Spiegelmord - Claus Probst - E-Book

Spiegelmord E-Book

Claus Probst

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Beschreibung

Er war ein Monster. Jetzt ist er tot. Waren seine Opfer auch seine Henker? Der neue, atemberaubende Psychothriller von Claus Probst wird Sie nicht kaltlassen! Nach dem Mord an einem Mann, der offenbar seine Tochter misshandelt hat, geraten fünf Frauen in den Fokus der Polizei. Sie alle wurden Opfer brutaler Gewalt. Sie alle sind Patientinnen bei Psychotherapeutin Carmen Mingus. Hat Mingus eine der Frauen zur Selbstjustiz motiviert? Oder ist der einstige Gangster Manfred Gold in die Tat verwickelt? Dann stirbt ein weiterer Mann auf grausame Weise. Wird Kommissarin Lena Böll das Verständnis, das sie für die Motive der Taten empfindet, selbst zur Falle? »Die Angst besiegt man nicht, indem man vor ihr flüchtet oder sie umgeht." "Sondern?" "Man läuft mitten durch sie hindurch.« Claus Probst

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Claus Probst

Spiegelmord

Thriller

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Inhalt

Für die Schutzlosen [...]DavorDanachSamstagMarkus Klein / 08:3009:01Markus Klein / 09:22Sara Marini / 10:05Lena Böll / 10:58Markus Klein / 14:00Lena Böll / 15:33Lena Böll / 17:11Markus Klein / 18:25Sara Marini / 18:55Carmen Mingus / 19:07Markus Klein / 20:34DanachSonntagVolcan Yilmaz / 1:22Franz Mildenberger / 08:17Lena Böll / 09:00Lena Böll / 09:42Sara Marini / 10:23Sophia Heiden / 10:45 UhrSara Marini / Sonntagmorgen, 11:00Markus Klein / Sonntag, 12:35 UhrLena Böll / Sonntag, 14:05 UhrCarmen Mingus / Sonntag, 15:30 UhrMarkus Klein / Sonntag, 16:30 UhrLena Böll / Sonntag, 18:00 UhrSara Marini / Sonntag, 18:55 UhrLena Böll / Sonntag, 21:25 UhrDanachDavorMontagLena Böll / 06:32 UhrVolcan Yilmaz / 08:55 UhrLena Böll / 09:22 UhrMarkus Klein / 16:00 UhrRabat, Marokko / 17:20 UhrMarkus Klein / 19:50 UhrSara Marini / 21:12 UhrDanachDienstagRichard Drexler / 00:55 UhrLena Böll / 7:00 UhrSara Marini / 13:30 UhrFranz Mildenberger / 14:00 UhrSara Marini / NachmittagsFranz Mildenberger / 14:25 UhrMarkus Klein / 14:40 UhrFranz Mildenberger / 14:57 UhrDanachMittwochLena Böll / 11:00 UhrSpäterSpäterDanachNoch späterNoch später

Für die Schutzlosen

Davor

Mit der Angst verhält es sich seltsam. Sie hat keine Kondition. Sie ergreift von dir Besitz, kriecht kalt durch deinen Körper und schwillt beständig an. Aber sie hält nicht lange durch. Wenn du glaubst, es nicht länger ertragen zu können, flaut sie schon wieder ab, auf ein Maß, das auch du dauerhaft auszuhalten vermagst, und bevor du noch begreifst, was genau mit dir geschieht, hast du dich arrangiert. Bemüht, sie auf keinen Fall anzutasten und sie nicht unnötig zu reizen. Weil du überzeugt bist, dass sie dich nur vorübergehend schont und dass sie – falls sie nur will – jederzeit hervorbrechen und dich doch noch vernichten kann. Sie nutzt aus, dass dir, hilflos wie du warst, ein entscheidendes Detail entging: Dass nämlich auch sie einen Schwachpunkt hat und nicht endlos lange durchhalten kann. Also schleppst du sie devot mit dir herum wie einen blutsaugenden Parasiten, lebendig, aber geschwächt. Überzeugt, sie nie wieder loswerden zu können. Und solange du daran glaubst, behältst du damit recht und wirst gehorsam zu ihrem Sklaven.

Manchmal aber, wenn etwas diesen Glauben zu erschüttern vermag, täuschst du dich auch. Und erkennst: Die Angst ist bezwingbar.

Denn sie hat mächtige Gegner.

 

Als sich Sara Marini der Glastür näherte, trat ihr ein Spiegelbild gegenüber, das sich gegen die Nacht jenseits des Glases so deutlich abhob, dass es ihr für die Dauer einer Sekunde wirklicher erschien als sie selbst. Eine junge Frau, demnächst zwanzig, keine Schönheit, aber gutaussehend, in einem Körper, dem die Männer Beachtung schenkten, schlank und kurvig, mit ein wenig zu dicken Oberschenkeln, aber dennoch so attraktiv, dass er ein Leben zu ruinieren vermochte. Ein Körper, den sie seit Jahren hasste. Ein Körper, der ihr fremd geworden war.

Draußen auf dem Messplatz regnete es noch immer, allerdings längst nicht mehr so stark, dass man Schutz suchen musste. Als sie vor einer Stunde Carmen Mingus’ Praxis verlassen hatte, waren die Straßen noch trocken gewesen. Dann, gleich vor der Haustür, ein erster Blitz, mehrfach verzweigt und beeindruckend schön, dicht gefolgt von einem Donnern, welches klang, als würden Wolken explodieren, und als hätte es nur eines Startsignals bedurft, schien ein Meer von Wasser auf die Stadt herabzustürzen, und mit einem Mal waren die Menschen nur noch rennend unterwegs. Da sie wie üblich keinen Schirm bei sich trug, hatte auch sie eilig Unterschlupf gesucht und sich mit einem wilden Sprint ins Platzhaus geflüchtet, wo sie ein Glas Rotwein bestellte, um das Ende des Gewitters abzuwarten. Während sie die Tür anstarrte und unwillig ihr Spiegelbild musterte, spielte sie mit dem Gedanken, umzukehren und noch ein wenig zu bleiben, auf ein weiteres Glas oder um sich etwas zu essen zu bestellen. Doch sie kannte sich zu gut, um sich selbst zu belügen. Auch nach einem weiteren Glas würde sie beim Anblick der Tür genau das Gleiche denken, so dass ihr auf Dauer nichts anderes übrigblieb, als sich ihrer Angst zu stellen und das Lokal zu verlassen.

Falls sie da draußen auf sie warten sollten, würden sie auch noch länger warten.

Wie hatte Carmen Mingus es so schön formuliert?

»Die Angst besiegt man nicht, indem man vor ihr flüchtet oder sie umgeht.«

»Sondern?«

»Man läuft mitten durch sie hindurch.«

Arme Carmen Mingus! Wie viele Therapeuten so schien auch sie zu glauben, das Leben allein durch Worte in eine andere Richtung lenken zu können. Zuweilen gelang das vermutlich auch. Aber mit Sicherheit nicht immer. Jemand wie Richie jedenfalls würde sich durch kluge Sprüche bestimmt nicht aufhalten lassen.

Sie hätte Richie nicht anlügen dürfen!

Als die Tür ins Schloss gefallen war, ging sie eilig los. Wegen des Gewitters war der alte Messplatz noch menschenleer, doch um ihn herum floss wie immer reger Verkehr. Aus in den Boden eingelassenen Brunnen quollen Wasser und Licht, und die feuchten Granitplatten schienen in der Dunkelheit zu funkeln und mit jedem ihrer Schritte ihr Aussehen zu verändern. An der östlichen Seite des Platzes lag hell erleuchtet die Alte Feuerwache. Die großen, rotweiß lackierten Tore zogen den Blick magisch auf sich und lenkten ab von den dahinterliegenden Hochhäusern, die in den Himmel ragten wie Monster aus einer trostlosen Welt. Während Sara den großen Platz überquerte, hielt sie Ausschau nach dem Range Rover. Wenn sie unterwegs waren, dann immer zu viert und immer in Eriks Angeberschlitten. Obwohl Richie unangefochten ihr Anführer war. Aber Richard Drexler fuhr einen winzigen Nissan, welcher der Gruppe zu wenig Platz bot. Um nicht aufzufallen. Im Gegensatz zu Erik hatte Richie es nicht nötig, seine Macht mit einem Wagen zu demonstrieren. Von Richie hing alles ab. Was auch immer er beschloss, sie würden auf ihn hören.

Auf der anderen Seite des Platzes waren Hunderte von Wagen geparkt, meist von Nachtschwärmern, welche die umliegenden Kneipen bevölkerten. Darunter auch ihr Fiesta. Sie hatte ihn bewusst nicht in der Nähe der Praxis abgestellt. Nur für den Fall, dass sie dort gezielt nach ihr suchen würden. Jetzt, nur noch spärlich beleuchtet, ging von dem Ort etwas Bedrohliches aus. Er lag direkt am Neckarufer, und die Bäume und Büsche, die an die Böschung grenzten, boten ausreichend Deckung, um in Ruhe abzuwarten und jemandem aufzulauern. Auf dem Gelände war niemand zu sehen. Nur die üblichen herumhuschenden Schatten, die man – wenn man sich fürchtet – immer sieht. Ihr wurde kalt. Warum hatte sie nicht irgendwo anders geparkt?

Der Regen ließ weiter nach, aber sie war bereits völlig durchnässt. Als sie in eine Pfütze trat, schwappte Wasser zwischen ihre Zehen, erst kühl, dann körperwarm. Von ihrem Wagen trennten sie nur noch knapp hundert Meter. Sie zögerte, ob sie nicht besser kehrtmachen und sich ein Taxi rufen sollte. Als sie sich aber nochmals zum Platzhaus umdrehte, erkannte sie erschrocken, dass sie nicht länger allein war. Nur noch fünfzig Meter von ihr entfernt kam ein Mann genau auf sie zu. Er war an die zwei Meter groß, und sein Schädel war nahezu kahl rasiert. Ein Mann, dem man als Frau im Dunkeln auf keinen Fall begegnen möchte – und vermutlich auch nicht als Mann. Alles an ihm wirkte bedrohlich: der breite, muskulöse Körperbau, die schwarze Lederjacke, seine Art, sich zu bewegen, lässig und selbstsicher, in dem Bewusstsein, in der Nahrungskette der Großstadt ganz weit oben zu stehen. Nur sein Schirm bildete dazu einen merkwürdigen Kontrast: pinkfarben, ein kleiner, putziger Frauenschirm, der in seiner Hand wie ein Fremdkörper wirkte. I ♥SCOTLAND, war darauf zu lesen, was den bizarren Eindruck noch zusätzlich verstärkte. Dass sie sich zu ihm umwandte und ihn erschrocken anstarrte, schien den Riesen zu überraschen. Augenblicklich war sie sich sicher, dass er ihr nicht zufällig folgte. So als hätte er ihre Gedanken erraten, versuchte er beruhigend zu lächeln. Trotzdem beschleunigte sich ihr Puls, doch anstatt einfach wegzulaufen, blieb sie wie angewurzelt stehen. Zu ihrer Überraschung verlangsamte nun auch ihr Verfolger seinen Schritt, griff ins Innere seiner Jacke und zog ein Handy hervor. Kurz darauf telefonierte er bereits, mitten auf dem Platz unter seinem albernen Schirm stehend, und als wäre sie unsichtbar, würdigte er sie keines Blickes mehr, sondern kehrte ihr sogar den Rücken zu und konzentrierte sich völlig auf sein Gespräch. Sie wandte sich erleichtert ab. Anscheinend hatte sie sich von Äußerlichkeiten täuschen lassen.

Allmählich drehst du durch, dachte sie, noch immer voller Angst. Dann überquerte sie eilig die Straße und betrat das Gelände des Parkplatzes. Schon nach wenigen Schritten erspähte sie ihren Wagen. Gleichzeitig stellte sie aber entsetzt fest, dass sie ihn unmöglich würde erreichen können. Genau vor dem Fiesta stand Erik und grinste sie herausfordernd an. Er trug eine graue Daunenjacke und war wie sie selbst tropfnass.

»Hallo, Sara! So spät noch allein unterwegs?«

Erik war klein. Aber auch zäh und skrupellos. Sollte sie versuchen, an ihm vorbei zu ihrem Wagen zu gelangen, so würde er es zu verhindern wissen. Ihr weh zu tun oder sie zu demütigen, würde ihm sogar Vergnügen bereiten. Zudem war er garantiert nicht allein. Ihre Innereien schienen sich schlagartig zu einem Klumpen zu verdichten. Wo waren die anderen? Sie drehte sich panisch um. Als Erstes sah sie Volcan, dann Richie und Marcel. Noch bevor sie reagieren konnten, hatten die vier ihr bereits sämtliche Fluchtwege versperrt. Richie – das sah sie sofort – kochte vor Wut. Er trug ein helles Sakko. Was ihn zwischen den anderen wie einen Fremdkörper wirken ließ, wie einen eitlen Dandy zwischen zwei stämmigen Bodyguards, allerdings völlig durchnässt – irgendwie lächerlich.

»Richie, ich …«, begann sie mit zitternder Stimme, aber ihr wollte nichts einfallen, womit sie seinen Zorn hätte abmildern können.

»Was habe ich dir gesagt?«, schrie er sie an. »Was habe ich dir verdammt nochmal gesagt?«

Aus, alles aus!

Ihr Blick huschte hinüber zum Messplatz. Der Mann mit dem Schirm war spurlos verschwunden. Sie verspürte den Impuls, dennoch um Hilfe zu rufen, aber das würde Richies Wut nur noch steigern. Während sie noch zögerte, schlug er ihr mit der flachen Hand hart ins Gesicht. Die Wucht des Schlags warf ihren Kopf nach rechts, so dass sie sich die linken Halsmuskeln zerrte. Kurz fürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren, doch trotz des Schocks und des jäh einschießenden Schmerzes gelang es ihr, sich schwankend auf den Beinen zu halten.

»Richie, ich …«, versuchte sie es erneut, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Halt’s Maul, oder ich brech dir alle Knochen!«

Sie verstummte prompt. Ihr Körper zitterte – völlig unkontrolliert. Über ihre Wangen flossen dicke Tränen und vermischten sich mit dem Make-up und dem spärlichen Regen zu einer körperwarmen bläulichen Soße. Marcel schaute verlegen beiseite. Auch Volcan schenkte ihr kaum Beachtung. Stattdessen ließ er seinen Blick wachsam über den großen Parkplatz schweifen.

»Du erzählst mir irgendeinen Stuss von einer schwerkranken Freundin und triffst dich stattdessen mit deinen Psychos? Obwohl ich es dir ausdrücklich verboten habe? Glaubst du, du kannst mich verarschen?«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«

»Nein, natürlich nicht«, äffte er sie nach, in einem hellen, hysterischen Tonfall, in dem sie sich zögernd wiedererkannte. »Und was um alles in der Welt tust du dann hier?«

»Okay. Ich war dort.«

»Klar warst du dort.« Er schlug sie ein weiteres Mal brutal ins Gesicht, und sie hatte Mühe, nicht nach hinten zu kippen. »Ich hätte nicht übel Lust, dich in den Neckar zu werfen.«

Ihr linkes Bein knickte ein. Sie war kaum noch in der Lage zu stehen. Richie war außer sich. Und sie war völlig allein. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance!

»Richie … bitte … mir ging es einfach schlecht … es war ein Fehler, aber ich mach es wieder gut.« Sein zweiter Schlag hatte ihre Nase getroffen. Als sie die Zungenspitze prüfend über die Oberlippe schob, schmeckte sie Blut.

Trotz allem würden sie sie nicht so sehr verletzen, dass ihr Aussehen leiden würde. Das würde Richie nicht zulassen. Ihm ging es nur darum, sie zu demütigen und ihren Widerstand zu brechen. Was auch immer sie mit ihr anstellten, sie würde es durchstehen. So wie sie es seit Jahren durchgestanden hatte.

Sie würde niemals von ihnen loskommen! Sie hatten sie völlig in der Hand!

Die Erkenntnis bohrte sich wie ein Nagel quer durch ihre Brust. Sie dachte an die Tabletten in der Schublade ihres Küchentischs. Niemals von ihnen loskommen. Die Frage war nicht, ob sie es aushalten konnte. Die Frage war, ob sie es aushalten wollte.

»Natürlich machst du es wieder gut«, knurrte Richie sie an. »Mit dem, was du blöde Fotze am besten kannst. Noch heute Abend.«

Bevor er weitersprechen oder erneut auf sie einschlagen konnte, wurde er jäh unterbrochen. »Wir bekommen Besuch«, zischte Volcan warnend, während er einen Punkt im Zentrum des Parkplatzes fixierte. Wütend hielt Richie inne und folgte seinem Blick. Es war der Mann vom Messplatz. Er durchquerte den Lichtkegel einer Straßenlaterne und kam direkt auf sie zu.

Richie trat dicht neben Sara und legte besitzergreifend den Arm um ihre Schulter. Sie spürte, wie sich ihr Körper verspannte, aber wie in den Jahren zuvor widersetzte sie sich nicht. »Du verhältst dich völlig normal, und niemand wird verletzt. Verstanden?«

»Ja«, antwortete sie leise und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange. Wie sollte sie sich normal verhalten, während ihr Blut aus der Nase tropfte?

Im blassen Licht des Parkplatzes sah der Mann noch beeindruckender aus. Über seinem Kopf schwebte noch immer der pinkfarbene Schirm. Unter der geöffneten Lederjacke trug er ein schwarzes T-Shirt, auf der die Aufschrift BADMAN zu erkennen war, die Buchstaben ganz in Weiß, so dass sie im Dämmerlicht zu leuchten schienen. Jetzt, aus der Nähe, sah sie erstmals die Tätowierungen. Kleine Flammen, die aus dem Kragen des T-Shirts züngelten und sich am Rand seines Kinns in den Barthaaren verloren. Als er die Gruppe erreichte, blieb er abwartend stehen.

»Hallo, Jungs! Täusche ich mich, oder spüre ich hier negative Schwingungen?« Seine Stimme klang freundlich und dunkel. Wie die Stimme eines Radiosprechers. Er musterte nachdenklich Saras Gesicht. Besonders die Partie zwischen Nase und Oberlippe. Als er ihren Blick suchte, wich sie nicht aus, sondernd starrte ihn mit verheulten Augen an. Angesichts der Situation wirkte seine Frage absurd.

Warum war er hier? War er ihr doch gefolgt?

»Was interessiert dich das?«, blaffte Marcel ihn an. »Das hier ist ne reine Privatangelegenheit. Also verpiss dich gefälligst und lass uns in Ruhe!« An seiner linken Hüfte baumelte eine längliche Sporttasche, in welcher gut sichtbar ein Baseballschläger steckte. Marcel hatte sich wiederholt damit gebrüstet, einem Gegner damit vor Jahren das Gesicht zertrümmert zu haben, und Sara hatte ihm bereitwillig geglaubt.

Badman bewegte sich nicht von der Stelle und hielt weiterhin seinen Schirm nach oben – exakt senkrecht, wie ein um Gleichgewicht bemühter Seiltänzer. In seiner Mimik war eine merkwürdige Veränderung zu erkennen. Es war weder Wut noch Angst. Es war ein Ausdruck völliger Gleichgültigkeit.

»Brauchst du vielleicht einen Retter, Hübsche?«, wandte er sich ruhig an Sara, so als wären Marcels Worte nicht zu ihm vorgedrungen.

Sie wagte nicht zu antworten. Falls sie jetzt den Mund aufmachte, würde Badman dafür büßen müssen. Und sie natürlich auch! Die anderen schienen von seiner Erscheinung ebenfalls beeindruckt zu sein. Aber sie standen zu viert gegen einen, und vermutlich trug jeder von ihnen eine Waffe bei sich.

Vor wenigen Minuten hast du noch an Selbstmord gedacht, gestand sie sich bitter ein, und jetzt bist du zu feige, um einen Fremden um Hilfe zu bitten.

»Was ist los mit dir? Hast du keine eigene Freundin?«, fragte Richie, der die Situation noch abzuwägen schien.

Als Badman antwortete, klang seine Stimme weiterhin freundlich. »So wie ich das sehe, habt ihr die Kleine geschlagen und bedroht. Dass ich verschwinde und sie allein mit euch zurücklasse, kommt daher überhaupt nicht in Frage.«

Warum nicht?, dachte Sara verblüfft. Warum bin ich ihm nicht einfach nur egal?

»So wie ich das sehe, bleiben euch zwei Möglichkeiten«, fuhr Badman fort. »Erstens: Ich verschwinde mit der Kleinen, und keiner kommt zu Schaden. Zweitens: Jemand kommt zu Schaden, und ich verschwinde erst anschließend mit der Kleinen.«

Richie starrte ihn ungläubig an. »Dafür, dass du allein gegen vier stehst, riskierst du eine ganz schön dicke Lippe. Du vergisst Möglichkeit Nummer drei: Wir machen dich platt, pissen lachend auf deine Glatze und gehen gut gelaunt nach Hause.«

So als hätten sie nur auf ein Signal gewartet, bewegten sich Erik und Marcel langsam nach vorn, Erik leicht nach rechts, Marcel ein wenig nach links, mit vorsichtigen, lauernden Bewegungen, wie zwei Hyänen, die versuchen, einen Löwen zu umkreisen.

»Kann sein«, erwiderte Badman ruhig. »Aber es gibt einen Punkt, der mich von Typen wie euch generell unterscheidet und der mir in der Regel einen entscheidenden Vorteil verschafft.«

»Und der wäre?«

Sara sah, wie sich Eriks Hand langsam in Richtung seiner Gesäßtasche bewegte. Badman schien es nicht zu bemerken, aber während er antwortete, machte er einen Schritt nach hinten und vergrößerte dadurch erneut die Distanz.

»Ich habe nichts zu verlieren. Verstehst du? Absolut nichts! Was hier gleich passiert, ist für mich ohne Bedeutung. Egal, wie es ausgehen wird. Gilt das auch für euch?«

Seine Worte lösten in Sara etwas aus, was sie kaum einordnen konnte. Eine Mischung aus Staunen, Rührung und Angst. Was dieser Mann tat, war ihr unbegreiflich. Er war ihr niemals begegnet. Dennoch schien er fest entschlossen zu sein, zu kämpfen. Für eine Unbekannte. Ihm musste klar sein, was er mit dieser Entscheidung riskierte. Trotzdem entschied er sich nicht für das Naheliegende und machte sich aus dem Staub. Warum nicht? Warum blieb er? Warum für sie? Und ich verschwinde anschließend mit der Kleinen. Wie konnte er annehmen, dass sie mit ihm gehen würde?

»Na, sieh mal an! Ein furchtloser Untoter! Ein großer tätowierter Zombie«, feixte Richie. »Jetzt machen wir uns aber gleich in die Hosen.« Inzwischen zog er Sara so fest an sich heran, dass ihre Schulter schmerzte. Im Innern seines Sakkos drückte etwas Hartes gegen ihren Oberarm. Sie begriff erschrocken, was es war. Es war deutlich zu hören, wie Marcel den Reißverschluss seiner Umhängetasche öffnete. Sie würden Badman weh tun. Das konnte er unmöglich durchstehen.

»Und wie willst du uns erledigen?«, setzte Richie höhnisch nach. »Willst du uns mit deinem Schirm erschlagen?«

Erik lachte schallend auf. »Genau. Wer hat schon Angst vor einem Typen mit nem schwulen rosa Schirm?« Während er sprach, zog er blitzartig die Hand aus der Tasche und öffnete mit einer kreisenden Bewegung das Messer. Seine Hand schoss nach vorn, doch Badman wich der Bewegung durch einen Rückwärtsschritt aus, so dass die Klinge ihn knapp verfehlte.

»Ihr steht zu viert gegen einen, und du Weichei ziehst trotzdem ein Messer?« Zum ersten Mal, seitdem er aufgetaucht war, klang Badmans Stimme kalt. Nur einen Meter von ihm entfernt ließ Erik hektisch sein Schmetterlingsmesser wirbeln: auf und zu, auf und zu, kalackalack, kalackalack, die Griffhälften und die Klingen wechselten unablässig ihre Position, artistisch schnell, so dass einem beim Zusehen schwindlig wurde. Fast gleichzeitig zog Marcel den Baseballschläger aus der Umhängetasche.

»Na gut«, sagte Badman. »Wie ihr wollt.«

Er machte zwei Schritte nach links. Eine minimale Korrektur, aber als Marcel ihm folgte, standen Richie und Volcan plötzlich hinter ihm und wirkten vom Geschehen abgedrängt, so dass sie nicht mehr unmittelbar eingreifen konnten. Was Richie offenbar sowieso nicht vorhatte, denn seine Hand lag noch schwer auf Saras Schulter. Er war es gewohnt, sich aus solchen Konflikten herauszuhalten.

»Bitte nicht!«, schrie Sara auf. »Ich komm schon klar.« Aber es war längst zu spät.

Als Erik auf Badman zulief, mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper und unablässig das Messer wirbelnd, auf und zu, auf und zu, immer wieder, mit diesem hässlichen metallischen Klackern, wich dieser erstaunlich leichtfüßig zurück. Allerdings nicht in die Reichweite des Baseballschlägers, sondern in den Durchgang zwischen zwei parkenden Wagen, in den Spalt zwischen einem Kombi und einem Kastenwagen, der so schmal war, dass ihm nicht beide gleichzeitig folgen konnten. Während Marcel, überrascht von dem Manöver, unschlüssig stehen blieb, trieb Erik seinen Gegner triumphierend vor sich her.

Zwischen den Wagen konnte Sara das Messer nicht mehr sehen. Sie konnte es aber immer noch hören. Der Größenunterschied zwischen den beiden Männern war erstaunlich. Von Erik sah sie nur noch die Schultern und den Kopf, von Badman dagegen zusätzlich einen Großteil des Oberkörpers.

Kalackalack, kalackalack, kalackalack.

»Na, hast du jetzt doch Angst, du großmäuliger Wichser?«

Den Schirm immer noch über sich, zog sich Badman weiter zwischen die Wagen zurück. Er schaute schräg nach unten und ließ das Messer nicht aus den Augen. Kurz sah es so aus, als gäbe er den Kampf verloren. Als sich aber sein Gegner bereits als Sieger wähnte, klappte er den I-♥-SCOTLAND-Schirm abrupt vor Eriks Gesicht, so dass dieser ihn nicht mehr sehen konnte. Gleichzeitig machte er einen entschlossenen Schritt nach vorn und trat mit voller Wucht gegen das herumwirbelnde Messer. Der Blick auf die Szene war weiterhin verdeckt, aber das dumpfe Geräusch des Tritts war deutlich zu hören, gefolgt von einem metallischen Klappern, als die Waffe zu Boden fiel.

Inmitten der Bewegung hielt Erik überrascht inne und blieb wie versteinert stehen. Während sich Sara noch fragte, was er da tat, schrie er auch schon los.

»Mein Finger! O Gott! Ich hab mir den verdammten Finger abgeschnitten.«

Wahrscheinlich war der Finger infolge des Tritts zwischen die Klinge und die rotierenden Griffhälften geraten. Badman stand noch immer genau vor ihm, doch so als spielte seine Anwesenheit plötzlich keine Rolle mehr, starrte Erik wie in Trance auf den Boden und suchte verzweifelt nach seinem Körperteil.

»Das darf doch nicht wahr sein! Mein Finger! Wo ist mein Finger?«

Er heulte herum wie ein kleines Kind, dem man sein geliebtes Kuscheltier entreißt. Bevor er jedoch fündig wurde, warf Badman mit einer beiläufigen Bewegung den Schirm nach links und machte einen gewaltigen Ausfallschritt nach vorn. Gleichzeitig griff er mit beiden Händen in den Kragen von Eriks Daunenjacke. Noch bevor dieser begriff, wie ihm geschah, wurde er auch schon kraftvoll zur Seite geschleudert, und sein Kopf schlug krachend gegen den Kastenwagen. Eriks Körper wurde so schlagartig schlaff, dass Sara überzeugt war, dass ihm der Aufprall das Genick gebrochen hatte. Anstatt ihn jedoch zu Boden fallen zu lassen, hielt Badman ihn weiterhin am Kragen fest und riss ihn so heftig nach oben, dass sich Eriks Füße vom Boden lösten und sie plötzlich gleich groß zu sein schienen.

»Fuck«, knurrte Volcan, ohne sich zu rühren.

Mit einem gewaltigen Aufschrei stürmte Badman nach vorn. Genau auf Marcel zu, der noch immer vor dem Durchgang stand und mit erhobenem Schläger auf ihn wartete. Vom Verhalten seines Gegners völlig überrascht, wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Stattdessen starrte er geschockt auf Erik, dessen Kopf und Gliedmaßen im Takt von Badmans Schritten wild auf und ab sprangen wie die Extremitäten einer leblosen Marionette. Was dann geschah, lief derart schnell ab, dass Sara den Bewegungen kaum zu folgen vermochte. Marcel versuchte entsetzt, den menschlichen Schutzschild abzuwehren, verlor aber im Moment des Aufpralls das Gleichgewicht, kippte nach hinten und stürzte in eine große Pfütze, wo er unter dem leblosen Körper begraben wurde. Inmitten dieses Durcheinanders schien der Baseballschläger auf magische Weise den Besitzer gewechselt zu haben. Während Marcel sich noch zappelnd bemühte, sich von Eriks Gewicht zu befreien, hielt ihn nunmehr plötzlich Badman in den Händen. Bevor es Marcel gelang, wieder auf die Beine zu kommen, sauste das Holz mit voller Wucht auf sein Bein herab und brach ihm hörbar das Knie.

Marcels Mund entfuhr ein Schrei, wie ihn Sara noch nie gehört hatte.

Sie stand noch immer neben Richie und bewegte sich nicht. Die Zeit auf dem Parkplatz schien stillzustehen. So als hätte der ohrenbetäubende Schrei nicht nur Sara, sondern gleichzeitig mit ihr auch die ganze Welt paralysiert. Herzstillstand – wie eingefroren.

Das war einfach unmöglich. Wer war dieser Mann?

Als der Puls der Zeit wieder ansprang, schien das Leben plötzlich in Zeitlupe abzulaufen, und Sara registrierte jedes noch so kleine Detail.

Was sie sah, war nicht zu fassen! Erik lag bewusstlos auf dem Rücken. Von seinem Zeigefinger war nur noch ein kleiner Stummel übrig, aus dem ein dünner Blutstrahl spritzte, im Rhythmus seines Pulses, ein Zeichen, dass er noch lebte. Dicht neben ihm wälzte sich Marcel stöhnend am Boden. Auch er deutlich verlangsamt. In ihren Ohren klang seine Stimme merkwürdig hohl, so als läge er unter einer Glaskuppel. Er würde wohl ohne fremde Hilfe nicht mehr aufstehen können. Nun stand es nur noch zwei gegen eins.

War es denkbar, dass Badman es schaffte? Dass er diesen ungleichen Kampf tatsächlich für sich entscheiden konnte? Bis vor wenigen Minuten waren Richard Drexler und seine drei Freunde die gefährlichsten Menschen gewesen, die Sara in ihrem Leben kennengelernt hatte. Brutal. Skrupellos. Absolut unüberwindbar. Niemals hätte sie gedacht, dass es derart leicht sein könnte. Badmans Effektivität war beeindruckend. Und erschreckend. Jede seiner Bewegungen zeugte von langjähriger Erfahrung mit Gewalt. Zweifellos war dieser Mann extrem gefährlich. Ein trainiertes Raubtier. Vielleicht auch gefährlich für sie. Würde sie sein Angebot dennoch akzeptieren und mit ihm gehen? Ohne zu wissen, wohin? Darauf gab es nur eine einzige Antwort: Ja. Ohne Wenn und Aber. Denn wer immer der Fremde auch sein mochte, er war ihre einzige Chance! Noch vor einer Stunde war ihre Situation aussichtslos gewesen. Ihr Leben eine Falle, in der sie ohnmächtig vor sich hin vegetierte. Würde Badman siegen, so böte sich ihr das erste Schlupfloch seit Jahren, um diesem ganzen Dreck zu entkommen. Die Geschwindigkeit ihrer Gedanken schien sich vervielfacht zu haben. Sie dachte unglaublich schnell, so schnell, dass sie sich selbst kaum noch zu folgen vermochte.

Badman ließ den Baseballschläger einmal um sein Handgelenk kreisen und wandte sich dann Richie, Sara und Volcan zu, von denen ihn nur noch wenige Schritte trennten. »Von Schmetterlingsmessern kann man eigentlich nur abraten«, stellte er sachlich fest. »Falls sich jemand von dem Gewirbel einschüchtern lässt, kann so ein Ding hilfreich sein. Falls es aber zu einem Kampf kommt, ist die Klinge zu instabil.« Er zwinkerte Sara verschwörerisch zu.

Volcan nickte schwach. »Stimmt. Aber in diesem Punkt wollte Erik nie auf mich hören.« In Anbetracht der Geschehnisse wirkte er erstaunlich gefasst. Anders als Richie, in dessen Gesicht die Angst deutlich abzulesen war. Sara sah ihn nur im Profil. Er war leichenblass. Volcan war groß und stämmig. In seinem Leben hatte er mehr Kämpfe durchgestanden als die anderen drei zusammen. Er war bestimmt kein Feigling und ging keiner Schlägerei aus dem Weg. Dennoch machte er keine Anstalten, Badman anzugreifen.

»Wir können jederzeit aufhören«, schlug Badman vor. »Ihr bringt eure beiden Kumpels ins Krankenhaus, lasst das Mädchen von nun an in Ruhe, und wir sehen uns niemals wieder.«

So als wolle er Badmans Vorschlag aktiv unterstützen, versuchte Marcel sich aufzusetzen, kippte aber stöhnend zurück in die Pfütze.

»Klingt nicht schlecht«, stimmte Volcan ihm zu, erkennbar erleichtert über den unverhofften Ausweg aus einer verfahrenen Situation. Er schaute Richie fragend an.

In ihrer Schulter konnte Sara seinen Herzschlag spüren. Richie hielt sie noch immer im Arm, doch sein Griff begann sich zu lockern. Er würde nicht aufgeben. Nicht mit einer Waffe im Innern seines Sakkos. Soviel sie wusste, hatte er sie noch niemals auf einen Menschen abgefeuert. Wahrscheinlich war er aber auch niemals zuvor so gedemütigt worden. Anscheinend dachte Volcan das Gleiche wie sie.

»Lass es gut sein, Rich! Die Sache ist es nicht wert.«

Sara war starr vor Angst. Wenn Richard Drexler Badman erschoss, wäre alles verloren! Sie musste etwas tun! Zum ersten Mal seit Jahren etwas tun! Um an die Waffe heranzukommen, würde Richie sie loslassen müssen. Er holte tief Luft.

»Er hat eine Pistole«, schrie sie laut auf, überrascht von der enormen Kraft in ihrer Stimme. Richie stieß sie wütend beiseite und griff hektisch ins Innere des Sakkos. Als ihr Knie hart auf den Boden krachte, startete die Zeit schlagartig durch und gewann ihr gewohntes Tempo zurück.

Zu schnell für Badman, dachte sie traurig, und dass Richie ihn nun doch noch erschießen würde.

»Nicht«, rief Volcan und nahm dennoch die Fäuste nach oben.

Als Badmans Körper nach vorn schnellte, verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen.

Sekunden später war alles vorbei.

Danach

Befragung von Hauptkommissarin

Lena Böll am 26.2.15 (Auszug)

 

Ort: Landeskriminalamt Stuttgart, Raum 107

Uhrzeit: 9:00 Uhr bis 12:30 Uhr

 

Anwesend:

Hauptkommissarin Lena Böll (LKA Stuttgart, Abteilung 7)

Oberhauptkommissar Hartmut Seitz (Referat 120 – Amtsdelikte)

Hauptkommissar Thorsten Feldmann (Referat 120 – Amtsdelikte)

S. Wenn sich Ihnen die Gelegenheit bieten würde, die Zeit zurückzudrehen und den Fall erneut aufzurollen und anders anzugehen, würden Sie es tun?

B. (ohne zu zögern) Nein.

S. Nein? Sie würden wirklich nichts anders machen wollen?

B. Manfred Gold zu verhaften, war – wie Sie wissen – nicht meine Entscheidung. Selbst wenn ich mich in der glücklichen Lage befände, in der Zeit zurückreisen zu können, würde mir das daher nichts nützen. Meine Möglichkeiten, auf diesen fatalen Punkt Einfluss zu nehmen, wären nach wie vor begrenzt.

S. Soll das heißen, Sie halten Golds Verhaftung rückblickend betrachtet für einen Fehler?

B. Sie nicht?

S. Meine persönlichen Ansichten sind hier nicht von Interesse. Alles andere bedauern Sie demnach nicht?

B. Sollte ich?

F. Nun ja. Es gab immerhin jede Menge Tote zu beklagen. Da kann man schon mal kurz ins Grübeln kommen. Zumindest ein empfindsamer Mensch wie ich.

B. Das mag jetzt vielleicht herzlos klingen, aber in diesem speziellen Fall waren mir die meisten der Toten – ehrlich gesagt – scheißegal.

F. (verblüfft) Wow! Man hat uns gewarnt, Sie seien hart. Das war in der Tat nicht übertrieben.

S. Was halten Sie von der Todesstrafe?

B. Soll das ein Witz sein?

S. Beantworten Sie bitte meine Frage!

B. Ich bin dagegen. Und zwar ohne Einschränkungen. Was nicht heißt, dass ich zwangsläufig Mitleid empfände, wenn ein Scheißkerl schon vorzeitig das Zeitliche segnet. Nur weil ich Verbrecher nicht auf dem elektrischen Stuhl oder unter dem Fallbeil sehen möchte, muss das noch lange nicht bedeuten, dass ich Tränen vergießen würde, wenn sie schon vor Ablauf ihres Haltbarkeitsdatums einen Herzinfarkt erleiden oder wenn ihnen jemand in jungen Jahren eine Kugel verpasst. Kommen Sie mit diesem Widerspruch intellektuell klar?

F. (gereizt) Und Selbstjustiz? Was halten Sie von Selbstjustiz?

B. Das Gleiche.

S. Wie steht es mit dem Gemetzel in Speyer?

B. Was soll damit sein?

S. Bereuen Sie es?

B. (schüttelt den Kopf) Nein.

S. Es gibt Gerüchte, Sie hätten dieses Blutbad bewusst inszeniert.

B. (unbeeindruckt) Selbst wenn ich das tatsächlich geplant haben sollte, wäre eine Steuerung nur bedingt möglich gewesen. Dazu war die Situation viel zu komplex. Fast allen Beteiligten blieb bis zuletzt die Wahl, sich frei zu entscheiden. Insofern sollte man meine Möglichkeiten, auf die Ereignisse der letzten Wochen Einfluss zu nehmen, nicht maßlos überschätzen.

F. Aber Sie sahen die Möglichkeit, dass so eine Entwicklung in Gang kommen könnte, durchaus voraus?

B. Das streite ich keinesfalls ab. Das ist mein Job! Oft spekuliere ich gleichzeitig mit Dutzenden denkbarer Möglichkeiten. Von welchen aber nur eine einzige einzutreten pflegt. Wenn überhaupt. Nur auf einen vagen Verdacht hin sah ich daher keine Veranlassung, personell aufwändige Maßnahmen zu ergreifen.

S. (lacht laut auf) Verdammt nochmal, Böll! Sie sind Polizeibeamtin! Keiner der an der Schießerei Beteiligten wurde weniger als viermal getroffen. In einem der Toten … dem traurigen Spitzenreiter … fand der Gerichtsmediziner stolze zwölf Projektile. Sollten Sie nicht bemüht sein, derartige Eskalationen grundsätzlich zu vermeiden? Oder sind Sie in diesem Punkt etwa anderer Meinung?

B. (schweigt)

S. Wie wir wissen, sind Sie sind in der Vergangenheit bereits wiederholt auffällig geworden. Bei der Ergreifung von Hoffmann zum Beispiel, oder in der unseligen Nummer-Zwei-Affäre.

B. (bissig) Ich will mich nicht selbst loben, aber in beiden Fällen wurde der Täter gefasst.

F. Nicht gefasst. Getötet! Das ist ein bedeutender Unterschied.

B. Natürlich ist es das. Aber in Hoffmanns Fall war es Notwehr, und bei Romberg war es … (zögert)

F. … gezielte Manipulation. Mit Todesfolge. Oder wollen Sie das leugnen?

B. Das würde wohl kaum etwas bringen. Aber mit Sicherheit werde ich mich auch nicht dafür entschuldigen. Zum damaligen Zeitpunkt war es der einzige Weg. In einer sehr komplexen Extremsituation.

S. Ich weiß. Ich kenne den Fall. Würden Sie sagen, in gewissen Situationen heiligt der Zweck grundsätzlich die Mittel?

B. Würde ich das in einer derartigen Befragung bejahen, wäre das ziemlich dumm, finden Sie nicht? Aber um es ein wenig anders zu formulieren: Zuweilen sollten sich die Mittel auch am Zweck orientieren und nicht ausschließlich an Regeln und bürokratisch geprägten Vorschriften. Besonders dann, wenn akute Gefahr besteht, dass systemkonforme Untätigkeit Schlimmeres nach sich ziehen könnte wie zum Beispiel den Tod eines Unschuldigen. Übrigens … nur so nebenbei … die meisten Täter, die ich fassen konnte, haben ihre Festnahme unversehrt überlebt. Und das waren nicht wenige, wie Sie vielleicht wissen.

S. Ja, das ist uns durchaus bewusst. Ihre Aufklärungsquote wirkt fast schon beängstigend. (Kurze Pause) Und was war mit Gold?

B. (Deutlich veränderte Mimik!) Gold? Was soll mit ihm sein?

S. War er Ihnen ebenfalls scheißegal?

 

(Langes Schweigen. B. zündet sich eine Zigarette an und nimmt mehrere tiefe Züge.)

 

B. Nein, das war er nicht.

Samstag

Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben –

nicht wegen der Menschen, die Böses tun, sondern

wegen der Menschen, die daneben stehen und sie

gewähren lassen.

Albert Einstein

Markus Klein / 08:30

Die Hand lag auf der Tischplatte wie ein lauerndes Tier. Mit nach unten gewandter Handfläche und leicht angewinkelten Fingern. So als wolle sie jeden Moment loslaufen, um über die Kante hinab auf den Teppich zu springen und sich hinter die nahe gelegene Schrankwand zu flüchten. Oder als warte sie nur darauf, sich mit einem gewaltigen Satz nach oben zu katapultieren. Um sich wütend in das erstbeste Gesicht zu krallen, das sich ihr neugierig zu nähern wagte. Sie sah erschreckend lebendig aus. Wie eine bläuliche Spinne. Markus Klein beugte sich behutsam nach vorn, hielt aber inmitten der Bewegung respektvoll inne. Er hasste Spinnen. Die Knöchel der Hand waren angeschwollen, zwei Fingernägel abgebrochen. Zweifellos hatte die Hand um ihr Leben gekämpft.

»Keine Sorge«, feixte Roland Wechters, der ihn von der Diele aus beobachtete und dem es zu gelingen schien, seine Gedanken aus rund fünf Metern Entfernung an seiner Mimik abzulesen. »Sie ist bereits seit Stunden tot.« Er stand neben einer Türöffnung, hinter der Klein beim Betreten des Hauses eine steil nach unten führende Treppe aufgefallen war.

Klein hielt ertappt inne, lächelte gequält und richtete sich in Zeitlupe wieder auf. »Aha. Und was war die Todesursache? Trennungsschmerz?« Er spürte, wie sein Auge zuckte.

Dario Cardella, welcher neben ihm stand, honorierte den Scherz mit einem leisen Lachen. Anders als Klein schien ihm die Hand keine Angst einzujagen. Für einen Frischling wirkte er erstaunlich entspannt.

»Wohl kaum. Momentan sieht es so aus, als hätte sie die eigene Ablösung glücklicherweise nicht miterleben müssen.« Wie Cardella und Klein trug auch Wechters Schuhe mit Überziehern, einen Schutzkittel sowie zusätzlich einen weißen Mundschutz, auf dessen Oberfläche sich bei jedem Atemzug eine flache Mulde abzeichnete. »Hallo, Klein! Schön, dich zu sehen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits.« Er deutete auf seinen Begleiter. »Darf ich vorstellen. Einer unserer Neuen: Kommissar Dario Cardella. Und dieser Spaßvogel hier ist kein Geringerer als Professor Doktor Roland Wechters. Unser genialer Leichenflüsterer.«

»Angenehm«, sagte Cardella. »Die Hand wurde dem Opfer also posthum abgetrennt?«

»Genau. Davon gehe ich aus. Die Schnittkante ist derart sauber, dass er sich unmöglich gewehrt haben kann. Zudem ist die Hand noch leicht vereist, und ihre Verfärbung zeigt an, dass sie gemeinsam mit ihrem Besitzer erfroren sein muss.«

Klein begriff schlagartig, was Wechters in den Keller getrieben hatte. Sein Auge zuckte erneut. Unweit der Hand standen ein Adventskranz, eine Weinflasche und ein bauchiges Glas, in dem zwei Fingerbreit Barolo vergebens darauf warteten, doch noch getrunken zu werden. Der Adventskranz hatte die Vorweihnachtszeit fast unbenutzt überstanden. Die vier roten Kerzen hatten von ihrer ursprünglichen Länge kaum etwas eingebüßt. Neben dem Kranz lag ein Stapel Frauenzeitschriften.

»Seine Frau hat sich ins Haus der Nachbarn geflüchtet«, sagte Wechters, der sich vorgenommen zu haben schien, als Gedankenleser zu imponieren. »Sie arbeitet als Pflegerin in einem Altersheim und gibt an, die Hand gefunden zu haben, als sie von der Nachtschicht nach Hause kam.«

Klein drehte sich langsam um die eigene Achse, um sich einen groben Eindruck zu verschaffen. Alles sehr sauber und aufgeräumt. Alles sehr langweilig. Nur mehrere Fotos an einer der Wände verliehen dem Raum eine persönliche Note. Die eine Hälfte des Zimmers wurde von dem Esstisch und den dazugehörigen Stühlen eingenommen, die andere von einer Sitzgruppe aus braunem Leder, die wuchtig und spießig einen gläsernen Couchtisch umlagerte. Dazwischen lag ein in die Jahre gekommener Perserteppich, auf dem ein vermummter Spurensicherer auf allen vieren krabbelnd nach Fasern und Körpersäften suchte. Zwei weitere Mitarbeiter der KTU hatten sie beim Betreten des Hauses getroffen. Den ersten im Freien vor der Haustür, den zweiten drinnen im Flur. Der Mann auf dem Teppich schien etwas gefunden zu haben, denn er griff mit einer Pinzette nach etwas Unsichtbarem und gab es vorsichtig in ein Sammelglas. Der Spusi streckte ihnen einen gewaltigen Hintern entgegen, der nur Selim Okay gehören konnte.

»Hallo, Selim. Faszinierend, einen waschechten türkischen Macho live beim Aufsammeln von Teppichflusen beobachten zu dürfen.«

»Haha, sehr witzig«, knurrte Okay, ohne seine Position zu verändern. »Wenn du willst, kannst du gern ein Foto schießen und es meiner Frau zukommen lassen. Damit sie mir endlich glaubt, dass ich arbeite.« Sein Deutsch war perfekt. Kein hörbarer Akzent. Im Gegensatz zu den meisten seiner kurpfälzischen Kollegen, die ihre regionale Herkunft nicht länger als fünf Silben lang verleugnen konnten. Als Türke der zweiten Einwanderergeneration war Okay in Deutschland aufgewachsen. Anders als die Mehrzahl seiner Landsleute hatte er eine Deutsche geheiratet, die sich nichts von ihm gefallen ließ und die ihre strategische Position durch die Geburt von zwei Töchtern noch zusätzlich ausgebaut hatte. Dass mit seinem Nachnamen häufig Schindluder getrieben wurde, verstand sich von selbst.

»Können wir uns die Bilder an der Wand ansehen?«, fragte Cardella ungeduldig.

»Ja. Kein Problem. Der Parkettboden ist schon durchgängig freigegeben. Ihr dürft nur nicht auf den Teppich treten.«

In einem großen Bogen gelangten Klein und Cardella zur gegenüberliegenden Seite des Raumes und traten dicht an die Fotos heran. Eines von ihnen zeigte ein Paar mit zwei Kindern vor der Kulisse des Heidelberger Schlosses, in Kleidungsstücken, wie man sie vor zwanzig Jahren getragen hatte. Der Junge grinste selbstbewusst in die Kamera. Seine jüngere Schwester dagegen wirkte bedrückt, so als hätte sie erst kürzlich geweint. Die meisten der Fotos zeigten die gleichen vier Personen, die von Bild zu Bild alterten, bis auf den jüngsten Aufnahmen schließlich nur noch das Paar allein posierte. Daneben gab es zwei Fotos, die ausschließlich den Vater zeigten, beim Tennisspielen und auf einem Pferd sitzend, sowie ein Bild der Mutter: mit Sonnenbrille, im Hintergrund ein Meer.

»Das Opfer ist der Mann, nehme ich an?«, fragte Cardella in Wechters Richtung.

»Arthur Wenzel«, erwiderte der Gerichtsmediziner. »Sechsundfünfzig Jahre alt. Gymnasiallehrer für Latein und Geschichte.«

Hinter Wechters erschien ein weiterer Kittelträger. Obwohl man von ihm ebenfalls nur die Augen sah, erkannte Klein an dem durchdringenden Blau problemlos Dirk Rauschenbach, den Veteranen unter den Mannheimer Spurensicherern. »Die Treppe in den Keller ist ab sofort passierbar«, verkündete er laut. »Wenn ihr also wollt, könnt ihr jetzt einen Blick auf die Leiche werfen.«

Klein, Cardella und Wechters durchquerten die Diele und stiegen die steilen Stufen in den Keller hinab. Unten angekommen, standen sie in einem etwa fünf Meter langen Gang mit Neonbeleuchtung, Betonwänden und einem Fliesen vorgaukelnden Vinylboden. Von dem Gang gingen mehrere Türen ab. Die erste Tür rechts stand weit offen.

»Nach euch«, sagte Rauschenbach und streckte den Arm zur Seite, als wolle er eine Gruppe von Erstklässlern sicher über die Straße geleiten.

Der Raum, in dem die Tiefkühltruhe stand, war etwa drei mal drei Meter groß. An zwei der Wände standen Metallregale, auf denen sich Konservendosen und Vorratspackungen stapelten. Neben der Tiefkühltruhe ein weiteres Regal, das der Aufbewahrung von Getränkekisten diente. Vor der Truhe kniete ein Spurensicherer und war dabei, einen Fingerabdruck zu sichern. Um ihn herum lagen zwei Krücken, ein Stapel eingeschweißter Tiefkühlkost, einige Kleidungsstücke, ein blauer Spannriemen und eine Stichsäge mit blutig verfärbter Klinge.

Cardella wirkte mit einem Mal angespannt. Er näherte sich der Truhe, als sähe er sich einem gefährlichen Tier gegenüber. Klein ließ ihn nicht aus den Augen. Für die Neuen war die Konfrontation mit Leichen immer ein heikler Moment. Inmitten der Bewegung hielt Cardella verblüfft inne.

»Ihm fehlt auch ein Bein?«

»Ja«, bestätigte Wechters. »Aber anders als die Amputation der Hand liegt dieser Verlust schon mehrere Jahre zurück.«

Als Klein neben ihn trat, konnte auch er es sehen. Der Mann lag verkrümmt auf dem Rücken. In einer merkwürdig starren Haltung, die vermutlich dadurch hervorgerufen wurde, dass er tiefgefroren war. Er trug lediglich eine Unterhose. Kurz vor oder nach seinem Tod schien er eingenässt zu haben, denn der weiße Feinripp der Hose und der Boden der Truhe waren gelb verfärbt. Kaum Blut, dachte Klein. Der rechte Arm lag neben ihm, dicht an den nackten Körper gepresst. Dort, wo sich die Hand befinden sollte, war nur noch eine blutige Schnittstelle zu erkennen. Der linke Arm dagegen lag angewinkelt auf seinem Bauch. Kleins Blick fiel auf die Fingernägel, von welchen mehrere abgebrochen waren. Offensichtlich hatte Wenzel verzweifelt versucht, sich aus seinem Gefängnis zu befreien. Er war keinen leichten Tod gestorben, so viel stand fest. Seine Augen standen offen und wirkten seltsam lebendig, und seine Gesichtshaut war wie der gesamte Körper blau verfärbt. An der Stirn war eine kleine Wunde zu erkennen, die vermutlich von einem Schlag herrührte. Das rechte Bein war nur noch ein verheilter Stumpf ohne Knie. Was überraschte, da Wenzel auf den Fotos im Wohnzimmer mit beiden Beinen abgebildet war. Anscheinend stammte keine einzige Aufnahme aus der Zeit nach der Amputation.

»Natürlich muss ich die Obduktion abwarten«, sagte Wechters. »Aber nach meiner Ansicht ist der Mann erfroren. Die Verletzungszeichen am Kopf dürften oben in der Diele entstanden sein. Vermutlich durch einen Kontakt mit der Eingangstür, als er versuchte, den Täter am Betreten der Wohnung zu hindern. Die Läsionen an der Hand entstanden wahrscheinlich erst später, als er in Panik versuchte, aus der Truhe zu entkommen.«

Klein deutete auf den blauen Spannriemen, der neben der Truhe auf dem Vinylboden lag. »Aber er hatte wohl kaum eine Chance.«

Wechters nickte düster. »Nein, wohl eher nicht.«

»Dürfte schwer werden, den exakten Todeszeitpunkt zu bestimmen«, stellte Cardella nachdenklich fest. Anders als bei Selim Okay war in seiner Aussprache der Akzent noch deutlich hörbar. Cardella stammte aus Padua und war vor Jahren nach Deutschland gekommen, um in Heidelberg Jura zu studieren. Eigentlich hatte er anschließend nach Italien zurückkehren wollen, aber eine Philosophiestudentin, die er in einem Waschsalon kennenlernte, hatte ihn nach dem Schleudern zu sich nach Hause mitgenommen und seine Pläne durchkreuzt.

»Für einen Pathologen schon. Für uns wohl kaum«, vermeldete eine Frauenstimme, die dem mit der Tiefkühltruhe beschäftigten Spusi gehörte. Sie wandte ihnen nun erstmals ihr Gesicht zu, und obwohl Klein nur braune Augen erkennen konnte, war er sich sicher, dass sie hübsch war. Vermutlich die Neue, die erst Anfang des Monats zur KTU hinzugestoßen war.

»Ach ja? Und wieso?«

Die Braunäugige deutete auf die Ansammlung von Lebensmitteln, die nahe der Truhe auf dem Kellerboden lag. »Wäre der Täter schlau gewesen, hätte er die Lebensmittel am Ende zurück auf die Leiche in die Tiefkühltruhe gelegt. Hat er aber nicht. Da wir annehmen können, dass die Nahrungsmittel beim Herausnehmen tiefgefroren waren, müssen wir nun lediglich herausfinden, wie lange sie bereits hier liegen, und schon wissen wir, wann genau das Opfer in die Truhe gesperrt worden sein muss. Bei dieser Rehkeule habe ich mit einer Nadel die Dicke der bereits aufgetauten Schicht gemessen und die Werte schriftlich festgehalten. Ebenso natürlich die hier herrschende Raumtemperatur von neunzehn Grad Celsius sowie die aktuelle Uhrzeit. Wenn wir das Fleisch wieder komplett einfrieren und es anschließend bei neunzehn Grad Außentemperatur auftauen lassen, sollten wir rekonstruieren können, wie lange es in etwa dauert, bis die Nadel erneut die gemessene Distanz bis zum gefrorenen Kern durchdringt. Was es uns ermöglichen müsste, die exakte Tatzeit zu bestimmen.«

»Nicht schlecht«, sagte Klein, war sich aber nicht sicher, ob er die Erklärung oder die Augen der Neuen meinte. »Merkwürdig ist nur …«

»Was?«

Klein schaute sich um. Erstaunlich ordentlich, dachte er. Sein Blick blieb an einer Reihe von Suppendosen hängen: Wan-Tan-Suppe, feurig scharf. Umgeben von Lebensmitteln fiel ihm ein, dass er noch nicht gefrühstückt hatte.

»Wie hat der Täter es geschafft, sein Opfer in die Tiefkühltruhe zu verfrachten? Ausgezogen bis auf die Unterhose? Ich jedenfalls würde mich unter diesen Umständen wie ein Wahnsinniger wehren. Finden sich entsprechende Kampfspuren?«

»Nein, die finden sich nicht«, antwortete Wechters. »Nur einige Blessuren am Kopf. Die aber sicherlich nicht ausgereicht haben dürften, um ihn bewusstlos werden zu lassen.«

»Das heißt, Wenzel soll ohne Gegenwehr in seinen eisigen Sarg gestiegen sein?«

»Keine Ahnung«, erwiderte die Braunäugige. »Aber heftig gekämpft wurde hier nicht.«

Klein dachte nach. So wie es aussah, hatte der Mörder an der Haustür geklingelt, das Opfer mit Gewalt zurückgedrängt und ihn später dazu gebracht, sich auszuziehen und in die Tiefkühltruhe zu steigen. Vielleicht mit einer vorgehaltenen Waffe? Anschließend hatte er ihn jämmerlich erfrieren lassen. Danach hatte er ihm mit der Stichsäge die rechte Hand abgetrennt und diese wie ein warnendes Omen auf dem Esstisch abgelegt. Ein gewöhnlicher Mord war das nicht.

»Der arme Mann«, hörte er Cardella flüstern. »Was für ein einsamer Tod. Allein in einer dunklen Truhe zu liegen und zitternd zu begreifen, dass es kein Entkommen mehr gibt und dass es nur noch eine Frage von Minuten sein kann, bis man stirbt.«

Klein fragte sich, ob die Vorstellung zu erfrieren einen Südländer grundsätzlich mehr ängstigte als die Bewohner nördlicher Staaten. Er spürte, wie sein Magen knurrte. »Habt ihr etwas Interessantes im Speicher des Telefons gefunden?«, wollte er wissen.

»Nein. Die Liste der Anrufe wurde wohl erst kürzlich gelöscht.«

»Gelöscht?« Klein schüttelte ungläubig den Kopf. »Gibt es tatsächlich noch Leute, die ernsthaft glauben, dass so etwas klappt?«

Rauschenbach zuckte mit den Schultern. »Anscheinend schon.«

Markus Klein musterte nachdenklich den verkrümmten Körper, der ihn aus der Truhe heraus anzustarren schien. Cardella hatte recht. Natürlich hatte Wenzel am Ende seines Lebens furchtbare Qualen durchlitten. Aber gleichzeitig war dieser Punkt auch in anderer Hinsicht von Bedeutung, denn sein Leiden enthielt auch eine eindeutige Botschaft und ließ sie unmissverständlich wissen, dass das Opfer nach Ansicht des Täters kein Unschuldiger gewesen war.

09:01

hallo, kleines! nach 5 tagen peking abflug

in 1 std. mir geht es gut. melde mich morgen.

9:01

 

hallo, paps! peking? in 1 std?

der flug nach toronto?

9:12

 

CIRCA1 std.! netter versuch. ☺ internetrecherche?

muss jetzt los. liebe dich. bis morgen. chao.

9:15

 

okay. vermisse dich.

kommst du über weihnachten

wirklich nicht nach deutschland?

9:17

 

lieber nicht. sei nicht traurig, kleines!

9:19

 

doch!!!!!!!

☹ ☹ ☹ ☹ ☹

9:20

Markus Klein / 09:22

»Ist Arthur tot?«

Während Klein schweigend nickte, schien Cardella nach Worten zu suchen, die Susanne Wenzel Trost spenden konnten. Sie standen im Wohnzimmer der Nachbarn, Familie Wagner, umringt von einem riesigen Weihnachtsbaum, vier Erwachsenen und ebenso vielen Kindern, welche sie neugierig musterten. Nicht unbedingt der geeignete Platz für ein offenes Gespräch, dachte Klein.

»O mein Gott!«, stöhnte Susanne Wenzel auf. »Was ist bloß mit ihm passiert?«

Sie war eine abstoßende Frau. Ihre Augäpfel, bizarr vergrößert, schienen aus den knöchernen Höhlen hervorzuquellen – typische Zeichen einer überbordenden Schilddrüsenfunktion. Irgendwann hatte Klein sogar den medizinischen Fachausdruck gekannt, doch sosehr er sich auch bemühte, ihn aus seinem Gedächtnis abzurufen, mehr als ein Ex wollte ihm nicht mehr dazu einfallen. Sie trug Jeans und einen verwaschenen hellblauen Pullover. Ihr dünnes Haar klebte fettig an ihrem Kopf und sah aus, als hätte sie es selbst geschnitten. Ihr Aussehen stand in krassem Widerspruch zu der pedantisch sauberen Wohnung, so als sei ihr die Wirkung der Räume wichtiger als die eigene. Trotz ihrer Augen hätte sie nicht zwingend eine hässliche Frau sein müssen, doch ihre Mimik wirkte hart und verbittert, und so schienen es weniger ihre biologischen Anlagen zu sein, welche die Hässlichkeit bedingten, als vielmehr ihre eigene persönliche Entscheidung, abstoßend wirken zu wollen.

Ihre Tochter Karen stand mit versteinerter Miene neben ihr. In ihren Gesichtszügen war die Mutter zwar wiederzuerkennen, aber sie wirkte hübscher, freundlicher und gepflegter als sie. Sie war groß und schlank und trug einen grauen Hosenanzug, wie eine dieser Bankerinnen, die einem im Fernsehen lächelnd die Börse erklären wollen.

Klein schaute sich suchend um. »Gibt es im Haus einen Raum, wo wir uns ungestört unterhalten können?«

»Aber natürlich.« Eine sportliche Blondine mit Pferdeschwanz deutete eifrig auf eine Tür. »In der Küche haben Sie Ruhe und ausreichend Platz.« Die Frau trug Laufschuhe und Sportkleidung. Noch nicht verschwitzt. Offensichtlich hatte sie der Tod ihres Nachbarn von ihrem Trainingsprogramm abgehalten.

»Danke«, sagte Klein.

Er winkte Cardella und die Wenzel-Frauen in den Nebenraum. Wenig später saßen sie alle auf buntlackierten Stühlen um einen Holztisch herum und schauten sich erwartungsvoll an. Die Atmosphäre des Raumes bildete einen wohltuenden Kontrast zu der sterilen Ordnung, die sie am Tatort vorgefunden hatten. An den Fenstern klebten selbstgebastelte Weihnachtssterne. Ihre handwerkliche Unvollkommenheit ließ vermuten, dass sie von Kinderhänden ausgeschnitten worden waren.

»Es tut mir leid«, eröffnete Cardella das Gespräch. »Aber so wie es aussieht, wurde Ihr Mann … beziehungsweise Ihr Vater … Opfer eines brutalen Verbrechens.«

Als hätte sie sich dies beim Anblick der Hand nicht längst ableiten können, brach Susanne Wenzel lautstark in Tränen aus. Karen legte ihr hilflos die Hand auf die Schulter. Cardella schob sein Diktiergerät in die Mitte der Tischplatte und drückte auf die Aufnahmetaste. Was zwangsläufig herzlos wirken musste. Als ob er die Gefühlsausbrüche verzweifelter Witwen sammeln würde. Karen warf ihm einen wütenden Blick zu.

»Erzählen Sie uns bitte, wie der heutige Morgen aus Ihrer Sicht abgelaufen ist!«, sagte Cardella verlegen.

Bis sechs Uhr morgens habe sie im Altenheim gearbeitet, versicherte ihnen Susanne Wenzel prompt. Als sie nach der Nachtschicht nach Hause gekommen sei, habe sie die auf dem Tisch liegende Hand entdeckt und sei in Panik zu ihren Nachbarn geflüchtet, welche umgehend die Polizei verständigt hätten.

»War Ihnen gleich klar, dass es die Hand Ihres Mannes war?«, wollte Cardella wissen.

Suggestivfrage, dachte Klein, der sich vorgenommen hatte, nicht einzugreifen. Cardella war nervös und beging die üblichen Anfängerfehler. Aber es war der einzige Weg, Erfahrungen zu sammeln. Möglichst wenig Fragen stellen, die man mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten kann! Nichts Entscheidendes vorgeben! Dem Verdächtigen unter keinen Umständen Möglichkeiten vorenthalten, sich bei der Beantwortung offen formulierter Fragen in Widersprüche zu verwickeln!

Erwartungsgemäß beantwortete sie die Frage mit einem Ja.

»Woran haben Sie das erkannt?«

Schon besser, dachte Klein.

»Keine Ahnung. Ich wusste es einfach.«

Ob ihr Mann denn Feinde gehabt hätte, erkundigte sich Cardella. Ein unter diesen Umständen naheliegender Gedanke. Susanne Wenzel starrte ihn dennoch an, als hätte er sie gezielt beleidigt.

»Natürlich nicht! Ganz im Gegenteil. Er war sehr geistreich und unterhaltsam und bei allen beliebt.«

Es war eine kaum sichtbare Bewegung, aber Klein entging dennoch nicht, wie sich Karen Wenzels Schultern verspannten. Wenn er zwischen ihr und ihrer Mutter hindurchschaute, fiel sein Blick auf eine Schüssel mit Weihnachtskeksen. Dem Anblick auszuweichen, war nahezu unmöglich. Sein Hunger fühlte sich allmählich an wie eine ernsthafte Erkrankung.

»Der Mörder war in diesem Punkt wohl nicht ganz Ihrer Meinung«, stellte Cardella fest. »Fällt Ihnen denn wirklich niemand ein, der als Täter in Frage kommen könnte?«

»Wie ich Ihnen bereits sagte: Nein! Wieso gehen Sie eigentlich davon aus, dass es kein Einbrecher war?«

»Nach einem Raubmord sieht das Ganze nicht aus. In der Küche fanden wir mehrere Geldscheine. Insgesamt einhundertfünfzig Euro. Mit Magneten an die Kühlschranktür gepinnt und daher kaum zu übersehen. Befanden sich Wertgegenstände im Haus?«

»Mein Schmuck vielleicht?« Susanne Wenzel wirkte plötzlich verunsichert. »Er liegt im Kleiderschrank. Im Schlafzimmer. Unter einem Stapel Hemden versteckt.«

»Ich weiß. Den Schmuck haben meine Kollegen bereits gefunden. Aber er scheint nicht angerührt worden zu sein. Vier Halsketten, zwei Armreife, fünf Ringe. Ist das korrekt?«

Susanne Wenzel schloss kurz die Augen, um sich ihren Schmuck Stück für Stück in Erinnerung zu rufen. »Ja. Es scheint nichts zu fehlen.«

»Noch andere Wertgegenstände?«

»Nein, nichts.« Sie warf Klein einen beiläufigen Blick zu, offensichtlich irritiert, dass er sich nicht in das Gespräch einmischte.

»Also gut. Ihr Mann scheint also nicht das Opfer eines Raubmordes geworden zu sein. Morde ohne eine Verbindung zum Täter sind selten, und wenn, dann sind in der Regel Frauen oder Kinder betroffen. Der Täter hatte wohl andere Motive.« Er hielt kurz inne. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne noch einmal den zeitlichen Ablauf durchgehen. In welchem Altenheim arbeiten Sie?«

»In Sankt Antonius. In dieser Woche war ich für die Nachtschicht eingeteilt.«

»Okay. Um wie viel Uhr sind Sie gestern zur Arbeit aufgebrochen?«

»Gegen halb acht. Mein Dienst beginnt um zwanzig Uhr.«

»Und um wie viel Uhr haben Sie Ihren Arbeitsplatz heute Morgen verlassen?«

Susanne Wenzel dachte nach. »Kurz vor sieben. Nach der Übergabe an die Frühschicht. Hier angekommen bin ich gegen sieben Uhr zwanzig.«

»Ich nehme an, Ihre Kollegen können diese Uhrzeiten bezeugen?«

»Natürlich. Wieso? Glauben Sie etwa, ich …?«

»Ist Ihnen vor dem Betreten des Hauses irgendetwas Besonderes aufgefallen? Eine Person oder ein Fahrzeug zum Beispiel?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Erst in der Diele. Da waren einige Blutflecken am Boden, und dann natürlich … Arthurs Hand.« Sie wurde blass.

»Und dann sind Sie umgehend zu Ihren Nachbarn gerannt?«

»Ja genau. Ich dachte, der Mörder wäre vielleicht noch im Haus und könnte mich jeden Moment einholen. Also hämmerte ich wie wild gegen die Haustür der Wagners und war heilfroh, als jemand öffnete. Olaf, also Herr Wagner, schlug vor, hinüberzugehen und nach dem Rechten zu sehen, aber Astrid bestand darauf, die Ankunft der Polizei abzuwarten.«

»Das heißt, Sie haben Ihren Mann gestern Abend zum letzten Mal gesehen?«

»Ja genau. Aber er ist tot, oder nicht?« Sie wollte es anscheinend noch immer nicht wahrhaben. »Mein Gott! Wie soll ich nur zurechtkommen ohne ihn?«

Cardella wandte sich Karen Wenzel zu. »Ich bedauere es wirklich sehr, dass ich Sie und Ihre Mutter in dieser schwierigen Situation mit Fragen belästigen muss. Aber es ist wichtig, verstehen Sie? Wir versuchen einzuschätzen, was vorgefallen ist und mit was für einem Typus Mörder wir es hier zu tun haben könnten.«

Dafür, dass er nicht in Deutschland aufgewachsen ist, spricht er ein erstaunlich perfektes Deutsch, dachte Klein. Und für einen Anfänger hielt er sich wirklich gut.

Karen Wenzel nickte. Ihre Lippen waren nur noch ein schmaler Strich.

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Studentin. Volkswirtschaftslehre.«

Also doch, dachte Klein. Vor Jahren hatte er mit Aktien spekuliert und monatelang im Fernsehen kaum eine Börsensendung ausgelassen. Frauen wie Karen hatten ihm damals lächelnd die Welt der Finanzen erklärt. Über lange Zeit hatte er ihnen bereitwillig Glauben geschenkt. Ihren täglichen Vorhersagen und den brillanten Erläuterungen, die ein Scheitern unmöglich erscheinen ließen. Heute, um fünfzehntausend Euro ärmer, traute er Volkswirten in etwa so sehr wie den Horoskopen auf der Kreuzworträtselseite seiner Tageszeitung.

»Sind Sie in Mannheim immatrikuliert?«, hörte er Cardella fragen.

»Ja.«

»Wo waren Sie in der vergangenen Nacht?«

»In meiner Wohnung. Allein. Mein Freund musste bis spätabends arbeiten und übernachtete daher bei seinen Eltern.«

»Aha. Und wann erfuhren Sie vom Tod Ihres Vaters? Oder sind Sie rein zufällig hier?«

»Ich habe sie angerufen«, kam ihre Mutter ihr zuvor. »Sofort nachdem ich mich zu den Wagners geflüchtet hatte.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Karen ihr bei. »Das muss gegen halb acht gewesen sein. Nach dem Anruf bin ich sofort hergefahren.

»Wie hat Ihr Vater sein Bein verloren?«

»Bei einem Motorradunfall. Vor fünf Jahren. Er rutschte in einer Kurve zur Seite und geriet unter die Maschine. Eine Siebenhundertfünfziger. Das Bein war nicht mehr zu retten.« Sie schaute ihn prüfend an. »Warum fragen Sie? Glauben Sie, das mit der Hand und dem Bein steht irgendwie in Verbindung?«

»Das wissen wir noch nicht. Aber natürlich wirkt dieses Detail auf den ersten Blick ungewöhnlich. Da ist übrigens noch etwas. Das wird jetzt nicht leicht für Sie. Aber der Körper Ihres Vaters wurde in der Tiefkühltruhe gefunden.«

Aus Karen Wenzels Gesicht war mit einem Mal jegliche Farbe gewichen. Auch ihre Mutter reagierte sichtlich geschockt.

»In der Tiefkühltruhe?«, stieß Susanne Wenzel ungläubig hervor. »Aber wieso? Die ist doch halb voll.«

»Stimmt. Aber der Täter scheint sie komplett ausgeräumt zu haben. Um ausreichend Platz zu schaffen. Haben Sie dafür eine Erklärung?«

»Nein … keine Ahnung … das ergibt doch überhaupt keinen Sinn«, entgegnete Susanne Wenzel, aber Klein war sich sicher, dass sie log.

Karen wirkte wie gelähmt. Als sie sprach, klang ihre Stimme heiser. »Als mein Vater in die Truhe gesperrt wurde … war er da schon tot?«

»Nein, das war er nicht. Der Täter hat ihn dort eingesperrt und qualvoll erfrieren lassen. Es finden sich leider eindeutige Hinweise, dass Ihr Vater verzweifelt versucht haben muss, aus seinem Gefängnis zu entkommen.«

Jetzt wird er fast schon ein wenig sadistisch, dachte Klein. Die Information mit der Tiefkühltruhe hatte Karen völlig aus der Fassung gebracht. Offenbar war ihr etwas eingefallen. Etwas ganz Entscheidendes. Er konnte es an ihrem Gesicht ablesen, und ihre Mutter sah es auch.

»Wer könnte ein Motiv haben, Ihrem Vater etwas derart Grausames anzutun?«, legte Cardella nochmals nach.

Während Karen noch zögerte, verzog sich Susanne Wenzels Gesicht zu einer irren Grimasse. Ihre riesigen Augen sahen aus, als wollten sie jeden Moment aus den Höhlen springen und aufgeregt über die Tischplatte hüpfen. »Niemand!«, schrie sie hysterisch auf. »Lassen Sie uns endlich in Ruhe! Hören Sie nicht zu? Ich habe es Ihnen doch schon gesagt! Arthur hatte keine Feinde.«

Schluss mit lustig, dachte Klein. »Wissen Sie, was eine Spiegelstrafe ist?«, fragte er kühl.

Susanne Wenzel, die wohl nicht mehr damit gerechnet hatte, dass Klein sich einmischen würde, schaute ihn erschrocken an. »Nein, wieso?«

Klein nahm sich die Brille von der Nase, hielt sie prüfend vor seine Augen, zog ein Tuch aus der Hosentasche und begann, die Gläser zu säubern.

»Eine Spiegelstrafe erwidert eine Tat auf vergleichbare Weise. Das heißt, ein Täter wird in einer Form bestraft, die ein der Strafe vorausgehendes Vergehen möglichst treffend widerspiegelt.« Als sie schwieg, fuhr er fort: »Im Altertum gab es jede Menge derartiger Strafen. Wenn ein Baumeister beim Errichten eines Hauses schlampig arbeitete und der Sohn des Besitzers von einem herabstürzenden Stein erschlagen wurde, so wurde im Gegenzug auch der Sohn des Baumeisters getötet. Verstehen Sie? Bei einer Spiegelstrafe bringt bereits die Strafe zum Ausdruck, warum sie gegen den Bestraften verhängt worden ist. Im Falle Ihres Mannes würde dies zwangsläufig die Frage aufwerfen, auf was genau der Mörder aufmerksam machen wollte. Können Sie mir folgen?«

»Nein, das kann ich nicht«, flüsterte sie entsetzt.

»Ein weiteres altbekanntes Beispiel ist das Abhacken der Hand, mit der ein Diebstahl begangen wurde. War Ihr Mann in größere Geldgeschäfte verwickelt?«

»Arthur? Nein! Wo denken Sie hin? Er war Lehrer.«

»Hatte er Schulden? Oder war er Spieler?«

Sie schüttelte verbittert den Kopf.

»War er in kriminelle Aktivitäten verwickelt? Hatte er vielleicht Kontakte zum organisierten Verbrechen?«

»Zur Mafia? Arthur?« Sie lachte höhnisch auf. »Sind Sie verrückt? Er unterrichtete Latein und Geschichte. Auf was wollen Sie eigentlich hinaus? Dass es sich hier nicht um einen brutalen Mord handelt, sondern um eine Strafe, für die Arthur selbst verantwortlich zu machen ist?«

»Hat er Sie geschlagen? Oder Ihre Kinder?«

Sie versuchte, ihre Betroffenheit zu verbergen, wurde aber schlagartig rot. »Nein.«

»Mama. Es hat keinen Sinn«, mischte Karen sich ein. Sie schien den Druck, der sich in ihr aufgebaut hatte, kaum noch ertragen zu können. »Wir müssen es ihnen sagen.«

»Sei still! Ich will nicht, dass jemand schlecht über ihn spricht.«