Stockwerk, okay?«, bat ich sie. »Es wäre echt peinlich, wenn du mich bis zu meinem Klassenzimmer begleitest.« Ich warf ihr einen fragenden Seitenblick zu, doch sie ignorierte mich einfach. Hm, das war seltsam!

Auf den Fluren herrschte ziemliches Gedränge. Schwatzend und lachend strömten die Schüler in unterschiedliche Richtungen zu ihren jeweiligen Klassenräumen. Mama und ich liefen ein paar Treppen hinab und gelangten in einen neueren Gebäudekomplex. Im Erdgeschoss bahnten wir uns einen Weg durch die Menge, als mein Blick auf einen älteren Schüler fiel, der uns entgegenkam. Er war groß, schlank und im Licht der Morgensonne, das durch die Fenster fiel, schimmerten seine Haare wie flüssiges Gold. Mit seinen fein geschwungenen Lippen, den dunklen Augen und den ebenmäßigen Gesichtszügen war er ziemlich gut aussehend. Was offenbar nicht nur mir auffiel. Er hatte gleich drei Mädels im Schlepptau, die ihn umringten wie Groupies einen Superstar. Gerade als wir auf gleicher Höhe miteinander waren, stolperte eines der Mädchen wie zufällig und warf sich dabei gekonnt in seine Arme. Überrascht taumelte der Typ einen Schritt zur Seite und ich riss abwehrend die Hände hoch. In dem Moment, als wir uns berührten, durchfuhr mich ein unangenehm starkes Kribbeln und jedes Haar an meinem Körper richtete sich auf. Es fühlte sich an, als würde ich direkt in eine Steckdose fassen.

»Autsch!« Hastig zog ich meine Hände zurück.

Ich hob den Kopf und sah in seine dunkelbraunen Augen, die voller Erstaunen aufgerissen waren. Hatte er es etwa auch gespürt?

»Anna, kommst du?«, rief meine Mutter.

»Sofort!«, murmelte ich abwesend. Ehe ich jedoch den Blickkontakt mit dem Typen unterbrechen konnte, zwinkerte er mir noch mit einem frechen Grinsen zu. Pah! Der hielt sich wohl für unwiderstehlich. Verärgert kniff ich die Lippen zusammen und folgte meiner Mutter.

Nachdem wir um eine Ecke gebogen waren, blieb sie vor einer offenen Tür stehen. »Hier ist es!«, verkündete sie und setzte dabei wieder dieses übertrieben strahlende Lächeln auf.

Von drinnen hörte ich das Stimmengemurmel und Gelächter meiner neuen Klassenkameraden. Mein Magen zog sich vor Aufregung zusammen.

»Danke.« Ich nickte ihr zu. »Bis später dann!«

Meine Mutter rührte sich allerdings nicht vom Fleck. »Anna, ich muss leider mit dir reingehen.«

Verständnislos blinzelte ich sie an, dann begriff ich endlich. »Du bist meine Lehrerin?«, entfuhr es mir mit quiekender Stimme.

»Nur vorübergehend.« Sie zupfte mit unbehaglicher Miene an einem losen Faden ihrer Ledertasche herum. »In zwei Monaten ist euer eigentlicher Deutschlehrer zurück aus der Elternzeit. Das sind nur ein paar Wochen, Anna. Die werden wir doch schaffen, oder?«

»Das … das kannst du mir nicht antun«, stammelte ich.

»Glaub mir, ich finde das auch nicht gut!« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Aber der Rektor hat mir versichert, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Ich habe nur deshalb so schnell eine Stelle an dieser Schule bekommen, weil es zu wenige Deutschlehrer gibt.«

Ich stöhnte auf. Meine Mutter würde in meiner eigenen Klasse unterrichten. Ging es denn noch peinlicher?

Da kam mir ein Gedanke. »Ist das nicht gegen das Gesetz? Bestimmt dürfen Lehrer ihre eigenen Kinder überhaupt nicht unterrichten. Das muss verboten sein!«

Das Gemurmel im Klassenzimmer war mittlerweile verstummt. Offenbar lauschten alle voller Interesse unserem Gespräch. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich ein paar Schüler aus der ersten Reihe neugierig über ihre Tische beugten, um einen Blick auf uns zu erhaschen.

»Das ist total unfair!«, zischte ich etwas leiser. »Hast du eine Ahnung, wie schrecklich das für mich wird?«

»Wie gesagt, es ist nur vorübergehend.« Meine Mutter strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich bin lediglich eure Vertretungslehrerin. Halb so schlimm.«

Halb so schlimm? Halb so schlimm? Ich schnappte fassungslos nach Luft.

»Komm, Anna, wir müssen jetzt rein!«

Sie schob mich mit sanfter Gewalt ins Klassenzimmer. Ich konnte es nur meinem Schock zuschreiben, dass ich mich ohne jede Gegenwehr meinem Schicksal ergab. Ich wusste nicht einmal, ob meine Mutter eine gute Lehrerin war. Zu Hause gab sie sich zwar liebevoll und fürsorglich, aber vielleicht ließ sie in der Schule all ihre angestauten Aggressionen heraus? Wenn Mama zu der Lehrerfraktion »superstreng und unfair« gehörte, war ich als ihre Tochter geliefert.

Bevor Mama das Lehrerpult ansteuerte, raunte sie mir noch zu: »Ach, Anna: Es wäre besser, wenn du mich ab sofort ›Frau Winkler‹ nennen und mich siezen würdest. Okay?«

Wie vom Donner gerührt starrte ich sie an. Ich sollte sie siezen? Meine eigene Mutter? Das war doch krank!

*

In der ersten Pause lag ich mit der Stirn auf meinem Tisch und war bereit zu sterben. Ich hasste mein neues Leben im Harz. Mein Optimismus war verflogen, meine guten Vorsätze waren dahin. Kaum hatte ich das Klassenzimmer an der Seite meiner Mutter betreten, hatten mich meine neuen Mitschüler angestarrt, als käme ich von einem anderen Stern. Und als mich meine Mutter gegen Ende der Stunde aufgerufen hatte, war mir reflexartig ein »Ja, Mama« herausgerutscht. Die ganze Klasse hatte gebrüllt vor Lachen. Das war so unendlich peinlich gewesen … Selbst meine Mutter hatte hektische rote Flecken im Gesicht bekommen.

Nach Schulschluss würde ich mich sofort mit Sofie zusammenschließen und mit ihr die KUU gründen, die »Koalition der Umzugs-Unwilligen«. Ich hatte auch schon einen Plan: Wir schlichen uns nachts davon, klauten ein Auto, fuhren zurück nach München und wohnten dann gemeinsam bei ihrer Freundin Sarah im Keller. Leider wusste ich nicht, wie man ein Auto klaute. Geschweige denn fuhr. Aber ich hatte auch nicht behauptet, dass es ein besonders guter Plan war. Vielleicht sollte ich stattdessen lieber bei Amnesty International anrufen? Es verstieß garantiert gegen die Menschenrechte, dass Lehrer ihre eigenen Kinder unterrichteten!

Jemand tippte mir an die Schulter. Bestimmt stand jetzt die Mädchen-Clique neben mir, um mich, die Lehrer-Tochter, kopfüber in die Toilette zu tunken. Am besten ich brachte es gleich hinter mich. Bis Schulschluss wären meine Haare dann wenigstens wieder trocken. Schicksalsergeben hob ich meinen Kopf.

Ich blickte in das freundliche Gesicht eines Mädchens mit einer bunt gemusterten Brille und schulterlangen braunen Haaren. »Hallo, Anna«, sagte sie und streckte mir ihre Hand hin. »Ich bin Chloe. Wir wohnen auch in Schierke, genau wie ihr.«

Ich ergriff ihre Hand und brachte ein krächzendes »Hallo!« heraus. Seltsam. Irgendwie kam mir das Mädchen bekannt vor.

Sie grinste mich an. »Du kannst dich nicht mehr an mich erinnern, oder?«

»Sollte ich?«, fragte ich verunsichert.

Sie setzte sich neben mich auf den freien Stuhl und klemmte den rechten Fuß angewinkelt unter ihren linken Oberschenkel. »Wir haben früher miteinander gespielt, als wir noch klein waren. In den Sommerferien, wenn du mit deinen Eltern deine Oma besucht hast.«

Ich legte den Kopf schräg und musterte sie noch einmal intensiver. Endlich förderte mein Gehirn das verschwommene Bild eines schüchternen Mädchens mit langen Zöpfen und einer Harry-Potter-Brille zutage. Wir hatten als Kinder zusammen am Bach Papier-Schiffchen fahren lassen und die Pferde in dem Gestüt am Dorfrand gestreichelt.

Meine Augen weiteten sich vor Überraschung. Chloe hatte sich in den letzten zehn Jahren wirklich extrem verändert. Na ja, ich selbst wahrscheinlich auch. Auf alle Fälle fand ich Chloes extravagante Brille und den frechen Stufenschnitt sehr viel besser.

»Natürlich! Tut mir leid, dass ich dich nicht gleich erkannt habe.«

Sie winkte ab. »Kein Problem! Meine Mutter musste mir am Wochenende auch auf die Sprünge helfen. Erst als sie mir ein Foto gezeigt hat, auf dem wir beide im Garten stolz unser Baumhaus präsentieren, habe ich mich wieder erinnert.«

»Ach ja, das Baumhaus …« Ich schmunzelte. Unser »Baumhaus« bestand damals aus zwei Holzlatten, die wir auf einen Ast genagelt hatten.

»Cool, dass wir jetzt in einer Klasse sind!« Chloe beugte sich zu mir und flüsterte in vertraulichem Tonfall: »Euer Umzug hat sich in Schierke herumgesprochen wie ein Lauffeuer. So etwas Interessantes passiert in unserem verschlafenen Nest nur selten.«

Ich zog eine Grimasse. »Dann kannst du deiner Mutter ja heute gleich von meinem megapeinlichen Ausrutscher erzählen«, entfuhr es mir.

Chloe runzelte irritiert die Stirn. »Weil du vorhin zu deiner Mutter ›Mama‹ gesagt hast?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Pfff! Das war doch nicht schlimm. Ich an deiner Stelle würde durchdrehen, wenn meine Mutter mich unterrichten würde.« Bei der Vorstellung schüttelte sie sich angewidert, sodass ich unwillkürlich lachen musste. »Ist so etwas nicht verboten?«

»Genau das habe ich mich auch gefragt.« Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Zum Glück ist in ein paar Wochen unser richtiger Deutschlehrer wieder da.«

»Diese Worte wirst du noch bereuen«, prophezeite Chloe mir mit erhobenem Zeigefinger. »Herr Kugler ist ein Kotzbrocken. Eine Drei ist bei ihm eine richtig gute Note und er hält es für unsere Pflicht als Schüler, dass wir in unserer Freizeit Schiller, Goethe und Thomas Mann lesen. Er nennt das ›obligatorisches Grundwissen‹.«

Oh weh! Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob meine Mutter vielleicht doch keine so schlechte Alternative war. Dann meldete sich allerdings sofort mein gesunder Menschenverstand zurück. Nein, das ging gar nicht! Am Ende siezte ich meine Mutter auch noch zu Hause und sagte beim Schlafengehen »Gute Nacht, Frau Winkler«. Obwohl ich nach unserer ersten gemeinsamen Schulstunde zugeben musste, dass sie als Lehrerin offenbar ganz in Ordnung war.

»Morgen, die Herrschaften!«, rief in diesem Augenblick eine wohltönende Männerstimme. Ein relativ junger und gut aussehender Lehrer betrat den Raum. Ein verzücktes Seufzen lief durch die Reihen der Mädchen.

»Jetzt haben wir Mathe beim schönen Schumann.« Chloe zwinkerte mir zu. »Bereit zum Anschmachten?«

Das Fach Mathematik war in meiner Gunst gerade um neunzig Prozentpunkte gestiegen. Herr Schumann sah aus, als wäre er einer Zeitschrift für Männermodels entstiegen. Er hatte kunstvoll verstrubbelte dunkle Haare, gebräunte Haut, breite Schultern und ein absolut umwerfendes Zahnpasta-Lächeln. Falls Herr Schumann zufällig einen jüngeren Bruder hatte, der noch zur Schule ging, hätten die Mädels in der Klasse für dessen Telefonnummer wahrscheinlich gemordet.

Mein neuer Mathelehrer begrüßte mich kurz und sagte, ich solle mich sofort bei ihm melden, falls ich Probleme hatte, in den Schulstoff einzusteigen. Danach begann er umgehend mit dem Unterricht, sodass Chloe einfach neben mir sitzen blieb und sich von einem Jungen namens Micha ihre Schulsachen reichen ließ. Über das unerwartete Wiedersehen mit ihr freute ich mich so sehr, dass ich dem »schönen Schumann« und seinen Erläuterungen zu trigonometrischen Funktionen kaum Beachtung schenkte. Das war allerdings nicht weiter schlimm, da wir dieses Thema in München schon durchgenommen hatten. Daher wusste ich auch, dass ich trigonometrische Funktionen sowieso nicht kapierte.

*

Vom schrecklichen Start mit »Frau Winkler« einmal abgesehen, verlief mein erster Tag an der neuen Schule um Längen besser, als ich es erwartet hatte. Chloe stellte mir ihre Freundinnen Steffi und Julia vor, die ebenfalls in unsere Klasse gingen. Interessiert fragten sie mich nach meinem Leben in München und dem Grund unseres Umzuges aus. Auch erzählten mir Chloe, Julia und Steffi alles, was man als Schüler dieses Gymnasiums wissen musste. Was weniger mit der Schule als mit Klatsch und Tratsch im Allgemeinen zu tun hatte. Dabei erfuhr ich auch, dass Chloe mittlerweile Vegetarierin, politisch interessiert und sozial engagiert war. Deshalb war sie auch Klassensprecherin und dritte Schülersprecherin. Damit hatte sie offiziell zwar keinen Posten inne, aber da es insgesamt vier Kandidaten bei der Wahl des Schülersprechers gegeben hatte, betrachtete Chloe dies als ersten Wahlerfolg. Ihr Berufswunsch hatte mich im ersten Moment offen gestanden sprachlos gemacht, denn Chloe wollte später einmal Bundeskanzlerin werden.

»Ich möchte die Welt verändern. Sie besser machen«, hatte sie mir voller Selbstbewusstsein erklärt. »Und irgendjemand muss schließlich damit anfangen, oder? Außerdem wäre die Welt ein besserer Ort, wenn mehr Frauen an der Macht wären. Für Kriege, Unterdrückung, Terror und Machtmissbrauch sind immer nur Männer verantwortlich. So sieht’s doch aus!«

Das war zwar eine gewagte Theorie, aber ich konnte nicht umhin, Chloe für ihre Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zu bewundern. Mit ihren langen Zöpfen war in den letzten zehn Jahren offensichtlich auch ihre Schüchternheit verschwunden. Ich dagegen hatte noch keine Ahnung, was ich später einmal werden wollte. Immerhin ging es Julia und Steffi genauso. Julia beschäftigten vielmehr aktuelle Probleme. Sie suchte nämlich händeringend einen Job, um ihr uraltes Tasten-Handy gegen ein gebrauchtes Smartphone austauschen zu können. Während Steffi, die in den Pausen an einem stylischen Schal für ihre kleine Schwester strickte, nicht wusste, ob sie daraus einen normalen oder einen Loop-Schal machen sollte. Das Teil sah schon jetzt richtig cool aus und ich wünschte mir auch eine große Schal strickende Schwester.

Nach Schulschluss auf der Heimfahrt im Bus hatte mich Chloe sogar gefragt, ob ich Lust hätte, mit ihr am nächsten Tag nach der Schule zusammen auszureiten. Ich hatte mich so sehr über ihre Einladung gefreut, dass ich ohne weiteres Nachdenken zugesagt hatte. Dabei war es schon einige Jahre her, seit ich zum letzten Mal auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte. Insgeheim hoffte ich, dass es auf dem Gestüt in Schierke auch gutmütige Mini-Ponys gab. Da würde ich wenigstens nicht so tief fallen. Esel wären auch nicht schlecht. Mit etwas Glück setzten die sich gar nicht erst in Bewegung und blieben stur auf einem Fleck stehen. Trotz meiner Befürchtungen würde ich die Verabredung mit Chloe jedoch auf keinen Fall sausen lassen!

Alles in allem konnte ich festhalten, dass mich heute niemand schikaniert oder in die Toilette getunkt hatte. So langsam begann ich ernsthaft am Wahrheitsgehalt von Jugendromanen zu zweifeln. Denn nicht nur bei mir war der Schulwechsel überraschend unproblematisch verlaufen. Ich hatte nämlich meine Schwester Sofie dabei beobachtet, wie sie die Pause mit einem ebenfalls ganz in Schwarz gekleideten Mädchen verbracht hatte. Sie hatten zusammen auf ein Handy gestarrt und vergnügt gekichert. Als ich Sofie beim gemeinsamen Abendessen darauf angesprochen hatte, war meine Schwester blass um die Nasenspitze geworden und hatte das Kichern entrüstet von sich gewiesen.

Durch all die vielen Eindrücke und die Albträume der letzten Nächte fühlte ich mich wie erschlagen und machte mich früher als normal zum Schlafengehen fertig. Gerade als ich mir die Zähne putzte, trommelte jemand gegen die Badezimmertür und riss mich aus meinen Gedanken.

»Hallo?«, hörte ich Jonas’ Stimme von draußen. »Ich muss mal ganz dringend.«

»Geh ’och un’en aufs Klo«, antwortete ich nuschelnd.

»Annaaa!«, rief er gequält. »Bitte!«

Na schön, ich war ja kein Unmensch. Mit fünf Jahren hatte man eben noch keine so gestählte Blasenfunktion wie als Erwachsener. Für meinen kleinen Bruder waren schon Sekunden entscheidend. Und das Badezimmer im Erdgeschoss erfreute sich leider keiner großen Beliebtheit. Dort war es nämlich immer bitterkalt, weil die Heizung nicht richtig funktionierte.

Ich schloss die Tür auf und ließ Jonas herein. Er trug seinen Bob-der-Baumeister-Schlafanzug und flitzte sofort in Richtung Toilette, während ich mich wieder ans Waschbecken stellte.

»Nicht gucken!«, verlangte er.

Ich verdrehte die Augen und machte ein »Pfff!«, wobei ich leider einige Spritzer Zahnpaste quer über den Spiegel verteilte. Mist! Mein Vater war zwar kein Reinlichkeitsfanatiker, aber er hasste es, wenn der Badezimmerspiegel nicht sauber war. Angeblich konnte er sich dann nicht mehr richtig rasieren.

Hinter mir seufzte Jonas erleichtert auf. Seine restlichen Toilettengeräusche versuchte ich tunlichst auszublenden. Ich spülte mir den Mund aus und nahm ein Wattepad, um die weißen Spritzer vom Spiegel zu wischen. Doch ich hielt mitten in der Bewegung inne. Erschrocken schnappte ich nach Luft.

Schräg hinter mir stand eine dunkle Gestalt.

So dicht, dass sie nur die Hand hätte heben müssen, um mich zu berühren. Obwohl der Spiegel nicht beschlagen war, konnte ich weder den Oberkörper noch das Gesicht richtig erkennen. Es war … wie ein unheimlicher Schatten! Allerdings war er eindeutig größer als ich. Ich blinzelte mehrmals hintereinander, doch er verschwand einfach nicht. Ein kalter Schauer kroch über meinen Rücken. Mit einem Aufschrei fuhr ich herum.

»Nicht gucken!«, kreischte Jonas sofort empört.

Aber ich beachtete ihn gar nicht. Panisch wedelte ich mit der Hand in der Luft herum. Doch da war niemand.

3.

»In die Traum- und Zaubersphäre

Sind wir, scheint es, eingegangen.

Führ´ uns gut und mach dir Ehre

Daß wir vorwärts bald gelangen

In den weiten, öden Räumen!

Seh die Bäume hinter Bäumen,

Wie sie schnell vorüberrücken,

Und die Klippen, die sich bücken,

Und die langen Felsennasen,

Wie sie schnarchen, wie sie blasen!«

»Faust«, Johann Wolfgang von Goethe

Ich schluckte schwer. Das Pferd, vor dem ich stand, war riesig und das dunkelbraune Fell schimmerte im kalten Licht der Stallbeleuchtung fast schwarz. Das war eindeutig kein Mini-Pony!

»Mit Hades wirst du Spaß haben«, meinte Chloe, während sie selbst eine weiße Stute mit runden schwarzen Flecken sattelte. »Er ist total lieb. Im ganzen Stall gibt es kein gutmütigeres Tier.«

»Mhm.« Skeptisch blickte ich auf Hades. Er schielte mich ebenso misstrauisch von der Seite an. Schon allein sein Name machte mich stutzig. Wahrscheinlich galoppierte ich mit Hades ohne Umwege in die Welt der Toten.

»Außerdem hattest du doch Reitunterricht, oder nicht?«, hakte Chloe nach.

Ich nickte, ohne mich zu ihr umzudrehen. »Ja, hatte ich.«

Allerdings nur ein halbes Jahr. Mein Reitlehrer hatte damals gesagt, ich wäre eine außergewöhnliche Schülerin. Damit hatte er wohl gemeint, außergewöhnlich schlecht. Aber ich schämte mich, das vor Chloe offen zuzugeben. Ich hatte mich in diesen luftigen Höhen einfach nicht wohlgefühlt und laut meinem Reitlehrer hatte sich mein Unwohlsein auf das Pferd übertragen. Mir war es einfach schleierhaft gewesen, weshalb es sich dieses fast tausend Kilogramm schwere Tier gefallen ließ, von einer kleinen Elfjährigen herumkommandiert zu werden.

»Weißt du noch, wie wir damals hier an der Koppel die Pferde gestreichelt haben? Das ist ja echt schon ewig her«, meinte Chloe, während ich mir fieberhaft eine glaubwürdige Ausrede überlegte, um dem Ausritt in letzter Sekunde zu entgehen. »Zum Reiten bin ich aber erst durch meinen großen Bruder David gekommen.«

Ob Chloe mir eine urplötzlich auftretende Pferdeallergie abkaufen würde? Wohl eher nicht. Schließlich hatte ich weder tränende Augen noch eine Schniefnase.

»Ich gebe es zwar nicht gern zu, aber David ist ein großartiger Reiter«, plauderte Chloe unbekümmert weiter. »Ihm geht es allerdings weniger um die Tiere als um den Sport. Er nimmt sogar regelmäßig an Turnieren teil und hat eine ganze Pokalsammlung zu Hause. Andauernd reibt er mir unter die Nase, wie …«

Schade eigentlich, dass Pferde nicht auf Menschen allergisch reagieren konnten. Wenn Hades wegen mir tränende Augen und eine Schniefnase hätte, würde jeder Tierfreund sogar darauf bestehen, dass ich mich von dem armen Pferd fernhielt. Hoffnungsvoll sah ich zu Hades, doch er zeigte keinerlei Anzeichen einer menschenbedingten allergischen Reaktion.

»… im Großen und Ganzen also leider ein Vollidiot und Blödmann sondergleichen. Kannst du dich eigentlich noch an ihn erinnern?«

Ertappt zuckte ich zusammen und wandte meinen Blick von Hades ab.

»An David?« Zum Glück hatte ich ein paar wichtige Stichpunkte von Chloes Monolog mitbekommen. »Deinen großen Bruder?« Ich runzelte konzentriert die Stirn, aber mein Gehirn förderte kein einziges Bild zutage. »Nein, tut mir leid.«

»Ist nicht schlimm! Ihr habt euch auch nur ein paarmal gesehen«, meinte Chloe. »Obwohl es ihn natürlich ziemlich treffen würde, dass er bei einem Mädchen so wenig Eindruck hinterlassen hat. David hält sich nämlich für unwiderstehlich.«

Sie führte ihre Stute aus dem Stall heraus und notgedrungen folgte ich ihr mit Hades. Draußen erwartete uns ein eiskalter Wintertag. Schwere Wolken hingen am Himmel und es herrschte dämmriges Licht, obwohl es erst früher Nachmittag war.

Dankbar zog ich mir die gefütterten Handschuhe über, die meine Mutter mir mitgegeben hatte. Wie verrückt musste man eigentlich sein, um bei diesem Wetter auszureiten? Kein Wunder, dass Chloe und ich die Einzigen auf dem Gestüt waren. Nun ja, abgesehen von der Besitzerin Frau Götz natürlich. Sie hatte uns vorhin freudestrahlend begrüßt und es ganz großartig gefunden, dass wir die Tiere bewegen wollten. Anscheinend ließ sich bei dieser Kälte außer Chloe und ihrem großen Bruder David kaum ein Reiter hier blicken.

Bis auf ein paar Krähen, die mit lautem Krächzen über uns ihre Kreise zogen, war es merkwürdig still. Hades stieß ein unruhiges Schnauben aus und aus seinen Nüstern stiegen gespenstische Dampfwolken auf. Wie bei einem Höllenpferd … Boah, so langsam ging wirklich meine Fantasie mit mir durch! Seit ich gestern Abend diesen grusligen Schatten im Spiegel gesehen hatte … Nein! Seit ich mir gestern Abend diesen grusligen Schatten im Spiegel eingebildet hatte, stand es mit meinen Nerven nicht zum Besten.

»Später könnte es noch Schnee geben«, meinte Chloe mit einem bedauernden Blick zum grauen Himmel. »Lass uns lieber schnell losreiten.«

Oh weh, jetzt wurde es ernst! Ich fütterte Hades noch einmal mit einem Möhrenstückchen, während Chloe sich routiniert in den Sattel schwang. Ich versuchte, es ihr gleichzutun, doch ich erklomm Hades’ Rücken so schwerfällig wie ein Faultier den Mount Everest. Oben angekommen, wurde mir prompt wieder bewusst, weshalb ich das Reiten aufgegeben hatte. Mit klopfendem Herzen schielte ich zu Boden. Himmel, war das hoch! Jeder Muskel in meinem Körper versteifte sich. Umgehend begann Hades nervös hin und her zu tänzeln.

»Chloe, ich … ich muss dir ein Geständnis machen«, stammelte ich mit belegter Stimme. »Ich bin keine besonders gute Reiterin.«

Sie musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Das … äh … sehe ich. Du machst ein Gesicht, als würdest du auf dem Rücken eines ausgehungerten Tigerhais sitzen.«

Trotz der Kälte sammelte sich Schweiß auf meiner Stirn. »Ich habe Höhenangst. Und Reitunterricht hatte ich auch nur sechs Monate lang. Ich habe mich so gefreut über deine Einladung, dass ich einfach gehofft habe, ich würde es irgendwie hinbekommen. Aber jetzt …«

»Du tust das nur mir zuliebe?«, fragte sie ungläubig.

Ich nickte steif. »Findest du das kindisch?«

»Quatsch! Natürlich nicht.« Chloe lächelte mich gerührt an. »Es tut mir nur leid, dass dir das Reiten solche Angst macht.«

Einen Moment lang schwieg sie nachdenklich, dann dirigierte sie ihre Stute an meine Seite. Chloe beugte sich vor, löste meine verkrampfte Hand vom Zügel und hielt sie fest in ihrer. »Versuch es mal positiv zu sehen, Anna! Du bist jetzt immerhin schon aufgesessen und ich kann dir versprechen, dass es nicht mehr höher werden wird.«

Gegen meinen Willen musste ich grinsen. »Da hast du wohl recht.«

»Traust du dir zu, mit meiner Hilfe ein paar Minuten zu reiten?«, fragte sie mich vorsichtig. »Ganz langsam, in gemütlichem Tempo. Keine Sorge, ich bleibe immer neben dir. Du kannst mir vertrauen!«

Ich atmete tief durch. Einen entspannten Waldspaziergang schafften sogar blutige Anfänger. Wenn Chloe mir half und Hades wirklich ein so gutmütiges Tier war, müsste ich das eigentlich hinbekommen, oder?

Unweigerlich wanderte mein Blick jedoch wieder hinab zum weit entfernten Boden.

Sofort schnalzte Chloe tadelnd mit der Zunge. »Nicht nach unten sehen! Die Augen immer schön geradeaus halten.«

Ertappt! Meine selbst ernannte Reitlehrerin schien sehr aufmerksam zu sein. Irgendwie fand ich das beruhigend.

Mein Vater hatte einmal zu mir gesagt, dass nicht derjenige mutig war, der keine Angst hatte, sondern derjenige, der seine Angst überwand. Vielleicht sollte ich jetzt einfach meinen Mut zusammennehmen und an meiner Angst arbeiten?

Ich nickte Chloe entschlossen zu. »Okay, du hast mich überzeugt. Aber du lässt mich nicht allein, okay?«

»Versprochen!«

*

»Pass auf die vereisten Flächen auf«, ermahnte mich Chloe. »Die Pferde haben im Winter zwar Stollen an den Hufeisen, aber das kann trotzdem gefährlich werden.«

»Okay!«