Mordseesturm - Emmi Johannsen - E-Book

Mordseesturm E-Book

Emmi Johannsen

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Beschreibung

Borkum nach einem heftigen Sturm. Die ganze Insel ist auf den Beinen, um die Schäden zu beseitigen. Auch Caro Falk und Jan Akkermann gehören zu den Freiwilligen - und finden unter dem zerstörten Loopdeelenweg Teile eines menschlichen Körpers. Wer ist der namenlose Tote, der im frisch gepflügten Sandboden liegt? Die beiden Hobbydetektive beginnen zu ermitteln. Schnell wird ihnen klar, dass der Bau des Weges von Intrigen und Sabotageakten begleitet wurde. Und sie stoßen auf eine mysteriöse Spur, die ausgerechnet in die Lungenklinik führt, in der Caros Vater zur Kur ist. Bald wir Caro klar, dass das Gebäude eine dunkle Vergangenheit hat - und dass sie selbst in tödlicher Gefahr schwebt ...

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Inhalt

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Über dieses Buch

Band 5 der Reihe »Borkum-Krimireihe«

Borkum nach einem heftigen Sturm. Die ganze Insel ist auf den Beinen, um die Schäden zu beseitigen. Auch Caro Falk und Jan Akkermann gehören zu den Freiwilligen – und finden unter dem zerstörten Loopdeelenweg Teile eines menschlichen Körpers. Wer ist der namenlose Tote, der im frisch gepflügten Sandboden liegt? Die beiden Hobbydetektive beginnen zu ermitteln. Schnell wird ihnen klar, dass der Bau des Weges von Intrigen und Sabotageakten begleitet wurde. Und sie stoßen auf eine mysteriöse Spur, die ausgerechnet in die Lungenklinik führt, in der Caros Vater zur Kur ist. Bald wir Caro klar, dass das Gebäude eine dunkle Vergangenheit hat – und dass sie selbst in tödlicher Gefahr schwebt …

Über die Autorin

Emmi Johannsen ist das Pseudonym von Christine Drews. Mit ihren Romanen, ihren Thriller und Krimis konnte sie bereits etliche Leser im In- und Ausland begeistern, auch als Drehbuchautorin ist sie erfolgreich. Doch mit Mordseeluft erfüllt sie sich einen ganz besonderen Traum: Inspiriert von ihrer liebsten Urlaubsinsel schreibt sie nun als Emmi Johannsen eine humorvolle Krimireihe um Caro Falk und Jan Ackermann, die gemeinsam auf Borkum Verbrecher jagen.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- undData-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Christiane Branscheid, Bremervörde

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Illustrationen von

© shutterstock: Erin McGrady | Evannovostro | nuruddean | Olena Yakobchuk | OlgaKraemer | Sokolov Alexey | Vladfotograf | Yury Gulakov

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5585-6

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

Mit einer gewaltigen Wucht tobte der Sturm über Borkum. Das Pfeifen des Windes war zu einem Heulen geworden, das die ganze Insel erfüllte. Für einen Moment überraschte es ihn, dass er diese Geräusche überhaupt wahrnahm, eben noch hatte er doch nur noch das Rasseln seines eigenen Atems gehört.

Wie viel Zeit hatte er wohl noch? Er bekam kaum Luft, lange würde es vermutlich nicht mehr dauern. Der Tod kam unausweichlich näher, und damit auch die Angst. Nicht vor dem Danach, das ihm ziemlich egal war, sondern davor, von dieser Welt zu gehen, ohne alles geklärt zu haben. Er hätte sich gerne von seiner Schuld befreit, Reue gezeigt und um Verzeihung gebeten. Und vielleicht hätten alle anderen dadurch etwas Frieden gefunden.

Aber er hatte kein Wort gesagt.

Unzählige Male hatte er es sich vorgenommen. Als er dann von seinem Tod erfahren hatte, hatte er sie sogar alle zu sich gerufen, um ihnen endlich die Wahrheit zu sagen. Aber er hatte es wieder nicht geschafft, sich zu erklären. Aus Feigheit, aus Schwäche.

Jetzt musste er den Preis zahlen. Jetzt war es zu spät. Er konnte weder sprechen, noch gab es jemanden, der ihm zugehört hätte. Die Zeit für Erklärungen und Entschuldigungen war abgelaufen.

Der Sturm schien immer heftiger zu werden. Regentropfen so laut wie Hagelkörner. Er hörte Mülltonnen über die Straße scheppern, und irgendwo schrie ein Mensch.

Wenn er selbst doch noch schreien könnte, wenn er sich seine Qualen doch nur aus dem Leib brüllen könnte! Drei Menschenleben hatte er auf dem Gewissen, und es gab niemanden, dem er das noch anvertrauen konnte.

Langsam wurden die Schmerzen, die seinen ganzen Körper folterten, weniger.

Und je weiter es gen Ende ging, desto mächtiger wurden die Schuldgefühle. Er bekam keinen Laut mehr über die Lippen.

Aber er konnte so nicht gehen! Nicht so!

Obwohl der Sturm immer noch an Stärke zunahm, hörte er plötzlich wieder seinen rasselnden Atem, der ebenfalls immer lauter wurde, obwohl er von Mal zu Mal schwerer Luft bekam.

Gleich ist es so weit, dachte er. Gleich stirbst du, einsam und allein. Und niemand wird um dich trauern.

Hatte er das verdient? War er so ein schlechter Mensch, dass er es verdiente, so zu sterben?

Ja, dachte er noch. Keiner hat es mehr verdient als du. Dann zogen die schrecklichen Bilder ein letztes Mal an seinen Augen vorbei.

1

Eine leichte Brise wehte Caro um den Kopf und pustete ihr immer wieder die dunkelblonden Haare in die Augen und den Sand ins Gesicht. Als es sie vor fünf Jahren nach Borkum verschlagen hatte, hatte sie sich schnell von ihrer style-intensiven Bobfrisur verabschiedet und trug ihre inzwischen langen Haare seitdem nur noch in einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der sich bei dem heute unablässig wehenden Wind aber auch langsam auflöste. Ihre Haut fühlte sich schon leicht paniert an, heute Abend würde sie wieder einmal ein Naturpeeling machen können, wie fast jeden Tag.

Aila schüttelte ein paarmal ihr flauschiges weißes Fell, um sich ihrerseits von dem allgegenwärtigen Sand zu befreien. Ansonsten hielt die finnische Lapphündin ihre Schnauze aber immer in Bodennähe und schnüffelte konzentriert von links nach rechts, wie ein Drogenhund im Marihuanaanbaugebiet.

Kein Wunder bei dem ganzen Durcheinander, dachte Caro. Sie ging mit ihrer Hündin die Strandpromenade entlang, die nach dem Sturm der letzten zwei Tage kaum wiederzuerkennen war. Überall Sandverwehungen, abgeknickte Bäume und umgekippte Strandkörbe, die nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden waren. Die leichteren Strandzelte hatte es noch schlimmer erwischt, einige waren offensichtlich durch die Luft geschleudert worden und beim Aufprall auf den Boden zerborsten. Fahrräder lagen in den Dünen und im Sand. Es war wirklich Glück, dass es praktisch keine Verletzten gegeben hatte.

Für Aila war es ein Paradies. Sie wusste überhaupt nicht, wohin sie zuerst schnuppern sollte. Mülleimer waren ebenso vom Wind geleert worden wie die Fischbude am Zugang zur Bismarckstraße, deren Inhalt sich weit über die Promenade verteilt und die Möwen in einen regelrechten Fressrausch versetzt hatte.

»Pfui«, sagte Caro streng, als ihre Hündin ein altes Fischbrötchen entdeckt und mit der Schnauze aufgenommen hatte. »Aus!« Aber Aila dachte gar nicht daran. »Aus! Du weißt genau, was das bedeutet! Also mach jetzt!«

Statt zu gehorchen, warf das Tier seinen Kopf in den Nacken und würgte das Brötchen an einem Stück herunter.

»Hey! Daran kann man ersticken!« Caro versuchte noch, ihr das Maul mit den Händen zu öffnen, aber da hatte die Hündin das alte Brot schon heruntergeschluckt. Triumphierend sah Aila sie mit ihren schwarzen Augen an und rülpste im nächsten Augenblick fast genüsslich.

»Das ist ekelhaft, Madame. Ekelhaft. Und wenn du nachher göbeln musst, bist du selbst schuld.«

Erwartungsgemäß interessierte das Aila nicht die Bohne. Aufgeregt und voller Vorfreude auf den nächsten Fund, schnüffelte sie weiter.

Caro beschloss, sie kürzer an der Leine zu halten. Sie ließen das Aquarium hinter sich, das den Sturm zum Glück unbeschadet überstanden hatte und nur von hohen Sandverwehungen befreit werden musste, und hatten bald die Heimliche Liebe und damit den Südstrand erreicht, den es noch heftiger getroffen hatte als das Nordbad. Hier war die Strandpromenade als solche gar nicht mehr zu erkennen, alles war eine einzige Sandlandschaft. Die Trampolinanlage, auf der die Kinder normalerweise im Fünf-Minuten-Takt hüpften, war gänzlich unter dem Sand verschwunden. Auch der neue Abschnitt des Loopdeelenwegs war völlig verwüstet, die Holzdielen zum Teil abgerissen oder von Sand verschüttet. Erst ein paar Wochen vor Saisonstart war das letzte Wegstück fertiggestellt worden, das den Urlaubsgästen ermöglichen sollte, vom Südstrand zu Fuß oder mit den Rädern die Greune Stee zu erreichen, ohne dabei durch den Sand stapfen zu müssen. Auf der ganzen Insel gab es seit Jahrzehnten diese Wege, nur hier hatten noch einige Hundert Meter gefehlt. Nach der Fertigstellung hatte man zum ersten Mal die komplette Insel auf Dünenwegen umrunden können. Aber nun waren Teile des Weges gar nicht mehr begehbar, so sehr hatte der Sturm den Strand ins Innere der Insel geweht.

Für einen Moment blieb Caro stehen und ließ die Szenerie auf sich wirken. Ein Sandsturm in der Wüste dürfte ähnliche Auswirkungen haben, dachte sie. So etwas hatte sie jedenfalls noch nie gesehen. Natürlich hatte sie schon ein paar Stürme miterlebt, seitdem sie auf Borkum lebte, aber so wie die letzten zwei Tage hatte es bisher nicht gewütet. Sie war noch nicht mal mit Aila spazieren gegangen, viel zu gefährlich, und die Hündin war immer nur ganz kurz im Garten verschwunden, um ihr Geschäft zu machen. Selbst da wäre sie fast von einem Ast getroffen worden. Caro hatte die Nächte kaum schlafen können aus Angst, dass das Dach ihres Hauses den Naturgewalten nicht gewachsen war. Aber bis auf zwei Dachziegel hatte zum Glück alles gehalten.

Sie stellte den großen Korb mit Getränken und Snacks, den sie dabeihatte, auf den Boden.

»Siehst du die Männer, Süße?«, fragte sie Aila. »Irgendwo hier sollen sie sein.«

So mies das Wetter der letzten zwei Tage auch gewesen war, so herrlich zeigte es sich heute. Die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel, und der Wind war in einem für Borkumer Verhältnisse mehr als normalen Bereich. Überall wimmelte es von Menschen. Die halbe Insel war auf den Beinen, um die Sturmschäden zu bereinigen. Dazwischen tummelten sich Urlaubsgäste, um sich die durchaus beeindruckenden Sandverwehungen anzuschauen und den freiwilligen Helfern unter die Arme zu greifen – oder ihnen im Weg zu stehen. Je nachdem. Caro kannte viele der Frauen und Männer, die mit Schaufeln und Baggern versuchten, der Sandberge Herr zu werden.

»Moin! Ich hab kalte Getränke dabei«, rief sie Freddy zu, als sie den Mann ihrer Freundin Tine entdeckte. Er stand mit hochrotem Kopf und einer großen Schippe in der Hand knietief im Sand. Sein nicht unerheblicher Körperumfang schien seine Anstrengungen noch zu verstärken.

»Das Zeug ist wie Treibsand!«, rief er genervt. »Wo kommt bloß der ganze Sand her?«

»So ist das, wenn man auf dem größten Sandhaufen der Welt lebt!« Caro hielt eine Dose Cola und eine mit Wasser hoch.

»Cola!«, rief Freddy und fing im nächsten Moment die zielsicher geworfene Dose auf.

»Ich hab auch was zu essen!«

»Danke, Caro, aber Trinken reicht. Super!« Er nahm mehrere große Schlucke und wischte sich erfrischt den Schweiß von der Stirn.

Einige Meter hinter ihm sah sie Jan und ihren Schwiegervater Hinnerk, die gerade gemeinsam die zerstörten Holzdielen einsammelten und auf einen Stapel legten. Die beiden waren ein eingespieltes Team und verstanden sich ohne viele Worte. Caro hatte Jan damals über Hinnerk kennengelernt und sich mit ihm angefreundet, als sie bei ihrem Schwiegervater ins Haus gezogen war. Sie musste schmunzeln, als Jan sein verschwitztes T-Shirt auszog und nun mit nacktem Oberkörper weiterarbeitete. Keine Frage, der Mann konnte sich sehen lassen. Sie wusste, dass er bei seinem Job als Türsteher im Inselkeller, Borkums einziger Disco, häufig von Frauen angesprochen wurde, was sie nicht im Geringsten überraschte.

»Der ist ’ne Sahneschnitte, was?« Eine Urlauberin, die neben ihr den Müll aufsammelte und ihrem Blick gefolgt war, grinste sie breit an.

»Das ist mein Schwiegervater«, sagte Caro ernst, und der Urlauberin klappte der Mund auf.

Auch Aila hatte die Männer entdeckt und begann, freudig zu bellen und an der Leine zu ziehen.

Caro winkte den beiden zu. »Moin! Kleine Pause?« Demonstrativ hielt sie ihren Korb hoch. »Ich habe alles für eine Stärkung dabei.«

»Wenn’s dich nicht gäb’, müsste man dich erfinden!«, rief Jan erfreut und stapfte durch den aufgetürmten Sand zu ihr. Ausgelaugt blickte er in ihren Korb. »Wasser und Apfel. Bitte.«

Caro suchte die beiden Sachen heraus und gab sie ihm. »Macht drei Euro zwanzig.«

Jans Augen weiteten sich. »Du nimmst … ich meine, du verkaufst …« Caro nickte todernst. Jan starrte sie noch eine Sekunde wortlos an, zog dann mit verstörter Miene sein Portemonnaie aus der Hosentasche und öffnete es, bevor er innehielt. »Du verarschst mich.«

Caro lachte laut los. »Hat erstaunlich gut funktioniert!«

Jan verzog das Gesicht. Inzwischen war auch Hinnerk zu ihnen gekommen.

»Danke, dass du an uns denkst«, sagte er und nahm sich Wasser und Obst.

»Ist doch selbstverständlich. Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, nachdem ich zu Hause das Gröbste wieder aufgeräumt hatte«, sagte Caro. »Deinen Garten hat es ganz schön erwischt, Hinnerk.«

»Ich weiß.« Hinnerk warf einen Blick zu Jan. »Du verbrennst dich, Akkermann.«

»Bin eingecremt.«

Hinnerk zog ungläubig eine Augenbraue hoch und nahm einen großen Schluck von seinem Wasser. Er selbst war ganzjährig gebräunt, was seinen weißen Bart und die ebenso weißen Haare noch mehr zur Geltung brachte.

»Wie kommt ihr hier voran?«, fragte Caro.

»Geht so.« Hinnerks hellblaues Hemd hatte sich unter den Armen und am Rücken dunkel verfärbt. »Bei der Hitze kann man nicht permanent Vollgas geben, aber zum Glück sind inzwischen ein paar Jungs mit schwerem Gerät da.« Er winkte einem Mann zu, der einen Pflug hinter seinen Trecker gespannt hatte und so versuchte, aus den Sandbergen wieder ebene Flächen zu machen. »Helge! Trinken?«

Caro kannte Helge nur vom Sehen. Er war einer von Jans vielen Kumpeln auf Borkum, mit denen er seit seiner Kindheit immer wieder Kontakt hatte. Wie das auf so einer Insel nun mal war. Die Insulaner kannten sich untereinander alle.

»Da sag ich nicht Nein.« Helge stellte den Motor aus, sprang vom Trecker und kam zu ihnen. »Moin. Caro, oder?«

Sie nickte. »Helge … Stein? Richtig?«

»Total richtig. Ich hab früher mit Jan gekickt. Liegt jetzt auch schon über dreißig Jahre zurück.«

»So alt bist du schon?« Jan grinste breit.

»Immer noch ein Jahr jünger als du, Akkermann! Darf ich?« Er wies mit dem Kinn auf den Korb, und Caro nickte.

»Greif zu. Ist genug da.«

Jan und Hinnerk nahmen sich ein weiteres Getränk und setzten sich erschöpft in den Sand.

»So’n Sturm hatten wir wirklich schon lange nicht mehr.« Jan biss in seinen Apfel.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals so einen hatten«, meinte Caro.

»Ach doch!«, sagte Hinnerk. Jan und Helge nickten.

»2006 war schlimmer«, murmelte Helge kauend.

»Von 1962 will ich gar nicht reden«, ergänzte Hinnerk. »Aber dafür seid ihr ja alle zu jung. Ich hab damals als Schülerreporter tagelang über den Sturm berichtet.« Im Laufe seiner journalistischen Karriere hatte es Hinnerk bis zum Chefredakteur der Borkumer Zeitung gebracht. Bis heute hatte er gute Beziehungen zur Redaktion, ein Umstand, den sich Caro und Jan für ihr detektivisches Hobby häufig zunutze machten, um an Informationen zu kommen.

»Dieser hatte es trotzdem ganz schön in sich. Ich bin froh, dass unser Haus so wenig abbekommen hat.«

»Das hält einiges aus«, meinte Hinnerk. »Hat bis jetzt jedem Wetter standgehalten. Und den Garten kriege ich schon wieder hin.«

»Klar. Wenn einer einen grünen Daumen hat, ach was, zwei grüne Hände, dann du.« Caro blickte mit gerunzelter Stirn auf den Sand, den Helge bereits gepflügt hatte. »Guckt euch mal die Möwen an. Das ist doch nicht normal. So viele nur an der einen Stelle.«

Bestimmt zwei Dutzend Möwen hockten auf einer relativ kleinen Fläche und pickten wie wild im Boden herum. Auch Aila hatte die Vogelversammlung inzwischen bemerkt. Aufgeregt zerrte sie an der Leine und fiepte vorwurfsvoll, als Caro sie nicht loslassen wollte.

»Stand hier eine Fischbude?«, fragte Caro. »Die von der Bismarckstraße hat es auch erwischt.«

»Nee, gab es hier nicht.« Hinnerk hielt sich die Hand an die Stirn, um seine Augen vor der Sonne zu schützen und besser sehen zu können.

»Vielleicht eine Mülltonne, die umgeweht wurde?« Caro versuchte, irgendein Detail auszumachen. »Ist ja wie bei Hitchcock. Da liegt bestimmt Müll.«

Jan schüttelte den Kopf. »Den haben wir als Erstes eingesammelt.«

»Vielleicht hast du ein Karnickel erwischt«, meinte Caro zu Helge.

Der zuckte mit den Schultern. »Hoffentlich nicht. Aber kann natürlich immer passieren.«

Aila war inzwischen außer Rand und Band, fiepte und bellte abwechselnd und zog so stark an der Leine, dass Caro fast das Gleichgewicht verlor.

»Jetzt hör doch auf, so zu zerren!« Kopfschüttelnd stand Caro auf. »Okay, dann gucken wir eben nach.« Ihre Hündin bellte zustimmend.

»Ich komm mit«, meinte Helge.

Auch Jan und Hinnerk waren jetzt neugierig geworden. Jan sprang auf, reichte Hinnerk die Hand und zog ihn schwungvoll aus dem Sand hoch, während Caro bereits von Aila in Richtung der Möwenansammlung gezogen wurde.

»Nun warte doch mal, Mädchen! Ich leg mich gleich noch auf die Klappe!«

Aber die Hündin kannte kein Halten mehr. Immer mehr Möwen kamen und ließen sich an der Stelle nieder, völlig unbeeindruckt von Ailas Bellen. Dafür waren sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, verjagten ihre Artgenossen oder griffen sie kurzerhand an, wenn sie ihnen etwas vor dem Schnabel wegschnappten. Es war nicht zu übersehen, dass sie einen besonderen Leckerbissen gefunden hatten.

Dank Ailas hartnäckigem Leinezerren erreichte Caro die Möwenstelle als Erste. Intuitiv blieb sie stehen, auch weil die Vögel keine Anstalten machten, wegzufliegen, obwohl Aila sie immer noch empört anbellte.

Stirnrunzelnd starrte Caro auf den aufgewühlten Sand. Auf einer Fläche von wenigen Metern pickten die Vögel aufgeregt herum.

Was hatten sie bloß gefunden?

Plötzlich zuckte Caro erschrocken zusammen. Reflexhaft hielt sie Aila kurz, sodass diese fast würgen musste.

»Das ist doch … oh mein Gott …« Fassungslos presste sie sich eine Hand vor den Mund.

2

Als Kommissar Bachmann am Südstrand ankam, waren seine Kolleginnen und Kollegen von der Strandstraße gerade dabei, alles abzusperren. Einige Schaulustige hatten sich hinter den Absperrbändern versammelt und versuchten, mit langen Hälsen etwas zu erspähen. Caro war froh, dass ihnen das offensichtlich nicht gelang. Jedenfalls verloren die meisten relativ schnell das Interesse und zogen weiter. Wenn sie hätten erkennen können, was in dem aufgeschütteten Sand lag, wären sie mit Sicherheit geblieben und hätten womöglich ihr Handy gezückt, um alles zu dokumentieren und in den sozialen Netzwerken zu präsentieren.

Caro wusste, dass ihr jetzt nicht mehr viel Zeit blieb. Wenn der Kommissar sie erst mal entdeckt hatte, würde er sie sofort von hier wegschicken, darüber war sie sich im Klaren. Einer der Polizisten begleitete gerade Hinnerk und Jan hinter das Absperrband und winkte nun auch ihr auffordernd zu. Caro nickte und signalisierte ihm, dass sie kommen würde. Dann warf sie einen letzten Blick auf den grauenvollen Fund.

Ein Fuß ragte aus dem Sand, abgetrennt vom Rest des Körpers, der etwas weiter dahinter lag. Dass es ein Mann war, hatte Caro sofort erkennen können, obwohl die Leiche in einem sichtbar schlechten Zustand war. Offenbar hatte Helge sie mit dem Pflug einmal voll erwischt und nicht nur Gliedmaßen abgetrennt, sondern in großen Teilen auch die Kleidung von dem Leib gerissen. Trotzdem glaubte Caro, am Oberkörper eine Stichverletzung zu erkennen, die nicht von dem landwirtschaftlichen Gerät herrührte.

Sie atmete tief durch. Auch wenn sie sich beim besten Willen für kein Weichei hielt, so einen Anblick war sie nun wahrlich nicht gewohnt. Sie war nur froh, dass der Kopf der Leiche noch vom Sand bedeckt war.

Stirnrunzelnd hielt sie inne und betrachtete einen weiteren möglichen Stich an der linken Seite des Rumpfes und einen in der Mitte des Körpers. War der Mann erstochen worden?

»Frau Falk!« Die Stimme von Bachmann riss sie aus ihren Gedanken.

»Da sind Sie ja endlich!« Caro sprang auf und reichte dem Kommissar die Hand. »Moin. Sie sehen gut aus.« Das fand sie wirklich. Er erinnerte sie immer an eine etwas zu klein geratene Version von Brad Pitt.

Bachmann ignorierte ihre Bemerkung. »War ja klar, dass Sie hier sind.« Er verzog keine Miene. »Aber wenn Sie nicht in zwei Sekunden verschwunden sind, dann kriegen Sie ein echtes Problem.«

»Mit Ihnen? Aber Herr Kommissar! Dafür kennen wir uns doch nun wirklich schon zu gut!«

»Und deshalb sollten Sie auch wissen, dass ich bei diesem Thema keinen Spaß verstehe. Mitkommen.« Bachmann packte sie am Arm, und auch wenn er einen guten Kopf kleiner war als sie, gab es keinen Zweifel an seiner Durchsetzungskraft.

»Ich komm ja schon, ich komm ja schon.« Caro folgte ihm hinter das Absperrband.

»Die Kollegen sagten, dass Sie als Erste an der Fundstelle waren?«

»Na ja, irgendwie wir alle. Helge hat die Leiche ausgepflügt«, antwortete Caro. »Das hat er aber gar nicht gemerkt. Irgendwann haben dann die Möwen dafür gesorgt, dass die Sache nicht mehr zu übersehen war.«

Jan trat zu ihnen. »Moin. Helge Stein hat den Pflug gefahren. Er sitzt da hinten auf der Bank. Alter Kumpel von mir. Steht ganz schön unter Schock.«

»Danke für die Info. Ich werde nachher mit ihm sprechen.« Bachmann sah sich um. »Erst mal muss ich mich mit meinen Kollegen unterhalten, ich komme dann gleich auch zu Ihnen.«

»Keine Sorge, ich gehe nicht weg«, meinte Caro.

»Das habe ich mir fast gedacht.«

Im nächsten Augenblick zuckte Caro erschrocken zusammen, als einer der Polizisten mehrmals laut in die Hände klatschte.

»Jetzt verschwindet schon, ihr Mistviecher!«, rief er genervt und warf Bachmann dann einen entschuldigenden Blick zu. »Sorry, wir versuchen echt alles, um den Fundort so gut wie möglich abzusichern. Ist leider nicht ganz einfach, die Viecher sind hartnäckig.« Er wedelte hektisch mit den Armen, um die Möwen von der Fundstelle fernzuhalten, und rief dabei immer wieder laut »hopp, hopp!«.

»Ich befürchte, die haben sich auch schon was geholt«, meinte die Polizistin. »Wir haben natürlich noch keine Übersicht, aber der Körper ist … na ja, ein gefundenes Fressen für die Möwen.«

»Haben Sie bereits alles dokumentiert?«, fragte Bachmann.

»Ja. Aber die Spurensicherung wird sich das sicherlich noch genauer anschauen müssen.«

»Davon gehe ich aus«, sagte Bachmann. »Ich verschaffe mir einen Überblick, und dann können wir hier hoffentlich schnellstmöglich aufräumen. Nach dem Sturm ist es schnell wieder heiß geworden, da sollten wir uns ranhalten.«

»Helge muss mit dem Pflug mindestens einmal komplett drübergefahren sein«, überlegte Caro laut. »Vielleicht auch öfter. Und die Pflughaken sind natürlich ganz schön spitz.«

Bachmann nickte. »So ein Pflug hat eine enorme Kraft.«

»Denke ich mir. So wie es aussieht, ist der Verwesungsprozess auch schon relativ weit fortgeschritten. Der ist vermutlich schon eine ganze Weile tot.«

Kommissar Bachmann unterdrückte ein Seufzen. »Arbeiten Sie jetzt für die Rechtsmedizin?«

»Oder er lag längere Zeit an der Luft«, ignorierte Caro seine Bemerkung. »Halte ich aber bei der Auffindesituation für eher unwahrscheinlich.«

»Frau Falk, vielleicht gehen Sie doch nach Hause, und ich melde mich einfach telefonisch noch mal bei Ihnen.«

»Ich schätze, der Körper war bestimmt einen Meter unter den Deelenplatten vergraben«, fuhr Caro fort.

»Würde ich auch vermuten«, mischte sich der Polizist nun ein, der erneut versuchte, eine Möwe zu verjagen. »Beim Sonnenbaden ist der jedenfalls nicht gestorben!« Er lachte leise auf, und Bachmann warf ihm einen strafenden Blick zu, worauf er sofort wieder ernst wurde. »Sorry, sollte jetzt nicht despektierlich klingen«, murmelte er schnell. »Tut mir leid.«

Typische Übersprunghandlung, dachte Caro und schenkte dem zerknirschten Polizisten einen freundlichen Blick. Ihm war die unbedachte Bemerkung sichtlich unangenehm. Mit hochrotem Kopf stand er da und knetete seine Hände.

Bachmann verzog kurz das Gesicht, dann sah er Caro auffordernd an. »Auf Wiedersehen.«

»Was?«

»Ich habe zu tun, wie Sie sich denken können.«

»Und dabei störe ich?«

»Ja.«

»Na schön. Bis später, Herr Bachmann!«

Während der Kommissar sich dem Leichenfund zuwandte, ging Caro zu Jan, der einen Meter entfernt hinter dem Absperrband wartete. Hinnerk saß neben ihm im Sand und war trotz der Hitze immer noch ganz schön bleich um die Nase.

»Schreckliche Sache«, murmelte ihr Schwiegervater mitgenommen.

»Wir bringen dich jetzt nach Hause, Hinnerk«, sagte Caro mitfühlend. »Du musst hier nun wirklich nicht die ganze Zeit sitzen und dir das angucken.«

»Und wenn ich ihn kenne? Ich kenne doch fast jeden hier.« Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Das ist alles so grauenvoll. Wer macht denn so was?«

»Das würde ich auch gerne wissen«, meinte Caro und hoffte, dass sie nicht zu neugierig geklungen hatte.

Jan warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Ich auch«, sagte er leise.

Sie lächelte kurz und nickte, was Hinnerk nicht verborgen blieb.

»Ihr habt also wieder einen neuen Fall«, meinte er seufzend.

Caro zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, es kann nicht schaden, sich das alles mal etwas genauer anzuschauen.«

»Ich hoffe, es schadet euch nicht.«

»Wieso sollte es?«

»Wer zu so was fähig ist, dem sollte man besser nicht in die Quere kommen«, meinte Hinnerk ernst.

»Wir passen schon auf«, versprach Caro, die das ungute Gefühl überkam, dass ihr Schwiegervater mit seiner Vermutung recht haben könnte.

3

Während die Bilder vor seinem inneren Auge vorbeizogen, glaubte er sogar, wieder ihren Duft wahrzunehmen. So wie damals, als der Raum zuvor noch erfüllt gewesen war vom Geruch, den das vor Stunden gekochte Mittagessen hinterlassen hatte, und vom Alkohol, den sie beide getrunken hatten. Dann hatte es plötzlich nur noch diese Mischung aus Rosen und Zimt gegeben. Er hatte ihr diesen Duft vor vielen Jahren einmal geschenkt, und seitdem hatte sie nie wieder ein anderes Parfüm getragen.

Jetzt war er wieder an diesem Ort, sah sie am Boden liegen, den Kopf merkwürdig verdreht, die Augen leer und tot.

Was hatte er getan?

Blind vor Wut hatte er ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen, als wäre sie der Kerl, mit dem sie ihn betrogen hatte. Sie war ins Taumeln geraten und mit dem Kopf auf den Steinboden geknallt. Und jetzt lag sie einfach so da.

Wie konnte das nur passieren?

Sie waren bei den Nachbarn gewesen, der Alte hatte Geburtstag. Ständig war die Frau mit der Schnapsflasche herumgegangen und hatte jedem Gast einen Doppelkorn nach dem anderen aufgezwängt. Obwohl sie beide keine großen Trinker waren, hatten sie sich von der Gastgeberin überreden lassen und immer mal wieder einen mitgetrunken. Nicht wahnsinnig viel, aber genug, um sich in die Haare zu kriegen. Wie so oft in letzter Zeit.

Sie hatte geflirtet, wie immer. Kein Mann konnte ihr widerstehen, und das wusste sie genau. Sie war so unglaublich schön. Er hatte ihr irgendwann zugeraunt, dass er auch noch da sei und dass ihn so ein Verhalten verletze. Da hatte sie ihn ausgelacht und gesagt, dass er das ja nicht mehr lange ertragen müsse.

Wären sie doch nur nüchtern geblieben.

Als sie wieder zu Hause waren, hatte er sie gefragt, was sie damit meinte. Und sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn verlassen würde. Sie habe sich in einen Urlauber verliebt, der bereits wieder abgereist sei und irgendwo auf dem Festland auf sie wartete. Er erinnerte sich noch, dass er in Tränen ausgebrochen war und sie ihn erneut ausgelacht hatte. Vielleicht, weil sie so betrunken war, vielleicht aber auch, weil sie es so meinte.

Da hatte er die Nerven verloren.

Nach dem Schlag war sie zu Boden gegangen, und er hatte sich auf dem Kaminsims abstützen müssen und geheult. Er hatte damit gerechnet, dass sie wieder aufstehen und ihn erneut auslachen würde, aber es war alles still geblieben. Irgendwann hatte er aufgeschaut, hatte sein verheultes Gesicht in dem Spiegel gesehen, der über dem Kamin hing, hatte sie gesehen. Sie musste sich das Genick gebrochen haben, als sie zu Boden gestürzt war. Oder sein Schlag war so heftig gewesen, dass er sie umgebracht hatte.

Er wusste es nicht. Und es war auch egal.

Jetzt lag sie tot vor ihm.

Er spürte, wie seine Unterlippe zitterte, immer stärker, er konnte sie nicht mehr kontrollieren. Dann gab er einen fast tierischen Laut von sich und schlang seine Arme um ihren reglosen Körper, erfüllt von dem Schmerz, den nur er zu verantworten hatte. Er drückte sie an sich, küsste sie und roch an ihrem Hals, sog die Mischung aus Rosen und Zimt tief in sich ein.

»Warum konntest du nicht einfach glücklich sein?«, schluchzte er, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. »Warum musstest du mir das antun?«

Er vergrub sein Gesicht in der Kuhle ihres Halses und weinte wie ein kleines Kind, unendliche Minuten lang. Erst als er spürte, dass ihre Haut kälter wurde, ließ er sie los.

Was hatte er nur getan!

4

Stöhnend ließ Hinnerk sich in seinen Sessel fallen. Caro nahm seine Füße und legte sie auf den Hocker, während Jan ihm ein Kissen in den Rücken stopfte.

»Ihr tut ja so, als wäre ich ein alter Mann«, schimpfte Hinnerk, der sich merkbar um eine feste Stimme bemühte.

»Du bist ein alter Seebär«, sagte Caro liebevoll. »So ist es nun mal. Und du hast ganz schön geackert.«

»Kein Problem für mich«, sagte Hinnerk ächzend.

»Nein. Aber der Tag war anstrengend, nicht nur für dich.«

»Körperlich und auch mental«, fügte Jan hinzu. »Erst stundenlang in der Sonne Holzdeelen aufsammeln und sich dann noch eine zerstückelte Leiche anschauen müssen – ehrlich, Hinnerk, da darf man ruhig mal kaputt sein. Geht mir auch nicht anders.«

Hinnerk seufzte, und Caro hoffte, dass er ihre Besorgnis nicht allzu sehr spürte. Er hasste es, wenn man sich Sorgen um ihn machte. Normalerweise tat sie das auch nicht, aber ein Tag wie heute hinterließ bei einem Mann in seinem Alter nun mal Spuren.

Caro kannte Hinnerk eigentlich nur stark, er war praktisch unermüdlich auf den Beinen, stand morgens als Erster auf und machte Frühstück, wenn alle anderen noch schliefen. Auch sonst packte er überall mit an, war nach dem Sturm sogar aufs Dach gestiegen und hatte die beiden Ziegel ausgetauscht – und das mit Ende siebzig. Obwohl sie fast vierzig Jahre jünger war als er, würde sie sich das nicht zutrauen. Auch wenn Caro im Garten das Gröbste bereits weggeräumt hatte, konnte sie sich sicher sein, dass Hinnerk sich noch einmal persönlich um seine Pflanzen kümmern würde. Immerhin waren sie sein Ein und Alles, und er verbrachte zahllose Stunden am Tag mit Gartenarbeit. Hinnerk war zäh, keine Frage, zäher als jeder, den Caro kannte.

Aber wie er jetzt so dasaß, in seinem Ohrensessel mit halb geschlossenen Augen, sichtlich abgekämpft und kaputt, wurde ihr klar, dass diese Stärke nicht ewig währen würde, und die Vorstellung, was dann kommen könnte, machte ihr Angst.

»Ich hole uns was zu trinken. Wahrscheinlich sind wir alle dehydriert.«

Caro ging in die Küche, holte Sanddornsaft und Mineralwasser und mischte jedem eine große Schorle. Hinnerk und Jan kippten das Getränk in sich hinein, als stünden sie kurz vorm Verdursten.

Für eine Weile saßen sie schweigend und durstig trinkend nebeneinander. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen und seine Akkus wieder aufzuladen.

Hinnerk fand als Erster seine Sprache wieder. »Der Tote muss während der Bauarbeiten unter den Deelenplatten vergraben worden sein. Anders geht es eigentlich nicht, das hätte sonst doch jemand gemerkt.«

»Stimmt. Als der Weg fertig war, wäre es garantiert aufgefallen, wenn jemand wieder ein Stück aufgerissen und die Deelen neu verlegt hätte«, sagte Jan.

»Um den Zeitpunkt einigermaßen eingrenzen zu können, müssten wir wissen, wann welcher Abschnitt genau fertiggestellt wurde«, überlegte Caro laut.

»Weißt du noch, wann die Bauarbeiten losgegangen sind?« Jan sah Hinnerk fragend an. »Und wann alles fertig war?«

»Es gab ja eine Eröffnungsfeier, da war ich allerdings nicht. Und das genaue Datum hab ich jetzt nicht im Kopf, aber das kann ich rausfinden«, antwortete Hinnerk. »Insgesamt war es ein ganz schön langwieriges Projekt. Schon im Vorfeld gab es ein ziemliches Gerangel um den Bau, wodurch die Arbeiten immer wieder verzögert wurden. Im Prinzip hat es schon Jahre gedauert, den Weg nur zu planen.«

»Warum war das so kompliziert?« Caro schenkte sich noch etwas Wasser ein. »Ich meine, die Idee, die Lücke an der Ronden Plate mit so einem Weg zu schließen, ist doch super!« Sie war schon bei ihrem ersten Besuch auf Borkum begeistert gewesen von der Ronden Plate, der »runden Sandbank«, die zwischen Greune Stee und dem Hafengebiet lag. Dieses große Wattgebiet mit seinen Salzwiesen und der außergewöhnlichen Tier- und Pflanzenwelt hatte Caro von Anfang an fasziniert. »So eine Landschaft gibt es doch kein zweites Mal. Da ist es doch wirklich sinnvoll, die mit einem Weg zu erschließen. Und das fanden doch auch alle gut, oder nicht?«

»Doch, natürlich. Die Wasserkanten und die ganzen Naturräume drum herum kann man so ja viel besser kennenlernen«, sagte Hinnerk. Er nahm die Beine vom Hocker und setzte sich auf, schien wieder neue Energie getankt zu haben. »Vorher gab es in der Greune Stee ständig neue Trampelpfade, weil der direkte Weg zur Strandpromenade fehlte. Da blieb den Leuten ja gar nichts anderes übrig, als mitten durch das Naturschutzgebiet zu laufen. Das war für die brütenden Vögel doch unerträglich.«

Jan mixte sich eine weitere Sanddornschorle. »Jetzt kann man zu Fuß oder mit dem Rad einmal um die Insel rum – wenn der Weg wieder repariert ist.«

»Ja, das ist auf jeden Fall ein enormer Fortschritt«, fand Hinnerk. »Ich weiß nicht, wie viele Gelege vom Strandbrüter vorher unbewusst zertreten wurden.«

Caro musste schmunzeln. Sie wusste, wie sehr ihrem Schwiegervater die Vogelwelt der Insel am Herzen lag. Und nicht nur die. Hinnerk war ein großer Naturfreund.

»Und warum hat es dann so lange gedauert?«, fragte Caro erneut. »Ein Projekt, das alle wollen und sinnvoll finden, das für Urlaubsgäste und Einheimische eine Bereicherung ist – was sollte es dabei für Probleme geben?«

»Das fing schon mit dem ganzen Bürokratiekram an. So eine Baugenehmigung ist nicht selbstverständlich«, erklärte ihr Schwiegervater. »Der Bereich gehört zur Ruhezone des Nationalparks, und da sind eigentlich grundsätzlich keine Baumaßnahmen erlaubt.«

»Das führte natürlich zu den ersten Verzögerungen«, bestätigte Jan nickend.

»Als es dann genehmigt wurde, gab es zum Glück auch Fördergelder«, fuhr Hinnerk fort. »Und damit auch jede Menge Interessenten, die sich auf die Ausschreibungen beworben haben. Dadurch ergaben sich weitere Verzögerungen.«

»Verstehe«, sagte Caro. »Weißt du, wie viele Firmen sich beworben haben?«

»Nein, aber es gab einen ganz schönen Konkurrenzkampf«, antwortete Hinnerk. »Das hat man durchaus mitbekommen.«

»Wenn man so was auf Borkum nicht mitbekommt, muss man schon taub sein«, murmelte Jan.

»Eben. Ich weiß, dass Felder-Bau am Ende den Zuschlag bekommen hat«, verriet Hinnerk.

»Aber gab es dann nicht trotzdem noch irgendwelche Streitereien?«, glaubte Jan sich zu erinnern. »Ich habe das alles nicht so genau verfolgt, aber ich meine, dass es ständig Theater wegen des Loopdeelenweges gab.«

Hinnerk nickte. »Irgendwas war dauernd. Aber so intensiv habe ich mich damit auch nicht beschäftigt. Probleme beim Bau zählen jetzt nicht zu meinen Lieblingsthemen.«

»Mit den Leuten von Felder-Bau sollten wir auf jeden Fall sprechen«, sagte Caro. »Denen müsste es doch aufgefallen sein, wenn bei den Bauarbeiten irgendwas nicht nach Plan lief.«

»Du meinst, wenn jemand dort eine Leiche entsorgen wollte«, sagte Jan.

»Nun, die Tat selbst wird wohl niemand beobachtet haben, so etwas meldet man ja«, fuhr Caro fort, ergänzte dann aber: »Es sei denn, derjenige hatte einen Grund, nichts zu sagen. Was, wenn der Täter einer der Handwerker war?«

Jan sah sie stirnrunzelnd an. »Du hast schon einen Verdächtigen?«

»Natürlich nicht. Aber für die Mitarbeiter wäre es am einfachsten, nach Feierabend etwas unter den Deelenplatten zu begraben, ohne dass jemand davon was mitbekommt. Sie kennen die Handgriffe, wissen, wie sich die Deelen zusammensetzen, denen würde das doch flott von der Hand gehen.«

»Vielleicht ist der Tote auch selbst ein Mitarbeiter von Felder-Bau?« Hinnerk lehnte sich wieder zurück und legte seine Füße hoch.

»Tja, um das festzustellen, müsste die Leiche identifiziert werden.« Jan trank sein Glas aus.

»In dem Zustand, in dem die war, dürfte das wohl ein Weilchen dauern.« Hinnerk schüttelte sich bei dem Gedanken. »Ich habe so was in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«

»Ich auch nicht.« Jan schien ebenfalls ein Schauer den Rücken hinunterzulaufen. »Könnte Wochen dauern, bis die wissen, wer das ist.«

»Ja, wenn der Kopf genauso zugerichtet ist wie der Körper. Aber darauf werden wir nicht warten«, sagte Caro bestimmt. »Die Sache wird doch wie ein Lauffeuer über die Insel gehen. Spätestens morgen weiß jeder darüber Bescheid. Und wenn der Mörder noch auf Borkum ist …«

»… wäre er spätestens dann gewarnt«, brachte Jan ihren Satz zu Ende.

»Und würde womöglich verschwinden.« Hinnerk nickte zustimmend.

»Ganz genau«, sagte Caro. »Lass uns die Sache morgen in Angriff nehmen. Vielleicht können wir die Identität des Mannes auch schneller klären als die Rechtsmedizin in Leer. Und wenn wir wissen, wer der Tote ist, sind wir seinem Mörder schon ein gewaltiges Stückchen nähergekommen.«

5

Am nächsten Morgen war Caro schon früh wach. Vor ihrem Schlafzimmerfenster, direkt unter den Dachbalken, lebte eine Schwalbenfamilie, die mit Sonnenaufgang zu zwitschern begann. Eigentlich eine schöne Art, geweckt zu werden, wie Caro fand, nur manchmal eben deutlich zu früh.

Für eine ganze Weile lag sie noch in ihrem Bett und lauschte in den Morgen. Als sie schließlich aufstand, war es schon fast sieben. Um zehn Uhr musste sie am Flughafen sein und den Kiosk öffnen. Die Zeit bis dahin konnte sie gut nutzen, um vorher bei Felder-Bau vorbeizufahren.

Sie schickte Jan eine Nachricht und verabredete sich mit ihm in einer Stunde vor dem Firmengebäude von Felder-Bau, ging ins Bad und machte sich fertig. Durch das Badezimmerfenster sah sie, dass Hinnerk bereits im Garten arbeitete. Das machte er im Hochsommer immer so, wenn es ab dem späten Vormittag in der Regel zu heiß für Gartenarbeit wurde. Gestern Abend war er früh zu Bett gegangen und hatte sich offensichtlich wieder gut erholt, jedenfalls wirkte er jetzt fit und dynamisch wie eh und je, während er die abgebrochenen Zweige von der Rasenfläche und aus den Beeten sammelte, um sie auf der Terrasse zu stapeln.

Caro lief den Flur entlang zu Justus’ Zimmer, der diese Woche noch zur Schule musste. Auf Borkum hatten die Kinder nur vier statt sechs Wochen Sommerferien, dafür gab es aber ebenfalls vier Wochen Herbstferien. Am Anfang hatte Caro diese Regelung sehr ungewöhnlich gefunden, aber inzwischen hatte sie längst eingesehen, dass es die beste Lösung für alle war. Die Mehrzahl der Insulaner lebte vom Tourismus und konnte jetzt zur Hauptsaison sowieso nicht verreisen. So ging es Caro auch. Wenn in einer Jahreszeit am Flughafen Hochbetrieb war, dann jetzt.

Zum Glück störte das Justus nicht. Er liebte den Sommer auf der Insel. All seine Freunde waren hier, keiner der Erwachsenen hatte Zeit, sich um sie zu kümmern, und somit fühlten sich die Teenager so frei, wie man sich mit fast vierzehn Jahren nur fühlen konnte.

Sanft schüttelte sie ihn an der Schulter. »Aufwachen, Justus, es wird Zeit!« Doch ihr Sohn war nicht wach zu kriegen.

Lächelnd strich sie ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Seine Haare wurden immer dunkler, von dem kindlichen Strohblond war nicht viel übrig geblieben.

Justus war zwar in der Pubertät angekommen, aber wenn er schlief, sah sie in ihm immer noch ihren kleinen Jungen, auch wenn er bald größer war als sie selbst. Allerdings war es inzwischen praktisch unmöglich, ihn morgens aus dem Bett zu kriegen.

Erneut rüttelte sie an seiner Schulter, diesmal so energisch und lange, dass Justus wenigstens ein Auge kurz öffnete.

»Aufwachen! Du musst dich beeilen, Schatz. Sonst kommst du noch zu spät.«

»Na und«, murmelte Justus und rollte sich noch mal auf die andere Seite. »Diese Woche passiert doch sowieso nichts mehr.«

»Egal. Zur Schule musst du trotzdem!« Schwungvoll zog Caro ihm die Bettdecke weg, ignorierte seinen lautstarken Protest und nahm sie mit aus dem Zimmer.

»Das ist total gemein«, rief Justus. »Du bist total gemein!«

»Ich weiß!«, rief Caro fröhlich zurück. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie ihre Mutter früher zu ähnlichen Methoden gegriffen und wie sehr sie das selbst gehasst hatte.

Als sie sich unten einen Kaffee einschenkte, hörte sie, wie oben die Badtür zufiel. Immerhin war er jetzt aufgestanden.

»Wie machst du das eigentlich, wenn du mit Papa im Urlaub bist?«, fragte sie ihn, als er gut zwanzig Minuten später nach unten kam. Am Ende der Sommerferien fuhr Justus noch eine Woche mit Nils nach Mallorca.

»Papa schläft genauso lange wie ich«, murmelte Justus müde. »Manchmal sogar noch länger.«

»Warum wundert mich das nicht …«, Caro war froh, dass das nicht mehr ihre Angelegenheit war.

Nachdem sie ihren verschlafenen Sohn aus der Haustür geschoben und noch einen kurzen Schnack mit Hinnerk gehalten hatte, radelte Caro über die Ostfriesenstraße zur Reedestraße, wo Felder-Bau seinen Sitz hatte. Jan schloss gerade sein Fahrrad an einen Laternenpfahl, als sie neben ihm bremste.

»Moin! Tun dir auch die Knochen so weh?« Jan streckte seinen Rücken durch. »Ich glaube, ich werde langsam alt.«

»Ich bitte dich!« Caro stellte ihr Rad neben seines. »Der alte Mann bei uns zu Hause stand heute Morgen schon um sieben im Garten!«

»Ich frag mich, was der nimmt«, stöhnte Jan. »Erinnerst du dich an diese Batterie-Werbung von früher? Diese Stoffhäschen, die permanent trommelten?«

Caro grinste.