Mordseeluft - Emmi Johannsen - E-Book
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Mordseeluft E-Book

Emmi Johannsen

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Beschreibung

Eine perfekt gegarte Leiche in der Strandsauna? Nicht gerade das, was Caro Falk sich von ihrer Kur auf der Insel Borkum erwartet hat. Eigentlich wollte die schlagfertige Kölnerin vor allem eins: möglichst großen Abstand gewinnen zu ihrem ebenso reichen wie untreuen Gatten. Trotzdem ist sie empört, als die örtliche Polizei den Fall einfach zu den Akten legen will. Notgedrungen beginnt Caro selbst zu ermitteln und erfährt dabei unerwartet Hilfe von Jan Akkermann, dem Türsteher von Borkums einziger Disko. Zwischen Kurklinik und Watt kommen die beiden pikanten Geheimnissen auf die Spur - und schon bald müssen Polizei und Mörder sich verdammt warm anziehen ...

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Seitenzahl: 392

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum1234567891011Epilog

Über dieses Buch

Eine perfekt gegarte Leiche in der Strandsauna? Nicht gerade das, was Caro Falk sich von ihrer Kur auf der Insel Borkum erwartet hat. Wattspaziergänge, Robbengucken und jede Menge erholsame Langeweile waren ihr eigentlicher Plan. Trotzdem ist sie empört, als die örtliche Polizei den Fall einfach zu den Akten legen will. Zusammen mit Türsteher Jan und Schwiegervater Hinnerk beginnt Caro notgedrungen selbst zu ermitteln. Und schon bald müssen Polizei und Mörder sich verdammt warm anziehen …

Über die Autorin

Emmi Johannsen ist das Pseudonym von Christine Drews. Mit ihren Romanen, ihren Thriller und Krimis konnte sie bereits etliche Leser im In- und Ausland begeistern, auch als Drehbuchautorin ist sie erfolgreich. Doch mit Mordseeluft erfüllt sie sich einen ganz besonderen Traum: Inspiriert von ihrer liebsten Urlaubsinsel schreibt sie nun als Emmi Johannsen eine humorvolle Krimireihe um Caro Falk und Jan Ackermann, die gemeinsam auf Borkum Verbrecher jagen.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Volker Jarck, Köln

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von

Illustrationen von © shutterstock: Resul Muslu | miroslavmisiura | Nerthuz | Doris Oberfrank-List | fpfoto | MagicPitzy | Songchai W

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8605-9

www.luebbe.de

www.lesejury.de

1

Fünfzehn Grad. Im Juni! Caro Falk zog sich seufzend die Kapuze ihrer dunkelblauen Regenjacke über den Kopf. Nicht, dass sie mit mallorquinischen Temperaturen gerechnet hätte, aber die letzten Jahre war es an der Nordsee vergleichsweise brüllend heiß gewesen, warum musste das berüchtigte Schietwetter ausgerechnet jetzt wieder zuschlagen, wenn sie nach Borkum fuhr? Justus schien der kalte Wind, der über das Deck der Fähre wehte, nichts auszumachen. Strahlend stand ihr neunjähriger Sohn an der Reling und warf mit Schmackes Brotstückchen in den Himmel, die er vorher zu festen Kügelchen geformt hatte und die von den Möwen mehr oder weniger geschickt mit dem gebogenen Schnabel aufgefangen wurden. Es sah so aus, als wollte Justus die Seevögel abwerfen, was diese aber nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. Hauptsache fressen. Was, war egal. Nils hatte ihr mal erzählt, dass er als Jugendlicher den Möwen glühende Zigarettenkippen zugeworfen hatte, und selbst diese wurden in der Luft gefangen – und verbrannten den armen gefräßigen Viechern den Schnabel. Warum hatten ihr solche Geschichten eigentlich nicht schon früher zu denken gegeben? Nils war einfach schon immer ein Arsch gewesen. Zu Möwen und Menschen.

Caro nahm Aila auf den Arm und suchte sich eine windgeschützte Ecke auf dem Deck. Sie setzte sich neben eine Frau, die vielleicht in ihrem Alter war, nickte ihr freundlich zu und ließ Aila auf den Boden. Entspannt legte sich die finnische Lapphündin auf das kalte Metall. Für sie waren die Temperaturen genau richtig.

Als Nils ihr letztes Jahr die Hündin geschenkt hatte, war sie aus dem Häuschen gewesen vor Freude, endlich ein Haustier zu haben, das sie sich als Kind schon immer gewünscht hatte und nie haben durfte. Und für Justus war die Hündin ein Segen. Wenn schon kein Geschwisterchen, dann wenigstens eine Fellnase, hatte Nils gesagt, als er ihm das kleine Bündel in den Arm gedrückt hatte. Das Welpenfell war genauso hell wie Justus’ Blondschopf, der sofort zwischen den Ohren des Tieres verschwand. Von da an war Aila der Mittelpunkt der Familie gewesen, wurde mit Leckerlis und Hundespielzeug nur so überhäuft, obwohl sie sich gerade für Letzteres kaum interessierte.

Hundespielzeug.

Caro würde niemals diesen Samstag Ende Januar vergessen, als Justus bei einem Freund übernachtete und sie mit ihren Berliner Freundinnen ausgehen wollte. Aber dann bekam Lisa Migräne und Mila einen Anruf von der Babysitterin, dass ihre Tochter exorzistenmäßig kotzen würde, und der Abend war gelaufen. Anstatt spät in der Nacht kam Caro schon um kurz nach neun nach Hause, und als sie die Tür zu dem viel zu großen Penthouse aufschloss, hörte sie Nils’ Stimme aus dem Arbeitszimmer.

»Willst du nun dein neues Spielzeug sehen? Soll ich es dir zeigen?«

Kopfschüttelnd hatte sie ihre Jacke an die teure Designergarderobe gehängt, die an ein riesiges Mikado-Spiel erinnerte, und schmunzelnd daran gedacht, dass ihr Mann es einfach nicht lassen konnte, die kleine Hündin von Kopf bis Fuß zu verwöhnen. Er saß vermutlich an seinem riesigen Schreibtisch, Aila stand mit auf die Seite gelegtem Kopf davor und schaute ihn mit diesem Hundeblick an, der alle dahinschmelzen ließ. Und wahrscheinlich hielt Nils gerade einen nagelneuen Beißknochen oder eine Gummikatze in der Hand, auf der Aila wieder für fünf Minuten herumkauen würde, um sie dann in der Ecke liegen zu lassen.

»Na, wie gefällt er dir? Der kann manchmal ganz schön wild sein. Kriegst du ihn in den Griff?«

Was hatte er denn da gekauft? Doch nicht noch ein Tier? Irgendwas an Nils’ Stimme ließ sie aufmerken. Wieso sprach er so komisch mit der Hündin?

»Vielleicht musst du ein bisschen strenger mit ihm sein …«

In dem Moment hörte sie ein Jaulen und Winseln, das nur aus der Küche kommen konnte. War das Aila? Na, wer sollte es sonst sein? Wohl kaum der Kühlschrank. Aber warum jaulte sie in der Küche, wenn sie doch gerade im Arbeitszimmer war?

Irritiert ging Caro den Flur hinunter. Als sie die Küchentür öffnete, sprang Aila sofort schwanzwedelnd an ihr hoch, und Caro streichelte der Hündin über den Kopf.

»Wenn du hier bist, meine Süße«, sagte sie und wunderte sich über den ungewohnten Tonfall in ihrer eigenen Stimme, »wer bekommt denn dann im Arbeitszimmer sein neues Spielzeug?« Es kam ihr so vor, als würde Aila sie fast mitleidig anschauen.

Wie betäubt öffnete Caro die Tür zum Arbeitszimmer und sah Nils, wie er nackt vor seinem Laptop stand. Nicht vollständig nackt, ein absurder Stringtanga bedeckte seinen Unterleib, wobei sein Penis in einer Art Elefantenrüssel steckte, der überraschend schnell nach unten fiel, als Caro in den Raum kam. Oder war es eine Kobra? Sie wusste es nicht, bei ihr hatte er diese Art von Reizwäsche zum Glück noch nie getragen. Sie starrte auf den Bildschirm, der von zwei überdimensionalen Brüsten ausgefüllt wurde. Das war doch mindestens Körbchengröße H! Bekam man davon nicht Rückenprobleme? Caro hatte das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können.

Dann entfernte sich die Besitzerin dieser künstlichen Riesenballons von der Kamera, und bevor Nils den Laptop hektisch zusammenklappen konnte, sah sie noch eine Frau, die in einer Art Zirkusdirektorenuniform steckte, wobei der Stoff an den Brüsten und zwischen den Beinen ausgespart worden war.

Ja, ihr Noch-Ehemann war wirklich das Allerletzte.

Caro nahm einen tiefen Atemzug. Es war erstaunlich, wie diese frische Nordseeluft den Kopf freipustete. Sie zog sich die Kapuze herunter und hielt ihr Gesicht in die Sonne, die endlich hinter den Wolken hervorkam. Justus fütterte immer noch die Möwen und wirkte dabei so unbeschwert, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. Im Moment hatte sie den Eindruck, dass er die Scheidung seiner Eltern einigermaßen unbeschadet überstehen könnte. Wahrscheinlich eine Illusion. Auf irgendeine Weise würde es ihn prägen. Hoffentlich würde Justus die Kur guttun. Vielleicht war es auch für ihn eine Möglichkeit, etwas Abstand zu den Ereignissen der letzten Monate zu gewinnen, um alles besser zu verarbeiten und nicht nur zu verdrängen, wie er es jetzt manchmal zu machen schien.

Lisa und Mila hatten sie zu der Mutter-Kind-Kur überredet. Nachdem Caro innerhalb weniger Tage herausgefunden hatte, wie groß das Ausmaß von Nils’ Betrug wirklich war und dass er, anders als behauptet, seinen Schniedel nicht nur einmal vor die Kamera einer Prostituierten-Hotline gehalten hatte, war es zum Eklat gekommen. Er hatte sie praktisch von der ersten Minute ihrer Ehe an konsequent betrogen, teilweise mit mehreren Frauen gleichzeitig, mit Profis und Laien, sogar Justus’ Erzieherin aus der Kita damals war darunter gewesen. Caro hatte ihm natürlich eine Szene gemacht, hatte gezetert und geweint, und Nils’ einzige Reaktion war gewesen, ihr mit Rauswurf und Scheidung zu drohen. Ihm gehörte das Penthouse, ihm gehörten die Aktien, sie hatte nichts. Und außerdem hatte sie damals, hochschwanger und blind vor Liebe, diesen vermaledeiten Ehevertrag unterschrieben, als sie ihr Studium abgebrochen und Nils geheiratet hatte. Er hatte ziemlich hämisch gegrinst, als er sie an diese unglückliche Tatsache erinnerte.

Nach einem Moment des hilflosen Entsetzens war zum Glück die alte Caro wieder in ihr hochgekommen, die sie mit Beginn der Ehe irgendwie vergessen hatte und die sich so ein Verhalten niemals gefallen lassen würde. Wütend hatte sie die Versace-Jacke von der Garderobe gerissen und ihm ins Gesicht geschlagen, danach mit der Chanel-Tasche auf ihn eingeprügelt, die er ihr zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, und ihm noch mal ins Gesicht gebrüllt, was für ein Riesenarsch er war, um dann freiwillig die Wohnung zu verlassen. Die ganzen knappen Designerfummel hatte sie dagelassen, sie hatte sich eh nie darin wohlgefühlt, war sich immer verkleidet vorgekommen und hatte es fast unanständig gefunden, wie viel Geld Nils für so einen Blödsinn ausgegeben hatte. Warum hatte sie diesen Mist nur all die Jahre getragen? Wie ein Edel-Escort hatte sie manchmal ausgesehen. Es war befreiend, diesen ganzen Schrott loszuwerden, der sowieso höchstens mit eingezogenem Bauch gut aussah.

Weniger befreiend war allerdings, dass sie nun gar nichts mehr hatte, zumindest keine Wohnung und auch kein Geld. Dafür zum Glück aber gute Freunde. So war sie zunächst bei Lisa untergekommen, wo Justus erst einmal das Gästezimmer und sie die Couch im Wohnzimmer beziehen konnte. Von einer Sekunde auf die andere war sie von der Unternehmergattin zur arbeitslosen alleinerziehenden Mutter ohne abgeschlossene Ausbildung geworden. Mit fünfunddreißig stand sie vor den Trümmern ihres Lebens, wie ihre Mutter wenig feinfühlig anmerkte. Das musste man erst mal schaffen, in dem Alter fingen andere gerade an, sich in ihrem Leben einzurichten. Aber andere verliebten sich eben auch nicht in einen sexuell hyperaktiven Narzissten. Sie fragte sich immer noch, warum sie das nicht eher gemerkt hatte. Warum merkte die Ehefrau es als Letzte, wenn sie betrogen wurde? Warum traf dieses abgedroschene Klischee auch auf sie zu? Weil Klischees nichts anderes waren als ein Panini-Abziehbild des wahren Lebens. Nur ohne Glitzer.

Die Situation hatte sie fertiggemacht, sie konnte nicht mehr essen und schlafen, wurde immer dünner und fahriger, weinte manchmal sogar ohne erkennbaren Grund. Sie kannte sich selbst nicht wieder. Caro war nie der weinerliche Typ Frau gewesen, und sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals unter Appetitlosigkeit gelitten zu haben. Wenn sie Magen-Darm hatte, okay, dann bekam selbst sie nichts runter, aber sonst?

Und es wurde immer schlimmer. Sie fand keine bezahlbare Wohnung und war plötzlich eine der Hauptfiguren im Horrorfilm »Berliner Wohnungsmarkt«. Und einen Job brauchte sie auch, was nicht einfach war, wenn man nicht mehr als drei Semester Jura vorzuweisen hatte. Die Zeit zwischen Abi und Studium hatte sie als Kellnerin und im Kiosk ihrer Eltern verbracht, auch nichts, worauf sie aufbauen könnte. Man konnte es nicht schönreden, sie hatte die Kacke am Dampfen und das nicht zu knapp.

»Du brauchst eine Auszeit«, hatte Lisa zu ihr gesagt, nachdem Caro ihr wieder mal versichert hatte, wie sehr sie hoffte, endlich eine Wohnung zu finden und nicht mehr bei ihr zu campieren. »Und zwar ganz dringend.«

Dass sie für die Mutter-Kind-Kur nur noch einen Platz auf Borkum bekommen hatte, war Segen und Fluch zugleich. Einerseits war es toll, dass sie Hinnerk Falk wiedersehen konnte, ihren Schwiegervater, mit dem Nils seit Jahren verkracht war. Andererseits war es Nils’ Heimatinsel. Eine Güllewelle übelster Erinnerungen würde sie womöglich überrollen.

Die ordentliche Portion weißer Möwenkacke, die zielsicher auf ihrem Scheitel landete, riss Caro aus ihren Gedanken.

»Das kann doch nicht wahr sein …«, brachte sie noch hervor, bevor ihr die erstaunlich flüssige Ladung ins Gesicht zu tropfen drohte.

Sofort reichte ihr die Frau neben ihr ein Taschentuch.

»Passen Sie auf, dass Sie es nicht in die Augen bekommen«, meinte sie grinsend. »Das kann Ihnen alles wegätzen.«

Dankbar nahm Caro das Taschentuch und bemerkte dabei die Narben, die auf dem Handgelenk der Frau deutlich zu sehen waren. Es sah so aus, als hätte sie versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, und Caro bekam sofort Mitleid mit ihr. Die Frau schien ihre Blicke zu bemerken und zog schnell die Hand zurück.

»Danke«, sagte Caro und lächelte sie freundlich an. »Das ist ja eine Riesensauerei …«, fügte sie noch hinzu und begann, ihren Scheitel von der weißen Soße zu befreien. Die Frau lachte und versuchte, ihre dunklen Locken mit einem Haarband zu bändigen.

»Allerdings. Möwenfüttern kommt in Borkum übrigens einem Kapitalverbrechen gleich. Wenn Sie das am Strand machen, können Sie richtig Ärger kriegen.«

»Mit den Viechern?«

»Mit denen auch«, meinte die Frau schmunzelnd. »Aber nicht nur.«

»Waren Sie schon öfter auf Borkum?«, fragte Caro, der langsam der Scheitel brannte. Diese Möwenkacke ist wirklich aggressiv, dachte sie und rubbelte erneut mit dem Taschentuch über ihre dunkelblonden Haare, die sie zu einem ehemals kinnlangen Bob trug, der inzwischen viel zu lang war. Sie müsste dringend mal wieder zum Friseur. Diese Anna-Wintour-Gedächtnisfrisur funktionierte nur, wenn man sie jeden Morgen mit einer Rundbürste in Form brachte und eine 80er-Jahre Ladung Haarspray draufknallte. Und die Zeiten waren definitiv vorbei, Gott sei Dank.

»Ich lebe dort«, antwortete die Frau und reichte Caro ein weiteres Taschentuch. Als ihr Blick erneut auf die Narben fiel, sah Caro die Frau unwillkürlich vor sich, wie sie mit aufgeschnittenen Pulsadern am Strand saß, den Blick starr auf das tosende Meer gerichtet, während die Möwen lautstark über ihr kreisten … Fantasiebegabt hatten ihre Lehrer Caro früher immer genannt. Es brauchte nur den kleinsten Auslöser, und schon lief in ihrem Kopf ein ganzer Film ab.

Flatsch. Die nächste Ladung landete auf ihrer Schulter. Was war das hier? Die Neuauflage von »Die Vögel«? Oder drehte jemand eine Doku über diarrhöische Möwen? Das war doch nicht auszuhalten! Die Frau lachte und reichte ihr nun die ganze Packung Taschentücher.

»Können Sie gerne behalten.«

Caro stöhnte. »Danke. Sie sind meine Rettung.« Dann formte sie die Hände zu einem Trichter und versuchte, gegen den Wind anzubrüllen:

»Justus?! Hör auf damit! Keine Möwen mehr füttern, hörst du? Keine einzige mehr!«

Hinnerk Falk erwartete sie schon, als die MS Münsterland am Hafen von Borkum anlegte. Obwohl Justus seinen Großvater erst wenige Male gesehen hatte, fiel er dem Mann mit dem weißen Seemannsbart sofort um den Hals.

»Opa! Ich freu mich voll!«

»Ich mich auch, meen Jung, ich mich auch.« Dann drückte er Caro an sich und nickte ihr stumm, aber nicht unfreundlich zu. Hinnerk Falk war noch nie ein großer Redner gewesen.

»Schön, dich wiederzusehen«, sagte Caro. »Und danke, dass Aila bei dir bleiben darf.« Hunde waren in der Kurklinik leider verboten.

»Kein Problem. Ich kann aber keine langen Strecken mit ihr gehen. Meine Knie …«

Obwohl Hinnerk der drahtigste und schlankste Zweiundsiebzigjährige war, den Caro kannte, wollten seine Gelenke nicht mehr so, wie er es gerne hätte. Ein übler Knorpelschwund machte ihm seit Jahren zu schaffen.

»Ich mach einmal am Tag mit ihr einen ausgiebigen Strandspaziergang«, sagte Caro. »Versprochen.«

Hinnerk nickte und nahm Caro den Koffer ab. Die bunte Bimmelbahn, die alle ankommenden Gäste ins Zentrum von Borkum brachte, stand direkt am Anleger. Sie war wie ein Relikt aus einer anderen Zeit: Jeder Waggon war in einer anderen Farbe gestrichen, und im Inneren befanden sich helle Holzbänke, die an die dritte Klasse vor hundert Jahren erinnerten. Die Kinder, von denen nicht wenige auf dem Schiff gewesen waren, jauchzten vor Vergnügen und kletterten in die Waggons. Selbst ihre Eltern machten durchweg ein zufriedenes Gesicht, als sie die Bahn bestiegen. Die bunten Wagen schienen so klar und deutlich zu signalisieren, dass ab jetzt Ferien waren, dass sich keiner dieser Botschaft entziehen konnte.

»Du siehst gut aus«, meinte Hinnerk, als sie sich in eine Bank setzten. »Turnschuhe stehen dir viel besser als dieser ganze Schickikram.«

Caro lächelte ihn amüsiert an. Dass Hinnerk Falk kein Fan von Louboutins war, überraschte sie nicht, und vermutlich sah ihr Schwiegervater sie gerade tatsächlich zum ersten Mal ohne hohe Hacken. Aber ihr selbst gefiel der neue Look auch, zumal sie endlich spürte, was der in den Luxusboutiquen häufig gerühmte Tragekomfort wirklich bedeuten konnte. Keine Strumpfhose zwickte mehr im Schritt, kein Push-up quetschte ihr den Busen hoch, und kein Absatz blieb in Gullydeckeln stecken. Und den Bauch einziehen musste sie auch nicht mehr.

Als sich die Bahn mit einem lauten Pfeifen in Bewegung setzte und langsam aus dem Hafen fuhr, sah Caro aus dem Fenster die Frau, die auf dem Schiff neben ihr gesessen hatte. Trotz des Haarbands flatterten die langen Locken wild um ihren Kopf herum, während sie mit einem dunkelblauen Hollandrad auf einem der unzähligen Radwege fuhr und damit fast genauso schnell war wie die Bahn. Borkum gehörte nicht zu den autofreien Inseln, dennoch war das Fahrrad hier das Hauptverkehrsmittel. Urlaubsgäste durften mit dem Wagen zwar von der Fähre bis zu ihrem Feriendomizil fahren, mussten ihn danach aber auf einem der zentralen Parkplätze abstellen. Mal zum Ostland mit dem Auto oder zum Großeinkauf in den Supermarkt, das war nicht drin. Und auch die Insulaner durften nur mit Sondergenehmigung fahren, wie sie von Nils wusste. Caro fand das schon immer gut. Überall auf der Insel gab es richtige Straßen, auf denen aber kaum Autos fuhren. Und trotzdem konnte man einen Bus nehmen, wenn man sich bei einer Strandwanderung verschätzt hatte und den Weg zurück nicht mehr zu Fuß schaffte.

Als die Bimmelbahn auf die gerade Strecke bog, die Richtung Zentrum führte, konnte sie an Tempo zulegen und die Frau vom Schiff überholen. Als sie an ihr vorbeifuhren, blickte Caro in ihr Gesicht, in dem nichts von der Unbeschwertheit und Vorfreude zu sehen war, die den Urlaubsgästen im Waggon auf die Stirn geschrieben war. Im Gegenteil. Ihre Miene war viel ernster als noch auf dem Schiff, eine tiefe Falte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet, und es wirkte fast so, als wäre für sie die Ankunft auf Borkum mehr Qual als Freude. Während Caro ihren Blick über die Sanddornhecken schweifen ließ, die die Gleise säumten und Borkum wie einen Teppich zu bedecken schienen, dachte sie darüber nach, ob es in ihrem Leben jemals einen Zeitpunkt gegeben hatte, an dem sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hätte. Wegen Nils? Um Himmels willen. Das war er nicht wert. Nein, so mies war es ihr zum Glück noch nie gegangen, dachte sie erleichtert, fand im nächsten Moment die Vorstellung aber durchaus beunruhigend, dass es einem noch schlechter gehen konnte als ihr in den letzten Monaten. Schlimmer geht immer, hatte ihre Mutter gesagt – und wenn es eine wissen musste, dann sie.

»Können wir erst zu Opa und dann in die Klinik?«

»Na klar«, antwortete Caro ihrem Sohn. »Wir müssen ja Aila eh erst unterbringen.«

»Cool! Dann kannst du sie mir zeigen!«, wandte sich Justus wieder an Hinnerk. »Opa hat nämlich geheime Karten im Keller, mit denen man den Störtebeker-Schatz finden kann«, fügte er in verschwörerischem Tonfall hinzu, und Caro lachte.

In der Greunen Stee, dem größten Inselwäldchen auf Borkum, sollte Störtebeker angeblich einen gewaltigen Schatz vergraben haben, bevor er gefangen und hingerichtet wurde. Justus konnte gerade laufen, als Hinnerk ihm die Geschichte das erste Mal erzählt hatte. Eine lange Zeit hatte der Junge sie jetzt nicht mehr gehört und hing fasziniert an den Lippen seines Großvaters, der sie schnörkellos, aber mit allen gruseligen Einzelheiten zum Besten gab.

Fünf Jahre lag es zurück, dass sie Nils’ Mutter hier beerdigt hatten und es beim Totenkaffee zum lautstarken Eklat zwischen ihm und Hinnerk gekommen war. Lefke Falk war keine drei Stunden unter der Erde gewesen, als sich ihr Sohn und ihr Mann für immer zerstritten. Natürlich war es ums Geld gegangen, worum auch sonst? Bei Nils ging es immer ums Geld. Hinnerk hatte sein Haus schon vor Jahren aus steuerlichen Gründen seinem Sohn übertragen, der ihm und Lefke dafür ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt hatte. Aber nach dem Tod der Mutter war Nils davon überzeugt, dass sein Vater mit weniger Quadratmetern auskommen könne, zumal die Immobilienpreise auf Borkum so angezogen hatten, dass man für das 180-Quadratmeter-Haus in unmittelbarer Nähe zum Nordstrand locker 700 000 Euro verlangen konnte. Vermutlich auch mehr. Hinnerk hatte sich über die Gier seines Sohnes aufgeregt und noch mehr darüber, dass er den Wert seines Elternhauses nur in Euros maß, ansonsten schien ihm nichts daran zu liegen.

Zwanzig Minuten später standen sie vor dem roten Klinkerbau, der in den 1970er-Jahren gebaut worden war. Es war kein reetgedecktes Friesenhaus, von denen es hier sowieso nur wenige gab, es war schließlich Borkum und nicht Sylt. Das Haus war eher funktional, hatte eine kleine Einliegerwohnung, die Lefke früher an Urlaubsgäste vermietet hatte, was Hinnerk aber zu viel Arbeit war, und einen hübschen Wintergarten, der mal randvoll mit ihren Orchideen gewesen war und in dem er jetzt seinen Schreibtisch stehen hatte. Hinnerk war Chefredakteur der Borkumer Zeitung gewesen und hatte es sich mit dem Tag seiner Pensionierung zur Aufgabe gemacht, eine große Inselchronik zu erstellen. Seit gut sieben Jahren arbeitete er nun daran, und Caro hatte den Verdacht, dass es noch mindestens weitere sieben Jahre dauern würde, bis die Chronik fertig war. Wenn sie denn jemals fertig werden sollte.

»Dein Garten ist ein Traum«, meinte sie, und das war nicht übertrieben. Der Rasen würde es mit jedem englischen Grün aufnehmen können, er war makellos, ohne ein Fitzelchen Unkraut und von Beeten gesäumt, auf denen eine Hortensie neben der anderen blühte. Nils hatte seinen Vater immer als Garten-Nazi bezeichnet, worüber Caro am Anfang noch lachen musste. Sie hatte den zynischen Humor ihres Noch-Ehemannes zu Beginn ihrer Beziehung ausgesprochen amüsant gefunden, doch irgendwann ging ihr das ewige Sprücheklopfen ganz schön auf die Nerven. Anstatt froh zu sein, dass sein Vater so ein wunderbares Hobby hatte, machte Nils es nur runter und kam sich dabei auch noch witzig vor.

Hinnerk freute sich über Caros Kompliment und ging zufrieden ins Haus, um einen Tee aufzusetzen.

»Aila kackt auf Opas Rasen«, meinte Justus in dem Moment, und obwohl Caro ihren Schwiegervater beim besten Willen nicht für einen Garten-Nazi hielt, war sie froh, dass ihm dieser Anblick erspart blieb. Sie wühlte in ihrer Handtasche und zog eine Hundekottüte hervor, ging zu Aila, die ihr Werk beschnüffelte, schimpfte kurz mit ihr und nahm den Haufen dann mit der Tüte auf.

»Weißt du noch, wo Opa die Mülltonnen stehen hat?«, fragte sie ihren Sohn, der sie ungläubig anschaute.

»Du kannst das doch nicht in Opas Mülltonne tun! Dann weiß er gleich, dass Aila auf seinen Rasen gemacht hat, und wird bestimmt sauer!«

»Quatsch. Opa weiß, dass Hunde auch mal groß müssen.«

»Aber doch nicht auf seinen Rasen. Papa hat immer gesagt, Opa ist ein Garten…«

»Schon gut«, unterbrach sie ihren Sohn. Hinnerk war wieder auf die Terrasse gekommen, und sie wollte nicht, dass er diesen unpassenden Anti-Kosenamen hörte. Kurzerhand packte sie die zugeknotete Kottüte in ihre Handtasche.

Nachdem Justus sich mit einer Sanddornschorle und einem Schälchen Milchreis gestärkt hatte, spielte er mit Aila im Garten, und Hinnerk und Caro konnten für einen Moment in Ruhe sprechen.

»Lass dich nicht von ihm über den Tisch ziehen«, meinte Hinnerk grimmig. »Hast du einen guten Anwalt?«

Caro nickte. »Anwältin. Ja. Eine alte Studienfreundin von mir, die in einer Top-Kanzlei arbeitet. Sie versucht gerade, den Ehevertrag anzufechten. Mit ein bisschen Glück ist er sittenwidrig.«

»Das würde mich überhaupt nicht wundern. Für ein bisschen mehr Geld macht Nils doch alles.« Es war dem Mann anzusehen, wie sehr ihn das Zerwürfnis mit seinem Sohn schmerzte.

»Ich frag mich, von wem er das hat«, sagte Caro nachdenklich. »Du und Lefke, ihr seid doch nie so aufs Geld aus gewesen.«

Caro hatte ihre Schwiegereltern von Anfang an ins Herz geschlossen. Lefke war eine warmherzige und liebevolle Person gewesen, und auch wenn Hinnerk manchmal ein bisschen knorrig sein konnte, hatte er doch sein Herz am rechten Fleck. Sie waren immer sparsam gewesen, aber nie geizig, und es war Caro ein Rätsel, wieso Nils, ihr einziger Sohn, sich in einen geldfixierten Kapitalisten verwandeln konnte.

Hinnerk zuckte traurig mit den Schultern. »Vielleicht ist es der Fluch der Urlaubsinsel. Wenn du da aufwächst, wo andere Ferien machen, bist du dauernd von Leuten umgeben, denen das Geld relativ locker in der Tasche sitzt. Hier ein Eisbecher, da ein Drink an der Strandpromenade, im Urlaub will man es sich ja gut gehen lassen. Aber wenn du hier lebst, ist das natürlich nicht möglich. Du kannst ja nicht das ganze Jahr so tun, als wären Ferien. Vielleicht hat ihn das geprägt. Ich weiß es nicht.«

Caro nickte. Vielleicht hatte Nils auch einfach nur einen schlechten Charakter, dachte sie. Denn sein Hang zur Promiskuität konnte kaum durch die Urlaubsgäste auf seiner Heimatinsel ausgelöst worden sein. Borkum war schließlich kein Swingerclub und ein Puff irgendwie auch nicht.

Der Himmel färbte sich schon rot, als Caro und Justus Richtung Kurklinik aufbrachen. Sie versicherten Hinnerk, dass sie den Weg alleine finden würden und er sein Knie schonen könne, verabschiedeten sich von Aila und gingen über den gepflasterten Giloweg Richtung Kurklinik. Der Rollkoffer klapperte über die Steine und ließ die Karnickel, die zu Dutzenden in den Büschen hockten, hektisch aufspringen. Es war nicht mehr viel los auf dem beschaulichen Weg, der hinter den Dünen herführte und daher windgeschützter war als ein Gang direkt am Strand. Aber den traumhaften Sonnenuntergang sah man von hier nicht, was einer der Gründe sein durfte, warum sich um diese Uhrzeit alles am Strand tummelte.

»Warum ist Sanddorn eigentlich so gesund?«, fragte Justus. Er zupfte eine vertrocknete Beere von einem der Sträucher, die noch vom Vorjahr hängen geblieben war.

»Jede Menge Vitamin C«, meinte Caro und blickte irritiert Richtung Dünen.

Hatte sie dort nicht gerade noch eine Person gesehen? Sie war sich ganz sicher, dass jemand durch die Dünen gelaufen war, den Kopf mit einer grünen Mütze oder Kappe bedeckt. Aber jetzt sah sie ihn nicht mehr. Sollte sie die Person rufen? Es war verboten, durch die Dünen zu laufen, die so wichtig für den Küstenschutz und somit den Erhalt der Insel waren. Aber sie war schließlich nicht die Dünenpolizei, und vielleicht musste derjenige einfach nur mal Pipi, da musste ja nicht gleich jeder »Ist verboten!« rufen.

Als sie den Giloweg verließen und auf die Strandpromenade kamen, von der sie in die Viktoriastraße abbiegen mussten, blickte sich Caro noch mal um und sah, wie ein Mann mit einer grünen Basecap aus den Dünen sprang und zu der Toilettenanlage lief.

Wenn Caro ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass am Verhalten des Mannes nichts merkwürdig war. Okay, er war verbotenerweise in den Dünen gewesen, aber das waren Dutzende andere Urlauber am Tag auch. Und jetzt ging er aufs Klo. Auch eher mittelmäßig verdächtig. Trotzdem hatte er etwas an sich, das sie aufmerken ließ. Vielleicht lag es an der Cap, die er viel zu tief ins Gesicht gezogen hatte, oder an der Art, wie er sich immer wieder umdrehte, jedenfalls kam er ihr irgendwie komisch vor.

Ob er irgendwas Verbotenes gemacht hatte? Ihr waren die Hunde am Hafen aufgefallen, die am Anleger der Fähren aus Eemshaven mit ihren uniformierten Besitzern standen. Vermutlich versuchte der ein oder andere Jugendliche, ein bisschen Gras aus der holländischen Hafenstadt mit auf die Urlaubsinsel zu bringen, das von den Hunden aufgespürt werden sollte. Hatte der Typ in den Dünen gekifft?

Als Justus das Schild zur Kurklinik entdeckt hatte, war jeder Gedanke an die merkwürdige Person verflogen. Caro war etwas nervös, als sie den hellen Bau betraten. Was würde sie hier in den nächsten drei Wochen erwarten? In der ersten Kur ihres Lebens? In ihrer bisherigen Vorstellung waren immer nur alte Menschen zur Kur gefahren, Oma Josi war mal in Bad Pyrmont gewesen, da war sie schon über siebzig. Sie erinnerte sich genau an das Foto, das bei ihren Eltern auf der Kommode stand und von einem professionellen Fotografen gemacht worden war. Es zeigte Oma Josi mit frisch gelegter Dauerwelle, wie sie schick gemacht im gelben Blazer mit Brosche vor dem Springbrunnen am Kurhaus posierte. Am Vormittag gab es ein paar Kneippsche Beingüsse, hatte sie hinterher erzählt, und nachmittags hatte sie mit anderen Kurgästen Skat gespielt. Eine Kur war etwas für alte Leute, die sich von ihrem harten Arbeitsleben erholen mussten, davon war Caro jahrelang überzeugt gewesen.

Und nun stand sie hier, mit Mitte dreißig reif für eine Kur. Vielleicht sollte sie einfach froh sein, dachte sie sich. Wenn Oma Josi in ihrem Alter, also in den Sechzigerjahren, zur Mutter-Kind-Kur hätte fahren können, mit vier kleinen Kindern und einem beinamputierten Mann, wäre sie bestimmt froh gewesen. Aber sie musste warten, bis sie alt und ihr Mann tot war, da hatte Caro es doch eigentlich besser.

Im Eingangsbereich hingen gerahmte Fotos mit Motiven von Borkum. Der alte und der neue Leuchtturm, Strandpromenade und Seehundbank, Bimmelbahn und Kutschenfahrt, alle Highlights der Insel waren sorgfältig nebeneinander aufgereiht. Der Linoleumboden in Holzoptik hatte schon bessere Zeiten erlebt, und auch die hell gestrichenen Wände hatten einige Macken. Aber alles wirkte einladend und freundlich, und ein Luxushotel hatte Caro nun wahrlich nicht erwartet. Es war ihr erster Urlaub seit über zehn Jahren, den sie nicht in einer eigenen Immobilie oder in einem Fünf-Sterne-Hotel verbrachte, und Caro fand auch das durchaus befreiend. Ungeschminkt zum Frühstück, ohne die Haare vorher eine halbe Stunde mit Föhn und Rundbürste zu malträtieren, in Jeans zum Abendessen und nicht im Cocktailkleid zum Dinner, mit Rucksack zum Strand anstatt mit Handtäschchen in den Beach Club. Es war nicht so, als hätte sie ihr altes Leben nicht genossen, im Gegenteil, gerade der Luxus gefiel ihr am Anfang sehr. Wie oft hatte sie früher von so einem Leben geträumt? Wie oft hatte sie als Teenager darunter gelitten, sich keine neuen Klamotten kaufen zu können, kein Geld für Ohrringe oder Schminke zu haben und immer zu denen zu gehören, bei denen die Kohle knapp war? Es hatte Spaß gemacht, nicht mehr aufs Geld achten zu müssen. Ja, Spaß konnte man mit Nils haben. Wenn er wollte, konnte er sehr unterhaltsam sein, und nicht selten waren sie der Mittelpunkt einer spontanen Beach-Party gewesen, Nils hatte eine Runde nach der anderen geschmissen und amüsante Geschichten zum Besten gegeben. Die Leute hingen an seinen Lippen, lachten über seine Witze und tranken auf seine Kosten.

Aber irgendwie hatte sich das alles nicht echt angefühlt, das wurde ihr jetzt, als sie durch den Eingangsbereich der Kurklinik ging, wieder schlagartig bewusst. Klar, es war auch nicht echt gewesen, selbst im Urlaub hatte der Arsch sie ja betrogen, hatte die blutjungen Frauen, denen er den Champagner bezahlt hatte, fürsorglich zu ihrem Hotelzimmer begleitet, während sie mit den anderen Leuten weitergefeiert hatte.

Caro strich Justus über seinen blonden Schopf. Das feste, dichte Haar hatte er eindeutig von seinem Vater geerbt. Sehr viel mehr zum Glück nicht, dachte sie kurz, verbannte den Gedanken aber schnell. Sie wollte so wenig wie nur möglich an Nils denken, das hatte sie sich fest vorgenommen.

An einer Mischung aus Schwesternkanzel und Hotelrezeption checkten sie ein. Von der grauhaarigen Dame mit dem rundlichen Gesicht, die hinter dem Tresen stand und ein Schildchen mit der Aufschrift »Annegret Müllen – Empfang« trug, erfuhren sie, dass sie das Abendessen leider verpasst hatten.

»Das gibt es von 17.30 bis 19.30 Uhr. Frühstück ist morgen von sechs bis acht, wobei ich gerade sehe, dass Sie sich für den Walkingkurs um acht Uhr angemeldet haben«, sagte sie mit Blick auf den Computer, der vor ihr stand. »Um acht beginnt auch die Kinderbetreuung«, wandte sie sich an Justus. »Es sind eine Menge Kinder in deinem Alter hier. Du wirst bestimmt viel Spaß haben.«

Justus nickte lächelnd. Er wirkte müde, aber auch aufgeregt.

»Wenn Sie möchten, können Sie gleich morgen früh mit dem Walken starten. Um zehn hätten Sie Ihre Eingangsuntersuchung bei Dr. Schäfer«, sagte Annegret Müllen freundlich. »Sie können aber auch erst die Untersuchung abwarten. Was Ihnen lieber ist.«

»Ich hab nichts gegen ein bisschen Bewegung«, antwortete Caro. »Zuhause mache ich viel Sport und gehe regelmäßig aufs Laufband, das werde ich schon schaffen.« Sie dachte daran, dass das Laufband im Penthouse stand und sie es seit ein paar Monaten nicht mehr betreten hatte. Beim Pilates und Power Plate Training war sie seit der Trennung auch nicht mehr gewesen. Egal.

Annegret Müllen erklärte ihnen noch kurz, wo sie ihr Zimmer finden würden, und wünschte eine gute Nacht. Und obwohl es gerade mal halb neun war, war Caro so müde wie schon lange nicht mehr. Das Klima auf der Insel machte einen die ersten Tage einfach fertig, das wusste sie noch von ihren letzten Besuchen. Das berühmt-berüchtigte Reizklima ließ Kleinkinder heulen wie Wölfe und Erwachsene schlafen wie Babys. Und essen wie Scheunendrescher. Zum Glück hatte sie noch zwei Snickers in ihrer Handtasche, die sie sich gleich mit Justus einverleiben konnte.

Sie mussten hoch in den zweiten Stock und den langen Gang bis zum Ende hinuntergehen, bis sie vor dem Zimmer mit der Nummer 217 standen. Caro stellte ihre Handtasche auf den Koffer und versuchte, die Tür aufzuschließen. Sie klemmte, und Caro konnte sie nur mit einem Ruck öffnen, wobei sie gegen ihre Tasche stieß, die auf den Boden flog und ihren Inhalt auskippte. In dem Moment kam von der linken Seite des Flures eine Frau mit einem Putzwagen auf sie zu, offensichtlich ein Zimmermädchen, während von der rechten Seite ein ausgesprochen gutaussehender Mann in einem weißen Kittel den Gang entlangging. Er hätte locker als Double für George Clooney durchgehen können, jedenfalls für George den Jüngeren. Denn im Gegensatz zum Original dürfte dieser hier die fünfzig noch nicht überschritten haben. Und vielleicht sah er sogar noch besser aus als der Echte. Sie hatte diesen blasphemischen Gedanken nicht mal zu Ende gebracht, da ging plötzlich alles ganz schnell. Bevor Caro irgendwie reagieren konnte, trat George Clooney in den Kotbeutel, in dem Ailas Hinterlassenschaften lagerten. Er platzte auf, hinterließ einen matschigen Fleck auf dem Boden und beschmutzte die weißen Schuhe des Mannes. Der fing sofort an zu poltern und beschimpfte absurderweise das Zimmermädchen, das nun absolut gar nichts mit Ailas Haufen zu tun hatte.

»Lara! Wieso liegt hier Hundescheiße im Flur? Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag?«

»Nee, halt, stopp!«, ging Caro sofort dazwischen. »Die Scheiße gehört zu mir. Tut mir leid, dass …«

Doch der Mann ließ sie gar nicht ausreden. »Sie sind für die Sauberkeit auf den Fluren zuständig, Lara! Wenn das noch einmal passiert, können Sie mit einer Abmahnung rechnen!«

»Drücke ich mich irgendwie unverständlich aus?«, rief Caro empört, während die Frau sich wortlos bückte und das Malheur wegwischte. »Sie kann nichts dafür! Warum machen Sie die Frau so runter, wenn die Schuldige direkt vor Ihnen steht?«

Der Mann sah Caro freundlich an. »Entschuldigen Sie bitte, das war jetzt ein bisschen unglücklich. Aber Frau Buschhenke nimmt mir meine kleinen Scherze bestimmt nicht übel«, sagte er und lachte, als hätte er einen Witz gemacht.

»Ach, das sollte lustig sein?« Caro war immer noch empört über den Tonfall des Mannes. »Hörte sich nicht so an.«

»Meine Mitarbeiter kennen mich doch«, meinte er jovial. Dann hielt er der Frau, die immer noch den Boden putzte, seinen Schuh hin. »Das bitte auch.«

Ohne etwas zu sagen, wischte die Frau den Schuh des Mannes sauber, der jetzt auf einem Bein vor Caro stand. Unwillkürlich musste sie an einen Flamingo denken, der auf der Jagd nach der nächsten Beute … Nee, Moment mal, Flamingos waren doch keine Raubtiere, oder?

»Sind Sie neu bei uns?«, wandte er sich wieder lächelnd an Caro, während das Zimmermädchen immer noch an seinem Schuh herumputzte. »Dr. Schäfer. Ich bin der Leiter der Klinik.«

Während er sich mit der einen Hand lässig an der Wand abstützte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, reichte er ihr die andere. Und obwohl Caro es widerlich fand, wie herablassend er das Zimmermädchen behandelte, musste sie zugeben, dass Dr. Schäfer selbst auf einem Bein einen ungemeinen Charme ausstrahlte. Er sah nicht nur aus wie George Clooney, er lächelte auch so und hatte eine Stimme, die zum Dahinschmelzen war – wäre da nicht gerade die arme Lara, die von seinen Schuhen den Hundekot putzte, für den Caro verantwortlich war.

»Ja, Caro Falk. Und das ist mein Sohn Justus.« Sie drehte sich nach ihm um, aber Justus war längst im Zimmer verschwunden. »Wir sind gerade erst angekommen. Aber die Sache mit dem Hundekot …«

»Schon vergessen.« Er zwinkerte ihr freundlich zu. »Dann sehen wir uns ja morgen zur Eingangsuntersuchung. Schlafen Sie gut!«

Er lächelte ihr noch mal zu, zog dann energisch seinen Fuß von Laras Putzlappen und ging den Gang entlang Richtung Treppenhaus.

Langsam stand Lara auf und lächelte Caro an, die vor lauter schlechtem Gewissen nicht schnell genug reden konnte.

»Es tut mir so leid, es war meine Schuld, dass Dr. Schäfer da reingetreten ist … unsere Hündin …«

»Ein hübsches Tier.«

Caro sah sie erstaunt an. In ihrer schwarzweißen Arbeitskleidung hatte sie die Frau mit den dunklen Locken gar nicht erkannt.

»Lara Buschhenke.« Die Frau zog ihre Gummihandschuhe aus und reichte ihr die Hand. Caro sah sofort die Narben, die ihr auf dem Schiff schon aufgefallen waren.

»Natürlich! Tut mir leid, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe! Caro Falk.« Sie schüttelte der Frau erfreut die Hand. Dann warf sie einen verächtlichen Blick in die Richtung, in der Dr. Schäfer verschwunden war. »Ist der immer so?«

»Nein, nein.« Lara grinste schief. »Sie haben ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen, dass Sie das jetzt alles abbekommen haben.«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Ich weiß ja, dass er es nicht so meint. Das geht bei mir da rein, da raus«, antwortete Lara und zeigte grinsend auf ihre Ohren. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Wir sehen uns ja bestimmt noch mal. Gute Nacht!«

Lara nickte ihr ein letztes Mal lächelnd zu und schob dann ihren Putzwagen weiter den Gang runter. Seufzend blickte Caro ihr nach. Vielleicht konnte sie sich irgendwas einfallen lassen, um der Frau eine Freude und diesen unglücklichen Vorfall vergessen zu machen.

Als sie in ihr Zimmer kam, das fast nur aus hellem Eichenholz zu bestehen schien, fand sie Justus schlafend auf der Couch.

Kein Wunder, dachte Caro und zog ihm die blauen Sneakers aus. Sie waren heute Morgen um fünf Uhr in Berlin aufgestanden, um die Fähre in Emden am frühen Nachmittag pünktlich zu erwischen. Die lange Reise und das ungewohnte Nordseeklima forderten ihren Tribut. Auch Caro fühlte sich danach, einfach auf das Sofa zu sinken und zu schlafen. Als sie zehn Minuten später nach einer kurzen Katzenwäsche mit geputzten Zähnen im Bett lag, konnte sie die Augen kaum noch offen halten. Sekunden später schlief sie tief und fest.

2

Caro konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal neun Stunden am Stück geschlafen hatte. Voller Energie stand sie in ihren Sportsachen am Treffpunkt vor der Kurklinik, von wo aus die Walkinggruppe starten wollte. Sie hatte Justus nach dem Frühstück zur Kinderbetreuung gebracht, die heute als Erstes den Strand erkunden wollte. Auch wenn er anfangs immer ein wenig schüchtern war, hatte Justus zum Glück schnell Anschluss gefunden. Er war neugierig und aufgeschlossen und hatte daher nie Probleme, neue Freunde zu finden, was Caro als Segen empfand.

»Moin! Ich bin Eva Lannes, die Sporttherapeutin, bitte einfach Eva sagen«, stellte sich eine drahtige blonde Frau um die fünfzig gut gelaunt vor. »Wir gehen nicht spazieren, wir walken. Die richtige Armbewegung ist dabei genauso wichtig wie das richtige Tempo. Als Grundregel könnt ihr euch merken: Wenn ihr Probleme habt, euch zu unterhalten, seid ihr zu schnell.«

»Wir haben nie Probleme zu quatschen!«, sagte eine etwas molligere Frau, und alle lachten Beifall.

Nachdem sich Caro und die anderen miteinander bekannt gemacht hatten, marschierte die Gruppe Richtung Strand. Es war immer noch recht frisch und windig, aber heute fand Caro es herrlich. Der Strand war fast menschenleer, nur einige Jogger und Walker waren unterwegs. Die Luft war zwar kalt, aber dabei so klar, wie sie es in Berlin niemals war. Schon von Weitem konnte sie die Seehunde sehen, die nebeneinander aufgereiht im Sand lagen und dösten. Die Seehundbank, die immer näher an den Strand heranwuchs, gehörte zum Naturschutzgebiet. Betreten war strengstens verboten, worauf mehrere Warnschilder hinwiesen. Wenn es ein vorwitziger Schwimmer trotzdem wagte, die kurze Strecke zur Bank zu schwimmen, um den Tieren ganz nahe zu sein, durfte er sich auf eine saftige Strafe gefasst machen. Und praktisch jeder wurde dabei erwischt, da die Rettungsschwimmer von der DLRG-Station am Strand auch immer einen Blick auf die Seehundbank hatten. Vor einigen Jahren war sie fast ausgestorben gewesen, die Seehundstaupe hatte die meisten Tiere dahingerafft. Zum Glück konnte sich der Bestand erholen, und heute lagen mehr Seehunde vor Borkum als je zuvor.

Nahe der Wasserkante, wo der Sand einigermaßen fest war, marschierte die Gruppe Richtung Seehundbank, ließ diese links liegen und überquerte eine wüstenähnliche Fläche, die zum nächsten Strandabschnitt führte, der allgemein als der Wellenstrand bezeichnet wurde. Hier schlugen die Wellen der Nordsee ungebrochen an Land, und es gab wirklich Strand, so weit das Auge reichte. Teilweise konnte Caro gar nicht das Ende sehen, überall war nur Sand, Sand, Sand, unterbrochen von kleinen Miniaturdünen, auf denen etwas Dünengras wuchs.

Für einen Moment war Caro überwältigt von der Schönheit der Natur. Seitdem Nils und Hinnerk sich verkracht hatten, waren sie nicht mehr nach Borkum gefahren und auch davor nur höchst selten hier gewesen. Sobald seine Firma richtig lief, hatte Nils sich ein Appartement auf Mallorca gekauft, und so schön Caro die spanische Insel fand, sie hatte nicht das Gefühl, dass sie mit Borkum mithalten konnte. Gut, die Wassertemperaturen waren am Mittelmeer zwar ein Vorteil, aber diese endlosen Strände gab es dort nicht. Caro konnte sich an der schier grenzenlosen Weite nicht sattsehen. Sie hatte sofort das Gefühl, einen klareren Kopf zu bekommen, freier atmen und abzuschalten zu können. Dieses Gefühl hatte sie im Beach Club von Palma nie gehabt.

Plötzlich schien etwas ihre endlose Sicht zu stören. Irritiert fokussierte sie ihren Blick auf einen kleinen Sandhügel. Da war er wieder, der Mann mit der grünen Kappe. Er lag hinter einer der kleinen Dünen. Und dieses Mal war es eindeutig, dass er jemanden beobachtete. Duckte er sich weg, als Caro sich in seine Richtung drehte? Sie war sich nicht sicher.

War das ein Spanner? Aber was gab es hier bitte zu spannen? Zwölf Frauen, alle in langen Sporthosen und langarmigen Laufoberteilen, walkten am Strand entlang. Keine zeigte mehr Haut als notwendig, im Gegenteil, dank des frischen Windes hatte ein Großteil auch noch eine Fleecejacke an und eine Mütze auf dem Kopf. Und auch die anderen Frauen und Männer, die am Strand entlang joggten oder walkten, waren alle warm eingepackt. Selbst so ein dauererigierter Typ wie ihr Exmann würde nicht auf die Idee kommen, hier zu spannen.

Wie aus dem Nichts bekam sie ein ungutes Gefühl. Hatte es der Typ etwa auf sie abgesehen? Verfolgte er sie womöglich? Gestern Abend war er ihr schon aufgefallen, auch da war er eindeutig in ihrer Nähe gewesen und hatte sich irgendwie merkwürdig verhalten. Vielleicht war er von Nils auf sie angesetzt worden, vielleicht sollte er versuchen, etwas über sie herauszufinden, was ihr beim Sorgerechtsprozess schaden konnte. Dass das Nils’ Art war, wusste sie genau. Schließlich hatte sie früher selbst für ihn als eine Art Privatdetektivin gearbeitet.

Nils war einer der größten Versicherungsmakler des Landes, er hatte fast zwanzig Angestellte, die bundesweit für ihn tätig waren, und sich auf die Nischen fokussiert, die von den großen Versicherungen nicht abgedeckt wurden. So war er zum Experten für Juwelierversicherungen geworden und hatte sich auf extrem wertvolle Uhren spezialisiert. Als einer seiner Kunden, ziemlich zeitnah nach dem Abschluss der Versicherung, eine hunderttausend Euro teure Uhr als gestohlen meldete, bat Nils Caro, sich den Kunden doch mal etwas genauer anzuschauen. Vermutlich war das ein reiner Jux gewesen, sie hatte nachher nie mit ihm darüber gesprochen, wie er überhaupt auf die Idee gekommen war. Vielleicht wollte er sie auch einfach nur beschäftigen, damit er seinen Beschäftigungen in Ruhe nachgehen konnte. Jedenfalls hatte Caro da zum ersten Mal gemerkt, dass sie eine gewisse detektivische Begabung besaß. Es hatte ihr Spaß gemacht, den vermeintlich reichen Geschäftsmann zu beschatten, dessen Geschäfte schon lange nicht mehr so gut liefen, wie sie schnell herausfand. Sie beobachtete ihn, achtete genau darauf, welche Uhr er trug, wenn er sich mit seinen Freunden in der Bar oder in einem Restaurant traf, hielt sich unauffällig in seiner Nähe auf und belauschte seine Gespräche. In ihren teuren Klamotten und mit ihrem rausgeputzten Äußeren war es ein Leichtes gewesen, sich an der Bar in Hörweite des Geschäftsmanns zu platzieren, und es hatte nicht lange gedauert, bis sie herausgefunden hatte, dass er die Uhr verkauft hatte und zum Versicherungsbetrüger mutiert war.

Es würde sie also überhaupt nicht wundern, wenn Nils nun irgendeinen zwielichtigen Typen aus seinem Bekanntenkreis auf sie angesetzt hatte. Nur – wozu? Glaubte er vielleicht, sie würde sich auf Borkum einen Kurschatten zulegen? Oder hier heimlich Geschäfte machen? Die er bei den Unterhaltsverhandlungen als Argument auf den Tisch bringen konnte? Das war absurd.

Vielleicht wurde sie auch langsam paranoid, dachte sie. Vielleicht war der Kerl mit der grünen Kappe einfach ein Naturliebhaber, der die zahllosen Seevögel beobachten wollte und den sie nacheinander als Kiffer, Spanner und Schnüffler beschimpft hatte. Wenn auch nur in Gedanken. Alles auf Borkum fühlte sich so sehr nach heiler Welt an, dass es irrwitzig war, einen Mann zu verdächtigen, nur weil sie ihm zufälligerweise zweimal über den Weg gelaufen war und er sich etwas merkwürdig verhalten hatte. Nur weil ihr die vermeintlich heile Welt, in der sie jahrelang glaubte zu leben, um die Ohren geflogen war, hieß das doch nicht, dass es sie auf Borkum nicht geben konnte.

Oder?

Sie drehte sich noch einmal zu ihm um und stellte erleichtert fest, dass er verschwunden war. Vermutlich hatte sie sich wirklich alles nur eingebildet.

Aber ein ungutes Gefühl blieb.

Nachdem sie geduscht und sich umgezogen hatte, stand sie pünktlich um zehn Uhr bei Dr. Schäfer im Behandlungsraum, der genauso aussah wie in jeder anderen Klinik auch. Bis auf den grauen Linoleumboden war alles in Weiß gehalten, der Schreibtischstuhl aus schwarzem Leder bildete die einzige Ausnahme. Als Caro den Raum betrat, studierte Dr. Schäfer gerade eine Patientenakte. Erneut wurde sie von seiner Optik fast erschlagen, obwohl sie ihn nach dem Auftritt gestern im Flur eigentlich nicht leiden konnte.

»Moin, Frau Falk! Sie sehen blendend aus!«, sagte er mit diesem unnachahmlichen Lächeln, und Caro konnte sich nur knapp ein »… und Sie erst!« verkneifen. Er legte die Akte zur Seite und ging auf sie zu. In der weißen Hose und dem schmal geschnittenen weißen Hemd kam sein trainierter Oberkörper besonders gut zur Geltung, fand Caro, die Mühe hatte, sich Dr. Schäfer nicht spontan nackt vorzustellen. Mit beiden Händen nahm er ihre Rechte und drückte sie fest.

»Ich war schon walken«, sagte Caro. »Danach sieht man ja automatisch etwas frischer aus.«

Er nickte und bat sie, Platz zu nehmen. Nach einem ausführlichen Anamnese-Gespräch sah er sie warm an.

»Bevor ich Sie gleich untersuche, möchte ich natürlich noch wissen, warum Sie hier sind. Sie haben keinerlei Vorerkrankungen und machen auf den ersten Blick einen gesunden Eindruck. Dennoch sind Sie ja nicht grundlos hier.«