Niemandsblut - Jörg Böhm - E-Book

Niemandsblut E-Book

Jörg Böhm

4,9

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Du hast ein schönes LEBEN. Denkst du … Aber was ist, wenn es nicht DEIN Leben ist … Und du dafür TÖTEN musst, um endlich du selbst zu sein … Ein idyllischer Morgen in Palma de Mallorca endet für die Passagiere der »Virgin of the Ocean« jäh, als über dem Altar der Kathedrale eine Nonne hängt – ans Kreuz genagelt. Auf ihrem Habit steht das lateinische Wort Peccavi – „Ich habe gesündigt.“ Nur ein grausamer Ritualmord? Oder gibt es eine Verbindung zu einem spektakulären Kunstraub, von dem auch das Kloster der Gottesfrau betroffen war? Als in Ajaccio – einer weiteren Station der einwöchigen Kreuzfahrt – der Galerist des Schiffs ermordet wird, weiß Kapitän Hauke Jensen, dass ein kaltblütiger Mörder ein perfides Spiel treibt und nicht eher ruhen wird, bis sich das Mittelmeer blutrot gefärbt hat.

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Seitenzahl: 360

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Jörg Böhm

Niemandsblut

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2018 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8343-9

Jörg Böhm

Niemandsblut

Der Journalist Jörg Böhm (*1979) war nach seinem Studium der Journalistik, Soziologie und Philosophie unter anderem Chef vom Dienst der Allgemeinen Zeitung in Windhoek/Namibia. Danach arbeitete Jörg Böhm als Kommunikationsexperte und Pressesprecher für verschiedene große deutsche Unternehmen. Seit 2014 widmet er sich nur noch seinen schriftstellerischen Tätigkeiten. Neben dem 1. Kreuzfahrtkrimi „Moffenkind“, den er exklusiv in Kooperation mit der Reederei AIDA Cruises geschrieben hat, sind mittlerweile vier Krimis um seine dänisch-stämmige Kriminalhauptkommissarin Emma Hansen erschienen. Als bester Nachwuchsautor wurde er für seinen ersten Krimi „Und nie sollst du vergessen sein“ mit dem Krimi-Award „Black Hat“ ausgezeichnet.Mehr über Jörg Böhm und seine Aktivitäten erfahren Sie unter jörgböhm.comFoto von Beate Zoellner

Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende. Demokrit

Für Miryam „Mimi“ Scholl – Danke, dass du mich die Welt entdecken lässt.

Prolog

Berlin, 24. Dezember 1979Das Mädchen schreckte verängstigt auf. Schon wieder hatte sich die finstere Gestalt in seine Träume geschlichen. Ganz in Schwarz gekleidet, mit starrem Blick und toten Augen. Und doch war heute etwas anders. Dieses Mal hatte ein komisches Geräusch den Traum begleitet. Ein Geräusch, welches das Mädchen zuvor noch nie gehört hatte.

Zitternd versuchte es, sich in seinem Kinderbett aufzusetzen. Mit kreisenden Bewegungen seiner kleinen Hände rieb es sich den Schlaf aus den Augen. Nach und nach konnte es die ihm so vertraute Umgebung immer deutlicher wahrnehmen. Die Kuscheltiere, die auf einem großen Haufen am Fußende des Bettes lagen. Das große Puppenhaus unterm Fenster, in dem noch alle Bewohner fest schliefen. Die Malbücher auf dem Tisch, die darauf warteten, mit bunten Farben ausgefüllt zu werden.

Erleichtert atmete das Mädchen durch. Es war zu Hause in seinem Kinderzimmer. Hier war es in Sicherheit. Seit der schwarze Mann vor einigen Wochen zum ersten Mal in seinen Träumen aufgetaucht war, konnte das Mädchen nur noch bei eingeschaltetem Licht einschlafen und dann auch nur unter der Bedingung, dass die Eltern mehrmals den Kopf in die Tür steckten und nach ihm sahen.

Aber das hier war kein Traum. Denn der schwarze Mann sprach nie. Er war einfach nur da und schaute es aus finsteren Augen heraus an, ehe es von seinen kräftigen Armen gepackt und aus dem Bett gehoben wurde.

Doch jetzt hörte das Mädchen Stimmen. Die Stimmen kamen aus dem Wohnzimmer, das den Flur entlang auf der anderen Seite der Wohnung lag. Laute Stimmen. Menschen, die miteinander stritten. Die jemanden anbrüllten. Es hörte die klagenden Schreie seiner Mutti. Und unwirsches Rumbellen fremder Menschen. Es waren Männer, mindestens zwei. Und sie schienen böse zu sein. Sehr böse sogar.

Das Zittern wurde heftiger. Die ersten Tränen kullerten lautlos über die Wangen, während das Mädchen spürte, wie sich der Druck in der Blase unaufhaltsam erhöhte. Unruhig wippte es von links nach rechts, um dem Gefühl bloß nicht nachzugeben.

Denn das Mädchen wollte sich nicht schon wieder einnässen. So wie es das immer tat, wenn der schwarze Mann es in seinem Traum besuchte und erst wieder verschwand, wenn Mutti oder Vati es fest an sich drückten und ihm sanft über den Kopf streichelten.

Das Mädchen wusste, dass die Eltern dann sehr traurig sein würden. Und es wollte seine Eltern nicht traurig sehen. Vor allem nicht seinetwegen. Mutti war schwer krank. Das wusste das Mädchen. Und Vati war in den vergangenen Tagen sehr angespannt, sodass es schon unter normalen Umständen kaum wagte, ihn etwas zu fragen oder so lange an ihm herumzuquengeln, damit er endlich mit ihm spielte.

Aber was wollten die beiden Männer von den Eltern? Heute, an Heiligabend? Einem ganz besonderen Tag, auf den sich das Mädchen schon das ganze Jahr freute. Einem Tag, an dem es Geschenke gab, vielleicht eine neue Puppe, einen Kaufmannsladen oder ein kleines, batteriebetriebenes Klavier, das die schönsten Musikstücke zum Besten gab, auch wenn man nicht darauf spielte.

Doch der heutige Tag war noch so viel mehr. Mutti würde bestimmt wieder sein Lieblingsessen kochen: Klöße mit brauner Soße und Rotkraut, in das sie Apfelstücke hineinschnippelte. Und am Nachmittag würden sie auch bestimmt wieder zusammen Plätzchen backen. Wenn Mutti dazu noch die Kraft hatte. Es war eben ein Tag, an dem man vor allem als Familie zusammen war, Lieder sang, miteinander feierte. Einfach nur glücklich war. Kein Tag, um fremde Menschen in der Wohnung zu haben und lauthals mit ihnen zu streiten.

Und wo war Vati? Ihn hatte das Mädchen bisher noch nicht gehört. War er überhaupt noch im Wohnzimmer, oder war er kurz aus dem Haus gegangen, um etwas zu holen? Und warum weinte Mutti plötzlich so bitterlich? Ein Weinen, das plötzlich in ein lautes Schreien überging.

Das Mädchen war vor Angst wie gelähmt. Was ging da draußen im Wohnzimmer vor? Und warum kam sein alles geliebter Vati der Mutti nicht zu Hilfe? Plötzlich und völlig unerwartet durchschlug ein dumpfes Zischen die Szenerie jenseits des Kinderzimmers. Nur einmal, ganz kurz, explosionsartig und metallisch. Als wäre etwas abgefeuert worden. Und dann war plötzlich alles still. Das aggressive Brüllen der Männer war genauso verstummt wie die Klagerufe seiner Mutti.

Das Mädchen erstarrte. Es hörte in die Stille hinein, doch das Geräusch, das sich genauso angehört hatte wie jener Laut, der seinen Traum zerrissen hatte, kam nicht wieder. Auch Muttis Wimmern setzte nicht mehr ein. Ganz vorsichtig und leise stand es auf und lauschte angestrengt. Doch erst nach einer gefühlten Ewigkeit konnte das Mädchen wieder einen der Männer sprechen hören, der nun den anderen Mann anfuhr. Und dann hörte es, wie jemand den Flur entlangging. Entschlossen und geradewegs auf das Kinderzimmer zu.

Blitzschnell huschte das Mädchen zurück ins Bett. Es wollte sich gerade unter der Bettdecke verstecken, als unvermittelt die Tür aufgerissen wurde.

Als hätte es gewusst, wer da nun in der Tür stand, blieb das Mädchen aufrecht sitzen und beobachtete den schwarzen Mann, der durch das gleißende Licht der Flurbeleuchtung in seinem Rücken noch bedrohlicher aussah.

Mit wenigen Schritten hatte er das Bett erreicht. Wie im Traum wurde das Mädchen aus zwei unheimlichen Schlitzen heraus angesehen. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet. Er trug eine Mütze über dem Kopf, die nur die Augen und zwei kleine Löcher in Nasenhöhe aussparte. In seinem Gürtel steckte eine Pistole, die vorne deutlich länger war als die Waffen, die das Mädchen aus dem Fernsehen kannte.

Das Mädchen versuchte, im Bett weiter nach hinten gegen die Wand zu rutschen, in der Hoffnung, die Arme des Mannes würden es dann nicht mehr erreichen können. Doch die großen Hände des schwarzen Mannes hatten es längst gepackt. Und als es aus dem Bett gehoben wurde, da schaffte es das Mädchen nicht länger, seine guten Vorsätze einzuhalten, und es merkte augenblicklich, wie sich im Schoß seines rosafarbenen Schlafanzugs eine angenehme Wärme ausbreitete.

Kapitel 1

Florenz, Mittwoch, 8. Juli 2015 Anna Esposito wusste, dass der Tod sie jeden Tag holen kommen konnte. Ohne zu fragen. Und ganz wie es ihm passte. Es war nur eine Frage der Zeit und seiner freien Kapazität. Anscheinend hatte er gerade viel zu tun, dachte sie mit einem Anflug von Sarkasmus, als sie sich auf ihren Rollator gestützt durch die Via Della Colonna quälte.

Eigentlich war sie längst überfällig. Man hatte ihr kein halbes Jahr mehr gegeben, als die Ärzte ihr vor einem knappen Jahr die niederschmetternde Diagnose mitgeteilt hatten: inoperabler und metastasierender Gehirntumor im Endstadium.

Der Neurologe im Ospedale Santa Maria Nuova hatte damals mit bedrücktem Gesicht hinter seinem großen Schreibtisch Schutz gesucht, als er – emotionslos, wie Ärzte in solchen Situationen meist waren oder sein mussten – Anna die Hiobsbotschaft hatte übermitteln müssen. So hatte er es auch unterlassen, ihr irgendeine falsche Hoffnung zu machen. Zwei Schlaganfälle hatte sie überlebt und andere Schicksalsschläge mit Bravour gemeistert. Aber trotz ihres Kampfgeistes würde es dieses Mal keine Aussicht auf Erfolg geben. Ihr Körper sei einfach zu geschwächt für eine Bestrahlung und die dazugehörige Chemotherapie. Es wäre nur eine Frage der Zeit, woran sie zuerst sterben würde, sagte der Arzt. An der qualvollen Therapie, die auch den letzten Rest einer vielleicht noch vorhandenen Lebensqualität zerfressen hätte, oder an den sich immer weiter in ihrem Körper ausbreitenden Metastasen.

Und genau seit dieser düsteren und so endgültigen Prophezeiung rang Anna mit sich, ob sie ihr Leben und vor allem das anderer Menschen doch noch in die richtigen Bahnen lenken sollte, um so möglicherweise entstandenes Leid irgendwie lindern zu können.

Dabei hatte sie sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Gerade als Hebamme war ihr in den mehr als 40 Jahren Berufstätigkeit das Wohl der Mutter und des Kindes stets eine Herzensangelegenheit gewesen. So hatte sie bisher immer gedacht.

Doch die Reportage im Fernsehen über das Schicksal eines ihr unbekannten Mannes hatte etwas bisher völlig Ungeahntes in ihr ausgelöst. Eine persönliche Geschichte, die sie zutiefst ergriff und die sich seit jenem Fernseh­abend wie ein dunkler Schatten auf ihre Seele gelegt hatte.

Seitdem konnte Anna kaum noch ruhig schlafen. Aufgewühlt wälzte sie sich nachts mit quälenden Gedanken von links nach rechts, nur um zu überlegen, was sie in ihrer ausweglosen Situation überhaupt noch ausrichten konnte. Als wacher Geist gefangen in einem geschundenen Körper.

Aber es war kein Schatten, der sich einfach nur dann nach ihrem Innersten verzehrte, wenn sie wach war oder gerade mal wieder nicht einschlafen konnte. Sein Hunger wurde so unersättlich, dass er sich bereits in ihr Unterbewusstsein vorgearbeitet hatte. Dort, wo all das versteckt saß, was man nach den vielen Jahren nicht mehr wahrhaben will. Was man am liebsten ungeschehen machen würde. Und was das Leben anderer Menschen auf dramatischste Weise beeinflusst hatte. Unumkehrbar. Unverzeihbar. Und für alle Zeiten.

Anna kannte diesen Ort, und sie hatte Angst davor, auch nur darüber nachzudenken. Den Gedanken zuzulassen, doch etwas Falsches getan zu haben. Sie hätte damals einen anderen Pfad wählen können, und doch hatte sie sich für den einfacheren Weg entschieden. Auch, weil man sie dazu gedrängt hatte. Das stand auch heute immer noch außer Frage. Und dennoch hätte sie damals vielleicht nachhaken und die richtigen Fragen stellen sollen, als die Ungereimtheiten zugenommen hatten. Aber alles hätte, wenn und aber half nichts mehr, denn die Zeit hatte die Geschichte des Lebens fortgeschrieben und aus Unmöglichkeiten Tatsachen geschaffen, die wohl nie mehr zu ändern waren. Ein Faktum, auf dem sich Anna auch immer ein Stück weit ausgeruht hatte – war sie doch schließlich nur ein winziges Rädchen in einem kaum überschaubaren Getriebe gewesen.

Doch nun war jener Schatten so tief vorgedrungen, dass es unmöglich geworden war, jene Zweifel an ihrer möglichen Mitschuld noch länger zu ignorieren. Wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon herausbricht, hatte sich die Schuld aus dem Vergessen befreit und war über Anna hergefallen wie ein ausgehungertes Tier über seine Beute.

Anna erinnerte sich noch genau an diesen Tag. Es war ein schöner Tag im Mai gewesen. Viele Touristen waren durch die Altstadt geschlendert, andere genossen die Sonnenstrahlen bei einem Latte macchi­ato oder einem überteuerten Eis oder bewunderten die ehrwürdigen Gebäude, die überall in Florenz eine neue Geschichte erzählten. Überall in der Stadt, an Wänden, Bretterverschlägen oder den schweren Holztüren der unzähligen Kirchen, hingen die Plakate, die auf das kommende Gastspiel eines Zirkus hinwiesen. Auch an ihrem Minimercato, dem kleinen Supermarkt, wo sie sich immer die Morgenzeitung kaufte und mit dem Ladenbesitzer über Gott und die Welt diskutierte, klebte ein solches leuchtend gelbes Plakat. Sie hatte gar nicht bewusst darauf geachtet. Erst als eine junge Mutter mit ihrem Sohn hereinkam und der Junge ohne Unterlass gebettelt hatte, unbedingt in eine der drei angesetzten Vorstellungen zu gehen, da hatte sie von ihrem Espresso, den ihr der Ladenbesitzer ebenfalls jeden Morgen servierte, hochgeschaut – der jungen Frau mit diesem zärtlich geschnittenen Gesicht direkt in die Augen. Was danach genau passiert war, wusste sie nicht mehr. Das Klirren der Porzellantasse auf den moosgrünen und an den Ecken bereits vor Jahrzehnten gesprungenen Fliesen war das Einzige, woran sich Anna noch erinnern konnte. Und an den Ausdruck in den Augen jener jungen Frau, die sie seitdem nie wieder gesehen hatte, deren Blick sie aber bis heute verfolgte. Ein Blick unendlicher Traurigkeit. Ein Blick, in dem sich ein unwiederbringlicher Verlust spiegelte. Und ein Blick, der ihr nur diese eine winzige Frage nach dem Warum gestellt hatte.

Seit jenem Tag hatte Anna gewusst, dass der sie schützende Gedanke, alle die an sie gestellten Aufgaben als Hebamme stets mit reinstem Gewissen erfüllt zu haben, nur ein Trugschluss gewesen war, und sie fragte sich, ob der Tumor und das dazugehörige Sterben auf Zeit eine konsequente Strafe Gottes war.

Nun war es an ihr, damit so gut es ging umzugehen und eine Antwort auf jene Frage zu finden. Vor allem aber wollte Anna alles dafür tun, dass das entstandene Unrecht doch noch ausgeglichen wurde. Wenn das nach all den Jahren überhaupt noch möglich war.

Bei dem Gedanken, am Ende ihres Lebens vielleicht doch noch alles ein wenig geradezurücken, war ihr der junge Pater in der Basilica della Santissima Annunziata an der gleichnamigen Piazza eingefallen. Jeden Sonntag besuchte sie seinen Gottesdienst in der für katholische Verhältnisse von außen völlig unscheinbaren und auch im Inneren eher kleinen Kirche. Die Basilica della Santissima Annunziata war die ehemalige Klosterkirche der Servitinnen, der Dienerinnen Mariens. Doch seit das Kloster aus finanziellen Gründen und dem auch in Italien vorherrschenden Nachwuchsmangel an Nonnen und Patern geschlossen werden musste, waren auch die Gottesdienst-Zeiten von einmal täglich auf jetzt nur noch einmal wöchentlich gekürzt worden.

Pater Matteo war ein kleiner, schlanker Mann, der mit der beruhigenden Art und Weise, wie er seine Predigt hielt, und seinem unauffälligen Äußeren perfekt zum Gotteshaus passte. Anna war sich sicher, dass sie sich ihm anvertrauen konnte. Vielleicht konnte er ihr sogar helfen oder zumindest einen Weg aufzeigen, den sie – wenn auch äußerst mühevoll – in den letzten Tagen, die ihr noch verblieben, gehen konnte.

Oder den ich einschlagen muss, fügte sie gedanklich hinzu, als sie sich an die Predigt des Paters vom vergangenen Sonntag zurückerinnerte. In seinen Worten hatte Pater Matteo unmissverständlich klargemacht, dass es eine falsche Tugend sei, aus Angst vor den möglicherweise eintretenden Konsequenzen immer nach dem Weg des geringsten Widerstands zu suchen.

Ja, Pater Matteo wird den richtigen Weg wissen, dachte Anna, und sie spürte auch an diesem heißen Mittwochmorgen, wie die Kraft ihres Körpers von Tag zu Tag immer weniger wurde. Äußerst qualvoll schleppte sie sich über die Piazza in Richtung Kirche. Wie in Zeitlupe. Sie musste die Augen zusammenkneifen, als sie kurz von ihrer gebeugten Haltung hochsah und von den Sonnenstrahlen geblendet wurde, die sich im breiten, weiß getünchten Hauptportal gleißend sammelten.

Sie schlurfte die letzten Meter bis zum barrierefreien Aufgang. Auch heute zog sie ihr linkes Bein wieder nach, das nach ihrem zweiten Schlaganfall zu einem unbrauchbaren Anhängsel geworden war. Ihr dunkelblauer Rock schlabberte an ihrem immer hagerer werdenden Körper. Zu ihrer weißen Rüschenbluse trug sie ihre Lieblingskette, die sie als junges Mädchen von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte.

Es war ein wichtiges Gespräch, das nun bevorstand, und Anna wollte mit ihrem Äußeren dem Anlass entsprechend einen passenden und auch würdevollen Rahmen bieten.

Eine angenehme Kühle schlug ihr entgegen, als Anna die Kirche betrat. Ein schneller Blick zeigte ihr, dass sie ganz alleine war. Kaum ein Tourist verirrte sich hierher. Die Besucher interessierten sich mehr für den mächtigen Dom mit seiner schon von Weitem sichtbaren Kuppel oder die geschichtsträchtige Kreuzkirche. Und die Florentiner selbst waren viel zu sehr in ihrem Alltagstrott gefangen, als dass sie die Schönheit dieses Gotteshauses noch ausreichend würdigen konnten.

Die Bodenfliesen waren ebenso wie die tragenden Säulen aus dunkelgrünem Marmor gefertigt worden. Auch unter dem hellen Tageslicht, das durch die Fenster im oberen Teil des Gotteshauses brach, glänzten die verzierten Altäre golden und gaben dem Interieur eine strahlende Eleganz. In der Luft lag ein leichter Hauch von Weihrauch, der die angenehme Kühle sanft unterstrich.

Annas Ziel befand sich auf der linken Seite des Kirchenschiffes. Der Beichtstuhl stand nicht einsehbar von der schmalen Eingangstür hinter dem großen Altar im vorderen Bereich der Kirche. Da die Tür angelehnt war, schien gerade niemand im Beichtstuhl zu sein, wie Anna dankbar feststellte, als sie den Rollator am Altar vorbeischob. Dafür war die andere Tür fest verschlossen. Pater Matteo wartete also bereits auf sie.

Anna stellte den Rollator ab, stellte die Handbremse fest und öffnete schwerfällig die knarrende Holztür des Beichtstuhls. Mit einem Ausstoß der Erleichterung, den Weg von ihrer Wohnung bis zur Kirche ohne einen größeren Zwischenfall geschafft zu haben, setzte sie sich auf die kleine Bank und begann zu schluchzen.

„Sie sind nicht allein, Signora“, hörte Anna aus dem Nebenraum die ihr so vertraute Stimme des Paters. „Gott ist für Sie da, er trägt Sie auf seinen Händen. Auch dann, wenn Sie nicht mehr können und keine Kraft mehr haben. Haben Sie Vertrauen! Gott gibt niemanden auf!“

Anna konnte das aufmunternde Lächeln des jungen Paters durch die Holzwand hindurch sehen. Und dennoch war das, was jetzt folgen würde, das Schrecklichste, was sie je durchstehen musste. Sie versuchte sich ein letztes Mal zu sammeln, doch da hatten ihre Lippen die Worte, vor denen sie sich die ganze Zeit schon so sehr gefürchtet hatte, längst hinausgeworfen: „Peccavi, Pater! Peccavi! Ich habe gesündigt.“

Kapitel 2

Prato, Toskana, am selben TagDie Altstadt Pratos lag entspannt in ihrem Kessel und frönte einem wohltuenden Mittagsschlaf. In der mittlerweile brennenden Mittagssonne leuchteten die roten Dachziegel, die nicht nur den abgelegenen Villen der Toskana, sondern auch den Häusern der Städte wie Florenz, Siena, Pisa oder eben auch Prato ihren bekannten Charme verliehen, noch stärker als in den bunten Katalogen der Reiseveranstalter.

Die verwinkelten Gassen und Straßen waren um diese Uhrzeit rund um die Piazza del Duomo leergefegt. Nur wenige Touristen besuchten die kleine Nachbarstadt von Florenz, und wenn, dann kamen sie, um den Dom zu besuchen, oder flanierten am späten Nachmittag, wenn die Sonne die sandsteinfarbenen Gebäude in ein besonderes Licht tauchte, durch die Straßen, stöberten in den kleinen Geschäften oder schlenderten mit einem Eis in der Hand über die Plätze.

Die meisten Einheimischen ruhten sich aus, arbeiteten in angenehm klimatisierten Büros oder genossen im Schatten, unter Sonnenschirmen oder den weit ausladenden Baumkronen der kleinen Parks in der Nähe der Innenstadt ihre Mittagspause.

Tauben pickten auf dem Dom-Vorhof, dem zentralen Platz Pratos, der heute ebenfalls nahezu wie ausgestorben wirkte. Hin und wieder verirrte sich mal ein Kirchgänger und rüttelte an der schweren Holztür, deren Scharnier zwar etwas quietschte, die aber nicht bereit war, sich auch nur einen Millimeter zu öffnen. Die meisten auswärtigen Besucher Pratos wussten von den örtlichen Reiseleitern, dass der Dom jeden Tag in der Zeit zwischen 12 und 14 Uhr geschlossen war.

Die beiden fremden Besucher, die mit ihren hellen Kleidung, den leichten Schuhen mit griffiger Sohle und dem dunkelblauen Rucksack auch gut als Touristen hätten durchgehen können, hatten heute jedoch nicht die Cattedrale di Santo Stefano an der Piazza del Duomo, sondern das benachbarte Dommuseum zum Ziel, das sich mit einer zweistündigen Mittagspause den Öffnungszeiten des Doms angepasst hatte. Mit seinen Gemälden und Skulpturen aus der Kirchengeschichte der vergangenen Jahrhunderte, liturgischen und sakralen Exponaten verschiedener Epochen und seltenen Ausgrabungsfundstücken aus ganz Italien war das Museum ein weiterer Anziehungspunkt für Touristen – entweder um sich vor der sengenden Sommerhitze ins Kühle zu flüchten, die Toiletten aufzusuchen oder in die Geschichte des Doms und des dazugehörigen Bistums abzutauchen.

Wie die beiden wussten, schloss das Museum erst, nachdem der Küster die Hauptpforte des Doms verriegelt hatte, da er wie die anderen Museumsmitarbeiter auch seine Mittagspause im Museum selbst abhielt. Meistens zumindest.

Unauffällig mischten sie sich unter die wenigen Gäste, die bereits im Foyer des Museums standen. Einige warteten anscheinend auf Mitreisende, die noch einmal schnell die Toiletten besuchten, andere stöberten noch im Souvenir­bereich oder bezahlten bereits an der Kasse Ansichtskarten und Mitbringsel für die Daheimgebliebenen.

Ohne jemandem aufgefallen zu sein – das Museum hatte bereits seit einigen Minuten offiziell geschlossen – huschten sie die Treppe in den ersten Stock hinauf. Ein schwacher Windzug kam ihnen entgegen, als sie den Treppenabsatz erreichten.

Mit einem schnellen Blick sahen sie sich um. Außer ihnen war hier oben mittlerweile niemand mehr. Sie waren allein – mit sich und der Kunst. Doch sie hatten keinen Blick für die Skulpturen und Reliquien in den Vitrinen, für die Ölgemälde an den Wänden oder das ausgestellte Kircheninterieur.

Ihr Fokus lag auf der großen Fensterfront, die auf einen schmalen Balkon hinausführte. Eine Tür im hinteren Bereich des Raums stand offen, durch die warme, abgestandene Luft ins Innere des Palazzos einer ehemaligen Kaufmannsfamilie aus dem Mittelalter strömte. Mit wenigen Schritten liefen sie leise über die sonst bei jedem Schritt laut knarzenden Parkettdielen und entschwanden durch die Tür. Auf dem Balkon angelangt, sahen sie sich noch einmal um, ob sie mittlerweile entdeckt worden waren oder jemand die Treppe hochgelaufen kam, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.

Aber ihnen war niemand gefolgt, dafür hörten sie immer noch einige Stimmen aus dem Foyer durchs Obergeschoss bis nach draußen hallen. Die Fensterläden des benachbarten Gebäudes, in dem der Bischof residierte, waren geschlossen. Auch der sonnenüberflutete Kreuzgang war verlassen. Es war alles so, wie der Informant vorausgesagt hatte. Die Mission konnte also beginnen.

Mit schnellen Bewegungen erklommen sie die tragende Säule und kletterten auf das Vordach, das wie das flache Hauptdach ebenfalls mit den typischen rötlichen Tonziegeln gedeckt war. Geduckt liefen sie über das Hauptdach des Museums und das der angrenzenden Bischofsresidenz bis zum Glockenturm hinüber, der etwas abseits des Doms stand und an den sich nun das mächtige Kirchenschiff anschloss. Hier endeten auch die roten Ziegel des Flachdachs. Über einen kleinen Vorbau kletterten sie vorsichtig auf das jetzt steiler abfallende und stufenartig angelegte Satteldach des Doms. Sie waren nicht gesichert und wussten, dass ein falscher Schritt, eine unbedachte Bewegung alles beenden konnte. Wie erwartet war das Fenster genau vor ihnen auch heute gekippt. Es war – so ihre Quelle – die einzige Möglichkeit, an ihr Ziel zu gelangen.

Die etwas größere Gestalt legte den Rucksack ab, ehe sie mit wenigen Handgriffen das Fenster komplett öffnete. Geschmeidig, als müsste sie sich durch einen Feuerreifen hindurchwinden, ließ sie sich nun langsam und nur mit den Spann ihrer Füße am Fensterrahmen festhaltend kopfüber ins Kirchenschiff herunterhängen. Als sie festgestellt hatte, dass niemand im Dom zu sehen war, gab sie ihrem Mitstreiter ein Zeichen. Die etwas kleinere Person schnallte sich den Rucksack auf den Rücken und glitt dann behände, als würden zwei Körper zu einem verschmelzen, über die menschliche Leiter hinweg, bis sie sich mit ihren Händen an den Händen ihres Partners festhielt. Mit einem eleganten Sprung aus knapp drei Metern Höhe landete sie nahezu lautlos auf dem abwechselnd mit schwarzen und weißen Mosaik-Fliesen ausgelegten Kirchenboden. Einzig die Gegenstände in ihrem Rucksack klapperten leicht gegeneinander und hallten im Kirchenschiff leise nach.

„Sei doch leise!“, rief ihr die andere Person in gedämpftem Ton von oben zu, dann schaute sie sich in Ruhe um. Die Kirche war prunkvoll eingerichtet. Ausladende Goldverzierungen dominierten im Innenraum, der aus Sandstein erbaut und mit Marmor verkleidet war. Auch der Hauptaltar bestand aus feinstem weißen Carrara-Marmor. Breite, bordeauxrote Läufer umrahmten die akkurat stehenden Holzbänke, deren Sitzbänke wie auch die Knieauflagen mit bernsteinfarbenem Samt bezogen waren.

Die Person war ganz allein in dieser etwas abseits vom Hauptschiff gelegenen Kapelle. Auch hinter der schmiedeeisernen Balustrade, die diesen Bereich vom Hauptteil der Kirche trennte und deren Spitzen ebenfalls golden glänzten, war niemand zu sehen. Einzig die flackernden Teelichter an den Opferstöcken vermittelten ein wenig den Hauch von Lebendigkeit.

Mit einem letzten Blick durch die menschenleere Kirche bekreuzigte sich die Gestalt und nahm ihren Rucksack ab. Sie musste sich beeilen, denn sie hatten einen engen Zeitplan, den es auf die Minute genau einzuhalten galt.

Die in Gold gefasste Vitrine stand auf einem Marmorsockel inmitten des Raumes. Darin ruhte, wie ein Heiligtum, ein weiteres Glasbehältnis. Das Ziel ihrer Mission.

Die Gestalt nahm vorsichtig den Glasschneider aus dem Rucksack und setzte ihn ans Glas der Vitrine, das nach wenigen Umdrehungen bereits nachgab. Vorsichtig zog sie das Glasgefäß aus dem Inneren der Vitrine heraus und wickelte es in ein Handtuch, das sie ebenso wie eine schmale, aber längliche Reisetasche zuvor aus dem Rucksack gezogen hatte, und legte es in die Tasche. Nachdem sie auch den Glasschneider wieder im Rucksack verstaut hatte, holte der Komplize erst die Tasche und danach den Rucksack mit einem dünnen Seil nach oben und brachte beides hinaus ins Freie.

Mit einem kurzen Anlauf sprang die Person die knapp drei Meter hoch und krallte sich an den ausgestreckten Händen ihres Partners fest, ehe sie nach mehrmaligen Hin- und Herschwingen ihren Körper nach oben bog und ihre Beine um den Oberkörper des Komplizen klammerte. Nun schwang die kleinere Person ihren Oberkörper nach oben, bis sie sich in Brusthöhe ihres Partners festhalten und dann Stück für Stück über seinen Körper hochkrabbeln konnte, um so durch das Fenster wieder ins Freie zu entschlüpfen. Keine 60 Sekunden später stand auch die andere Gestalt – mit leicht gerötetem Kopf und nach Luft japsend – wieder auf dem Vordach.

Beide nickten sich nach einer weiteren kurzen Verschnaufpause wortlos zufrieden zu, dann schnappten sie sich Tasche und Rucksack. Leichtfüßig, aber voll konzentriert und jeden Halt oder Tritt vorausahnend, kletterten sie über das Vordach zwischen Kirchenschiff und Glockenturm hinüber. Anders als beim Hinweg bogen sie jetzt aber nicht zurück zum Dommuseum ab. Stattdessen liefen sie an der Bischofsresidenz vorbei über die Dächer der angrenzenden Häuser bis zur Via Dei Tintori und kletterten dort an einem aufgestellten Baugerüst hinunter. Typisch für südeuropäische Altstädte waren nahezu alle zusammenstehenden Gebäude, die nicht von Straßen oder Plätzen unterbrochen wurden, irgendwie miteinander verbaut, und wenn man von oben darauf schaute, dann meinte man, eine einzige Fläche zu sehen.

Auch die Via Dei Tintori war zur Mittagszeit kaum frequentiert. Eine junge Mutter schob angestrengt einen Kinderwagen über den Gehweg. Etwas weiter die Straße hinunter versuchte eine ältere Frau, ihre Fensterbänke vom Taubenkot zu befreien, und auf der kleinen Piazza Filippo Lippi, die sich an die Via Dei Tintori anschloss, fuhr gerade ein Rollerfahrer vor, parkte sein Gefährt und verschwand in dem Supermarkt, der den Platz nahezu komplett ausfüllte.

Genau hinter dem Supermarkt, in der prallen Sonne, befand sich auch die Bushaltestelle. Alles lief nach Plan. Niemand wartete auf den Bus, der gerade die Piazza entlangfuhr und der sie zum Busbahnhof bringen würde. Dort sollten sie dann einen anderen Bus Richtung Florenz nehmen. So lautete der letzte Teil des Ablaufplans.

„Das ging besser, als ich dachte“, sagte die etwas kleinere Person zu ihrem Mitstreiter, der neben ihr auf der vorletzten Bank im hinteren Teil des Busses Platz genommen hatte. Außer ihnen saßen nur noch zwei Schulkinder und ein älterer Mann, dessen Kopf auf seiner Brust ruhte, auf den Bänken hinter der Busfahrerkabine.

„Man wird sehr zufrieden mit uns sein“, ergänzte sie und drehte den Verschluss einer Wasserflasche auf, die sie zuvor aus dem Rucksack gefischt hatte. Mit kleinen Schlucken nippte sie mehrmals daran, ehe sie die Flasche unaufgefordert weiterreichte.

Sie erschrak, als sie in dunkle, leere Augen blickte.

„Was ist los? Wir haben es doch geschafft!“

„Ja“, sagte die andere Person kühl und schaute wieder emotionslos ins Leere. „Aber das war erst der Anfang.“

Kapitel 3

Palma de Mallorca, Samstag, 15. August 2015Kerstin Luckow freute sich auf ihren Urlaub. Zumindest versuchte sie, ihr Unterbewusstsein davon zu überzeugen. Eine einwöchige Kreuzfahrt auf dem neuen Flaggschiff der Reederei Star Lines, der Virgin of the Ocean, zu den Perlen des Mittelmeers. So der verheißungsvolle Name der Tour, die die Gäste von Mallorca über Ajaccio auf Korsika, Rom, Florenz, Barcelona und wieder zurück auf die größte der fünf Baleareninseln führen sollte.

Denn bisher hatte Kerstin keine besondere Leidenschaft für einen Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff gehabt. Vielleicht hatte sie zu oft Titanic gesehen. Und sie hatte Angst vor Seekrankheit und zu vielen Menschen auf engem Raum. Gründe, die Kerstin bislang immer davon abgehalten hatten, eine Kreuzfahrt zu buchen.

Doch wenn es nach ihrer Freundin Miryam ging, dann war jetzt genau der richtige Zeitpunkt gekommen, neue Wege zu beschreiten. Kerstin hatte Zeit, nicht wirklich etwas anderes vor und niemanden, auf den sie Rücksicht nehmen musste. „Es sind nur sieben Tage. Und du wirst sonst nie wissen, ob dir diese Art von Urlaub gefällt“, hörte Kerstin jetzt noch die Worte ihrer Freundin, die sie quasi dazu überredet hatte, kurzfristig mit ihr gemeinsam diese Woche auf einem Kreuzfahrtschiff auf dem Mittelmeer anzutreten.

Kerstin wusste nicht genau, warum Miryam ausgerechnet Ende August in den Urlaub wollte – in vielen deutschen Bundesländern waren immer noch Sommerferien, was höhere Preise und viele Kinder bedeutete – und dann auch noch die Virgin of the Ocean ausgewählt hatte, da Miryam sonst eigentlich immer die MS Europa für ihre Kreuzfahrten bevorzugte, wie sie sich an die Erzählungen ihrer Freundin erinnerte.

Doch Kerstin war dankbar für diese etwas außergewöhnliche Tatsache, kam ihr der Zeitraum doch sehr gelegen. Denn wie jedes Jahr kappte ihr Arbeitgeber zum 31. August den noch vorhandenen Urlaubsanspruch aus dem Vorjahr, und da Kerstin diese Tage nicht verfallen lassen wollte, hatte sie aus einer spontanen Eingebung heraus prompt Ja gesagt.

Dafür war Miryam auch bereit gewesen, eine Balkonkabine anstatt einer für sie sonst üblichen Suite mit separatem Sonnendeck und 24-Stunden-Service zu buchen. Als Geschäftsführerin einer Consulting-Agentur, die mit Millionen-Budgets hantierte, spielte für Miryam Geld kaum eine Rolle. Anders als für Kerstin, die finanziell da nicht ganz mithalten konnte. Und es auch nicht wollte.

Zwar galt sie als eine weltweit anerkannte Expertin in der Provenienzforschung, und sie arbeitete bereits seit zehn Jahren beim traditionsreichen Auktionshaus Christie’s in deren Hauptzentrale in London. Aber die immer schneller steigenden Mieten an der Themse, die teure Krankenversicherung und ein für Londoner Verhältnisse niedriges, für den Kunstbereich aber absolut branchenübliches Gehalt erlaubten der 46-Jährigen keine übergroßen Sprünge. Zumindest keine, die fast 4000 Pfund oder umgerechnet mehr als 4500 Euro für eine einwöchige Kreuzfahrt in einer Suite – und dann auch noch ohne Flug – rechtfertigten. Zumal es – wie Miryam beiläufig erwähnt hatte – selten bei diesem Betrag blieb. Landausflüge und Cocktails an den Bars, Massagen und andere Anwendungen im Spa-Bereich sowie mehrgängige Menüs im Gourmet-Restaurant Bellini oder ein echtes argentinisches Filet Mignon für 35 Euro im Steak-Restaurant El Rancho – die zusätzlichen Kosten an Bord konnten gerne noch einmal ein paar Hundert Euro ausmachen. Und da waren die zu erwartenden Ausgaben für Miryams individuelle Wünsche wie Shoppen in Rom oder Barcelona, eine Golftour auf Korsika oder den privaten Reiseleiter in Florenz noch gar nicht mit inbegriffen.

„Du wirst es nicht bereuen. Das verspreche ich dir.“ So hatte Miryam das letzte Telefonat Ende Juli beendet, ehe sie die Reise dann final gebucht hatte. Nur Tage später waren die Reiseunterlagen im Briefkasten gewesen. Miryams Sekretärin hatte sie verschickt, das erkannte Kerstin an der fremden Handschrift: Mehrere Reiseführer der geplanten Häfen, exklusiven Sonnenschutz aus der Apotheke für Gesicht und Dekolleté sowie ein Paar Leder-Sandalen einer Luxusmarke – die Miryam irgendwann einmal gekauft, aber bisher nicht ein einziges Mal getragen hatte – lagen mit im Paket. „Zur Vorfreude! LG Miryam“, wie auf einem großen gelben Klebezettel stand, der aber ebenfalls nicht von Miryam selbst beschrieben worden war. Dennoch wurden Kerstins Zweifel immer größer, je näher die Kreuzfahrt zeitlich heranrückte. Was nicht nur am hohen Preis für die einwöchige Reise in der Balkonkabine lag. Das Schiff war laut der Beschreibung in den Reiseunterlagen mit mehr als 4000 Passagieren auch deutlich größer, als Kerstin angenommen hatte. Ein weiterer Grund, die geplante Kreuzfahrt doch noch einmal infrage zu stellen.

„Können wir die Reise nicht stornieren und einfach eine Woche Wellness-Urlaub auf Sardinien buchen?“, hatte sie Miryam vor knapp einer Woche gefragt. Doch Kerstins Freundin hatte sich erneut auf keine Diskussion eingelassen: „Probier’s doch einfach mal aus, Kerstin. Es ist nur eine Woche. Und wenn es dir dann nicht gefällt, dann war es eine einmalige Erfahrung. Aber im Vorfeld kneifen ist keine Option.“

Immer noch unentschlossen, ob sie wirklich das Richtige getan hatte, stand Kerstin nun allein am Gepäckband des Flughafens von Palma de Mallorca und wartete auf ihren Koffer, während sie immer wieder ungeduldig auf ihr Mobiltelefon nach einer eingehenden Nachricht ihrer Freundin schaute.

Miryam war bereits auf der Insel, da ein beruflicher Termin am gestrigen Freitag sie dazu verpflichtet hatte, wie sie Kerstin per WhatsApp am Donnerstagabend mitgeteilt hatte. Sie würde aber den geplanten Ausflug, den die Reederei für die früh ankommenden Gäste am Anreisetag organisiert hatte, auf jeden Fall mitmachen. Kerstin fand es ganz praktisch, die Zeit zu überbrücken, bis sie auf die Kabine konnten. Der Ausflug sollte unter anderem auch in die Gruft der Kathedrale von Palma de Mallorca führen. Ein absolutes Highlight – so die Ausflugsbeschreibung –, da Touristen normalerweise nur die Möglichkeit hatten, das Kirchenschiff zu besichtigen. Der Besuch einer Konditorei, in der man die weltbekannte mallorquinische Mandeltorte selbst backen konnte, Einblicke in die uralte und fast vergessene Kunst der Stoffweber in der Inselmitte und die Fahrt mit dem legendären Orangen-Express in Sóller waren weitere Bestandteile des Ausflugs.

Kerstin erinnerte sich, wie sie im ersten Augenblick schlucken musste, als sie den Preis von 159 Euro pro Person gelesen hatte. Dennoch hatte sie die Beschreibung so sehr begeistert, dass sie den Ausflug über das Internetportal der Reederei unverzüglich gebucht hatte.

„Ah, auch vom Schiff, wie ich sehe“, sagte eine leicht übergewichtige Frau in einer 7/8-Hose, mit Bauchtasche, blondierten Haaren und einem breiten Lächeln im Gesicht und zeigte mit einer Kopfbewegung auf die Reiseunterlagen der Reederei, die Kerstin in der Hand hielt.

„Machen Sie auch den Ausflug mit?“ Die Frau musterte Kerstin von oben bis unten, und es kam Kerstin so vor, als suchte sie eine Verbündete – für was auch immer. „Ganz schön happig die Preise, finde ich“, ergänzte die Frau, deren Gesichtsausdruck sich von übertrieben freundlich zu verärgert aggressiv verändert hatte.

„Muss man denn den Ausflug mitmachen?“, fragte Kers­tin und hoffte, dass das Gepäckband endlich anspringen würde. Schon auf dem Hinflug war ihr die Frau einige Reihen vor ihr aufgefallen, die mit ihrer lauten Stimme den halben Flieger mit ihren Erlebnissen der letzten gefühlt 20 Kreuzfahrten unterhalten hatte. Das Ausschiffen eines lebensbedrohlich erkrankten Passagiers, das Umrouten einer Tour wegen der sich veränderten Sicherheitslage in der Türkei oder die vermeintlich mangelnde Erfahrung eines jungen Kapitäns, der bisher nur Containerschiffe gefahren war – es gab nichts, wovon diese Frau keine Ahnung hatte. Selbst wenn meistens kaum Wissen zur jeweiligen Ahnung vorhanden war, wie Kerstin bemerkt hatte, als sie den ungläubigen und teils belustigten Ausdruck in den Gesichtern der anderen Mitreisenden gesehen hatte.

„Nee, aber an Bord trinkst du hier ’nen Kaffee und da ’ne Schorle, und mein Mann braucht immer sein Weizen nach einem Flug. Und bei diesem Ausflug ist wenigstens eine Erfrischungspause mit dabei“, sagte die Frau und scannte die anderen umstehenden Passagiere, in der Hoffnung, unter ihnen ihren Mann zu finden.

„Auch mit Weizen? Das nenne ich mal einen guten Service, oder?“, erwiderte Kerstin nun mit erhobener Stimme, als sich in dem Moment das Kofferband in Bewegung setzte.

Die Frau fing laut an zu lachen. „Ist wohl Ihre erste Kreuzfahrt? Auf solchen Touren gibt es doch kein Weizen!“ Die Frau schüttelte verständnislos den Kopf. „Bei diesen Ausflügen gibt es meistens nur Wasser und abgestandene Cola im Plastikbecher. Aber bezahlt ist bezahlt, sagt mein Mann. Wir haben vor drei Jahren – ich glaube, das war die Tour rund um die griechischen Inseln. Oder war es die Adria rauf und runter? Na, ist ja auch egal, auf jeden Fall haben wir da einen Cocktail-Gutschein als Entschuldigung bekommen, weil der Ausflug früher beendet wurde als angekündigt.“ Wieder lächelte die Frau, dieses Mal etwas schwächer, als sie in Kerstins Gesicht sah. „Man muss ja sehen, wo man bleibt, sonst wird man ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, wenn man nicht aufpasst.“

Miryam, wo bist du, wünschte sich Kerstin ihre Freundin herbei und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war zehn Minuten nach acht, und der geplante Ausflug sollte bereits in knapp 20 Minuten losgehen. Eine schier endlose Ewigkeit, und Kerstin spürte, dass sie es keine Minute länger mit dieser Frau aushalten würde, die ihr von Satz zu Satz unsympathischer wurde.

„Ach, da ist ja schon mein Koffer. Wir sind eben Vielfahrer, das wissen die auch am Flughafen und fertigen unsere Koffer immer als Erstes ab“, verabschiedete sich die Frau und winkte ihrem Mann auf der anderen Seite des Bandes zu, ihr beim Herunterhieven des Gepäckstücks zu helfen.

Das kann ja heiter werden, dachte Kerstin und holte ihr Handy aus der Handtasche. „Gerade gelandet. Warte auf meinen Koffer. Schon interessante Gäste kennengelernt. LG Kerstin☺“, tippte sie in ihr Handy.

Kerstin verstaute ihr Handy in ihrem schwarzen Shopper und wuschelte sich durchs Haar, ehe sie nun ebenfalls die wartenden Menschen scannte. Anscheinend hatte die Reederei einen ganzen Flieger gechartert, vermutete Kerstin. Überall sah sie Halsbänder, Polo-Shirts oder Umhängebeutel, die mit dem Logo der Reederei versehen waren, und auch die Menschen selbst, die um sie herumstanden, passten perfekt zu dem Bild, das sie von Kreuzfahrt-Passagieren im Kopf hatte. Oder die man ohne Weiteres dafür halten konnte. Überall quengelten Kinder, die entweder übermüdet waren, Durst hatten oder endlich planschen wollten. Teenager tippten auf ihren Smart­phones herum und kauten dabei gelangweilt Kaugummi. Und ergraute oder bereits versilberte Häupter – die Frauen in farbenfrohe oder mit goldenen Pailletten besetzte Tuniken gehüllt, die Männer in den Farben Sand, Steingrau oder Olivgrün gekleidet, manche besser auf den Beinen als andere – hielten besorgt nach ihren Gepäckstücken, der nächsten Toilette oder dem richtigen Ausgang Ausschau.

Ob ich im Alter auch mal so bin, dachte Kerstin, als plötzlich ihr Handy klingelte. Sie zog das Telefon aus ihrer Handtasche und wollte gerade den Anruf annehmen, als sie sah, wie ihr Koffer direkt vor ihr über das Band glitt. Ohne auf die Nummer geschaut zu haben, drückte sie den eingehenden Anrufer weg und wuchtete den Koffer herunter. Dann lief sie schnellen Schrittes auf den Ausgang zu. Mittlerweile war es kurz vor halb neun und damit höchste Zeit, sich am Bus einzufinden, wollte sie den Ausflug nicht verpassen.

Direkt hinter dem Ausgang stand eine junge Frau in einem dunkelblauen Polo-Shirt mit eingesticktem Reederei-Logo in Brusthöhe und hielt ein Schild in der Hand, auf dem die Worte „Ausflug – Palma – Virgin of the Ocean“ standen.

„Da entlang. Es ist der große blaue Bus auf dem Parkplatz, wenn Sie direkt aus dem Terminal kommen“, sagte sie zu den ihr entgegenströmenden Menschen und zeigte in die angesprochene Richtung, als erneut Kerstins Telefon klingelte.

Das muss aber dringend sein, dachte Kerstin und kramte ihr Handy aus der Tasche, während sie den anderen Passagieren zum Terminal-Parkplatz folgte.

Hoffentlich ist Miryam nichts dazwischengekommen, dachte sie und hoffte inständig, in wenigen Minuten neben ihrer Freundin im Bus zu sitzen. Aber es war nicht Miryam am Telefon, wie sie mit einem Blick über den Parkplatz feststellte, denn die kam ihr in knapp 200 Metern Entfernung entgegengeschlendert und winkte ihr freudestrahlend zu.

„Ja bitte?“, fragte Kerstin, nachdem sie den Anruf angenommen hatte, und setzte sich ihre Sonnenbrille auf, ehe sie ihrer Freundin zurückwinkte.

„Miss Luckow?“

„Ja?“ Kerstin blieb abrupt stehen. Auch wenn sie die Stimme nicht genau zuordnen konnte, so ahnte sie, den Menschen auf der anderen Seite eindeutig zu kennen. Kennen zu müssen.

„Sind Sie schon gelandet?“

„Wer ist denn da?“

„Sie wissen genau, wer hier spricht, Miss Luckow.“

„Nein ...“ Kerstin stockte mitten in der Verneinung. Sie wusste mittlerweile genau, wer da am anderen Ende der Leitung mit ihr sprach. Ein kalter Schauer fuhr ihr den Rücken herunter. Wie froh und dankbar sie doch in den vergangenen Tagen gewesen war, nicht an ihren Auftrag denken zu müssen. Einfach nur frei und sie selbst zu sein. Und einer erlebnisreichen Kreuzfahrt zu den Perlen des Mittelmeers entgegenzusehen. Bis jetzt.

Dieser Mann, der die Worte unnötig langzog und die meisten von ihnen auch noch unangenehm betonte, schaffte es mit wenigen Sätzen, die Vorfreude auf die anstehende Reise komplett zu zerstören und dafür die Angst als Gepäckstück mitfahren zu lassen.

Ein Gepäckstück, das man so gerne am Strand oder im Bus liegen lassen würde. Das einen jedoch immer wieder fand, egal, wo man auch gerade war oder wie gut man sich davor versteckte. Ja, seit einigen Wochen war die Angst untrennbar mit Kerstin verbunden, und diese Woche würde zeigen, wer wen besiegen würde.

„Sie können uns nicht entkommen, Miss Luckow. Aber das wissen Sie ja bereits. Wir verfolgen jeden Ihrer Schritte“, holte die Stimme Kerstin zurück aus ihren Gedanken. „Es geht um viel, sehr viel, Miss Luckow. Haben Sie verstanden?“

Kerstin nickte, ohne etwas zu erwidern.

„Miss Luckow?“ Die Stimme wurde eindringlicher. Eine Stimme wie ein Reibeisen, die sie nie mehr vergessen würde. Wie automatisch schwappte das Gesicht des Mannes in ihr Bewusstsein, zu dem diese Stimme gehörte und den sie bisher erst ein einziges Mal gesehen hatte. Schon damals hatte sie dieser mittelgroße, hagere Mann mit lichtem Haar an einen alternden Falken erinnert. Mit stechenden, eng zusammenstehenden Augen, einem spitzen, schmallippigen Mund und überlangen, dünnen Fingern, die sich gerne in junges, weibliches Fleisch bohrten.

„Ich weiß“, sagte Kerstin niedergeschlagen. Sie wusste, sie konnte sich noch so winden, sie würde den Klauen dieses Mannes doch nie entkommen können.

„Das freut mich.“

Kerstin konnte durch das Telefon förmlich sehen, wie der Mann jetzt feist lächelte.

„Darf ich sonst noch etwas für Sie tun?“, setzte sie nun mit festerer Stimme nach. Miryam war nur noch wenige Meter von ihr entfernt, und sie hatte nicht vor, das Gespräch vor den Ohren ihrer Freundin fortzusetzen.

„Nein, Miss Luckow, von unserer Seite wäre es das.“ Jetzt klang der Mann am anderen Ende wie eine alternde, krächzende Krähe. Unsympathisch und fies. Eine Stimme wie Kriechöl, die sich langsam unter die Haut schob.

Kerstin spürte, wie erneut ein kalter Hauch des Ekels über ihren Rücken flog.

„Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg, Miss Luckow. Und Sie wissen ja, es wäre nicht gut, wenn Sie uns enttäuschen!“

Kapitel 4

„Pass doch auf, da ist ein Auto!“, schrie Elke Marin und hielt sich mit beiden Händen krampfhaft am Armaturenbrett fest, fast so, als hoffte sie, mit dieser Geste den von ihr erwarteten Aufprall abmildern zu können. Wenn nicht sogar zu verhindern. Sie saß angespannt – wie immer, wenn sie als Beifahrerin unterwegs war – neben ihrem Mann Mario und versuchte, zumindest verbal den weißen Mietwagen zu fahren. Eine Reifenpanne kurz vor Port d’Andratx, ein leerer Tank mit fehlender Anzeige und ein Straßenkarten-resistenter Ehemann, der sich gleich mehrfach verfahren hatte – Elke Marin hatte in den vergangenen zwei Stunden eine wahre Tortur durchleben müssen. Und nun wäre Mario dem Vordermann fast hinten drauf­gefahren, nur weil er das eine noch funktionierende Bremslicht des blauen Seat nicht rechtzeitig gesehen hatte.

„Musst du immer so dicht auffahren?“, fragte sie ihren Mann, der gerade noch rechtzeitig abgebremst hatte und nun auf die linke Fahrbahn der mehrspurigen Autobahn aus der Stadt Palma de Mallorca Richtung Flughafen wechselte.

„Ich soll mich doch beeilen, oder nicht?“

„Hättest du nicht wieder so getrödelt, dann müssten wir jetzt auch nicht so rasen und noch einen Unfall bauen. Aber nie kannst du auf mich hören ...“ Elke Marin schnaubte entrüstet durch, dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. „Wir sind viel zu spät dran, Mario! Und denk dran, wir müssen auch noch tanken“, zischte sie ihren Mann an.