Nummer Zwei - Claus Probst - E-Book

Nummer Zwei E-Book

Claus Probst

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Beschreibung

Brillante Psychospannung: hart, bewegend, authentisch. Am frühen Morgen findet er sie: die Leiche eines jungen Mädchens, nackt, schutzlos. Gegen alle Vernunft entfernt er das Mädchen vom Tatort und bringt es zu sich nach Haus. Er weiß, er darf das nicht tun. Er weiß auch, dass ein Mörder, der schon zwei junge Frauen umgebracht hat, die Region Mannheim in Angst versetzt. Aber er muss so handeln. Fallanalytikerin Lena Böll weiß, dass ein junges Mädchen vermisst wird. Und der Serienmörder brüstet sich per SMS bereits der Tat. Aber nirgendwo ist eine Leiche gefunden worden. Lena Böll beginnt ein hochriskantes Katz-und-Maus-Spiel, in dem ein Unbekannter zum entscheidenden Faktor über Leben und Tod wird.

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Seitenzahl: 446

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Claus Probst

Nummer Zwei

Thriller

FISCHER E-Books

Inhalt

Für die Toten. [...]Sonntag05:07Wochen zuvor, Los Angeles, Donnerstag, 00:2005:21Wochen zuvor, Mannheim, Freitag, 13:5906:23Wochen zuvor, Mannheim, Freitag, 15:0306:2806:5707:1110:1711:0113:10Früher Nachmittag16:20Montag10:1511:3212:2413:2019:5821:05Dienstag06:5513:1216:3817:5520:00Mittwoch09:0210:0910:5011:3512:3713:3013:5917:28NachmittagsAbends … irgendwannDonnerstag09:4510:0110:1010:5511:0511:2511:3011:3011:3511:55DanachMittwoch11:09Freitag23:46

Für die Toten.

Sonntag

Die Wahrheit findet man nicht. Sie findet einen.

Carlos Ruiz Zafón

05:07

Noch bevor er ihr Gesicht sah, wusste er, wer sie war. Carola Lauk, siebzehn Jahre alt, Gymnasiastin aus Schwetzingen. Cellospielerin. Ihr Vater Rechtsanwalt, die Mutter Kinderkrankenschwester. Der Name sprang ihm ins Bewusstsein, als hätte er ihn auswendig gelernt. Früher hätte es ihn überrascht, wie leicht er die Informationen abrufen konnte. Inzwischen war er längst daran gewöhnt. Seit Jahren saugte sein Gehirn alles, was ihn umgab, auf wie ein Schwamm. Eigenmächtig. Wahllos. Ohne dass er auf das Wissen, das sich in ihm festsetzte, Einfluss nehmen konnte. Ohne die Möglichkeit, es wieder loszuwerden und vergessen zu können.

Sie saß nackt auf einer Bank, die Beine weit gespreizt, ihre Arme leicht gebeugt auf der Lehne abgelegt. Im fahlen Licht der Morgendämmerung schien ihr Körper zu fluoreszieren. Sie wirkte geisterhaft blass. Ihr Kopf war weit in den Nacken gelegt, so weit, dass das lange Haar bis zum Waldboden reichte, wo es sich golden mit dem Grün der Moospflanzen mischte. Den Blick hielt sie starr auf die Wipfel der Bäume gerichtet, so als hätte sie dort oben etwas Besonderes entdeckt. Unterhalb der Nase ging das Gesicht in eine unwirklich glatte Fläche über, die bis zum Kinn durch nichts unterbrochen wurde, so als fehlte ihr der Mund oder als wäre er aus unerfindlichen Gründen zugewachsen, aber da er es besser wusste, ließ er sich nicht täuschen. Umgeben von drückender Schwüle wurde ihm schlagartig kalt.

Er stand noch rund dreißig Meter von der Bank entfernt. Es war kurz nach fünf Uhr und obwohl um ihn herum schon die Vögel zwitscherten, roch es noch immer nach Nacht. Auf seinem Weg waren ihm Dutzende von Kaninchen begegnet, Spätheimkehrer, die behäbig das Weite suchten. Noch vor einem Jahr hätten sie sich weniger Zeit gelassen, damals, als sein Hund noch lebte, jetzt aber, da von dem Setter nicht mehr geblieben war als die Gewohnheit ausgedehnter Spaziergänge, schien von seinem Besitzer keine ernsthafte Bedrohung mehr auszugehen, so dass die Langohren gemächlich davonhoppeln konnten, derart langsam, dass er es fast als Kränkung erlebte.

So früh am Morgen waren die Waldpfade noch mit hauchdünnen Spinnweben versiegelt, die sich beim Gehen zart in seinem Gesicht verfingen. Er konnte sie deutlich spüren, wenn er sie aber zu ertasten versuchte, schienen sie sich seiner Hand zu entziehen. Sosehr er sich auch bemühte, sie wieder loszuwerden, sie wollten sich einfach nicht abstreifen lassen.

Gewöhnlich war er es, der den Wald als Erster betrat. Heute aber war ihm zweifellos jemand zuvorgekommen, jemand, dem man auf keinen Fall begegnen sollte, nicht in einem menschenleeren Wald und schon gar nicht ohne Hund. Vor einem Spinnennetz, das wie ein Stoppschild filigran über dem Waldweg schwebte, blieb er unschlüssig stehen. Wer immer Carola Lauk hier zurückgelassen hatte, konnte nicht den gleichen Weg wie er genommen haben. Falls der andere keine Taschenlampe benutzt, sondern die ersten Lichtstrahlen abgewartet hatte, musste er vor kurzem noch hier gewesen sein. Vor einer halben Stunde war es zwischen den Bäumen noch dunkel gewesen, und um einen Körper derart sorgfältig in Szene zu setzen, benötigte man Zeit.

Selbst ihr Haar war frisch gekämmt.

Einen Moment lang zögerte er, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Er spürte, dass er sich fürchtete. Weniger vor der äußeren Bedrohung, vor der Anwesenheit des anderen, sondern vor dem, was in seinem Innern lauerte und was jederzeit wieder aufschrecken konnte. Es hatte Jahre gedauert und ihn unglaublich viel Anstrengung gekostet, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, und er ahnte, dass dort drüben auf der Bank Eindrücke auf ihn warteten, die sich in ihm festfressen und alles zunichtemachen würden.

Er dachte an Laura, und er konnte seinen Puls im Hals spüren.

Während er sich wie beiläufig bückte, um nach einem geeigneten Stock zu greifen, fiel es ihm ein. Er sah sich müde aus dem Fenster schauen und die zurückliegende schlaflose Nacht verfluchen, und er blickte auf den Wagen, der gemächlich sein Gesichtsfeld kreuzte. Er war kurz verwundert gewesen, jemand schon so früh aus dem Wald kommen zu sehen, und wegen des Kennzeichens: SP. Er hatte seiner Verwunderung keine Bedeutung beigemessen. Jetzt aber kehrte die Erinnerung zurück, und er begriff, dass es nicht nur irgendein Wagen gewesen war, sondern der Wagen des anderen, und dass er – falls er sich nicht täuschte – mit dem Mädchen alleine war.

Ein Kombi. Dunkel. Am Ende des Kennzeichens eine Zwei und eine Drei. Oder umgekehrt.

Sieh zu, dass du von hier wegkommst, schoss es ihm durch den Kopf, während sich sein linker Fuß schon zögernd in Bewegung setzte, in Richtung der Bank.

Hoch über ihm suchte ein Specht meißelnd nach Futter, und zwei Amseln schrien sich an, als seien sie in der Lage zu hassen. Aus einem Gebüsch zu seiner Rechten drang leises Rascheln zu ihm herüber. Eine Maus vermutlich. Oder ein Vogel, der das Laub nach Fressbarem durchwühlte? Ein Rascheln, das auf etwas Kleines hindeutete. Nicht das grobe und laute Rascheln eines Menschen. Erstaunt stellte er fest, dass er den Stock inzwischen so fest umklammerte, dass sich sein Handrücken im Dämmerlicht weiß verfärbte. Er nahm sich vor, es bei nächster Gelegenheit Carmen Mingus zu erzählen. Dass er sich wirklich gefürchtet hatte. Dass er bereit gewesen wäre, mit einem abgebrochenen Ast in der Hand um sein Leben zu kämpfen, um sein gottverdammtes Leben, ausgerechnet er, den sie schon seit Jahren geduldig vom Tod fernzuhalten versuchte. Sie würde seine Beobachtung als beachtlichen Erfolg werten, mit einfühlsamer Stimme und diesem Lächeln, das schon so oft den Ausschlag gegeben hatte.

Je näher er der Bank kam, desto mehr verlor sich das Unwirkliche, und das Entsetzen wurde konkret. Ihr Mund war mit mehreren Lagen Isolierband überklebt, fleischfarben, so dass es aus größerer Entfernung nicht von der Färbung der Haut zu unterscheiden gewesen war.

Nur wenige Meter hinter der Bank begann das Wildgehege. Hinter dem Maschendrahtzaun stand ein halbes Dutzend Rehe und ein junger Hirsch und glotzten ihn an.

Erneut dieses Rascheln. Ohne zu zögern, drehte er sich um die eigene Achse, ein wenig nach vorn gebeugt, den Stock leicht angehoben in beiden Händen, gehalten wie ein Baseballschläger, doch es war niemand zu sehen. Nirgendwo eine verdächtige Bewegung. Offenbar war er noch immer allein. Er bemerkte, dass er die Luft anhielt. In seinem Kopf ein altbekanntes Pochen.

Ruhig bleiben, nicht die Kontrolle verlieren, versuchte er sich zu beruhigen. Du hast schon weitaus Schlimmeres gesehen.

Das hatte er wirklich.

Der Geruch des feuchten Waldbodens wurde mit einem Mal intensiver und fraß sich wie Säure durch seine Nasenlöcher. Er spürte, wie sich sein Darm bewegte.

Die Rehe und der Hirsch ließen ihn nicht aus den Augen.

Rasch trat er vor und stand ihr unversehens gegenüber. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Dennoch registrierte er die winzigen Einblutungen unterhalb des Unterlides und die Druckstellen auf ihren Nasenflügeln und begriff widerwillig, was man ihr angetan hatte.

Ihr Körper war straff modelliert, der durchtrainierte Körper einer Jugendlichen, die zweifellos Sport getrieben hatte. Unterhalb der Brüste verlief eine fingerbreite Rötung quer über die Vorderseite ihres Brustkorbs, um sich an den Seiten schon nach wenigen Zentimetern abrupt aufzulösen. Auch ihre Handgelenke wiesen ringförmige Abschürfungen auf – unverkennbare Zeichen einer Fesselung. Die weit gespreizten Beine lenkten seinen Blick nach unten, er konnte sich nicht entziehen und erfasste irritiert das leuchtende Rot, das keineswegs echt sein konnte.

Dieses verdammte Schwein!

Schlagartig wurde ihm klar, was der andere erreichen wollte, was er Carola Lauk hatte antun wollen, und dass er es in seinem Fall bereits erreicht hatte, und in seinem Inneren stieg Wut auf und mischte sich mit Scham.

Er hatte ihr Bild in den Nachrichten gesehen. Ein hübsches Gesicht mit blauen Augen, die interessiert ins Leben blickten, an ihrer linken Wange der Hals des Cellos und die hölzerne Schnecke. Ein sympathisches Mädchen, das nicht den Eindruck erweckte, als ob es etwas gäbe, für das es sich schämen müsste.

Dennoch, dachte er, das letzte Bild wird man nie wieder los.

Der andere wollte das alles zerstören. Er hatte sich nicht damit begnügt, sie zu töten, er hatte sie völlig entblößt und ihre Scham mit Lippenstift beschmiert, und nun setzte er sie den Blicken wildfremder Menschen aus, an einem öffentlichen Ort und auf perverse Art arrangiert, um sie posthum zu erniedrigen und zu einer Hure werden zu lassen.

Er dachte an die Tränen ihrer Mutter. Wie sie sich vor laufender Kamera gedemütigt hatte. Millionen von Zuschauern waren Zeuge gewesen, wie sie weinend um Gnade flehte, und auch er hatte gebannt ihren Worten gelauscht, in dem Wissen, dass es sinnlos sein würde, und vermutlich wusste auch sie es, aber sie bettelte dennoch um ein Wunder. Zu ihrer Rechten ihr Mann, völlig erstarrt, in seinem Gesicht nur noch Resignation und die Gewissheit, dass das Leben stärker war als er. Als ihr Appell ausgestrahlt wurde, war Carola Lauk schon seit zwei Tagen verschwunden gewesen, Opfer Nummer Vier, und jedem war klar, was das bedeutete.

Der Specht hämmerte wie von Sinnen.

Dicht unterhalb der Stelle, wo ihre rechte Hand auf der Lehne ruhte, war eingeschnitzt in das Holz ein großes Herz zu erkennen: »L + P, 2007«, hörte er sich murmeln, und er musste an Laura denken.

Mit letzter Kraft warf sich sein Blick in ihre Augen.

Blau wie das Meer.

Hilf mir!

Er hörte es ganz deutlich. Die Stimme kam nicht von außen, sie drang aus ihrem Mund. Eine Stimme, die er unter Tausenden wiedererkannt hätte, die ihm so vertraut war, dass sie in seinem Innern etwas freisetzte, was er schon seit Jahren gefangen zu halten versuchte, ein Gefühl, das kaum auszuhalten war. Sein linkes Kniegelenk knickte ein, und sein Puls raste. Mit einem Mal roch es nach Schlick, und er wusste, dass er die Kontrolle verlor. Er versuchte, sich auf den Specht zu konzentrieren.

Irgendwo hatte er gelesen, dass Spechte mit ihrem Schnabel bis zu zwanzig Schläge pro Sekunde ausführen können. Dabei entspricht jeder einzelne Schnabelhieb dem Aufprall bei einer Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Stundenkilometern gegen eine feststehende Wand und somit dem Vielfachen der Bremskräfte, welche Astronauten bei der Rückkehr auf die Erde auszuhalten haben. Insofern war es verwunderlich, dass Vögel, die mehrere Tausend Schläge pro Tag ausführten, offensichtlich nicht unter Kopfschmerzen litten.

Dieser Geruch!

Hilf mir!

Dann hörte er den Lärm. Es klang, als stampfte ein riesiges Tier quer durch den Wald genau auf ihn zu, auf ihn und Carola Lauk, mit einer Geschwindigkeit, die Flucht sinnlos erscheinen ließ.

Auch der Hirsch und die Rehe bewegten sich nicht.

»Es ist nichts«, flüsterte er, doch dann hörte er das Splittern der entwurzelten Bäume und griff eilig in seine Jackentasche. Als seine Fingerspitzen fanden, wonach sie suchten, war ihm der Lärm schon bedrohlich nahe gekommen, war nun Tosen und Gurgeln und Stampfen und Kreischen gleichzeitig, und er schloss die Augen und schob sich die Schote in den Mund, und als er sie entschlossen zerbiss und zerkaute und endlich der Schmerz einschoss, war die Bedrohung nur noch wenige Meter von ihm entfernt und raste wütend auf ihn zu, und seine Hände verkrampften sich und wollten sich nicht mehr öffnen lassen, und das Gurgeln schlug in ihn ein wie eine Faust, und das Brennen in seinem Mund wurde schier unerträglich, wurde stärker als der Schmerz und als alles andere, selbst als der Geruch von Schlick um ihn herum, und er sah Laura und wie sie die Hand nach ihm ausstreckte, und dann hörte er erneut die Stimme, aber jetzt in seinem Innern, was bewies, dass sie nur ein Gedanke sein konnte, und sie sagte: »Du musst etwas tun!«, und er begriff, dass sie recht hatte und dass er keine Zeit verlieren durfte.

Er musste zurückkehren.

Jetzt.

Sofort.

Er öffnete die Augen. Die Landschaft um ihn herum war unverändert. Nur etwas heller vielleicht. Die Schärfe der Chilischote schien seinen Schädel auseinanderzutreiben, und seine Augen hörten nicht auf zu tränen. Der Lärm war verebbt und überließ den Wald wieder seinen eigenen Geräuschen.

Als er den Kopf zur Seite drehte, schaute Carola Lauk ihn an.

Wochen zuvor, Los Angeles, Donnerstag, 00:20

Nach nur zwanzig Minuten Schlaf schreckte ihr Handy sie auf.

Benommen ließ sie ihre Linke zur Seite gleiten und führte sie in größer werdenden Spiralen über Notizzettel, Klemmmappen und Fotos hinweg, bis an den Rand der Matratze, wo ihre Fingerspitzen gegen etwas Hartes stießen. Während sich ihre Hand um das Handy schloss, öffnete sie widerwillig die Augen. Auf der Ablage neben dem Bett stand eingefasst in einen Holzrahmen eine Fotografie, die sie gemeinsam mit ihrem Vater zeigte. Das Bild war vor über zwanzig Jahren aufgenommen worden. Sie selbst dreizehn Jahre alt und glücklich in die Kamera lächelnd, ihr Vater unübersehbar stolz mit einer abgeknickten Kochmütze auf dem Kopf, im Hintergrund die Hightech-Küche eines Luxushotels in Buenos Aires.

Die Handymelodie, ein trauriges Bandoneon, das einen Tango interpretierte, wurde unversehens lauter.

Sie führte das erleuchtete Display dicht vor ihr Gesicht, blickte kurz auf die Anzeige und drückte OK.

»Böll.«

»Tut mir leid. Sie werden Ihren Aufenthalt abbrechen müssen«, erklärte Schröder knapp, und seine Stimme klang so klar, als riefe er aus dem Nebenhaus an und nicht aus einer Entfernung von mehreren tausend Kilometern. Dass er es nicht für nötig erachtete, seinen Namen zu nennen, und stattdessen voraussetzte, dass sie ihn sofort an seiner Stimme erkennen würde, war typisch für ihn. Noch bevor sie Einspruch erheben konnte, fügte er hinzu: »Wir brauchen Sie hier. Dringend. So wie es aussieht, ist in Ihrem alten Revier ein Serienmörder unterwegs.«

Sie schaute müde auf die Uhr. »Hallo, Chef. Echt erfrischend, morgens um halb eins Ihre Stimme zu hören. Wäre heute der erste April, dann würde ich jetzt laut lachend auflegen. Ist das Ihr Ernst? Sie wollen mich tatsächlich von hier abberufen?«

Schröder war ihr direkter Vorgesetzter. Ihm zu widersprechen, wagten nur wenige, aber in Stuttgart gab es niemanden, der es so oft gewagt hatte wie sie und der so oft damit durchgekommen war. Als er weitersprach, lag etwas ungewohnt Einfühlsames in seiner Stimme, so als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass er gut daran tat, diplomatisch vorzugehen. »Ich würde Ihnen das sicherlich nicht abverlangen, wenn es nicht dringend erforderlich wäre. Aber er hat bereits zwei Frauen getötet und eine dritte entführt. Das Mannheimer Team tritt seit Wochen auf der Stelle, und ich kenne leider niemanden, der sich in blutrünstige Psychopathen auch nur annähernd so gut einzufühlen vermag wie Sie.«

Wenn Schröder sich mit Lob versuchte, ging das meist schon im Ansatz schief. Selbst wenn man ihm unterstellte, dass er es ernst meinte, schienen sein Tonfall und jede einzelne Formulierung den Inhalt seiner Aussage zu sabotieren. Am Ende war man sich nie völlig sicher, ob man gelobt oder gezielt verhöhnt wurde. Schröder war verheiratet und hatte vier heranwachsende Kinder, und jeder im LKA fragte sich, wie seine Frau ihn über zwei Jahrzehnte lang ertragen hatte.

»Ich hoffe, das leider bezieht sich ausschließlich auf Ihr Bedauern, mir das, was nun kommen wird, zumuten zu müssen, und nicht etwa auf meine Person.«

Als er weitersprach, konnte sie hören, dass er lächelte. »Wenn ich Ihnen auf diese Frage wirklich antworten müsste, hätte ich Sie in beruflicher Hinsicht unterschätzt.«

Sie unternahm einen letzten halbherzigen Versuch, sich seiner Order zu entziehen. »Was ist mit Rössler? Er kennt sich mit Mehrfachtätern genauso gut aus wie ich.«

»Selbst wenn das zuträfe … was ich bezweifle … wird uns Rössler derzeit nicht weiterhelfen können. Er liegt im Krankenhaus. Vor einer Woche ist er auf das Skateboard seines Sohnes getreten und ungebremst auf den Hinterkopf aufgeschlagen.«

»Im Ernst?« Sie konnte Rössler nicht leiden. Nachdem sie seine Einladung zum Abendessen ausgeschlagen hatte, hatte er gekränkt versucht, sie im LKA durch Intrigen ins Abseits zu drängen. Ihre Anteilnahme hielt sich daher in Grenzen.

»Höre ich mich etwa an, als sei ich zu Scherzen aufgelegt?«, fragte Schröder gereizt. »Ich bin schon froh, wenn er das Ganze überlebt. In der Klinik warten sie immer noch darauf, dass er aus dem Koma erwacht.«

»Das kann doch nicht wahr sein!«

Der Gedanke, dass ein Mann wie Rössler von einem Skateboard zur Strecke gebracht werden könnte, ausgerechnet er, der sich vor Jahren bei einer Schießerei zwei Kugeln eingefangen hatte, erschien ihr so absurd, dass er trotz aller Tragik komisch wirkte. Sie begriff, dass Schröder unter diesen Umständen ein Nein auf keinen Fall hinnehmen würde. Auch wenn er sein Anliegen vorerst noch als Bitte tarnte, blieb ihr keine andere Wahl. Für ihren Trip nach L.A. hatte man sie für acht Wochen freigestellt. Für Schröder ein harter Brocken, aber natürlich war ihm klar gewesen, dass sie von ihren Erfahrungen beim FBI und beim LAPD profitieren würde und damit irgendwann auch er, und so hatte er eingewilligt.

»Tja«, sagte sie bissig. »Es wäre wohl fast schon paradox, einen Serientäter weitermorden zu lassen, nur um eine Fortbildung abzuschließen, bei der ich meine Fähigkeiten updaten will, um genau das zu verhindern.«

»Das sehe ich auch so.« Schröders Stimme klang unüberhörbar erleichtert. »Momentan wird die SOKO in Mannheim von einem gewissen Krüger geleitet. Ich nehme an, Sie kennen ihn?«

»Ja, sehr gut sogar.« Als sie von Mannheim zum Landeskriminalamt wechselte, war Krüger in ihr Büro gezogen. Soviel sie wusste, hatte er seither gute Arbeit geleistet.

»Stellt es für Sie ein Problem dar, mit ihm gemeinsam ein Team zu leiten, oder geht das für Sie klar?«

»Nein, kein Problem«, erwiderte sie überrascht. Krüger war ein Typ, mit dem man auskommen konnte. Was sie allerdings irritierte, war Schröders Absicht, sie direkt vor Ort einzusetzen. Im LKA hatte sie vorwiegend als Fallanalytikerin gearbeitet und einzelne Dezernate von Stuttgart aus unterstützt.

»Sie wollen, dass ich in Mannheim arbeite? In meiner alten Abteilung? Bis zur Klärung des Falls?«

»Ja. Ich halte das für eine gute Idee. Sie kennen die Gegend und die Leute und das Kommissariat. Und Sie verstehen sogar die merkwürdige Sprache, die man dort spricht.«

Sie ignorierte den Scherz. Der Gedanke, zwei Jahre nach ihrem Weggang nach Mannheim zurückkehren zu müssen, verdichtete sich in ihrem Innern zu einem schmerzhaft pulsierenden Klumpen, und ihr Gehirn suchte verzweifelt nach einem Ausweg, den es nicht gab.

Einen Moment lang schien Schröder zu zögern, ob er den nächsten Satz aussprechen oder besser für sich behalten sollte. »Um ehrlich zu sein, die Presse macht uns ziemlich Druck. Die Frau, die sich derzeit in seiner Gewalt befindet, ist als Schauspielerin am Nationaltheater engagiert. Johanna van Ahsen. Ist Ihnen der Name ein Begriff?«

Sie erinnerte sich sofort. »Ja. Ich habe sie vor Jahren in Der Widerspenstigen Zähmung gesehen. In der Rolle der Katharina. Eine beeindruckende Frau.« Die Tickets hatte damals Michael besorgt. Dass er ausgerechnet dieses Stück ausgewählt hatte, war vermutlich kein Zufall gewesen. Noch Tage später war er ständig darauf zu sprechen gekommen und hatte sie herausfordernd angegrinst, so als gäbe es da irgendwelche Parallelen, auf die er sie unbedingt hinweisen wollte.

»In der Tat, das muss sie wohl sein. Leider hat das die Erwartungen in unsere Ermittlungsarbeiten gewaltig erhöht. Wir dürfen daher auf keinen Fall den Eindruck entstehen lassen, als würden wir nicht alles tun, um den Täter zur Strecke zu bringen. Und genau an dem Punkt kommen Sie ins Spiel. Unsere ultimative Geheimwaffe.« Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Die Presseheinis fragen ständig nach Ihnen. Können Sie mir folgen?«

»Ich fürchte: Ja. Ich soll die Wellen glätten, indem ich gefährlich und feminin in die Kameras lächle.«

»Genau.«

Seit der Sache mit Hoffmann war sie bekannt wie ein bunter Hund. Schröder wusste das. Die Öffentlichkeit würde es ihm niemals verzeihen, wenn noch weitere Morde geschähen und er sie nicht einbezog. Auch der Druck auf die Staatsanwaltschaft war vermutlich immens, und die Staatsanwaltschaft neigte dazu, Druck schnellstmöglich weiterzugeben und nach Verantwortlichen zu suchen. Indem er sie aus L.A. zurückbeorderte, würde er Führungsstärke und Entschlossenheit demonstrieren und sich einige Wochen Zeit verschaffen. Johanna van Ahsen würde sie vermutlich nicht mehr retten können. Nach deren Tod aber würden sich alle Blicke auf sie heften, die Presse würde sie nicht mehr aus den Augen lassen und man würde sie für jedes weitere Opfer persönlich verantwortlich machen. Bei der Fahndung nach Hoffmann hatte sie sich gut geschlagen. Was aber, wenn sie dieses Mal versagte?

Ihr Blick fiel auf die Fotografien auf der linken Hälfte des Bettes. Eine fünfköpfige Familie, die in einem Haus im Stadtteil Crompton tot aufgefunden worden war. Schüsse aus einer Schrotflinte, fast ausnahmslos Kopftreffer. Knochensplitter, Blut und Hirnmasse, wohin man auch blickte, ein achtjähriges Mädchen ohne Gesicht, die Toten überall in der Wohnung verteilt, die doppelläufige Waffe neben der Hand des Vaters. In dessen Mund Schmauchspuren, der obere Teil des Schädels komplett weggesprengt. Ein eindeutiger Fall, wie es schien, aber sie hatte dennoch Zweifel. Das Schicksal der Familie hatte sie seit Tagen beschäftigt, doch wenn sie sich Schröder nicht doch noch widersetzte, würde sie den Fall abgeben müssen.

»Johanna van Ahsen, wann wurde sie entführt?«

»Vor genau acht Tagen. Ich fürchte, dass sie die kommende Woche nicht überleben wird. Daran wird auch Ihre Rückkehr nichts ändern können. Aber wenn wir ihn nicht stoppen, wird er sich schon bald das nächste Opfer greifen. Und dann noch eine und noch eine. Er kommt allmählich in Fahrt.«

Sie dachte an ihren Besuch im Nationaltheater. An das Gesicht von Johanna van Ahsen, als sie Petruchio erbittert Paroli bot. Hatte der Täter seine Opfer nur zufällig ausgewählt oder hatte auch ihn ihr Spiel fasziniert? Der Widerspenstigen Zähmung. Hatte er sie vielleicht sogar in dem Stück gesehen? War das sein Thema? Die Phantasie, die ihn antrieb?

»Na gut. Ich komme zurück. Aber … fürs Protokoll … nur unter Protest.«

»Danke«, sagte Schröder, ohne seine Erleichterung zu verbergen. »Ich war so frei, Sie für übermorgen um vierzehn Uhr zu einer Besprechung anzukündigen. Werden Sie das schaffen?«

Fuck you, dachte sie und begann zu rechnen.

Schröder mutete ihr einiges zu. Soviel sie wusste, starteten die Direktflüge um fünfzehn Uhr und kamen gegen elf Uhr morgens in Frankfurt an. Zumindest würde ihr das ausreichend Zeit lassen, sich von Jason Whiteman zu verabschieden und ihm nochmals zu erläutern, warum sie das Schrotschuss-Szenario für gestellt und den toten Familienvater für unschuldig hielt.

»Wenn ich in den nächsten Minuten beim Flughafen anrufe, klarstelle, dass ich in good old Europe einen Serienkiller zur Strecke bringen muss, und wenn ich zur Not mit einigen Leuten schlafe, dann schon.«

»Das klingt nach einem klaren Ja«, stellte Schröder schmunzelnd fest. »Ich hoffe nur, die amerikanischen Kollegen werden Sie nicht allzu sehr vermissen.«

Sie ließ den Blick über die Akten und Fotos schweifen. »Natürlich werden sie das! Denn wie Sie mir soeben erläutert haben, bin ich doch absolut unersetzlich.«

Sie bat Schröder, ihr noch vor dem Abflug erste Informationen in einer verschlüsselten E-Mail zukommen zu lassen, dann legte sie auf. An der gegenüberliegenden Wand schlängelte sich auf einer gerahmten Fotografie die Interstate Fünf der nächtlichen Skyline der Stadt entgegen. Die Fünf war ein Teil der Panamericana. Mit zwanzig hatte sie davon geträumt, sie eines Tages abzufahren, von Alaska nach Feuerland, gemeinsam mit Jörg. Sie hatten monatelang Pläne geschmiedet und Bücher gewälzt und Geld gespart, aber mit Jörgs Tod war der Traum zerplatzt. Hinter ihren Augen begann es zu pochen, und die Luft in dem kleinen Zimmer schien sich zu verdichten.

»Bullshit«, knurrte sie leise, aber in dem großen Motelzimmer klang es unwirklich laut. Dann öffnete sie das Telefonverzeichnis ihres Handys, wählte die Nummer des Flughafens und hoffte, dass sie an einen Mann geraten würde.

05:21

Mit einer entschlossenen Bewegung trat er nach vorn, ergriff Carolas Knie und drückte sie kraftvoll zusammen. Keine Leichenstarre, dachte er, als sie mit einem dumpfen Geräusch gegeneinanderstießen, was bedeutete, dass sie noch nicht lange tot sein konnte. Ihr Körper war erstaunlich sauber, und sie roch, als hätte sie unlängst geduscht. Der Duft setzte eine Erinnerung in ihm frei, die er nicht sofort einzuordnen vermochte. Zögernd begriff er, dass es der Geruch seines eigenen Duschgels war, ein typischer Männerduft, den er erst seit einigen Wochen benutzte.

Ich muss verrückt sein, dachte er, das mit den Knien war ein unverzeihlicher Fehler, als er aber zwei Schritte zurücktrat, war er mit der erzielten Wirkung zufrieden. Die rotgeschminkten Schamlippen wurden nun durch die aneinanderliegenden Oberschenkel verborgen, wodurch die Szene weniger anstößig wirkte. Könnte der Mörder ihn jetzt sehen, würde er vermutlich toben vor Wut. Die Beamten der Spurensicherung allerdings auch. Ob er denn noch zu retten sei, würden sie ihn kopfschüttelnd fragen, ob er denn nicht lese oder fernsehe und daher nicht wisse, dass man an einem Tatort nichts anzufassen habe, unter keinen Umständen, auch nicht aus Mitleid oder aufgrund der eigenen Biographie und erst recht nicht auf Anweisung halluzinierter Stimmen. Mit etwas Glück würden sie dennoch nicht gleich den Täter in ihm sehen, sondern nur einen alten Trottel, der in einem Anfall von Mitgefühl wertvolle Spuren vernichtet hatte.

Der Specht hatte sein Hämmern inzwischen eingestellt, und es war nur noch das Zwitschern der Vögel zu hören. Er schaute hinüber auf den Parkplatz, auf dem schon bald die Jogger ihre Wagen abstellen würden. Selbst jetzt in der Morgendämmerung war die Luft schwül und warm. Tagsüber war die Hitze kaum auszuhalten. Wer Sport trieb und es zeitlich einrichten konnte, nutzte daher die frühen Morgenstunden. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

Zeit?

Wofür?

Er musste die Polizei anrufen.

Dass er die Position der Leiche verändert hatte, war schlimm, aber nicht unbedingt unverzeihlich. Die Situation war immer noch zu retten. Sein Handy lag zu Hause auf dem Küchentisch. Wenn er Hilfe herbeirufen wollte, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als das Mädchen für einige Minuten allein zurückzulassen.

Diese Augen.

Blau wie das Meer.

Sein Blick fiel auf das Klebeband, das ihre Mundöffnung luftdicht verschloss. Erneut trat er dicht an sie heran. Unmittelbar vor der Bank ging er in die Hocke, schielte – um besser sehen zu können – über den oberen Rand seiner Brille hinweg, strich mit Zeigefinger und Mittelfinger zart über ihre linke Wange und fuhr vorsichtig mit dem Fingernagel unter den Rand des Bandes. Als er ein kleines Stück des Materials zu fassen bekam, presste er die Fingerspitzen fest aneinander und zog vorsichtig an. Während sich das Band widerspenstig von der Haut löste, kam das bläuliche Rot der Lippen zum Vorschein.

Was tust du da bloß? Du machst einen furchtbaren Fehler.

Als er kurz die Augen schloss, sah er in der Dunkelheit seines Schädels Marens Gesicht – völlig unversehrt, doch im selben Moment, als ihm dies auffiel, setzte bereits die Verwesung ein. Armer Max, sagte sie traurig, und es war unglaublich viel Liebe in ihrer Stimme, aber inzwischen war ihr Gesicht aufgequollen und von Gasblasen übersät, und er riss erschrocken die Augenlider nach oben.

Carola Lauk schaute ihn weiterhin an.

Mit einem kleinen Ruck zog er das Band vollständig ab. Er knüllte es achtlos zu einer Kugel zusammen und steckte es in die Hosentasche. Carolas Mund stand leicht offen. Er konnte die Spitze ihrer Zunge sehen. Behutsam strich er über ihr Haar.

»So ist es besser«, flüsterte er leise.

Als er bemerkte, dass er auf eine Reaktion wartete, schüttelte er ungläubig den Kopf. Noch einmal drehte er sich um die eigene Achse, aber noch immer war niemand zu sehen.

»Keine Sorge. Ich bin gleich zurück«, sagte er, überrascht über die Zärtlichkeit in seiner Stimme. »Ich muss dringend die Polizei informieren.« Dann wandte er sich ab und rannte los.

Für das entfernte Klebeband würde er sich gegenüber der Polizei ebenfalls rechtfertigen müssen. Aber das war leicht. Er würde einfach behaupten, er sei sich nicht sicher gewesen, wie es tatsächlich um sie stand, und habe ihr Luft verschaffen wollen. Was sogar zutraf – irgendwie. Das mit dem Klebeband war jedenfalls leichter zu verstehen als sein Einfall mit den Knien. Für einen Trottel würden sie ihn trotzdem halten. Gewiss auch für verdächtig. Sie würden sein Haus durchsuchen und seine Fingerabdrücke sichern und natürlich auch DNA. Aber trotzdem würde sich zu den beiden anderen Morden keinerlei Verbindung herstellen lassen. Dass Carola nach seinem Duschgel roch, war allerdings merkwürdig. Ein Zufall. Der allerdings – wie sie feststellen würden – nichts zu bedeuten haben musste.

Carola Lauks Körper würden sie abtransportieren. Um sie in der Gerichtsmedizin obduzieren zu lassen. Der Gedanke, dass man sie aufschneiden würde, versetzte ihm einen Stich. In seinem Innern war da plötzlich dieses merkwürdige Gefühl. Das Gefühl, Einspruch erheben zu wollen.

Als er wenige Minuten später schweißnass den Eingang seines Hauses erreichte, zögerte er kurz. Das Handy lag im Erdgeschoss. Auf dem Küchentisch. Das wusste er genau. Er musste nur die Haustür aufschließen. Das war alles. Aufschließen. Dann ein paar Schritte bis zur Küche gehen. Sieben oder acht. Nach dem Handy greifen und anrufen. Mehr nicht, einfach nur anrufen.

Hallo, mein Name ist Romberg. Max Romberg. Ich möchte ein Verbrechen melden.

Mehr nicht.

Sie würden ihn befragen, ihn zur Rede stellen und verdächtigen, aber das würde ihn nicht ernsthaft beunruhigen. In einem Leben wie dem seinen spielte das eigene Befinden längst keine Rolle mehr. Sie würden die verbleibenden Spuren rund um den Tatort sichern, das Mädchen obduzieren und die Eltern informieren. Alles würde seinen Gang gehen. Carola würde aus seinem Leben verschwinden, als wäre sie niemals da gewesen. So wie die anderen auch. So als hätte er dies alles nur geträumt, nur ein Traum mehr, ein Traum von vielen, so wie er sie Nacht für Nacht träumte, so wie er ihn auch in der letzten Nacht geträumt hatte, als er schweißgebadet aufgeschreckt war, und natürlich war jemand gestorben, denn letztendlich starb immer jemand, seit Jahren schon. Seine Träume waren nicht nur willkürliche Zuckungen der Großhirnrinde, nicht nur Ausdruck einer verschlungenen Symbolik. Sie waren viel mehr als das. Sie waren Boten, die von der Vergangenheit erzählten, in einer Weise, die oft wirklicher war als die Wirklichkeit, so dass er beides kaum noch auseinanderhalten konnte, denn die Grenze zwischen der Welt außerhalb und innerhalb seines Kopfes war während einer einzigen Woche für immer zusammengebrochen, und so sehr sich Carmen Mingus auch bemüht hatte, sie gemeinsam mit ihm wieder aufzurichten, es war ihr nicht gelungen.

Hilf mir!

Er musste sich beeilen.

Er lief zur Garage und schob das graue Metalltor nach oben. Im selben Moment verfluchte er sich dafür, den Raum nicht schon längst ausgeräumt zu haben. Vorbei an Altkleidersäcken und Kartons mit Geschirr, an abgefahrenen Reifen und dicken Zeitungsstapeln watete er zwischen allerlei Gerümpel hindurch bis zur hinteren Wand. Trotz des heillosen Durcheinanders fand er auf einem wackligen Metallregal prompt, wonach er suchte: eine zusammengefaltete Plastikfolie, die er vor etwa zwei Jahren gekauft hatte, um bei der dringend erforderlichen Renovierung seines Wohnzimmers den Parkettboden abzudecken. Zu der Renovierung war es bis heute nicht gekommen. Er sah einfach nicht ein, wozu.

Das Brennen in seinem Mund ließ allmählich nach, aber die Wirkung der Chilischote hielt erstaunlich lange an, und noch immer ging von seiner Zunge und seinem Gaumen eine schier unerträgliche Hitze aus. Er stolperte zur Rückseite des Wagens, öffnete die Heckklappe und legte den gesamten Kofferraum sorgfältig mit der auseinandergefalteten Plastikfolie aus.

»Das wirst du bereuen«, warnte er sich selbst, aber er war bereits zu entschlossen, als dass er sich von solchen Einwänden noch hätte aufhalten lassen. Er dachte an Achim, seinen Bruder, der mittags vorbeikommen würde, um ihn zum Public Viewing abzuholen. England gegen Deutschland. Um sechzehn Uhr. Das Achtelfinale. Bis dahin blieb ihm noch jede Menge Zeit. Für die Bergung von Carola Lauk dagegen blieben ihm nur noch wenige Minuten.

Er lachte höhnisch auf. Hatte er tatsächlich gerade Bergung gedacht?

Als er den Wagen rückwärts auf die Straße manövrierte, den Vorwärtsgang einlegte und auf den Waldrand zufuhr, hoffte er, dass niemand so früh wach wäre, um sein Tun beobachten und später bezeugen zu können. Gleichzeitig war er sich bewusst, dass dies schon längst keine Rolle mehr spielte. Nachdem er die Häuser hinter sich gelassen hatte, gab er Gas und erreichte kurz darauf den Parkplatz, auf dem sich an den Wochenenden Hunderte von Wagen drängten. Er parkte rückwärts ein, sprang aus dem Auto und öffnete mit zitternden Händen die Heckklappe. Zwischen den Blättern hindurch konnte er Carola auf der Bank sitzen sehen. Der Hirsch und die Rehe waren spurlos verschwunden. Mit eiligen Schritten stapfte er zwischen den Bäumen hindurch über Wurzeln und morsche Äste hinweg auf sie zu. Als er sie erreichte, sah er gerade noch, wie eine große Ratte im Gebüsch verschwand.

Hatte das Mistvieh sie etwa gebissen?

Einen Moment lang zögerte er, wie er sie anfassen sollte. Dann ergriff er ihre Arme, ging vor ihr in die Hocke und zog sie dicht an sich heran, so dass ihr Oberkörper über seine rechte Schulter kippte. Er ließ die Arme los, ergriff ihre nackten Oberschenkel und richtete sich keuchend auf. Sein T-Shirt klebte nass auf der Haut. Jeder, der ihn so sah, musste ihn für den Mörder halten. Niemand, ganz gleich, was er auch immer als Entschuldigung vorbringen würde, würde ihm jetzt noch Glauben schenken. Während er Carola Lauk zum Wagen trug, wurde ihm erschrocken bewusst, dass er überall Spuren hinterlassen hatte. Aber es gab kein Zurück mehr. Sie zu beseitigen, würde Zeit kosten und nur das Risiko erhöhen, beobachtet zu werden.

»Gleich bist du in Sicherheit«, sagte er laut, und erneut roch es nach Schlick, und er hörte die Geräusche der Brandung und er sah Lauras Gesicht vor sich und er hörte sie schreien, aber dann fiel ihm auf, dass die Haut unter seinen Handflächen keinerlei Wärme mehr verströmte, und er begriff widerwillig, dass Carola Lauk tot war.

Wochen zuvor, Mannheim, Freitag, 13:59

Als sie die Tür des Besprechungszimmers öffnete, war sie völlig entspannt. Der Raum lag im ersten Stock. Sie war die Stufen dennoch langsam hinaufgestiegen, um bei ihrer Ankunft nicht außer Atem zu sein. Den schweren Koffer und die Reisetasche hatte sie in einem Schließfach im Bahnhof zurückgelassen. Was auch immer gleich passieren würde, so wollte sie auf jeden Fall noch heute einen Zug nach Stuttgart nehmen, um ihren Wagen abzuholen und zu Hause einige Dinge zu regeln. Zu Hause? Seit der Trennung von Michael schien ihre Wohnung kontaminiert zu sein. Dieser verdammte Schweinehund! Noch im Hinausgehen hatte er sie angelogen. Du begehst einen furchtbaren Fehler, hatte er ihr versichert, und dass ihr Misstrauen und ihre Eifersucht völlig unbegründet seien, im naiven Vertrauen auf seinen Passwortschutz und nicht ahnend, dass sie jede seiner E-Mails mehrfach gelesen hatte. Während er weiterhin stur seine Unschuld beteuerte, hatte sie jeglichen Respekt vor ihm verloren. Am Ende hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie sich über Jahre in ihm getäuscht hatte, aber in den Abendstunden hatte sie dennoch ein Gefühl der Melancholie empfunden, das sie diesem Dreckskerl längst nicht mehr zubilligen wollte. Insofern war Los Angeles auch eine Flucht gewesen, bunt und laut und weit genug entfernt, um alles lächerlich klein erscheinen zu lassen. Aber dann hatte Schröder angerufen, und jetzt war sie zurück, und verrückterweise fand sie sich sogar in Mannheim wieder, in jener Stadt, in der sie Michael kennengelernt hatte, in der er seit über zehn Jahren arbeitete und in der er inzwischen wieder eine Wohnung bezogen hatte.

Der Raum war brechend voll. Etwa dreißig Personen, die rochen wie hundert. Unter ihnen viele bekannte Gesichter, unter anderem Franz Mildenberger, seines Zeichens Polizeipräsident, Roland Wechters, der zuständige Gerichtsmediziner, Xaver Seibling, der Pressesprecher, und Florian Krüger, der sie so schnell erspähte, dass ihr nicht mehr genügend Zeit blieb, um über die Schwelle zu treten.

»Meine Damen und Herren. Darf ich vorstellen: Hauptkommissarin Lena Böll vom LKA Stuttgart.« Er sprach es aus, als würde er ein Bankett eröffnen, in einem unangebracht feierlichen Tonfall, und dabei strahlte er über das ganze Gesicht, so als hätte er sie tagtäglich vermisst. Sie wusste, dass er sie damals gemocht hatte und dass er vielleicht ein wenig verliebt gewesen war, aber die überschwängliche Freude in seinem Gesicht nach mehr als zwei Jahren Pause kam dennoch unerwartet. Sie lächelte irritiert zurück.

Während sie im Türrahmen stehen blieb, schabten Dutzende von Stuhlbeinen lautstark über das mitgenommene Parkett. Was folgte, war sie längst gewohnt. Interessierte Männerblicke, die wie Würmer über ihren Körper glitten, vom Gesicht nach unten bis hinab zu den Beinen und dann zurück über die Brüste bis hinauf in ihr Gesicht. Die nur kurz die Narbe streiften und dann hungrig zu den Lippen krochen. Dazwischen die Gesichter der Frauen, denen die Reaktion der Männer nicht entging und die sie misstrauisch musterten. Diejenigen, die sie von früher kannten, lächelten sie freundlich an, die Neuen aber verfingen sich verblüfft in ihrer Fassade und drangen nicht zu ihr durch.

Sechs Neue. Zwei Frauen, vier Männer. Die ältere der Frauen trug Designerklamotten. Vermutlich die zuständige Staatsanwältin. Die anderen fünf waren dem Anschein nach Bullen, einer von ihnen bereits deutlich über vierzig, die anderen noch in den Zwanzigern: Frischlinge. Nur ein Teil der Beamten gehörte der Mordkommission an, die anderen arbeiteten gewöhnlich in anderen Dezernaten. Was bei der Bildung einer SOKO nicht unüblich war, da keine Abteilung über genügend Leute verfügte, um zwanzig oder dreißig Ermittler zu stellen.

»Hallo, Florian. Erfreut, dich zu sehen.« Die Besprechung hatte offensichtlich bereits begonnen. Worüber sie sich insgeheim ärgerte. Nach einer Reise von mehreren tausend Kilometern war sie exakt eine Minute zu früh eingetroffen, ein Detail, auf das sie durchaus stolz sein konnte, und nun eröffneten diese Idioten die Sitzung tatsächlich zu früh und gaben ihr das Gefühl, unpünktlich zu sein. Indem sie eine Verbeugung andeutete, drehte sie sich in Richtung des Polizeipräsidenten. »Hallo, Chef.« Sie nickte mehreren Anwesenden verschwörerisch zu und schenkte Wechters ein vielsagendes Lächeln. Dann wandte sie sich erneut an Krüger. »Ich habe erst vor eineinhalb Stunden ausgecheckt. Dort, wo ich herkomme, ist es jetzt drei Uhr morgens. Ein starker Kaffee wäre daher nicht zu verachten. Könnte ich mich vielleicht irgendwo hinsetzen, bevor ich kollabiere?«

»Hier vorne.« Krüger deutete auf den freien Stuhl an seiner Seite.

»Verstehe. Frontalunterricht«, erwiderte sie schnippisch, denn die beiden Stühle standen abgeschirmt hinter einem Tisch und waren auf die Mitte des Raumes ausgerichtet. Einen Moment lang war sie unsicher, wie sie dorthin gelangen sollte, doch dann rückten die ersten Stühle beiseite und vor ihr tat sich ein Durchgang auf, durch den sie wie Moses durch das Rote Meer geradewegs hindurchschreiten konnte. Der Schweißgeruch war gewöhnungsbedürftig. Als sie Krüger erreichte, zögerte sie kurz, ob sie ihn umarmen oder ihm die Hand reichen sollte. Sie entschied sich für Letzteres. Er war unrasiert und blass und seine Hand war feucht. Dem äußeren Anschein nach hatte er seit Tagen kein Auge zugetan.

»Meine Güte«, sagte sie leise. »Kaum lässt man dich zwei Jahre allein, schon siehst du dreißig Jahre älter aus.« Krüger war immer ein fanatischer Sportler gewesen. An die zwei Meter groß. Durchtrainiert. Ohne ein Gramm Fett am Körper. Jetzt aber wirkte er fast schon ausgemergelt.

Er grinste breit, doch die Art, wie er ihre Hand drückte, schien nicht zu seiner Mimik passen zu wollen. »Ich weiß. Zu viele Überstunden in letzter Zeit. Aber ich gebe mich immer noch der Hoffnung hin, der Verfall sei reversibel.« Jemand lachte.

Als sie sich erschöpft auf die Sitzfläche fallen ließ, schob sich eine Hand in ihr Gesichtsfeld und stellte eine Kaffeetasse vor ihr ab. Es war Mildenberger. Er trug ein graues Hemd, und unter seinen Armen hatten sich handtellergroße Schweißflecken gebildet. »Noch immer mit Milch, aber ohne Zucker, nehme ich an.«

»Ja, bestens. Vielen Dank.«

Wie Krüger so war auch er unverkennbar froh, sie zu sehen. Ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Aufgrund seiner Körperfülle wirkte Mildenberger ruhig und gemütlich und wurde daher oft unterschätzt. In Wirklichkeit aber verfügte er über einen scharfen Verstand und genügend Selbstbewusstsein, um sich die Argumente seiner Mitarbeiter in Ruhe anzuhören und um notfalls von seiner eigenen Meinung abrücken zu können. Ein angenehmer Chef, der sie mehrmals gerügt, sie aber nie am Denken gehindert hatte.

»Schröder hat mir erzählt, dass Sie wegen uns vorzeitig aus Los Angeles zurückkehren mussten. Ich kann mir vorstellen, was Ihre Zeit beim FBI und beim LAPD für Sie bedeutet haben muss. Ich kann nur hoffen, dass Sie uns das nicht ewig nachtragen werden.« Die Selbstverständlichkeit, mit der er das Los Angeles Police Department zum LAPD abkürzte, wirkte derart routiniert, als hätte er es geübt.

»Der loyale Gefolgsmann verwirklicht nicht seine eigene Existenz, sondern die seines Fürsten«, zitierte sie sarkastisch, und als Mildenberger sie argwöhnisch musterte, fügte sie schmunzelnd hinzu: »Yamamoto. Der Weg des Samurai.«

»Das klingt ziemlich bitter«, stellte er verunsichert fest. An seiner Stirn widersetzten sich mehrere große Schweißtropfen trotzig der Schwerkraft, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie nachgeben würden.

»Geben Sie mir eine Woche! Dann werde ich Mannheim wieder aus tiefstem Herzen lieben. Momentan allerdings hätte ich nichts dagegen, wenn mitten auf dem Marktplatz ein Vulkan ausbräche und die Stadt in Schutt und Asche legen würde.«

Mildenberger biss sich demonstrativ auf die Unterlippe. »So etwas Ähnliches hatte ich bereits befürchtet. Als ich Schröder anrief, um Sie als Unterstützung anzufordern, konnte ich wirklich nicht ahnen, was ich damit anrichten würde. Uns war nur klar, dass wir einen Profiler benötigten. Ihr Kollege hatte kurz zuvor einen Unfall erlitten. Somit fiel die Wahl zwangsläufig auf Sie.«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich säße mit Sicherheit auch hier, wenn Rössler das Skateboard verfehlt hätte. Schröder ist schlau. Zu schlau, als dass er es riskieren würde, die Erwartungen der Öffentlichkeit zu enttäuschen. Ich hoffe nur, allen Beteiligten ist klar, dass auch ich keine Wunder vollbringen kann.«

»Keine Sorge. Sollte man Sie unter Druck zu setzen versuchen, werde ich mich schützend vor Sie stellen. Und wie Sie unschwer erkennen können, bin ich um einiges breiter als Sie.« Sein Blick fiel auf die Narbe auf ihrer linken Wange und sie ahnte, was ihm durch den Kopf ging. »Hatten Sie unterwegs ein wenig Zeit, sich in die Fälle einzuarbeiten, oder sollen wir sie nochmals gemeinsam durchgehen?« Den letzten Satz sprach er so laut aus, dass jeder ihn hören konnte.

»Beides«, erwiderte sie und griff eilig nach ihrer Kaffeetasse. »Wenn Sie mir vielleicht vorher noch kurz die sechs Neuen vorstellen könnten?«

»Natürlich«, sagte Mildenberger. Indem er nacheinander auf die ihr unbekannten Gesichter deutete, nannte er in rascher Folge Aufgabenbereiche und Namen. Wie sie vermutet hatte, arbeiteten fünf von ihnen für die Kripo, Gesicht Nummer sechs dagegen gehörte der zuständigen Staatsanwältin Mira Breitbusch-Keese, ein Name, bei dessen Nennung Mildenbergers Mundwinkel zuckten, ein Name wie eine Strafe. Als sie Lena Böll zulächelte, war zu sehen, dass sie sich die Freundlichkeit bewusst abringen musste. Der ältere Mann hieß Markus Klein. Sein Haar war bereits völlig ergraut und ging an einigen Stellen ins Weiße über. Er trug ein schwarzes Hemd und eine Brille mit dicken schwarzen Rändern, was ihm den Look eines exzentrischen Künstlers verlieh. Was er vorher getan und was ihn nach Mannheim verschlagen hatte, erfuhr sie nicht.

»In Ordnung«, sagte Krüger, nachdem Mildenberger zum Ende gekommen war. »Dann fasse ich jetzt also noch einmal kurz zusammen, was wir bisher haben.«

Ein junger Polizist, der – wie Lena Böll Minuten zuvor erfahren hatte – Müller hieß, drückte eilig auf den Schalter des Beamers. Augenblicklich verfärbte sich die weiße Leinwand ockerfarben und verwandelte sich in die mit Symbolen übersäte Oberfläche von Krügers Laptop. Als Bildschirmhintergrund hatte er das Monument Valley gewählt. Krüger liebte die Wüste. Vor ein paar Jahren war er sogar den Badwater Ultra gelaufen. Zweihundertfünfzehn Kilometer durch die Gluthölle des Death Valley. Der Cursor huschte an den oberen Bildschirmrand, zu einem leuchtend gelben Blitz, und auf der Leinwand erschien das Bild einer schönen jungen Frau.

»Martina Arnold, zwanzig Jahre alt. Zog vor einem Jahr nach Mannheim, um Psychologie zu studieren. Lebte zuvor mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in Worms. Zum Zeitpunkt ihrer Entführung teilte sie sich mit drei weiteren Studentinnen eine Altbauwohnung in der Neckarstadt. Kein fester Freund. Drei Monate nach ihrer Ankunft in Mannheim war sie kurzzeitig mit einem Kommilitonen liiert, der aber für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi vorweisen konnte. Neben ihrem Studium war sie politisch beim Bund für Umwelt- und Naturschutz engagiert. Kurz vor ihrem Tod wurde sie vom Mannheimer Morgen interviewt. Wegen der bevorstehenden Artenschutzkonferenz in Katar. Der Artikel und ein Bild von ihr wurden im Lokalteil abgedruckt. Gut möglich, dass der Täter erst dadurch auf sie aufmerksam wurde. Sie wurde zuletzt am sechsundzwanzigsten März gesehen. Gegen siebzehn Uhr in der Nähe des Strandbads. Der Täter hat sie vermutlich beim Joggen am Rheinufer überrascht, wo genau, ließ sich leider nicht nachvollziehen. Bei der Obduktion fanden sich in ihrem Nacken zwei winzige Verbrennungen. Nach Ansicht von Doktor Wechters handelt es sich dabei eindeutig um Strommarken. Das heißt, sie wurde mit einem Elektroschocker attackiert.«

Daher der Blitz, dachte Böll.

»Anschließend blieb sie zwei Tage verschwunden und wurde am Achtundzwanzigsten um acht Uhr morgens von einem Spaziergänger auf einem Parkplatz bei Walldorf gefunden.«

Das nächste Bild zeigte den Auffindeort. Die Frau lag auf dem Rücken, völlig nackt, die Beine weit gespreizt, auf eine Weise, die unmöglich zufällig entstanden sein konnte. Um sie herum Dutzende von Spurenziffern. An ihrer Kehle klaffte eine spindelförmige Wunde, in deren Tiefe Muskeln und Sehnen zu erkennen waren. Dennoch fand sich an der Leiche kaum Blut.

Lena Böll hatte das Bild bereits im Flugzeug gesehen. Trotz des Fensterplatzes und obwohl sie den Laptop so weit wie nur möglich zur Seite gedreht hatte, war es ihrem Sitznachbarn dennoch gelungen, einen Blick zu erhaschen. »Oh my god«, hatte er gestöhnt und sie entsetzt angestarrt. Sie hatte nur bedauernd mit den Schultern gezuckt.

Ihr war klar, dass jede ihrer Regungen von den Anwesenden genau beobachtet wurde. Besonders von den Neuen. »Er hat sie gewaschen und gekämmt«, stellte sie nüchtern fest. »Hat sich das beim zweiten Opfer wiederholt?«

In der Peripherie ihres Gesichtsfeldes redete Mildenberger auf einen der Frischlinge ein, Katja Bleskjew, eine drahtige Blondine mit gepierctem Nasenflügel und einer punkig gestylten Kurzhaarfrisur. Sie trug ein olivgrünes Trägerhemd, und ihre Oberarmmuskulatur ließ unschwer erkennen, dass sie regelmäßig Sport trieb. Die Frau nickte, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ betont selbstbewusst den Raum.

»Ja«, antwortete Krüger. »Zu Beginn war unklar, ob es sich tatsächlich um den gleichen Täter handelte. Erst als die Kriminaltechniker nachweisen konnten, dass beide Frauen mit dem gleichen Duschgel gesäubert wurden, waren wir uns unserer Sache allmählich sicher. Nach ihrer Ermordung wurde sie gründlich gebadet. Selbst in der Scheide und im Darm wurde Seifenlösung nachgewiesen.«

Als sie die Kaffeetasse zum Mund führte, wechselte Krüger zum nächsten Bild. Es zeigte eine Großaufnahme des rechten Handgelenks, an dem ein bläulich verfärbter Streifen zu erkennen war.

»An der Leiche waren Spuren einer Fesselung zu erkennen. Sie ist zweifellos wiederholt vergewaltigt worden, aber direkt am Körper fanden sich weder Sperma noch anderes Zellmaterial. Dafür wurden in der näheren Umgebung des Fundortes mehrere Zigarettenkippen sichergestellt, die allerdings unterschiedliche DNA aufwiesen – was natürlich nicht ausschließt, dass eine von ihnen dennoch vom Täter stammen könnte. An den abgeschürften Stellen konnten wir mikroskopische Faserspuren nachweisen, Fragmente eines rot-weiß geflochtenen Polyesterseils, die uns aber ebenfalls nicht weiterbrachten.«

Krüger wollte bereits zum nächsten Bild wechseln, aber Lena Böll kam ihm mit einer Frage zuvor. »Da ist etwas, was ich nicht verstehe. Mit dem Elektroschocker konnte er zwar kurzfristig ihre Muskulatur ausschalten und sie somit kampfunfähig machen, aber betäuben konnte er sie auf diese Weise kaum.«

»Völlig korrekt«, meldete sich Roland Wechters zu Wort und sprang dynamisch wie ein Springball vom Stuhl auf die Sohlen seiner Birkenstock-Sandalen. Seine Leinenhose und sein weites Hemd waren eindrucksvoll zerknittert, so als hätte er in der vergangenen Nacht in voller Bekleidung geschlafen, angesichts der Hitze ein eher abwegiger Gedanke, aber sie wusste, dass er gelegentlich im Institut übernachtete, auf einem Feldbett allerdings, und nicht etwa auf einem der Obduktionstische, wie böse Zungen behaupteten. »Er hat sie mit dem Schocker außer Gefecht gesetzt und sie anschließend mit Chloroform betäubt. In ihrem Körper waren Spuren von Trichlormethan nachzuweisen, und es fanden sich Druckstellen und eine auffällige Hautreizung an Mund und Nase.«

Krüger drückte mehrfach auf die Return-Taste und die Leinwand zeigte Martina Arnolds Mund. Dicht über der Oberlippe waren deutlich eine Rötung und ein blauer Fleck zu erkennen.

Lena Böll streichelte nachdenklich den Rand ihrer Kaffeetasse. »Da Chloroform nicht für jedermann zugänglich ist, wäre es möglich, dass der Täter über einen Berechtigungsschein verfügt. Oder dass er das Chloroform selbst herstellen kann. Das heißt, er gehört entweder einer autorisierten Berufsgruppe an, oder er verfügt über die erforderlichen chemischen Grundkenntnisse, um es zu Hause zu produzieren.«

Krüger nickte ihr anerkennend zu. »Stimmt genau. Insofern sahen wir in dem Chloroform auch unsere am meisten versprechende Chance. Wir kontrollierten Apotheken und Großhandel auf entsprechende Einkäufe und überprüften Hunderte von Kunden, leider ohne Erfolg. Derzeit müssen wir davon ausgehen, dass er das Chloroform vermutlich selbst produziert. Vielleicht ist er Chemiker, vielleicht Apotheker. Vielleicht hat er sich sein Wissen aber auch einfach per Internet angeeignet.«

Die Blondine, die auf Mildenbergers Anweisung nach draußen verschwunden war, betrat erneut den Raum und bahnte sich einen Weg durch die Stuhlreihen, wodurch eine erhebliche Unruhe entstand. Als sie den Tisch erreicht hatte, stellte sie lächelnd einen Teller vor ihr ab. »Anti-Jetlag-Nahrung«, sagte sie freundlich. Auf dem Teller drängten sich zwei Stück Rhabarberkuchen, mit Streuseln so groß wie Haselnüsse. Daneben lag eine zierliche Gabel.

»Wow!«, stieß Lena Böll verblüfft hervor. »Mein Lieblingskuchen!« Mildenberger war wirklich ein Schatz.

»Auch in puncto Elektroschocker kamen wir am Ende nicht weiter«, fuhr Krüger grinsend fort. »Womöglich hat er sich das Gerät schon vor geraumer Zeit besorgt. Vielleicht sogar außerhalb des Landes.«

Er drückte erneut einen Knopf, und ein weiteres Szenario tat sich auf. Wiederum eine Schönheit, dieses Mal brünett. Sie saß nackt auf einer Bank, fast schon kunstvoll in Szene gesetzt, erneut mit gespreizten Beinen. Der Schambereich war zusätzlich mit Lippenstift geschminkt, um ihn gezielt hervorzuheben. Interessanterweise hatte der Täter beim zweiten Opfer die Tötungsmethode gewechselt. Der Mund war komplett mit Klebeband versiegelt.

»Zwei Monate später griff sich der Täter das nächste Opfer, erneut in Mannheim, Amelie Weisser, eine Siebzehnjährige, auf dem Nachhauseweg von der Diskothek. Als sie auf den Täter traf, war sie allein und zu Fuß unterwegs. Nach Aussage von Zeugen war sie beim Verlassen der Disco stark angetrunken, so stark, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Gegen zwei Uhr morgens war sie mit ihrem Freund aneinandergeraten, als dieser mit einer anderen flirtete. Den Freund haben wir natürlich eingehend überprüft. Da er aber Amelies Abgang prompt dazu benutzte, um seine neue Flamme auf dem Männerklo zu vögeln, verfügt er über ein eindrucksvolles Alibi. Die Strecke von der Diskothek bis zur Wohnung der Eltern beträgt etwa zwei Kilometer. Das Opfer kam aber niemals dort an, so dass schnell klarwurde, dass der Abgreifort irgendwo zwischen diesen beiden Punkten liegen musste. Wir setzten daher Hunde ein, und in der Tat, nach etwa der Hälfte der Strecke verlor sich ihre Spur. Was bedeutet, dass sie unterwegs in einen Wagen eingestiegen sein muss. Wahrscheinlich sogar freiwillig. Zumindest fanden sich keine Hinweise, die auf einen Kampf hindeuteten. Und wie bereits gesagt, sie war stark alkoholisiert. Wochenlang fehlte jede Spur von ihr, dann saß sie nackt auf einer Bank, in einem Waldstück bei Weinheim, wo sie an einem Sonntagmorgen gegen neun Uhr morgens aufgefunden wurde. Im Gegensatz zum ersten Opfer wurde Amelie Weisser erstickt. Daher auch unsere anfänglichen Zweifel, ob dieser Mord dem gleichen Täter zuzuordnen wäre. Aber mit der Zeit fanden sich zahlreiche Parallelen: Das Duschgel, Strommarken, das Muster der Fesselung, der Nachweis von Polyesterfasern. Dazu insgesamt vier Haare, die eindeutig nicht von der Toten stammten, zwei davon mit Wurzel, so dass wir DNA sichern konnten. Wie sich allerdings schon bald herausstellte, war jedes dieser Haare einer anderen Person zuzuordnen.« Er griff nach seinem Wasserglas und trank es in einem Zug leer. Dann fuhr er fort: »Wenige Wochen vor ihrem Verschwinden hatte Amelie in den deutschen Turnmeisterschaften den ersten Platz belegt. Sie galt als extrem talentiert, und ihr wurden sogar Chancen eingeräumt, in zwei Jahren an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Ihr Bild war daher in verschiedenen Zeitungen abgebildet gewesen. Der Täter konnte logischerweise nicht ahnen, dass ihr Freund sie ausgerechnet am Tatabend sitzenlassen würde, aber wir gehen dennoch davon aus, dass es keine Zufallsbegegnung war, sondern dass sie gezielt ausgesucht wurde. Natürlich haben wir auch sämtliche Besucher der Diskothek überprüft. Über vierhundert Personen. Aber das führte uns bislang nicht weiter.«

Während Krüger die restlichen Bilder durchlaufen ließ, schob sich Lena Böll ein großes Stück Kuchen in den Mund. Es war nicht zu übersehen, dass der Täter sich seit der ersten Tat weiterentwickelt hatte und dass er seine eigenen Phantasien zunehmend in ein Bild zu kleiden versuchte. Sie wandte sich an Wechters. »Waren an den Nasenflügeln Druckstellen nachzuweisen?«

Wechters nickte. »Deine Vermutung trifft zu. Er hat ihr am Ende einfach die Nase zugehalten. Beim ersten Mord hatte er dem Opfer nicht nur die Luftröhre, sondern auch die rechte Halsschlagader durchtrennt. Ein Anfängerfehler. Was das heißt, kann man sich unschwer vorstellen. Vielleicht war er geschockt. Vielleicht auch überrascht, als ihm klarwurde, dass er die ganze Sauerei irgendwie wieder loswerden musste. Es dürfte Stunden gedauert haben, das Blut aufzuwischen und die Spuren zu beseitigen. Es sei denn, er verfügt über ein eigenes Schlachthaus oder einen Raum, zu dem niemand jemals Zugang hat.«

»Natürlich hast du recht«, sagte sie mit vollem Mund. »Aber ich glaube nicht, dass er die Methode ausschließlich aus praktischen Überlegungen gewechselt hat.«

»Sondern?«, fragte Wechters zurück.