Mordseebrand - Emmi Johannsen - E-Book

Mordseebrand E-Book

Emmi Johannsen

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Beschreibung

Der Mörder fährt mit ...

Schietwetter auf Borkum. Ein idealer Tag für die Urlauber, um in Friesennerz und Gummistiefeln die historische Bimmelbahn zu bestaunen. Doch zum Entsetzen aller fährt der Zug ungebremst in den Bahnhof ein - und entgleist. Die Passagiere sind unverletzt, der Lokführer aber liegt tot in seiner Kabine. Aus seinem Kopf ragt die Scherbe einer Flasche, die Hobbydetektivin Caro Falk gleich verdächtig erscheint. Gemeinsam mit Jan Akkermann, ihrem Partner in allen kriminalistischen Angelegenheiten, beginnt sie zu ermitteln - und kommt nicht nur dem Rezept des auf der Insel so beliebten Sanddornbrands auf die Spur, sondern auch einem zwielichtigen Etablissement, das mehr als ein tödliches Geheimnis verbirgt ...

Mord in Borkums Bimmelbahn - humorvolle Krimiunterhaltung für begeisterte Küstentouristen



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Über dieses Buch

Schietwetter auf Borkum. Ein idealer Tag für die Urlauber, um in Friesennerz und Gummistiefeln die historische Bimmelbahn zu bestaunen. Doch zum Entsetzen aller fährt der Zug ungebremst in den Bahnhof ein – und entgleist. Die Passagiere sind unverletzt, der Lokführer aber liegt tot in seiner Kabine. Aus seinem Kopf ragt die Scherbe einer Flasche, die Hobbydetektivin Caro Falk gleich verdächtig erscheint. Gemeinsam mit Jan Akkermann, ihrem Partner in allen kriminalistischen Angelegenheiten, beginnt sie zu ermitteln – und kommt nicht nur dem Rezept des auf der Insel so beliebten Sanddornbrands auf die Spur, sondern auch einem zwielichtigen Etablissement, das mehr als ein tödliches Geheimnis verbirgt …

Über die Autorin

Emmi Johannsen ist das Pseudonym von Christine Drews. Mit ihren Romanen, Thrillern und Krimis konnte sie bereits etliche Leser im In- und Ausland begeistern. Mit ihren Borkum-Krimis erfüllt sie sich einen besonderen Traum: Inspiriert von ihrer liebsten Urlaubsinsel schreibt sie nun als Emmi Johannsen eine humorvolle Krimireihe um Caro Falk und Jan Akkermann, die gemeinsam auf Borkum Verbrecher jagen.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Volker Jarck, Otterndorf

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: E. O. | Halfpoint | OlgaKraemer | Oliver Hoffmann | Sunshine Seeds | Triff | ZaZa Studio | domnitsky

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4200-9

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

Das tote Gesicht. Habe ich das wirklich zu verantworten? Habe ich dieses Leben tatsächlich ausgelöscht?

Ein Schauer läuft mir den Rücken herunter. Ich hatte ja keine Ahnung …

Wozu bin ich eigentlich noch fähig?

Die Leiche muss in den Keller, in ihre Grabstelle für die Ewigkeit. Zum Glück gibt es dieses Loch im Boden, es hat die perfekte Größe, und ich bin froh, dass es diesen Platz für sie gibt. Die anstrengende Arbeit lenkt mich von meinen düsteren Gedanken ab. Von der Tatsache, dass ich einen Mord begangen habe.

Als Nächstes werde ich den Körper einbetonieren müssen. Das ist die einzige Möglichkeit, ihn für immer verschwinden zu lassen. Niemand wird ihn je finden. Jedenfalls nicht, wenn ich sorgfältig vorgehe und keine Spuren hinterlasse. Aber davon gibt es im Moment noch jede Menge. Es ist schließlich eine fürchterlich blutige Angelegenheit gewesen, und das ganze Blut muss jetzt als Erstes verschwinden. Und obwohl ich am liebsten nur noch wegrennen und alles, was heute passiert ist, so schnell wie möglich vergessen will, muss ich mich jetzt zusammenreißen.

Sorgfältig schütte ich ein paar Eimer Sand über den Blutmengen aus. Schnell wird aus den feinen, goldenen Körnern rotbrauner Matsch, der sich leicht mit einer Schaufel in die Kuhle schippen lässt. Zwei weitere Eimer leere ich über dem zerschmetterten Kopf aus. Das hätte ich schon eher machen sollen, es erspart mir den grauenvollen Anblick. Außerdem werden so die Fliegen abgehalten, die schon jetzt um den toten Körper schwirren. Wie schnell sie kommen und den Tod wittern, sich unbeirrt auf ihren Leckerbissen stürzen.

Von heute an werde ich jeder Fliege etwas zuleide tun, die sich in meine Wohnung verirrt. Die Vorstellung, wo sie gewesen sein könnte, bevor sie sich auf meinen Kuchen setzt … ekelhaft.

Beton zu mischen, die vollen Eimer mit der Pampe in den Keller zu tragen und über der Leiche auszukippen ist eine schweißtreibende Arbeit. Es dauert ganz schön lange, bis ich den letzten Rest Beton über den Körper gießen kann. Nun ist er vollständig damit bedeckt. Noch ist die Stelle zwar sichtbar feucht und frisch, aber von der Leiche ist nichts mehr zu sehen.

Wie lange mag es wohl dauern, bis alles getrocknet ist? Ein paar Wochen? Einen Monat? Die Stelle muss regelmäßig kontrolliert werden, so viel steht fest. Ich muss sicherstellen, dass alles unverdächtig aussieht, wenn hier mal jemand auftauchen sollte.

Verwest der Körper in dem Beton eigentlich? Vermutlich nicht. Ohne Luft keine Verwesung. Aber genau weiß ich es nicht.

Ich atme tief durch. Ich muss jetzt versuchen, mit der Sache abzuschließen. Keiner weiß, dass hier unten eine Leiche versteckt ist. Und solange es keine Vermisstenmeldung gibt, wird vermutlich auch nie jemand danach suchen. Und wenn doch, dann wird kein Mensch je auf die Idee kommen, dass ich etwas mit der Sache zu tun habe.

Wenn ich die Nerven behalte, wird alles gut werden. Dann werde ich nur noch einen Weg finden müssen, mit meiner Schuld und meinem Gewissen zu leben.

Ich habe keine Ahnung, wie das funktionieren soll.

1

Es regnete in Strömen. Für Borkum wahrlich kein ungewöhnliches Wetter, aber zur Hochsaison doch ganz schön nervig, wie Caro fand.

Sie hatte sich ihre hellblaue Regenjacke bis zum Hals hochgezogen und die Kapuze fest unterm Kinn verknotet, trotzdem lief ihr das Wasser den Hals hinunter. Ihre dunkelblonden Haare, seit einigen Jahren meistens zum Zopf gebunden, klebten auf der Haut. Die Spitze des Neuen Leuchtturms konnte sie kaum sehen, so tief hingen die schweren dunklen Wolken, aus denen es pausenlos schüttete. Die Wiese rund um den Leuchtturm, die normalerweise zu jeder Tages- und Nachtzeit von Kaninchen belagert wurde, war nun karnickelfrei, und der abschüssige Weg, der von dort runter zur Hindenburgstraße führte, hatte inzwischen etwas von einem Wasserfall. Hinzu kam ein strammer Nordwind, der das Wasser aus allen Richtungen direkt in die Gesichter der Menschen zu pusten schien, ganz egal, woher sie kamen und wie sie auch versuchten, sich davor zu schützen. Vor diesem Regen gab es keinen Schutz.

Ein Schietwetter, wie es im Buche stand.

Caro zog die Schultern hoch und den Kopf ein, in der Hoffnung, sich so ein wenig vor den prasselnden Tropfen verstecken zu können. Am Flughafen war heute nicht viel los gewesen, wegen der ständig aufbrausenden Böen hatten sich nur wenige Urlauber für die Anreise mit dem Flugzeug entschieden. Auch die zahlreichen Familien mit kleinen Kindern, die bei schönem Wetter häufig vorbeischauten, blieben an so einem Tag lieber in den Spieleräumen der Kulturinsel. Und die Fallschirmspringer, nach dem furchtbaren Vorfall im letzten Jahr längst wieder im Normalbetrieb, sprangen bei dem Wetter logischerweise auch nicht. Somit hatte Caro den Kiosk früher schließen können, sich Aila geschnappt, um das spätnachmittägliche Gassigehen mit dem Erledigen der notwendigen Einkäufe zu verbinden.

»Eine bescheuerte Idee. Sorry, Süße.«

Caro blickte auf ihre finnische Lapphündin, deren weißes Fell klatschnass am Körper herunterhing. Normalerweise sah Aila aus wie eine Schneeflocke, puschelig und aufgeplustert wie ein Polarfuchs zog sie ihre Runden über den Strand, sprang zwischendurch ziegenbockartig in die Luft, wenn eine Möwe zu niedrig flog, oder drehte sich begeistert im Kreis, sobald sie einen Krebs entdeckt hatte.

Von dieser geballten Lebensfreude war im Moment nicht viel übrig geblieben. Ihr Fell war zusammengefallen wie eine auftoupierte Dauerwelle unter der Dusche, wodurch ihr Körper überraschend dünn wirkte.

»Du bist nicht so mopsig, wie ich dachte. Schlank durch Regen – ist doch was. Jetzt können wir uns die Diät sparen.«

Wenn Caro mit Aila sprach, hob die Hündin normalerweise immer den Kopf und schaute sie aufmerksam an. Selbst wenn es ihr schlecht ging, so wie damals, als ein Unbekannter ihr in den Bauch getreten hatte – aufgeweckt, neugierig, ja geradezu verständnisvoll blickten die schwarzen Augen in der Regel zu Caro. Diese Regel wurde nur aufgehoben, wenn die Hündin zutiefst beleidigt war. So wie jetzt, wo sie ihr durchnässtes Haupt noch nicht mal zur Seite drehte, sondern es mit fast eisiger Miene zwischen ihren Schultern hängen ließ. Es gehörte einiges dazu, damit ihr teddybärähnliches Gesicht nicht mehr niedlich aussah. Aila zählte zu den Hunden, deren Maul von Natur aus so geformt war, als würde das Tier lächeln, und Caro fragte sich, wie sie es hinbekam, so eine beleidigte Schnute zu ziehen. Ihre ganze Mimik war wie ausgewechselt. Die kugelrunden schwarzen Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, den Blick hielt sie starr nach vorne gerichtet, die Lefzen hingen genervt nach unten. Mehr Verachtung für Caros Entscheidung, sie durch den Regen zu schleifen, hätte die Hündin nicht zum Ausdruck bringen können.

Caro ging in die Hocke und streichelte ihr über den nassen Kopf.

»Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut.«

Statt einer Antwort schüttelte Aila sich abrupt, sodass Caro neben den Regentropfen nun auch noch das Wasser aus dem Fell ins Gesicht flog.

»Na, schönen Dank auch«, murmelte sie und fischte sich ein Hundehaar aus dem Mund. »Alte Ziege«, fügte sie noch leise hinzu und glaubte, aus dem Augenwinkel zu sehen, wie Aila jetzt den Kopf hob.

Zahlreiche Urlauberinnen und Urlauber tummelten sich in Ostfriesennerz und Gummistiefeln im Ortskern und versuchten, sich die Zeit zu vertreiben. Die Friseursalons waren proppenvoll, viele schienen das schlechte Wetter für einen neuen Haarschnitt zu nutzen, und auch in den Boutiquen herrschte Hochkonjunktur. Am überdachten Bahnhof standen ebenfalls recht viele Feriengäste herum, da das Beobachten der Borkumer Kleinbahn, von allen nur Bimmelbahn genannt, gerade bei Familien mit kleinen Kindern beliebt war. Besonders wenn die Bahn von der historischen Lok gezogen wurde, was natürlich zur Urlaubszeit häufig vorkam. Caro erinnerte sich noch genau daran, wie fasziniert Justus früher gewesen war, wenn der Zug mit lautem Tuten in den Bahnhof einfuhr und aus seinem Schornstein den Dampf in den Himmel blies. Sie hatte den kleinen Kerl damals gar nicht mehr von den Gleisen wegkriegen können, so begeistert war er von dem Schauspiel gewesen. Stets hatte er darauf bestanden, den abreisenden Urlaubern nachzuwinken, die alle, wenn auch etwas wehmütig, zurückgewunken hatten.

Jetzt wurde ihr Sohn bald schon dreizehn und würde im Traum nicht mehr auf die Idee kommen, einem Urlauber nachzuwinken. Neulich hatte er einen Pickel auf seinem Kinn entdeckt und ihn fast eine halbe Stunde fachmännisch bearbeitet – und das nicht ohne Stolz. Morgens brauchte er inzwischen länger im Bad als sie, und er besaß drei verschiedene Gelsorten: Haarwachs, Haargel und Haarschaum. Das richtige Styling brauchte nun mal nicht nur Zeit, sondern auch das passende Equipment. Er wurde in Rekordzeit groß, und auch wenn Caro nicht zu den Müttern gehörte, die der Baby- und Kleinkindzeit hinterhertrauerten, war sie manchmal doch darüber erstaunt, wie schnell er nun erwachsen wurde. Und sie selbst älter. Die Vierzig, die früher in weiter Ferne schien, rückte immer näher.

Caro ließ die Gleise links neben sich und ging auf den Drogeriemarkt zu, direkt gegenüber vom Bahnhof. Geschickterweise hatte der Filialleiter eine große Box mit Knirpsen vor den Laden gestellt, und die Leute kauften die kleinen Regenschirme, als handelte es sich dabei um den heißesten Trend des Sommers. Dementsprechend voll war es im Eingangsbereich, vor dem rechts neben der Tür drei Haken in Bodenhöhe angebracht waren.

»Du weißt, dass es mir leidtut«, sagte Caro leise, als sie Aila vor dem Geschäft anbinden musste.

Jetzt warf die triefend nasse Hündin ihr definitiv so einen empört-entsetzten Blick zu, dass Caro kurz lachen musste. Dann schüttelte Aila ihr Fell demonstrativ im Sekundentakt.

»Ich beeile mich. Versprochen.«

Mit schlechtem Gewissen lief Caro durch die Gänge, packte Shampoo und Duschgel in den Einkaufskorb, legte es wieder zurück und griff stattdessen zu Haar- und Körperseife, um sich nicht nur über den Plastikmüll am Strand aufzuregen, sondern wenigstens ein bisschen was zur Vermeidung beizutragen. Gerade wollte sie an dem Regal mit Hundeleckerlis vorbeigehen, hielt dann aber doch inne und legte einen besonders großen Kauknochen in den Korb. Das hatte sich die Maus verdient, dachte sie.

Als könnte Aila ihre Gedanken lesen, hörte sie die Hündin plötzlich wie verrückt bellen. Was war denn nur los? Das machte sie doch sonst nicht, auch nicht bei so einem Schietwetter. Aber jetzt schien sie sich gar nicht mehr zu beruhigen und kläffte wie von der Tarantel gestochen.

Wurde sie von einem anderen Hund bedroht? Von einem unsensiblen Kind geärgert? Wollte sie jemand klauen?

Im selben Moment drangen aufgeregte Rufe und Schreie von draußen in den Laden hinein.

»Da scheint irgendwas passiert zu sein!«, sagte eine ältere Dame neben ihr, die sofort mit ihrem Einkaufswagen zur Fensterfront lief.

Caro stellte ihren Korb auf den Boden und eilte Richtung Tür. Auch die anderen Kunden drangen nun zum Ausgang, vor dem sich ein regelrechter Pulk gebildet hatte. Mit Mühe kämpfte sie sich zu Aila durch, die sich überhaupt nicht mehr beruhigen konnte und abwechselnd bellte und fiepte. Dann sah Caro den Grund dafür.

»Heilige Scheiße …!«, entfuhr es ihr. Wie gelähmt blickte sie auf die Szene, die sich nur wenige Meter von ihr entfernt abspielte.

Begleitet von den aufgeregten Warnrufen der Leute fuhr die Bimmelbahn ungebremst in den Bahnhof ein. Ohne ihr Tempo zu verringern, rollte sie an dem Bahnsteig vorbei, weiter auf die angrenzende Straße. Auch wenn er nicht schneller als ein ordentliches Fahrrad war, wirkte der Zug mehr als bedrohlich, zumal die Schienen nicht vor einem Prellbock endeten, sondern gut zwanzig Meter hinter dem Bahnhof einfach im Asphalt ausliefen – direkt neben dem Drogeriemarkt.

Ohne den Blick von dem entgleisenden Zug zu wenden, nahm Caro Aila auf den Arm und drückte sie an sich, worauf die Hündin mit dem Bellen aufhörte und nur noch leise fiepte.

»Weg hier!«, schrie ein Mann neben ihr, und plötzlich rannten die Menschen laut kreischend in den angrenzenden kleinen Park, wo bei schönem Wetter so oft Boule gespielt wurde und die Leute ihr Eis aus den umliegenden Eisdielen verspeisten.

Auch Caro wollte lossprinten, aber mit einem Ruck wurde ihr klar, dass Aila immer noch angebunden war. Hektisch versuchte sie, die Leine zu lösen.

»Verdammt, verdammt, verdammt!«

Sie hatte sich verheddert, und Caro schaffte es nicht, mit ihren nassen Fingern den rutschigen Lederknoten zu lösen. Langsam, aber sicher machte sich Panik in ihr breit. Was sollte sie tun, wenn die Bahn nicht stoppte? Wenn sie weiter auf sie zuraste und sie Aila nicht von der verdammten Leine befreien konnte? Sie würde sie nicht allein lassen, nein, das würde sie niemals tun!

Im selben Augenblick geriet die historische Lok in Schieflage, kippte um und schepperte laut quietschend über die Straße.

Caro schrie entsetzt auf, und Aila stieß ein durchdringendes Fiepen aus.

Kurz darauf kam die Bahn an der Wand zum Drogeriemarkt zum Stehen – keine fünf Meter neben ihnen.

2

Caro stand mit zahllosen anderen Passanten vor der verunglückten Lok.

Es war nicht nötig, die Polizei zu rufen, da sich die Wache in der Strandstraße nur ein paar Häuser neben dem Drogeriemarkt befand und die Beamten bereits auf die Straße liefen, alarmiert von dem Geschrei und dem Lärm, der von der Unglücksstelle kam. Caro hatte das Gefühl, dass sich die halbe Insel innerhalb von Sekunden an diesem zentralen Platz am Fuße des Neuen Leuchtturms eingefunden hatte.

In der Menge erkannte sie Elisa Frankenheimer. Die Inselärztin hatte ihre Praxis ebenfalls fußläufig vom Unfallort und musste sofort losgerannt sein. Sie trug noch ihren weißen Arztkittel, der innerhalb kürzester Zeit völlig durchnässt war. Ihre dunkelblonden Haare hingen ihr in nassen Strähnen ins Gesicht, das trotz allem eine verblüffende Ruhe ausstrahlte. Caro hatte das schon häufiger bei Rettungsärzten oder Feuerwehrleuten beobachtet, die in größten Gefahren- oder Stresssituationen offenbar in der Lage waren, einfach einen Schalter umzulegen, um dann hochprofessionell agieren zu können, während rund um sie herum das Chaos ausbrach.

Jetzt kümmerte sich Elisa um einen verletzten Passanten, der an der Stirn blutete und vermutlich von einem Splitter getroffen worden war. Ruhig sprach sie auf den aufgeregten Mann ein.

»Versuchen Sie, gleichmäßig zu atmen. Es ist nur die Wunde am Kopf?«

»Was heißt ›nur‹?«

»Sie haben keine Schmerzen im Brust- oder Bauchbereich?«

»Nein … Mein Gott, was ist …?«

»Ein Unfall. Ich bin Ärztin. Bleiben Sie hier sitzen. Es ist möglich, dass Sie eine Gehirnerschütterung haben. Ich komme gleich wieder zu Ihnen zurück.«

Der Mann nickte benommen, wobei er sich sofort seinen offensichtlich schmerzenden Kopf festhielt. Er stand sichtlich unter Schock und schien damit keine Ausnahme zu sein. Die meisten Schaulustigen wirkten zum Glück unverletzt, und auch die Passagiere aus der Bimmelbahn waren im Großen und Ganzen mit dem Schrecken davongekommen. Jedenfalls kam einer nach dem anderen aus dem Zug gestolpert, fast alle käseweiß im Gesicht, aber ohne sichtbar schwere Wunden. Ihren ersten Urlaubstag auf der Insel hatten sie sich vermutlich anders vorgestellt.

Caro sah, wie Elisa zu einer älteren Frau eilte, die hingefallen war und sich mit schmerzverzerrter Miene den Arm hielt.

Dann hörte sie laute Rufe. »Was ist passiert, was ist passiert?«

Ein offensichtlich sehbehinderter Mann mit einem Blindenabzeichen am Ärmel taumelte orientierungslos durch die Menge. Caro wollte sich gerade um ihn kümmern, als eine Gruppe von Männern ihr zuvorkam. Die vier waren vielleicht Mitte oder Ende fünfzig und trugen alle ein Sweatshirt mit Borkum-Aufschrift, wohl ein Trupp von Wiederholungsurlaubern.

»Es gab einen Unfall. Wir saßen zusammen im Abteil«, hörte sie einen der Männer sagen, der auffallend groß war. Caro schätzte, dass er über zwei Meter maß. Er hatte eine leicht gekrümmte Haltung, wie viele besonders große Menschen, die sich dauernd zu Gesprächspartnern und durch Türen bücken mussten. »Kommen Sie, ich bringe Sie zu der Bank da vorne. Sind Sie verletzt?«

Der Mann verneinte leise und ließ sich von seinen Mitreisenden begleiten.

Caro betrachtete die historische Lok, die auf der Seite lag, belagert von Schaulustigen, die alle nur mit entsetztem Gesichtsausdruck auf die Unfallstelle starrten.

»Meine Herren …«

»Das ist so furchtbar!«

»Hat jemand einen Krankenwagen gerufen?«

»Lassen Sie mich durch, ich bin Ärztin«, hörte sie dann Elisa rufen, die die alte Dame versorgt hatte und sich jetzt energisch einen Weg durch die Menge bahnte. Inzwischen waren auch die ersten Polizisten vor Ort und drängten die Menge zurück.

»Elisa, was kann ich tun?« Caro stand neben der Lok und nahm Aila wieder auf den Arm, da der Asphalt mit Scherben übersät war.

»Du bist unverletzt?«

»Ja.«

»Dann komm.«

Elisa wirkte hochkonzentriert und schien nur darauf fokussiert zu sein, Verletzte zu finden und sich um sie zu kümmern. Sie stakste durch die Scherben und versuchte, in die umgestürzte Lok zu klettern.

Caro drehte sich zu einem Jugendlichen um, der totenbleich und mit offenem Mund neben ihr stand.

»Magst du Hunde?«, fragte sie ihn freundlich.

Irritiert blickte er sie an. »Ich liebe Hunde. Wieso?«

Caro drückte ihm Aila in den Arm. »Halt sie bitte einen Moment. Damit sie nicht in die Scherben läuft. Ich muss da helfen.«

Wie ein Baby hielt er die nasse Hündin im Arm, die ihm ihr Gesicht entgegenstreckte und ihn neugierig anschaute.

»Sie heißt Aila.«

»Okay …«

Es erstaunte Caro immer wieder, welche Wirkung Tiere auf Menschen haben konnten. Die geschockte Miene des Jugendlichen löste sich sofort. Mit einem leichten Lächeln streichelte er Aila über den Kopf, die ihm sofort zutraulich durchs Gesicht schlabberte.

Caro kletterte auf die Lok und versuchte, in die Fahrerkabine zu gelangen.

»Elisa?«

Für einen Moment musste sie innehalten, so grauenvoll war der Anblick, der sich ihr bot.

»Mein Gott …«, entfuhr es ihr tonlos.

In der Ecke befand sich eine zusammengekauerte Gestalt, die die Uniform der Inselkleinbahn trug. Das Gesicht konnte Caro nicht erkennen, aber aufgrund der kurzen grauen Haare ging sie von einem Mann jenseits der fünfzig aus. Er rührte sich nicht. Um ihn herum breitete sich eine Blutlache aus, die auch dank des hereinprasselnden Regens immer größer wurde.

Caro befürchtete das Schlimmste. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie jemals so viel Blut gesehen hatte.

Elisa kniete am Boden und versuchte vorsichtig, den Mann zur Seite zu drehen.

»Hallo? Können Sie mich hören?« Sie hielt zwei Finger an seinen Hals und verzog dann kurz den Mund. »Kein Puls.« Mit Mühe drehte sie den Mann auf die Seite. »Oh Scheiße …« Erschrocken presste sie sich eine Hand vor den Mund.

Caro kletterte zu ihr. »Was?«

»Aksel«, sagte sie mit belegter Stimme. »Patient von mir.«

Jetzt erkannte Caro ihn auch. Aksel Heinman hatte schon immer in der historischen Lok gesessen, jedenfalls seitdem sie die Bahn mit Justus zum ersten Mal gefahren war. Ein Borkumer Original, der auch schon mal extra die Hupe betätigte, wenn die kleinen Urlaubsgäste ihn darum baten, und jedem zuwinkte, an dem er vorbeifuhr. Er galt als grummelig und freundlich zugleich, wobei sich Letzteres erfolgreich hinter Ersterem verstecken ließ. Ein echter Ostfriese eben.

Jetzt lag er mit einer blutigen Kopfwunde in der Führerkabine, von Scherben übersät.

»Hilf mir, ihn hier rauszuholen«, sagte Elisa. »Hier drin kann ich nicht reanimieren.«

In dem Moment guckten zwei Rettungssanitäter von oben in die umgestürzte Lok.

»Wir übernehmen. Bitte machen Sie Platz.«

»Vorsicht mit seinem Kopf!«, rief Elisa, als die beiden Sanitäter ihn kurz darauf aus den Trümmern bargen. »Außerdem leidet der Patient an einer chronischen Herzinsuffizienz.«

»Wie weit fortgeschritten?«, fragte der eine Sanitäter.

»Frühes Stadium, noch lange nicht austherapiert, wir reanimieren auf jeden Fall!«

Endlich hatten sie Aksel Heinman aus der Lok geschleppt und legten ihn vorsichtig auf eine Trage. Elisa begann sofort mit einer Herzmassage. Mit Schirmen versuchten zwei Frauen, den Regen von ihr und Aksel abzuhalten, während der eine Sanitäter ihm eine Infusion legte und der andere den Defibrillator auspackte, Aksels Uniform aufriss und das medizinische Gerät anlegte.

»Auf drei: Eins, zwei – drei.«

Caro zählte nicht mit, wie oft es der Mann versuchte. Irgendwann ließ er resigniert von ihm ab.

»Er ist tot.«

Elisa strich ihrem Patienten über die Augen, obwohl sie sowieso schon die ganze Zeit halb geschlossen gewesen waren. Caro wusste nicht, ob es Regentropfen oder Tränen waren, die Elisa die Wangen herunterliefen. Vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem. Ihrem Gesicht war ansonsten keine Gefühlsregung anzumerken.

»Er muss sehr viel Blut verloren haben«, sagte Caro leise.

Elisa nickte. »Die Kopfverletzungen scheinen massiv. Und dann noch die Vorerkrankung.«

»Denkst du, er hatte einen Herzinfarkt?«, fragte Caro.

Elisa zuckte mit den Schultern. »Er war medikamentös gut eingestellt. Eigentlich hatte er keine Probleme. Aber man weiß es natürlich nie …«

Sie blickten auf das blutverschmierte Gesicht, während die Sanitäter Aksel Heinman in einen dunkelgrauen Leichensack legten. Als sie den Körper anhoben, sah Caro an der rechten Seite des Hinterkopfes, dass ein Stück von einer vermutlich großen Scherbe aus der Schädeldecke hervorlugte.

»Armer Kerl.«

»Ja. Schrecklich. Auch wenn er sich sicherlich immer gewünscht hätte, in seiner geliebten Bimmelbahn zu sterben: So hat er sich das ganz sicher nicht vorgestellt.«

Der Leichensack wurde verschlossen. Elisa atmete noch mal tief durch und kümmerte sich dann um einen weiteren Passagier, der am Bein blutete.

Erneut warf Caro einen Blick in die Lok. Irgendetwas war ihr eben komisch vorgekommen, aber sie wusste nicht, was.

So viel Blut, so viele Scherben, dachte sie.

Dann fiel ihr eine umgestürzte Holzkiste auf, in der sich leere Glasflaschen befunden haben mussten, die jetzt, zum größten Teil zerbrochen, in und um die Kiste herum verstreut waren.

Warum hatte Aksel so etwas vorne in seiner Führerkabine gehabt?

»Frau Falk, was verstehen Sie an den Worten Bitte zurücktreten nicht?« Ein Polizist, ungefähr in ihrem Alter, riss sie aus ihren Gedanken und drängte sie zurück.

»Seit wann sagst du Frau Falk zu mir, Jörn?«

»Ich bin im Dienst.«

»Unsere Jungs spielen seit Jahren zusammen Fußball, und wir haben schon etliche Biere zusammen getrunken.«

Der Mann rollte mit den Augen. »Na schön, Caro, zieh jetzt trotzdem Leine. Bitte.«

In dem Moment wurde Aksel Heinman im Leichensack zum Rettungswagen getragen, und alle wurden still. Nicht nur Caro und Jörn, auch die Schaulustigen blickten ihm betroffen nach. Als die Türen des Wagens zugeschlagen wurden, stoppte der Regen, die Wolken fielen auseinander, und die Sonne zeigte zum ersten Mal an diesem Tag ihr Gesicht.

»Gute Reise, Aksel«, sagte Caro leise, als der Rettungswagen langsam davonfuhr.

Elisa stellte sich zu ihr, klatschnass, ihre Kleidung blutverschmiert.

»Ich hätte nie gedacht, dass so ein Unfall hier passieren kann«, sagte sie leise.

Caro nickte traurig. »Es ist wohl besser, wenn ich gehe und der Polizei nicht weiter im Weg stehe.« Sie blickte sich nach dem Jugendlichen um, dem sie Aila in den Arm gedrückt hatte. Er hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle wegbewegt und kraulte die nasse Hündin immer noch.

»Ist sie dir nicht zu schwer geworden?«, fragte Caro und nahm ihm das Tier wieder ab. Vorsichtig setzte sie Aila ein Stückchen weiter auf den Boden, wo sich kaum noch Scherben befanden. »Die bringt inzwischen locker sechzehn oder siebzehn Kilo auf die Waage.«

»Für mich kein Problem«, sagte der Junge nur, und Caro bedankte sich bei ihm. Mit einem Schmunzeln registrierte sie den sehnsüchtigen Blick, den er Aila noch zuwarf, als er wegging, und den ihre Hündin doch glatt zu erwidern schien.

Caro zog den Reißverschluss ihrer Regenjacke auf. Sie staunte, wie schnell es jetzt warm wurde, seit die Sonne sich ihren Weg durch die Wolken gebahnt hatte. Den ganzen Heimweg über musste sie an das Szenario denken, das sich ihr in der Lok geboten hatte. Irgendetwas irritierte sie, aber sie konnte den Gedanken noch nicht klar fassen, dafür war sie noch viel zu durcheinander.

Obwohl es noch gut fünfzig Meter bis zum Haus waren, sah sie Hinnerk schon mit besorgter Miene in der Einfahrt stehen. Ganz offensichtlich hielt er nach ihr Ausschau. Aila erkannte ihn sofort und sprintete los, um ihn freudig zu begrüßen.

»Gott sei Dank! Warum gehst du nicht an dein Handy?«, fragte Hinnerk, als Caro ihn schließlich auch erreicht hatte. »Feines Mädchen, bist du nass, du armes Ding«, sagte er mit warmer Stimme, während er Aila streichelte.

»Du hast es schon gehört?« Caro zog ihr Handy aus der Tasche. Sieben Anrufe in Abwesenheit. Alle von Hinnerk. »Sorry, stand noch auf lautlos. Hatte ich nach der Arbeit vergessen.«

»Schon gehört ist gut. Das Telefon hat ohne Unterbrechung geklingelt. Davon bestimmt dreimal Inge, die wissen wollte, ob du heil zurück bist.«

Stimmt. Sie hatte ihrer Kollegin erzählt, dass sie zum Drogeriemarkt wollte.

»Mist. Und dann hast du dir Sorgen gemacht.« Caro drückte ihren Schwiegervater kurz an sich. »Alles in Ordnung, Hinnerk. Bis auf den armen Aksel Heinman ist niemandem etwas passiert.«

Er wirkte sichtlich betroffen. »Hab ich natürlich auch schon gehört. Musst du mal in Ruhe erzählen. Jetzt komm erst mal rein, und trockne dich ab. Essen ist fertig, falls du einen Bissen runterkriegst. Justus ist noch bei Peter. Aber Jan ist schon da.«

Caro hatte ganz vergessen, dass sie den zum Abendessen eingeladen hatten. Jan Akkermann war ihr Partner in allen kriminalistischen Angelegenheiten und inzwischen ein enger Freund der Familie geworden.

»Moin, Jan. Ich komm gleich.«

»Moin!«, rief er aus dem Esszimmer zurück.

Nachdem sie sich trocken gerubbelt und frische Sachen angezogen hatte, setzte sie sich zu ihm. Inzwischen knurrte ihr Magen lautstark, und sie merkte erst jetzt so richtig, wie hungrig sie war.

»Grünkohl mit Pinkel ist jetzt genau das Richtige, Hinnerk«, sagte sie, als ihr Schwiegervater die große Schüssel auf den Tisch stellte. »Danke.«

Hinnerk setzte sich zu ihnen. »Ich hatte so viel davon eingefroren, dass wir noch das ganze Jahr davon essen können.«

Obwohl sie gedacht hatte, dass sie nichts essen könnte, nahm sie dann sogar noch mal nach. Es tat gut, etwas Warmes in den Magen zu bekommen, auch wenn sie noch ganz schön unter Schock stand. Außerdem hatte Hinnerk sich mal wieder selbst übertroffen. Einige Zeit nach dem Tod seiner geliebten Frau Lefke hatte er damit begonnen, ihre Rezepte nachzukochen. Die beiden hatten früher nach einer recht traditionellen Rollenaufteilung gelebt, er war als Chefredakteur der Borkumer Zeitung beruflich immer stark eingespannt gewesen, während sie sich um Haus und Familie gekümmert hatte. Mit Lefkes Krebserkrankung änderte sich diese Aufgabenteilung, und Hinnerk übernahm immer mehr den Haushalt. Als seine Frau verstorben war, hatte Caro den Eindruck, dass das Kochen nach Lefkes Rezepten auch eine Art Trauerbewältigung für ihn war.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals einen so schlimmen Unfall mit der Kleinbahn hatten«, sagte Hinnerk betrübt. »Ich weiß noch, wie 1999 ein Reh vor den Zug gesprungen ist, aber was Schlimmeres hat es bisher nicht gegeben.«

»Ein Bollerwagen ist mal in den Schienen steckengeblieben«, warf Jan ein. »Bei dem Zusammenstoß sind mehrere Kästen Bier kaputt gegangen.«

»Was nicht schlimmer ist als ein totes Reh«, meinte Hinnerk. »War Aksel betrunken?«

Caro zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber ich habe keinen Alkohol gerochen. Wieso fragst du?«

»Sein Nordseebrand war doch auf der ganzen Insel bekannt«, sagte Jan.

»Nordseebrand?«

»Jau. 49,9 Prozent. Der brannte wirklich.«

»Er hatte eine Schnapsbrennerei?« Das überraschte Caro nun doch. Nicht die Tatsache an sich, sondern vielmehr, dass sie bisher noch nichts davon gehört hatte.

»Na ja, das klingt jetzt sehr offiziell. Lass es mich so sagen: Er hat heimlich in seinem Keller Schnaps gebrannt und den auch auf der Insel verkauft«, sagte Hinnerk.

»Uns hatte er den auch irgendwann mal angeboten«, sagte Jan.

»Ihr könnt im Inselkeller doch keinen illegalen Schnaps verkaufen!«

Caro war noch nicht oft in der Disco gewesen, in der Jan als Türsteher arbeitete. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Besitzer so ein Risiko eingehen würde.

»Natürlich nicht. Hab ich Aksel auch klar und deutlich gesagt. Aber ich glaube nicht, dass das alle auf der Insel so gesehen haben wie wir. Der ist sein Zeug garantiert losgeworden, sonst hätte er es wohl kaum in den Mengen hergestellt.«

»Von was für Mengen reden wir denn?«

»Genau kann ich es dir nicht sagen. Aber er hat uns damals zwanzig Flaschen angeboten. Das ist ja schon mal was.«

»Und er ist nie angezeigt worden? Gesundheitsamt, Ordnungsamt, neidischer Nachbar?«

»Nicht, dass ich wüsste. Ein Selbstaufgesetzter mit dem Obst aus dem Garten oder dem Sanddorn von der Hecke, das macht doch eh jeder«, meinte Hinnerk.

»Aksel hatte es halt ein bisschen professionalisiert. Den meisten Leuten dürfte das egal gewesen sein«, stimmte Jan ihm zu.

»In der Fahrerkabine stand eine Kiste mit zerbrochenen Flaschen«, erinnerte sich Caro. »Vielleicht war das sein Schnaps?«

»Gut möglich«, antwortete Hinnerk. »Denkst du, er hatte einen Herzinfarkt und dadurch den Unfall?«

Caro machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich weiß es nicht.« Sie erzählte den beiden von der großen Scherbe, die in Aksels Hinterkopf steckte. »Wie kommt die dahin? Die Scheiben wurden zerstört, als die Lok aus den Schienen gesprungen und umgekippt ist, und dadurch sind die Scherben in die Führerkabine geflogen.«

Jan schien zu ahnen, worauf sie hinauswollte. »Sie hätten ihn eigentlich im Gesicht oder an der Stirn treffen müssen.«

»Denke ich auch. Jedenfalls wenn er zu dem Zeitpunkt noch stand. Aber hinter dem Fahrersitz war kein Blut. Und hätte er nicht nach hinten geschleudert werden müssen? Warum waren keine Blutspuren an der Wand?«

Jan warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Nicht schlecht, Frau Falk.«

»Dafür war am Boden jede Menge Blut. Wenn er also erst einen Herzinfarkt bekommen hätte und gestürzt wäre«, dachte Caro laut weiter, »dann hätte eine herunterfallende Glasscherbe doch eigentlich nicht so tief in seinen Kopf eindringen können.«

»Das erscheint jedenfalls sehr ungewöhnlich.« Jan nickte.

»Worauf wollt ihr eigentlich hinaus?« Hinnerk machte ein irritiertes Gesicht. »Was soll das mit dem Unfall zu tun haben?«

»Vielleicht war es gar kein Unfall.« Jan biss in seine dritte oder vierte Pinkelwurst, das Fett spritzte an den Seiten heraus und traf Caro am Ärmel. »Sorry«, murmelte Jan mit vollem Mund, was sich wie »wolly« anhörte, und Caro wischte die Spritzer mit einer Serviette weg.

»Ihr meint …?«

»Kein Unfall.« Jan hatte sich erneut eine Fuhre Essen in den Mund geschaufelt und war nun kaum noch zu verstehen.

Der alte Mann rollte mit den Augen. »Euer Ernst?«

»Ja. Ich glaube, an der Sache ist was faul«, sagte Caro. »Zumal die Bimmelbahn nun nicht für ihre Geschwindigkeitsrekorde bekannt ist. Der Aufprall auf dem Asphalt kann doch eigentlich gar nicht so massiv gewesen sein.«

»Es sind schon Leute von einer Trittleiter gefallen und waren tot«, gab Hinnerk zu bedenken. »Wenn du blöd aufschlägst, dann brauchst du nur in der Dusche auszurutschen, und die Messe ist gelesen …«

»Schon klar. Im Prinzip kannst du dir auch das Genick brechen, wenn du aus dem Bett fällst.« Caro sah ihren Schwiegervater nachdenklich an. »Aber wie oft passiert das wirklich?«

»Keine Ahnung, aber vermutlich oft genug!«

»Aber die allermeisten überleben solche leichten Unfälle doch wohl. Sonst hätten wir in den Bade- und Schlafzimmern der Republik doch längst ein Massensterben.«

Hinnerk nickte. »Da hast du natürlich recht. In der Regel überlebt man einen leichten bis mittelschweren Unfall.«

»Und jetzt denk mal einen Schritt weiter: Wir haben einen, sagen wir, mittelschweren Unfall, nein, eher einen leichten, bis auf Aksel hat sich ja niemand wirklich was getan«, überlegte Caro laut. »Wegen seiner Vorerkrankung glaubt aber jeder, Aksel hätte einen Herzinfarkt bekommen, obwohl in Wirklichkeit jemand bei der Sache nachgeholfen hat – und was hast du dann?«

»Einen ziemlich perfekten Mord«, antwortete Jan.

3

Zum Glück hatte das Regentief am nächsten Morgen endgültig die Nase voll von Borkum und verzog sich Richtung Festland. Das Wasser stand immer noch in den Straßen, die Pfützen waren ungemütlich groß, aber wenigstens schien die Sonne und arbeitete daran, die Insel wieder trockenzulegen.

Als Caro mit dem Rad zum Flughafen fuhr, nahm sie extra einen kleinen Umweg in Kauf, um am Bahnhof vorbeizufahren.

»Respekt«, murmelte sie leise. Die Unglücksstelle, an der gestern noch Chaos herrschte und Trümmer lagen, war vollständig aufgeräumt. Von der entgleisten Bahn war genauso wenig zu sehen wie von den Scherben und Splittern. Eine andere Bahn, die von einer moderneren Lok gezogen wurde, hatte offensichtlich gerade erst im Bahnhof gehalten, und jede Menge frisch angekommener Urlauberinnen und Urlauber sprangen aus den bunten Waggons. Einige von ihnen schienen zu wissen, was sich hier keine vierundzwanzig Stunden zuvor abgespielt hatte, und sahen sich neugierig nach Spuren um. Aber die Leute von der Borkumer Kleinbahn hatten ganze Arbeit geleistet, und Caro konnte praktisch keinen Hinweis mehr auf das finden, was sich hier gestern ins kollektive Gedächtnis der Insulaner gebrannt hatte.

Sie radelte über den Giloweg, der durch die Dünen führte, und sah die unzähligen Kaninchen, die nach dem starken Regen der letzten Tage endlich wieder aus ihren Verstecken gekommen waren, um friedlich das Gras wegzumümmeln, das zwischen den sandigen Flächen wuchs.

Das Leben ging an allen Stellen weiter, dachte sie, nur für Aksel Heinman nicht.

Sie stellte ihr Fahrrad vor dem Flughafengebäude ab und konnte schon durch die großen Fenster Inges mitgenommenes Gesicht erkennen.

»Liebes! Ich habe mir gestern solche Sorgen um dich gemacht! Du lebst!«

Caro unterdrückte ein Seufzen. Übertriebene Theatralik mochte sie sowieso nicht, aber im Zusammenhang mit dem Tod eines Menschen fand sie sie mehr als unangebracht.

»Ach, Caro, dir hätte doch weiß der Teufel was passieren können! Ich war fast krank vor Angst!«

»Aksel ist tot, niemand sonst wurde ernsthaft verletzt, Inge. Und das weißt du genauso gut wie alle anderen auf Borkum.«

Inge machte ein beleidigtes Gesicht. »Ich habe mir aber trotzdem Sorgen um dich gemacht. Wirklich.«

Caro lächelte. Inge mochte ein theatralisches Klatschweib sein, aber sie hatte das Herz am rechten Fleck.

»Ich weiß. Lieb von dir. Ist aber wirklich alles in Ordnung.« Sie ging zu ihrem Kiosk und schloss ihn auf. »Trotzdem eine schlimme Sache.«

»Ja, der arme Aksel. Und die arme Alva! Keine Ahnung, wie die ohne ihren Bruder klarkommen soll.«

Inge tupfte sich mit einem Taschentuch über die Augen. Caro schaltete das Licht am Kiosk ein und setzte die Basecap mit dem Logo des Flughafens auf. Arne, ihr Chef und Leiter des Flughafens, hatte die Caps vor ein paar Monaten angeschafft, damit alle Mitarbeiter sofort als solche zu erkennen waren. Nur Inge weigerte sich, die Kappe zu tragen, da die ihre Frisur ruinierte, wie sie mehrfach betont hatte. Während Caro damit begann, die Warenbestände zu überprüfen, redete ihre Kollegin ohne Pause weiter.

»Die beiden waren immer ein Herz und eine Seele. Nicht, dass ich sie besonders gut kenne, die sind ja deutlich älter als ich.« Sie schien kurz nachzudenken. »Beide über sechzig, denke ich, mindestens …«

Deutlich älter, dachte Caro schmunzelnd, verkniff sich aber einen Kommentar. Sie wusste, dass Älterwerden nicht zu den Lieblingsthemen ihrer achtundfünfzigjährigen Kollegin zählte.

»Und Aksel hatte sonst keine Familie?«

»Nein. Es gab nur seine Schwester. Die beiden haben auch zusammengewohnt. Seit Kindesbeinen immer unzertrennlich gewesen. Kein Wunder, bei dem Leben.«

Inge machte eine dramatische Pause. Caro tat ihr den Gefallen und fragte nach.

»Bei dem Leben?«

»Die Eltern sind ganz früh gestorben, dann haben sie erst bei der Großmutter gelebt, und als die auch tot war, hatten sie nur noch sich. Schon in recht jungen Jahren. Und jetzt ist Aksel auch fort. Arme Alva.«

Das fand Caro auch. Es musste schwer sein, wenn man sein einziges Familienmitglied auf so eine grausame Weise verlor.

»Wusstest du, dass er Schnaps gebrannt hat?«

»Klar. Und ich verurteile es nicht.« Inge setzte eine hochtrabende Miene auf. »Die beiden hatten es so schwer! Immer Geldsorgen! Niemand, der sich um sie gekümmert hat!«