Ostseefalle - Eva Almstädt - E-Book
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Ostseefalle E-Book

Eva Almstädt

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Beschreibung

Bei der Sanierung eines Bauernhauses entdecken die Bewohner im Keller einen skelettierten Schädel. Kommissarin Pia Korittki leitet die Ermittlungen. Sie stößt auf den Fall einer vor neun Jahren verschwundenen jungen Frau. Der damals Hauptverdächtige lebt noch immer in dem kleinen Ort. Doch all das wird nebensächlich, als Pia die Nachricht erhält, dass ihr Sohn Felix einen schweren Unfall hatte. Zu spät erkennt sie, dass es eine Falle war - und dass der Cold Case, in dem sie ermittelt, alles andere als "kalt" ist ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel

Über dieses Buch

Bei der Sanierung eines Bauernhauses entdecken die Bewohner im Keller einen skelettierten Schädel. Kommissarin Pia Korittki leitet die Ermittlungen. Sie stößt auf den Fall einer vor neun Jahren verschwundenen jungen Frau. Der damals Hauptverdächtige lebt noch immer in dem kleinen Ort. Doch all das wird nebensächlich, als Pia die Nachricht erhält, dass ihr Sohn Felix einen schweren Unfall hatte. Zu spät erkennt sie, dass es eine Falle war – und dass der Cold Case, in dem sie ermittelt, alles andere als »kalt« ist …

Über die Autorin

Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin. Die Autorin lebt in Hamburg.

EVA ALMSTÄDT

Ostseefalle

Pia Korittkis sechzehnter Fall

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © Pawel Kazmierczak/shutterstock;Ruediger Jahnke/shutterstock; kosmos111/shutterstockUmschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0378-9

www.luebbe.de

www.lesejury.de

1. Kapitel

Windböen aus Richtung Westen trieben die Wolken rasch über den grauen Oktoberhimmel. Die luxuriösen Appartementhäuser am Hang unter hohen Bäumen sahen um diese Jahreszeit trist aus. Pia Korittki drehte den Zündschlüssel. Der Motor ihres dunkelblauen Kombis erstarb. Sie wandte sich zu ihrem sechsjährigen Sohn um. Pia hatte Felix mit der Aussicht auf einen Strandausflug und anschließend einem Hamburger seiner Wahl hergelockt.

Seine fein gezeichneten Augenbrauen zogen sich zusammen, als er aus dem Comic-Roman auf- und aus dem Autofenster blickte. »Es regnet doch gleich. Lass uns lieber gleich was essen fahren.«

»Kommt gar nicht infrage, Felix. Ich habe den ganzen Tag im Polizeihochhaus in einem stickigen Büro gehockt und du in der Schule. Wir lassen uns erst einmal am Strand richtig durchpusten!«

»Du hast vielleicht nur drinnen gesessen«, murrte er. »Ich muss in jeder Pause auf den Schulhof rausgehen.«

Felix war im Sommer eingeschult worden und stöhnte schon jetzt manchmal über die übergroße Last, die ihm damit auferlegt worden war.

»Nun komm. Lesen kannst du auch nachher noch.«

»Uns fällt bestimmt ein Ast auf den Kopf«, entgegnete er, schon wieder in sein Buch vertieft.

»So stürmisch ist es nun auch nicht.« Sie beschloss, die Strategie zu ändern, und löste ihren Sicherheitsgurt. »Na gut. Dann treffe ich mich eben allein mit Marten.« Pia öffnete die Fahrertür.

»Was? Wo?«

»Unten, am Strand.«

Felix reckte den Hals. »Du willst mich nur rauslocken.«

»Wenn du das denkst … Dein Risiko. Dann verpasst du Marten eben.« Sie stieg aus und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch.

Felix löste seinen Gurt. Ihr Ex-Kollege Marten Unruh, der nun beim LKA in Kiel arbeitete, nicht mehr im K1 der Bezirkskriminalinspektion Lübeck, wo sie sich vor gut zehn Jahren kennengelernt hatten, hatte bei Felix einen Stein im Brett. Spätestens, seitdem er mit ihm mit Martinshorn und Blaulicht in einem Streifenwagen umhergefahren war, als Pia einen wichtigen beruflichen Termin hatte wahrnehmen müssen.

»Kommst du?«

Felix kletterte wie in Zeitlupe aus dem Auto und schlenderte mit gesenktem Kopf hinter ihr her. Sie folgten dem Fußweg vom Helldahl den Hang hinunter zur ehemaligen Seebadeanstalt Mövenstein. Unten angekommen, wandten sie sich nach links, zum Naturstrand unterhalb des Brodtener Steilufers. Als sie den Strand erreichten, lief Felix ihr voraus in Richtung Wasser, um Steine zu »ditschen«.

Pia versenkte die Hände in den Jackentaschen und stapfte durch den weichen Sand. Sie wünschte, sie könnte Felix’ reine Freude über die Aussicht auf Gesellschaft teilen. Marten hatte sie angerufen, kurz bevor sie mit Felix losgefahren war. Zuvor war mal wieder ein paar Wochen lang Funkstille gewesen, was zugegebenermaßen nicht allein seine Schuld war. Telefone funktionierten ja bekanntlich in beide Richtungen. Heute hatte er gesagt, dass er gerade in Lübeck sei und dass er mit ihr reden wolle! Ob sie sich nicht treffen könnten … In seiner Stimme war ein ernster Unterton zu hören gewesen. Das hatte sie neugierig und ein bisschen beklommen gemacht. Es war besser, so etwas gleich hinter sich zu bringen, anstatt lange darüber nachzugrübeln, was der andere mit einem besprechen wollte.

Seit dem Unfalltod ihres Freundes Lars vor über zwei Jahren hatte Pia viele private Kontakte vernachlässigt. Sie hatte sich in dieser Zeit auf ihren Sohn und ihren Beruf konzentriert. Pia atmete tief ein und aus. Falls sie je noch einmal eine engere Beziehung mit einem Mann eingehen wollte, dann nur mit jemandem, auf den sie sich verlassen konnte. Das war sie Felix und auch sich selbst schuldig.

Eine dunkel gekleidete Gestalt kam ihnen vom Steilufer her entgegen. Der Mann musste über einen am Strand liegenden entwurzelten Baum steigen, der wohl beim letzten Herbststurm mit einem Teil der Böschung heruntergekommen war. Es war Marten. Felix schrie begeistert auf und lief auf ihn zu. Marten hob ihn unter den Armen hoch und wirbelte ihn herum, als wöge er nichts. Felix juchzte. Pia kam näher.

Marten trug einen Parka, Jeans und einen dunkelblauen Schal um den Hals. Sein kurzes braunes Haar war zerzaust. Er musterte sie. »Hi, Pia. Toll, dass das so spontan geklappt hat.«

»Wieso kommst du aus der anderen Richtung? Ich dachte, du seist auch in Lübeck gewesen.«

Marten lächelte und zog sie zur Begrüßung an sich. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »War ich auch. Ich bin nur schneller als du …«, sagte er nah an ihrem Ohr. Pia nahm seinen typischen Geruch wahr, vermischt mit einem Hauch von Meer und etwas Frischem. Sie liebte diesen Duft und löste sich sofort wieder von ihm. Er quittierte das mit einem amüsierten Schulterzucken.

»Wetten, ich kann weiter ditschen als du!«, rief Felix.

Marten sah kurz zu Pia, und sie nickte. Klar, erst mal sollten sich die beiden im Werfen messen.

Sie schlenderte hinter ihnen her, blickte ebenfalls auf den Boden und entdeckte nach einigen Metern zwischen Muscheln und schwarzen Algen einen schönen, flachen Stein. Sie hob ihn auf und wog ihn in der Hand. Er war leicht genug. »Wie oft habt ihr es geschafft?«

»Marten fünfmal und ich sechsmal«, antwortete Felix.

Pia ging leicht in die Hocke und ließ den Stein über das Wasser schnellen. »Sieben!«, sagte sie zufrieden.

Nach einer Weile wurde Felix das Werfen zu langweilig, und er lief ihnen voraus zu einem Stück Treibholz, das er inspizierte. Marten und Pia schlenderten nebeneinanderher.

Marten musterte sie. »Geht es dir gut? Du siehst toll aus«, sagte er in dem nüchternen Ton einer Feststellung.

»Danke! Das macht wohl die frische Meeresluft.«

»Ich würde mich heute Abend gern revanchieren und euch zum Essen einladen. Passt das?«

»Im Prinzip schon. Ich habe Felix allerdings im Anschluss an den Spaziergang einen Hamburger versprochen.«

»Das lässt sich machen!« Beim Lächeln haben seine Augen die gleiche Farbe wie das Meer, dachte Pia und verbot sich diesen peinlichen Gedanken sofort wieder.

Sie gingen nebeneinanderher am Wassersaum entlang, sprachen über vergangene Ermittlungen und gemeinsame Kollegen. Ab und zu mussten sie über herabgestürzte Bäume oder Schutt hinwegsteigen. Die Herbst- und Winterstürme nahmen jedes Jahr einen Teil der Steilküste mit und spülten den Sand ins Meer. Was zu nah an der Kante stand, wurde in die Tiefe gerissen. Es war nur eine Frage der Zeit …

Pia fühlte sich wohl in Martens Gesellschaft. Doch sie war auf der Hut. Sie wollte keinesfalls vergessen, wie er sich verhielt, wenn es ernst wurde. Dass er mal von einem auf den anderen Tag ohne jede Erklärung verschwunden war – und das für Jahre. Sie sah ihn von der Seite an. »Was willst du denn nun mit mir bereden, Marten?« Sie waren auf dem Rückweg zum Parkplatz. Ihre ungestörte Zeit war begrenzt.

Marten zögerte. »Also gut. Aber es ist schwierig.« Sein Blick ging zu Felix, der immer wieder auf das Wasser zu- und vor den anrollenden Wellen davonlief.

»Nun sag schon.«

»Ich hatte dich vor einiger Zeit nach Felix’ Geburtstag gefragt. Das habe ich nicht nur getan, um ihm ein schönes Geschenk kaufen zu können.«

»Ach nein?« Pia wurde ein wenig flau.

»Ich habe nachgeschaut, wann genau wir uns in Perugia getroffen hatten.« Er sah sie durchdringend an. »Es war achtunddreißig Wochen vor seinem Geburtstag.«

»Du hast dich ja bestens informiert«, sagte sie abwehrend.

»Ich frage mich, ob Felix mein Sohn ist, Pia.«

2. Kapitel

Olaf Warburg stand, die Flasche Champagner in der einen Hand, den Korb mit den Sektgläsern in der anderen, vor seinem neuen Haus. An der schief in den Angeln hängenden Gartenpforte blieb er stehen. Seine Frau Inka, die ihm mit dem Werkzeugkoffer folgte, stolperte beinahe in ihn hinein. Wie gebannt wanderte sein Blick über die bröckelnde Backsteinfassade hinauf zu dem kaputten Eternitdach. Die Vögel hatten Moos und verrottete schwarze Blätter aus der verbogenen Dachrinne auf den Weg aus Waschbetonplatten geworfen.

»Es sieht schlimmer aus, als ich es in Erinnerung habe«, sagte er leise.

»Kannst du bitte weitergehen, Olaf?«, fragte Inka und drängte sich an ihm vorbei. »Es fängt gleich an zu regnen.«

Das heruntergekommene Bauernhaus mit den dunklen Fensteröffnungen schien ihn höhnisch anzustarren. Jetzt gehöre ich dir. Du hast es so gewollt. Viel Vergnügen mit deinem Vorhaben!

Inka ging zielstrebig auf die braun gestrichene Eingangstür zu. Die Glaseinsätze hatte ein wohlmeinender Mensch vor geraumer Zeit mit Pappe zugenagelt, nachdem die Scheiben zerbrochen waren. »Schlüssel!« Inka streckte die freie Hand in seine Richtung.

Er hasste es, wenn sie in Einwortsätzen zu ihm sprach. Wortlos legte er den Schlüsselbund hinein, den der Makler ihnen am Vormittag mit einem süffisanten Lächeln, wie Olaf es empfunden hatte, überreicht hatte.

Inka drehte den Schlüssel im Schloss, rüttelte an der Klinke und stieß die Haustür auf. Putz rieselte aus den Fugen über der Tür. Sie trat ein, und er folgte ihr. Als sie sich in dem dunklen Flur gegenüberstanden, blickte sie ihn mit glänzenden Augen an. »Na dann, willkommen!«

»Wo wollen wir auf dein neues Haus anstoßen? In der Küche?«

»Es ist auch dein Haus, Schatz!«

Er nickte. Aber du wolltest es unbedingt haben, ergänzte er in Gedanken.

Inka stieg über einen alten Federrahmen und zwei umgeworfene Stühle hinweg und öffnete die morsche Kassettentür, die in die Küche führte. Hatte er beim letzten Besichtigungstermin wirklich gedacht, dass man die noch restaurieren könnte? Der Unrat, der auf allen freien Flächen verteilt lag, ließ sogar Inka einen Moment lang ratlos dastehen.

Er hatte sich vorgestellt, wie sie in dem blühenden, von Kletterrosen umrankten Garten auf ihr neues Haus anstoßen würden. »Hier geht das irgendwie nicht.« Olaf kehrte in den Flur zurück und suchte sich einen Weg durch das Labyrinth aus Wänden mit vergilbten Tapeten, alten Möbeln und blauen Müllsäcken. Er erreichte die von drei Seiten bunt verglaste Veranda. Hier war es heller und der Geruch nach Schimmel, feuchten Steinen und etwas noch Ekligerem, das er nicht näher einordnen konnte, weniger aufdringlich.

Inka war ihm gefolgt. Sie nahm ihm die Flasche ab und ließ den Korken gegen die Decke knallen. Sie schenkte die zwei Sektkelche voll, die er ihr hinhielt, ohne sich darum zu kümmern, dass der Champagner auch über seine Hände und auf den Fußboden lief. Sie stießen miteinander an.

»Auf unser gemeinsames Projekt!«, sagte sie.

»Das hoffentlich ein Erfolg wird.«

»Mach dir doch nicht dauernd Sorgen, Olaf. Es wird wunderbar werden. Dieses Haus ist ein Traum!«

»Na ja. Momentan ist es eher ein Albtraum.« Er bemühte sich, dass es scherzhaft klang.

»Benutze doch zur Abwechslung mal deine Fantasie.«

»Was denkst du, was ich die ganze Zeit über tue? Ansonsten hätte ich dem hier wohl kaum zugestimmt.«

»Vertrau mir. Ich bin die Bauingenieurin. Im Sommer werden wir bereits auf der Veranda sitzen und Kaffee trinken. Oder im Garten unter dem Kirschbaum.«

Er verzog das Gesicht und trank sein Glas leer. Nun, Inka hatte ihren Spielplatz bekommen. Möge er sie glücklich machen.

Sie stellte das halb volle Glas auf einem Regal ab, das mit Büchern und Papieren gefüllt war. »Ich gehe ein bisschen herum, solange es noch hell genug ist. Morgen müssen wir unbedingt Glühbirnen und einen Bauscheinwerfer mitbringen.«

Er hatte keine große Lust, sich jetzt noch mal die anderen Räume anzuschauen. Stattdessen schenkte er sich nach und ging mit dem Sektkelch in der Hand hinaus in den Garten. Die Luft war feucht, aber es regnete noch nicht. Alles, was draußen war, empfand er trotz des hüfthohen Unkrauts und ein paar Bretterstapeln als gesund, beinahe romantisch, während ihm die Innenräume heute wie eine Brutstätte von Krankheit und Unheil erschienen. Er würde Staubmasken besorgen und vielleicht diese weißen Maler-Overalls, um sich zu schützen, jedenfalls solange sie den alten Müll dort drinnen entsorgten.

Inka Warburg ärgerte sich über ihren Mann. Wieso musste er immer alles verderben? Konnte er nicht sehen, was für ein Juwel sie erworben hatten, noch dazu zu einem Spottpreis? Allein das über zweitausend Quadratmeter große Grundstück in der Nähe von Lübeck und dem Elbe-Lübeck-Kanal war das Geld wert. Und was man aus diesem Haus alles machen konnte …

Als Bauingenieurin und Architektin hatten sie Umbauten von jeher mehr gereizt als Neubauten. Die schwierigen Gegebenheiten forderten sie heraus. Es war so viel spannender und befriedigender; besonders, wenn man das Vorher mit dem Nachher später miteinander vergleichen konnte.

Was war denn das hier? Sie hatte während ihrer vorherigen Besichtigungen den Raum, der fünf Stufen erhöht hinter einer Tür lag, bloß flüchtig begutachtet. Er war leer, besaß nur ein kleines Fenster und einen braun gestrichenen Bretterboden, unter dem es hohl klang. Inka vermutete, dass sich darunter ein Kellerraum befand, weil ihr bei einem Rundgang um das Haus auch mal ein einzelnes Kellerfenster aufgefallen war. War dort unten ein Lagerraum für Kartoffeln oder Kohle gewesen? Doch wo war der Zugang dazu? Sie hatten sich diesen Raum noch gar nicht angeschaut …

Als sie wieder vor der Holztreppe mit den fünf Stufen stand, die in den Raum oberhalb des vermeintlichen Kellers führte, sah sie, dass zwischen den Wänden und den Seitenwangen der Treppe je ein Spalt war. Das war seltsam. War das etwa …? Inka griff unter die erste Stufe und hob die Treppe ein Stück an. Es ging erstaunlich leicht. Sie tastete nach oben und fand einen Haken, mit dem sich die Treppe oben fixieren ließ. Inka erblickte sechs Steinstufen, die steil vor ihr nach unten führten. »Hier geht es also in den Keller«, flüsterte sie. Hatte der Makler das etwa nicht gewusst?

Mit eingezogenem Kopf stieg sie langsam hinunter und gelangte in einen niedrigen, halb unterirdisch gelegenen Raum. Durch ein stark verschmutztes Kellerfenster, in dessen Kasematte braunes Laub lag, fiel nur wenig Licht herein. Es reichte nicht aus, um zu den Seiten hin viel zu erkennen. Doch im Gegensatz zu seinem Pendant oben war dieser Raum möbliert. Die Wände waren ebenfalls mit dunkel gestrichenen Brettern verkleidet. Das Fenster hatte sogar Gardinen, die zur Seite gezogen waren und vor Spinnweben starrten. An den Wänden und von der Decke hingen Gegenstände. Inka holte ihr Smartphone aus der Tasche und schaltete die Taschenlampenfunktion ein.

Der Lichtstrahl fiel in ein Paar bernsteinfarbene Augen. Inka sog scharf die Luft ein. Es waren die Glasaugen eines präparierten Fuchses, der auf einem Regalbrett stand. Seine nadelspitzen Zähne in dem aufgerissenen Maul waren gelb, das Fell sah struppig aus. Unter dem Regal befand sich eine altmodische Kinderwiege auf Kufen mit einem Himmel aus ehemals dunkelblauem Samt, diverse Kleinmöbel vom Nierentischchen über Truhen und Schrankkoffer in verschiedenen Größen bis hin zu einem Ohrensessel, in dem ein Teddybär mit nur einem Bein und einem abgerissenen Ohr saß. Alte Ölschinken mit Porträts und Landschaften, einfach gemalt, standen an der Wand gestapelt, ein altersfleckiger Spiegel mit schwerem Goldrahmen und … eine Guillotine vervollständigten das Ensemble.

Was zum Teufel …? Es dauerte einen Moment, bis Inka die Lösung dieses Rätsels ansprang: Theaterrequisiten! In diesem Raum lagerten Dinge, die auf der Bühne eines Theaters gebraucht wurden. Eine präparierte Eule stand auf einem Sims, daneben waren Vasen und Tonkrüge in verschiedenen Farben und Formen aufgereiht. Ein mit Edelsteinen verzierter Trinkbecher …

Ungeachtet des Staubs kletterte Inka über eine Holztruhe hinweg, um den Becher zu begutachten. Natürlich waren es nur Glassteine, die aus der Nähe betrachtet nicht mal den Anschein erweckten, echt zu sein. Sie ging an dem Sims entlang und versuchte zu erraten, welches Requisit zu welchem Theaterstück passte.

»Was für eine Sammlung!«, murmelte sie. Warum hatte jemand das alles nur hier zurückgelassen? Jedenfalls gehörte es jetzt ihr. Wer weiß, was das alles wert war? Vielleicht gab es Sammler, die Gefallen an diesen Dingen fanden? Einige der Gegenstände schienen ihr recht ausgefallen zu sein. Ein menschlicher Schädel in der Ecke sah beinahe echt aus. Die Größe passte zumindest.

Inka streckte die Hand aus, doch dann wich sie zögernd wieder zurück. Es sah wirklich aus wie ein menschlicher Schädel. Gerade so wie der Totenkopf des Schulskeletts damals im Biologieunterricht, das sie Egon genannt hatten.

»Olaf!«, rief sie. Ihre Stimme war eine Oktave höher als sonst. »Olaf, kommst du mal bitte her!«

»Ach, hier unten bist du?« Ihr Mann tappte mit unsicheren Schritten die Stiege hinunter. Sie waren beide nicht groß, sie 1,68 m, er knapp 1,73 m, doch er musste beim Heruntersteigen den Kopf schräg halten, um nicht gegen die Unterkanten der Stufen der hochgeklappten Treppe zu stoßen.

Inka ließ den Lichtstrahl ihres Handys über die Sammlung streifen.

»Na, so etwas. Ich wusste gar nicht, dass die Vorbesitzer dieses Hauses beim Theater waren.« Offenbar hatte er die Situation sofort erfasst.

»Nein, woher auch? Der Makler kannte ja anscheinend nicht einmal diesen Raum.« Sie leuchtete in die Ecke. »Was hältst du hiervon?« Der Lichtschein fiel direkt auf den Schädel.

»Oh!« Olaf trat einen Schritt näher. »Das ist ein schönes Exemplar. Homo sapiens. So einen wollte ich schon immer haben.«

Okay, als Biologie- und Englischlehrer konnte ihn das Ding also nicht erschrecken. »Denkst du, der ist echt?«

»Nein, aber er ist gut gemacht. Findest du nicht? Er sieht schon recht alt aus.«

»Bist du dir sicher?«

»Das ist bestimmt ein Theaterrequisit.« Olaf überlegte. »Wenn er schon sehr alt ist, könnte er vielleicht sogar echt sein. Der Besitz eines Menschen mit einem etwas morbiden Geschmack. Ein Pathologe, den ich kenne, hat einen echten Totenkopf als Aschenbecher.«

»Wie makaber. Aber wenn er sehr alt ist, dann ist es wohl in Ordnung, dass er hier steht.« Inka ließ erleichtert die Schultern fallen.

Olaf nahm den Schädel vorsichtig mit beiden Händen von dem Sims herunter und hielt ihn dann in seiner Handfläche am langen Arm vor sich. Er blickte in die leeren Augenhöhlen. »›Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage‹«, deklamierte er.

»Was soll das, Olaf?«

»Hamlet, dritter Akt, erste Szene. Oder: ›Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.‹«

Seine Augen glitzerten in dem schwachen Lichtschein.

»Gib nicht so an, Herr Oberstudienrat. Lass uns Schluss machen für heute. Draußen wird es schon dunkel. Da sollten wir besser nicht mehr hier drinnen herumkriechen.«

Er lachte leise glucksend. »Jagt dir der Raum etwa Angst ein, Liebling? ›Die Furcht macht Teufel aus Engeln; sie sieht nie richtig.‹«

»Stell dieses Ding wieder zurück! Der kommt mir nicht mit zu uns nach Hause«, rief sie.

»Ist das dein letztes Wort, Inka?« Er betrachtete den Schädel beinahe wehmütig. »Ich habe ihn irgendwie schon ins Herz geschlossen.«

3. Kapitel

Olaf stellte den Schädel zurück auf den Sims. Sie sahen einander an und verließen den Kellerraum. Inka klappte die Treppe wieder herunter und schloss die Tür. Sie drehte den Schlüssel und steckte ihn in ihre Handtasche. Erledigt.

Ihre Euphorie von vorhin war verflogen. Augenscheinlich genau in dem Maße, wie Olafs Laune sich gehoben hatte. Wie konnte dieser eklige Totenkopf ihn nur amüsieren? Das war wohl der Naturwissenschaftler in ihm. Oder war es etwas anderes, sehr viel Seltsameres? Wahrscheinlich war das alles ganz harmlos. Für ihr Fundstück gab es bestimmt eine langweilige Erklärung. Es war ein künstlicher Schädel. Er sah nur so verdammt echt aus. Und wenn er echt war, dann war er sehr alt. Sicherlich hatte es sich um einen natürlichen Tod gehandelt. Oder es war ein sehr lange zurückliegender Mord? Wahrscheinlich war dieser Schädel schon über hundert Jahre alt. Und wenn nicht? Niemand wusste, dass sie bereits hier unten gewesen waren. Dieser Raum mit den Requisiten war noch ihr Geheimnis. Sie konnten in Ruhe überlegen, was zu tun war.

Felix schlief um Viertel vor acht ein. Pia hatte darauf bestanden, ihm vorzulesen. Marten hatte zwar angeboten, das zu übernehmen, und Felix war einverstanden gewesen, doch Pia hatte es sich nicht nehmen lassen. Sie lasen gerade einen spannenden Zauberer-Roman, und die Geschichte wurde immer verwickelter. Kürzere Texte konnte Felix schon recht gut allein bewältigen. Das hatte er sich bereits vor seiner Einschulung beigebracht. Doch Bücher ließ er sich zu Pias Freude noch sehr gern von ihr vorlesen.

Martens Frage am Strand hatte Pia aufgewühlt, sodass sie das gemeinsame Ritual des Zu-Bett-Bringens und Vorlesens mit Felix heute Abend einfach gebraucht hatte. Beinahe hätte sie sich gewünscht, dass er noch ein wenig länger wach blieb. Doch ausnahmsweise waren ihm schon während der Geschichte aus der Zauberschule die Augen zugefallen. Das Herumtoben bei Wind und Wetter am Meer hatte ihn müde gemacht. Das war auch besser so, weil sie morgen beide früh rausmussten.

»Also gut.« Pia setzte sich zu Marten aufs Sofa und schlug die Beine unter. »Vorhin am Strand, als Felix dabei war, konnte ich nicht so gut reden. Aber ich sage dir, wie der Stand der Dinge ist.«

»Der Stand der Dinge?«

Pia seufzte leise. »Die Schwangerschaft damals war nicht geplant. Ehrlich gesagt war ich ziemlich erschrocken, als ich sie festgestellt habe. Ich habe zu der Zeit die Pille genommen. Allerdings hatte mir meine Frauenärztin ein besonders niedrig dosiertes Präparat verschrieben, das ich sehr regelmäßig, immer zur selben Uhrzeit, einnehmen musste. Normalerweise war das auch kein Problem … Zu der Zeit muss es aber zu einer Unregelmäßigkeit gekommen sein. Mir war einmal schlecht geworden, und ich habe mich übergeben, ohne an die Konsequenzen in Bezug auf Verhütung zu denken. Meine Beziehung mit Hinnerk war am Ende, und ich stand ziemlich unter Stress. Da war dieser Fall, der mich nach Italien geführt hatte, wo wir uns zufällig wiedergetroffen haben. In Perugia …«

»Genau daran habe ich auch denken müssen, als ich erfahren habe, wann Felix Geburtstag hat«, sagte Marten mit ruhiger Stimme.

Wut regte sich in ihr. Für ihn war es einfach! Marten konnte sich bestimmt nicht einmal vorstellen, wie schwierig es damals gewesen war. Die lange vergessenen Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und Schuld kamen wieder hoch. Ihr Leben war auf den Kopf und alles infrage gestellt worden, während in ihrem Körper ein Kind heranwuchs. »Du weißt tatsächlich noch genau, wann diese eine Nacht in Perugia war?«, fragte sie ihn.

Er wich ihrem Blick aus. »Also … in etwa jedenfalls. Ich war insgesamt fünf Monate dort. Als wir uns trafen, ging es schon auf das Ende zu.«

»Du weißt gar nicht, welches Datum es war, oder? Du stellst Fragen und stürzt mich in Zweifel und Ängste, nur auf eine ungefähre Vermutung hin!« Pia hielt erschrocken die Luft an. Sie war selbst überrascht von ihrer heftigen Reaktion. Doch sie hatte recht! Beziehungsweise er hatte kein Recht, die Rolle der heiligen Inquisition an sich zu reißen. Felix war sechseinhalb Jahre alt. Marten fiel reichlich spät ein, sich Gedanken darüber zu machen, welche Folgen seine sorglose Liebesnacht mit einer Kollegin gehabt haben könnte.

»Ich will dich nicht in Zweifel oder Ängste stürzen. Im Gegenteil: Mir liegt sehr viel an dir. Ich möchte, dass es dir gut geht, Pia. Dir und Felix«, sagte er beschwörend. »Aber diese Frage muss doch geklärt werden. Ich will es wissen, wenn es so ist.« Er stockte und griff nach ihrer Hand, doch sie entzog sie ihm.

Marten sah ihr in die Augen. »Das ist wichtig für mich. Wer weiß …«

… ob ich noch einmal die Chance habe, Vater zu werden, beendete Pia in Gedanken den Satz für ihn. Das war jedoch sein Problem. »Für mich ist wichtig, dass es Felix gut geht«, fiel sie ihm sanft, aber nachdrücklich ins Wort.

»Ja. Darum geht es. Und Felix hat ein Recht darauf, zu wissen, wer sein Vater ist.«

»Ich habe damals tatsächlich gezweifelt«, räumte Pia ein. »Rein theoretisch war es möglich, dass du der Vater bist, Marten, und nicht Hinnerk. Das war keine erfreuliche Situation für mich. Du warst übrigens nicht erreichbar, falls du dich daran erinnerst.«

Seine Augen wurden schmal. »Ich bin aus beruflichen Gründen von Perugia aus in die Ukraine geschickt worden, soweit ich weiß.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte damals viele wichtige Entscheidungen zu treffen. Als Felix dann geboren war, hatte ich erst mal keine Zeit und Kraft mehr, mir Gedanken über dich und mich zu machen. Ich habe einfach funktioniert und versucht, das alles irgendwie auf die Reihe zu bekommen. Hinnerk hat übrigens von Anfang an mit Verantwortung übernommen. Er war da, obwohl ich ihm gesagt habe, dass Zweifel an seiner Vaterschaft bestehen.«

»Ihr habt das nie abschließend geklärt?«

»Doch.«

Marten starrte ihr in die Augen. Seine Anspannung war nun deutlich spürbar.

»Hinnerk kam eines Tages zu mir und eröffnete mir, er habe einen Vaterschaftstest machen lassen. Nur um sicherzugehen. Ohne mein vorheriges Einverständnis übrigens.« Sie schüttelte leicht den Kopf, als sie daran zurückdachte.

»Und?«

Pia holte tief Luft. »Hinnerk hat mir damals gesagt, dass er Felix’ Vater ist.«

Marten griff nach dem Glas Wein und trank einen kräftigen Schluck, sah dann nachdenklich in Richtung Fenster. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab. Er schien nach Worten zu suchen. Die Sekunden dehnten sich. Dann wandte Marten sich Pia wieder zu. »Und? Glaubst du ihm?«

Am nächsten Tag machte Inka schon gegen Mittag Feierabend. Als sie den Rechner um dreizehn Uhr herunterfuhr, sah ihr junger Kollege sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Sie hatte weiß Gott genug Überstunden angesammelt. Was sollte sie im Büro sitzen und Däumchen drehen, wenn in Barnebek in ihrem neuen Haus ein Haufen Arbeit auf sie wartete? Arbeit, die sie für sich und Olaf machen würde – nicht für ihre Chefs.

Auf der Fahrt von Lübeck aufs Land drehte sie die Musik im Radio lauter und sang lauthals The Look von Roxette mit. Wie schnell doch die Zeit verging, fiel ihr dabei ein. Der Song war populär gewesen, als Olaf und sie sich gerade kennengelernt hatten. Vielleicht hatten sie sogar mal dazu getanzt? Da war sie ungefähr Mitte zwanzig gewesen.

Sie hatte Olaf auf einer Studentenparty kennengelernt. Inka hatte ihre Freundin Caro mitgenommen, damit die sich einen netten Typen angeln möge, wie sie noch gewitzelt hatte. Nun, den »Typen« hatte sie selbst abbekommen, obwohl ihr nichts ferner gelegen hatte als das. Aber so war es ja meistens im Leben …

Mit jedem Kilometer, den Inka Lübeck mehr hinter sich ließ und sie, wie sie meinte, der Natur näher kam, hob sich ihre Stimmung. Sie überquerte den Elbe-Lübeck-Kanal und passierte bald darauf das Ortsschild von Barnebek. Ihr Haus lag am anderen Ende des verschlafenen Dorfes. Inka fand alles charmant, was sie in dieser Umgebung sah. Das Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr, den Dorfteich, das »Dorfmuseum«, die pittoresken Bauernhäuser, das hübsche kleine Café. Und endlich hatte sie ein eigenes Grundstück mit genug Platz, um sich auszuleben. Einen Gartenpavillon und einen Teich wollte sie anlegen, mit Enten darauf, und vielleicht etwas Gemüse ziehen?

Sie parkte in der Zufahrt zu ihrem Haus, genoss es, keine Parkplatzsorgen zu haben, und stieg aus. Als sie um ihren Wagen herumging, um den Bauscheinwerfer aus dem Kofferraum zu holen, blieb ein Mann am Zaun zu ihrem Grundstück stehen.

»Hallo!«, rief er freundlich. »Entschuldigung, aber Sie sind neu hier, oder?«

Irritiert sah Inka zu ihm hinüber. Damit, dass man so schnell Kontakt bekam, hatte nicht einmal sie gerechnet, obwohl sie Olaf von der netten Nachbarschaft und Hilfsbereitschaft auf dem Lande vorgeschwärmt hatte. »Stimmt, wir haben das Haus gerade gekauft. Sind Sie auch aus Barnebek?« Wenn, dann wohnten hier nicht nur alte Leute, wie Olaf vermutet hatte. Der Mann war ein bisschen jünger als sie, vielleicht Anfang fünfzig. Er war groß und schlank, hatte gebräunte Haut, einen Dreitagebart und trug sein welliges Haar zurückgegelt. Mit dem olivbraunen Parka, den Jeans und den derben Stiefeln konnte er sowohl Landwirt als auch Programmierer sein. Heutzutage wusste man nie …

»Ja. Aber zugezogen.« Er verzog spöttisch das Gesicht. »Dann werden wir wohl so etwas wie Nachbarn. Ich bin Thomas. Thomas Zeisig. Ich wohne schräg gegenüber in dem neuen Friesenhaus, zusammen mit meiner Frau Valerie und …« Er deutete nach unten, zu einem Beagle. »Lilli.«

Inka nickte. »Wie schön.«

»Und Sie wollen mal in den alten Kasten hier einziehen?« Er bedachte ihre Neuerwerbung mit einem zweifelnden Blick.

»Erst mal werden wir das Haus natürlich gründlich renovieren. Dann sehen wir weiter. Wir haben noch eine Eigentumswohnung in Lübeck. Dieses Schätzchen ist zunächst als Wochenendhaus geplant.«

»Da haben Sie sich ja was vorgenommen. Es stand ja ewig leer. Das Grundstück zumindest ist ein Traum. Aber ›renovieren‹ ist wohl untertrieben. ›Sanieren‹ trifft es besser. Und dafür war mir der Preis dann doch zu hoch.«

»Ich weiß, was ich tue. Ich bin Bauingenieurin.«

»Na, dann ist das ja ein Kinderspiel für Sie.«

Sie ärgerte sich, dass er so unbekümmert den Finger in die Wunde legte. »Außerdem haben wir Zeit, mein Mann und ich. Uns treibt keiner an.«

Er legte den Kopf schief. »Ich sage es ja nur ungern. Aber Leute, die hier bloß ein Ferienhaus haben, sind in diesem Dorf nicht so gern gesehen.« Er sah sich über die Schulter um. Dann milderte er das Gesagte mit einem Lächeln ab. »Ist nicht meine Meinung. Mir ist das komplett egal. ›Leben und leben lassen‹ ist meine Devise. Ich bin ja auch immer mal wieder für mehrere Monate weg. Meistens in Asien oder Afrika.«

Sie tat ihm nicht den Gefallen nachzufragen, sondern schleppte den Bauscheinwerfer und die Kabeltrommel zum Eingang.

»Kann ich mit anfassen?«, erbot er sich mit den Händen in den Taschen.

»Nein, danke. Das war es schon.« Sie zog den Hausschlüssel hervor.

»Freut mich jedenfalls, dass endlich wieder etwas Leben nach Barnebek kommt. Im Oktober ist es recht trübsinnig hier. Lassen Sie sich das Dorfleben bloß nicht von den anderen miesmachen. Und lassen Sie sich nichts von denen gefallen … Wie heißen Sie übrigens?«

»Sagte ich das nicht? Inka Warburg.«

»Na dann: willkommen! Und viel Vergnügen beim Renovieren.« Er bedachte das Haus mit einem weiteren abschätzigen Blick.

»Blödmann«, murmelte Inka leise und stieß die Haustür auf. Der Geruch nach Feuchtigkeit und Schimmel begrüßte sie.

»Wo bist du so lange gewesen?«

Thomas Zeisig drückte die Haustür etwas härter ins Schloss als unbedingt nötig. Seine Frau Valerie stand in der Diele und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie kann nichts dafür, sagte er sich. Und laut: »Ich war nur mit Lilli draußen. Das wolltest du doch, Schatz.«

»Seit wann führst du so lange den Hund aus, wenn es regnet?«

Thomas ging in die Hocke. »Es regnet doch gar nicht.« Er hielt den Beagle mit der einen Hand an der kurzen Leine und griff mit der anderen nach dem rosafarbenen Handtuch, das im Eingangsbereich bereitlag, um die Hündin abzutrocknen. Er bemühte sich, doch das Tier sprang hin und her und versuchte, seine Hand abzulecken. »Lilli, nun halt doch still!«, fuhr er die Hündin an. Dann löste er die Leine vom Halsband und ließ sie laufen.

»Willst du Lilli hier drinnen nicht das Halsband abnehmen?«, fragte sie.

»Nein, jetzt nicht.« Er richtete sich auf. Und schon gar nicht, wenn du es befiehlst, setzte er in Gedanken hinzu. Seine Frau sah immer noch aus wie ein Model mit ihren langen, glänzenden Haaren, der perfekten Figur und der schimmernden Haut. Aber das Leben mit ihr war manchmal die Hölle. »Ich habe nur unsere ganz normale Runde zum Elbe-Lübeck-Kanal gedreht. Und es regnet auch nicht die ganze Zeit, Valerie.«

»Warum hast du so lange dahinten an der Straße gestanden? Mit wem hast du geredet?«

Er seufzte und nahm seine Frau am Arm, führte sie ins Wohnzimmer, wo er sie in eines der weißen Sofas drückte. Er setzte sich auf den Hocker ihr gegenüber. »Wir haben das doch schon mehrmals besprochen. Auch mit deinem Psychiater. Es tut dir nicht gut, wenn du mir hinterherspionierst.«

Sie verzog den Mund. »Ich habe nicht spioniert. Ich habe oben aus dem Fenster geschaut, weil ich wissen wollte, ob ich schon mal den Kaffeeautomaten anstellen soll.« Sie blickte auf ihre schmalen Hände mit den dunkelrot lackierten Fingernägeln. »Du magst es doch, wenn der Kaffee fertig ist, wenn du vom Gassi-Gehen kommst. Dabei habe ich dich zufällig vor dem leer stehenden Haus gesehen. Du hast bestimmt zehn Minuten dort gestanden.«

»Ich war kaum zehn Minuten weg.«

»Ich habe auf die Uhr geschaut. Mit wem hast du da geredet?«

Er nahm ihre Hand, drückte sie sanft. »Mit der neuen Besitzerin des Hauses. Sie kam gerade mit dem Auto an, als ich vorbeiging. Und bevor du fragst: Sie ist verheiratet und nicht sonderlich attraktiv. Ich bin nicht an ihr interessiert.«

Valerie senkte den Blick. »Als hätte dich das jemals von etwas abgehalten.«

Thomas atmete langsam aus. »Das führt doch zu nichts. Können wir das hier und jetzt bitte beenden?«

»Siehst du«, sagte sie und schüttelte die kastanienbraune Mähne. »Du weichst mir schon wieder aus.«

4. Kapitel

Das Blatt der Kreissäge fraß sich durch den Ahornstamm und legte das helle, unberührt aussehende Innere des Stammes frei. Frieder mochte den Anblick, er mochte den Geruch nach frischem Holz und Wald, er mochte sogar den Lärm der Säge. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der neue Praktikant in einem Overall, der noch Knickspuren aus der Verpackung hatte, neben ihm aufgetaucht war. Der Junge gestikulierte wild. Frieder beendete seine Arbeit in aller Ruhe und schaltete die Säge ab. Er hob den rechten Gehörschutz ein Stück von seinem gesunden Ohr ab.

»Frieder, du sollst sofort zum Chef kommen«, rief ihm der junge Mann mit rotem Kopf zu. »Da ist eine Frau in seinem Büro.«

Frieder nickte und brummte etwas Unverständliches. Er legte erst mal das Brett zur Seite. Das Wort »sofort« gefiel ihm nicht. Er rechnete schon den ganzen Tag über mit Ärger. Es wäre garantiert das falsche Signal, wenn er gleich lossprang, sobald Michael nach ihm rief.

Zehn Minuten später, beim Überqueren der Freifläche, blickte er prüfend nach rechts. Normalerweise stellte er sein Auto auf dem Kundenparkplatz der Holzhandlung ab. Sein Chef, Michael Moll, hielt die Mitarbeiter dazu an, vorn in der ersten Reihe zu parken, damit der Parkplatz immer belebt aussah, auch wenn keine Kunden da waren. Das steigerte seiner Meinung nach das Interesse der Leute. Heute stand sein Ford jedoch hinter dem Bretter-Häuschen für die Müllcontainer, wo er von der Hauptstraße von Barnebek aus nicht zu sehen war. Wenn die Frau sich nach dem Fahrer seines Wagens erkundigt hatte, nützte ihm dieses Versteckspiel allerdings nichts. Die Leute in Barnebek kannten sein Auto. Trotzdem hielt er es für besser, es in den nächsten Tagen weniger sichtbar abzustellen.

Sein Temperament war mal wieder mit ihm durchgegangen. Er hatte es eilig gehabt. Die Frau hatte, nur mit einer dünnen Bluse und Jeans bekleidet, direkt vor ihm die Straße überquert. Bei ihrem hoppelnden Gang hatten ihre Möpse unter der Bluse gehüpft wie Karnickel. Frieder hatte eine Vollbremsung hinlegen müssen. Er hatte die Scheibe herunterfahren lassen und ihr laut »Zieh bloß keinen BH an!« hinterhergebrüllt. Irgendjemand musste ihr ja mal sagen, wie das bei den Kerlen ankam, wenn sie so provozierend herumlief. Im Grunde hatte er sie gewarnt. Im Rückspiegel hatte er gesehen, dass sie ein Handyfoto von seinem Wagen gemacht hatte. Danach war sie in der Bäckerei verschwunden.

Er glaubte nicht, dass man das Nummernschild auf dem Foto erkennen konnte, so schlammig, wie es gerade war. Doch ein Ford Mustang in Race Red, so etwas fuhr eben nicht jeder. Wenn sie später an der Holzhandlung vorbeigefahren wäre und seinen Wagen vorn auf dem Parkplatz stehen gesehen hätte, wäre sie womöglich auf die Idee gekommen, an seinem Arbeitsplatz nach ihm zu suchen. Also hatte er das Auto außer Sichtweite geparkt.

Frieder betrat das Ausstellungsgebäude durch die Hintertür und ging durch den Gang, von dem die Büros der zwei Verkäufer, das der Chefin und das seines Chefs abgingen. Er war froh, dass Michael Moll ihn gerufen hatte und nicht die Chefin! Karen Moll würde bei dieser Geschichte sofort für die Frau Partei ergreifen, egal, was vorgefallen war.

Er konnte allerdings schon verstehen, was sein Chef an Karen fand. Sie war mit ihren schwarzen Haaren und der großen Oberweite einfach ein rassiges Weib. Ganz anders als ihre frustrierte Schwester Ulrike, die stets vom Schlimmsten ausging und an jedem herumnörgelte. Sie hatte auch ein schweres Leben, gar keine Frage. Doch wenn Frieder schon ihr verkniffenes Gesicht sah und die Art, wie sie die Handtasche an ihren Körper presste, war ihm danach, Reißaus zu nehmen. Wie hielt Michael es nur mit dieser Schwägerin aus?

Das war allerdings nicht sein Problem. Seine Probleme waren die Frau, die er vorhin so unüberlegt angemacht hatte, und wie er die nächsten fünf Minuten überstand. Er klopfte an die Tür, öffnete sie und trat sofort ein. Michael Moll saß hinter seinem mit Papieren und Holzmustern übersäten Schreibtisch. Die Luft roch abgestanden, nach Schweiß, Kaffee und den diversen Holzproben.

»Einen Augenblick, Frieder«, sagte er, ohne aufzusehen. Er schrieb winzige Zahlenkolonnen auf ein Blatt Papier, tippte ab und zu etwas in die Rechenmaschine ein, die neben ihm stand, und krauste die Stirn. Die Minuten vergingen.

Frieder spürte Groll in sich aufsteigen. Was sollte das? »Geht es um heute Morgen?«

»Was? Hier war eben eine Frau. Moment noch …«

Bestimmt hatten die beim Bäcker ihn verraten. »Was will sie?«, fragte er.

»Dass du dich bei ihr meldest.« Micha blickte von den Papieren auf, nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Was hast du denn? Du bist ja knallrot im Gesicht.«

»Glaubst du der Tante etwa? Ohne mich vorher überhaupt gefragt zu haben?«

»Was soll ich glauben? Wieso bist du so aufgebracht? Kennst du sie?«

»Ich weiß jedenfalls, weshalb sie hier war«, stieß Frieder zwischen zusammengepressten Kiefern hervor.

»Die Geschichte scheint sich in Barnebek ja herumzusprechen wie ein Lauffeuer.« Micha schüttelte amüsiert den Kopf.

Frieder ballte eine Hand zur Faust. »Hat sie gesagt, was sie jetzt vorhat?« Ihm wurde kalt in der Brust. Hatte er mit seinem Scherz etwa gegen die Bewährungsauflagen verstoßen?

»Sie will, dass du bei ihr vorbeikommst.«

»Nicht im Ernst?«

»Na ja, jedenfalls einer von uns.«

»Derjenige, der zufällig einen roten Ford Mustang fährt? Ist die verrückt?« Frieder hatte mit einer Beschwerde gerechnet, vielleicht sogar mit einer Verwarnung seines Chefs. Er war nicht scharf darauf, aber damit konnte er umgehen. Nicht jedoch damit, dass sie ihn zu sich nach Hause zitierte. Das war krank.

»Guck nicht so entgeistert. Ich persönlich halte es ja auch für ziemlich verrückt. Dieses ganze Vorhaben … Aber solange wir daran verdienen.« Er hob die Schultern.

»Verdienen?«

»Sie will einen neuen Fußboden aus Landhausdielen, Pitch Pine oder Eiche für den alten Kasten im Kastanienweg. Sowohl im Erdgeschoss als auch im Obergeschoss. Das werden ungefähr dreihundert Quadratmeter. Sie ist wohl heute vor Ort. Du wirst also dorthin fahren, um alles auszumessen. Am besten überprüfst du bei der Gelegenheit auch gleich, ob wir mit dem alten Holz noch etwas anfangen können.« Sein Chef grinste.

»Sie hat das Haus im Kastanienweg gekauft?«

»Ja. Davon reden wir doch die ganze Zeit.«

»Sie hat sich nicht über mich beschwert? Oder über den Fahrer eines Ford Mustangs?« Frieder verstand nichts mehr.

»Sprechen wir von derselben Dame?«

»Keine Ahnung.«

»Die Frau, von der ich die ganze Zeit spreche, heißt Inka Warburg. Ich habe ihr gesagt, du bist gegen drei vor Ort. Sie erwartet dich.«

Inka musterte den Mann, dessen Kopf beinahe an den Türrahmen reichte und dessen Bauch sich unter einem Flanellhemd und einer Latzhose spannte. »Hallo. Schön, dass Sie da sind, Herr Steinhaus. Ihr Chef hat Sie mir schon angekündigt. Wollen Sie nicht hereinkommen?«

Er stand vor ihr wie ein begossener Pudel. Aus der kaputten Regenrinne ergoss sich ein kleiner Wasserfall auf ihn, doch er rührte sich nicht. Er betrachtete sie ebenfalls. Ihr Anblick schien ihn zu überraschen, beinahe zu erleichtern. Er nickte und trat mit gesenktem Kopf ein.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Inka Warburg. Mein Mann und ich haben dieses Haus hier gerade gekauft.«

»Frieder Steinhaus.« Seine Hand war kalt und nass. Hoffentlich vom Regen. Ein Fingernagel an seiner Rechten war so tief eingerissen, dass allein der Anblick Inka Schmerzen verursachte, als er sich Wasser von der Stirn wischte.

»Sie wollen also neue Böden verlegen lassen?« Steinhaus blickte sich um.

»Im Prinzip schon. Doch es ist wohl noch ein bisschen früh dafür.« Sie lachte peinlich berührt, als ihr Blick dem seinen folgte. Überall standen alte Möbel und Unrat herum, darauf lag zentimeterdick Staub. »Erst mal muss natürlich alles leer sein. Aber ich wünsche eine Beratung und einen Kostenvoranschlag.«

»Beratung? Der Chef sagte was von ›ausmessen‹.«

»Na ja, das gehört wohl auch dazu.«

Inka ließ den Handwerker das Aufmaß nehmen, stand währenddessen müßig in der Küche und trank Mineralwasser aus der Flasche. Sie überlegte, ob sie wohl störte, wenn sie ihm bei der Arbeit zusah. Als Bauingenieurin wusste sie, dass es solche und solche Handwerker gab. Manchen durfte man zusehen, anderen nicht; gestört werden wollte aber niemand.

Sie entschied sich dagegen, ihm zu folgen. Stattdessen zog sie ruckelnd die verkanteten Küchenschubladen auf. Die waren voller Küchenutensilien, Krimskrams und Krümel. In einer Schublade lag Besteck, andere waren gefüllt mit Gummibändern, Topflappen, Kugelschreibern, Butterbrotpapier und Rührlöffeln. Sie hatten nicht nur ein Haus aus Stein und Holz erworben, sondern einen kompletten Hausstand dazu, der auf dem Stand der Achtziger zu sein schien. Mit diesem Haus hatten sie auch eine Geschichte dazugekauft, wurde ihr klar. Eine Geschichte, die danach drängte, ans Licht zu kommen?

Von den Vorbesitzern und Mietern wusste sie bisher wenig bis gar nichts. »Hier wohnte eine Zeit lang eine nette Familie«, hatte der Makler gesagt. »Vielleicht ein bisschen chaotisch.« Und sie erkannte mit einem Mal, dass sie mehr wissen musste, wenn sie sich jemals hier heimisch fühlen wollte.

Inka lauschte den Schritten des Handwerkers im Obergeschoss und stellte sich vor, wie er mit seinem Zollstock von Raum zu Raum ging. Als Frieder Steinhaus wieder herunterkam, hatte er zwei Zettel mit groben Skizzen und Maßen dabei. »Das Aufmaß habe ich fertig. Für eine Beratung sollten Sie dann in unsere Ausstellung kommen.«

»Ja, das werde ich tun. Ich bin noch etwas unentschieden, welches Holz das richtige ist.«

»Eiche«, sagte Steinhaus. »Das hält ewig.«

»Das ist aber auch recht teuer.«

»Da sollte man keine halben Sachen machen«, entgegnete er. Sein Blick fiel auf die geöffneten Schubladen und Schränke. »Was haben Sie mit dem ganzen Zeug vor?«, fragte er. »Flohmarkt? Dorfmuseum? Oder eBay?«

»Das meiste wird wohl in einen Container wandern.«

»Passen Sie bloß auf, dass Sie nicht aus Versehen was Wertvolles wegwerfen.«

»Was sollte das sein?«

»Keine Ahnung. Antiquitäten, Bilder, Teppiche … Manchmal staunt man, was Sammler für den letzten Schrott so ausgeben.« Er lehnte sich gegen die Küchenarbeitsplatte und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Leben Sie in Barnebek?«

»Schon immer. Meine ganze Familie. Mein Vater und Großvater haben auf einem Bauernhof gearbeitet.«

»Kannten Sie die Leute, die in diesem Haus gewohnt haben?«

»Oh, das waren so einige. Zuletzt lebte hier ein Mann, der sich wohl für einen Künstler hielt. Ein Schreiberling. Alleinstehend, etwas älter, ein seltsamer Kauz.«

»Was ist mit der Familie, von der der Makler gesprochen hat?«

»Hat er? Ja, da war mal eine Familie, die das Haus gemietet hat, das stimmt. Mehrere Kinder. Aber die wohnten nur kurz hier.«

»Warum haben sich die Besitzer nicht besser um ihr Haus gekümmert?« Der Makler hatte nur etwas von einem Erbschaftsstreit gemurmelt und das Thema schnell wieder fallen gelassen.

»Keine Ahnung. Ursprünglich gehörte das Haus einem Georg Deters. Einziger Sohn vom alten Helmut Deters, der hier mit seiner Frau Marianne gewirtschaftet hat. Ihre Namen stehen über dem Türstock der Scheune. Georg hat den Hof mit seiner Frau Grete übernommen. Aber irgendwann kam das große Höfe-Sterben. In den Achtzigern haben sie aufgegeben und das Land verpachtet. Sie blieben hier im Haus wohnen, und Grete hat dann in Lübeck gearbeitet. Meines Wissens waren sie kinderlos. Zuerst ist sie gestorben. Es ging ganz schnell. Georg ist später nach Kiel in ein Altersheim gegangen. Das Haus hat er dann an verschiedene Leute vermietet. Vor einigen Jahren ist er ebenfalls gestorben. Seine Erben haben sich seitdem darum gestritten.«

»Ja, das wurde uns auch so erzählt«, sagte Inka. »Aber Sie sind ja eine wandelnde Dorfchronik. Hatte jemand von den Leuten, die hier mal gewohnt haben, etwas mit dem Theater zu tun oder mit Film oder Fernsehen?«

»Wieso fragen Sie das?«

»Nur so. Im Keller liegen ein paar Dinge.« Inka Warburg wollte nun mehr erfahren. Im Grundbuch standen nur die Eigentümer. Die Mieter natürlich nicht.

»Warum interessiert Sie das?«, hakte Steinhaus nach.

»Ach, nur so. Die Geschichte eines Hauses ist doch recht interessant.«

»Finden Sie? Ich würde es nur wissen wollen, wenn hier drinnen mal einer gestorben ist. Nachher spukt es noch.« Er grinste, was sein Gesicht mit den schlecht überkronten Zähnen nicht schöner machte.

Das Thema war ihr zu ihrer eigenen Überraschung unangenehm. Natürlich glaubte sie nicht an Geister und Gespenster. Sie hielt sich für einen nüchternen, praktischen Menschen. Es musste die bedrückende Atmosphäre mit all den Relikten aus der Vergangenheit sein, die ihr auf einmal Beklemmungen verursachte. »Ich würde Ihnen ja etwas anbieten, nur leider habe ich nichts da außer zimmerwarmem Mineralwasser«, sagte sie, um die Unterhaltung zu beenden.

Steinhaus stieß sich von der Arbeitsplatte ab und griff nach seinen Notizen. »Wasser ist was für Rindviecher.« Er sah auf seine Uhr. »Ich muss sowieso los. Die Maße habe ich mir aufgeschrieben. Alles Weitere besprechen Sie dann am besten mit dem Chef oder der Chefin.«

Inka nickte und wischte sich die klebrigen Handflächen an der Jeans ab. Sobald man hier drinnen etwas anfasste, war es, als hätte man in Sprühkleber gegriffen.

An der Tür wandte sich der Handwerker noch einmal um und kam etwas näher, als es ihr angenehm war. Er roch nach Schweiß und frisch gesägtem Holz. »Ich glaube, wegen dieses Kastens hier können Sie ganz beruhigt sein«, sagte er in verschwörerischem Tonfall. »In diesem Haus ist wahrscheinlich nie etwas Schlimmes geschehen.«

»Hier nicht. Aber woanders?«, fragte Inka alarmiert.

Er rückte ein Stück von ihr ab. »Nun ja. Wo nicht?«

»In Barnebek?«

»Tja, es ist allerdings schon etwas länger her.« Er sah sie abwägend an. »Ich werde dann besser mal gehen.«

»Nun erzählen Sie schon.«

»Es ging damals durch alle Zeitungen. Sogar im Radio und Fernsehen haben sie es gebracht. Der Vermisstenfall von Barnebek.«

»Ich erinnere mich nicht.« Oder doch? War da mal etwas gewesen? Der Name des Ortes hatte sie beim ersten Mal, als sie ihn gelesen hatte, verunsichert, doch sie hatte es beiseitegeschoben.

»Hier ist vor Jahren mal eine junge Frau verschwunden. Sie war die Nichte meines Chefs, deshalb weiß ich es noch so genau.«

»Das ist ja schrecklich. Was ist mit ihr passiert?«

Er sah an ihr vorbei, hinaus auf die leere Straße, und schüttelte den Kopf. »Sie war wie vom Erdboden verschluckt, und sie wurde nie gefunden. Weder tot noch lebendig. Inzwischen sind sich alle sicher, dass sie wohl tot sein muss.« Er musterte Inka mit starrem Blick. »Wahrscheinlich war sie schon Stunden nach ihrem Verschwinden nicht mehr am Leben. Wir haben trotzdem alle wochen- und monatelang nach ihr gesucht.«

»Wann war das?«

»Das alles ist jetzt ungefähr zehn Jahre her. Dabei kommt es mir so vor, als hätte ich Alena neulich noch auf ihrem Fahrrad durch Barnebek fahren sehen. Eine schlimme Sache war das.« Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und verließ das Haus.

Inka sah Frieder Steinhaus nach, wie er den Weg entlang zur Straße ging. Er stieg in einen dunkelblauen Lieferwagen mit dem Schriftzug der Holzhandlung auf der Tür. Sie wartete, bis er davongefahren war. Dann schloss sie die Haustür und lehnte sich von innen dagegen. Die Dunkelheit und der säuerliche, staubige Geruch des Hauses senkten sich auf sie herab wie eine schwere Decke. Sie wollte, sie hätte nicht gefragt.

Dann straffte sie die Schultern. Inka Warburg zog ihr Telefon aus der Tasche und rief ihren Mann an. »Olaf. Kommst du bitte sofort nach Barnebek!«

5. Kapitel

Nach ihrem Anruf stand Inka mit dem Smartphone in der Hand unschlüssig da. Sie hatte ihren Mann erreicht, als er gerade aus der Zahnarztpraxis kam, wo er einen Termin gehabt hatte. Er klang noch ein bisschen undeutlich, weil eine Seite seines Mundes betäubt worden war. Aber Olaf hatte ihr versichert, dass er sich sofort auf den Weg nach Barnebek machen werde. Offensichtlich war ihm der Anflug von Panik in ihrer Stimme nicht entgangen. Vorausgesetzt, der Verkehr war nicht zu dicht, müsste er in ungefähr zwanzig Minuten hier sein.

Doch was sollte sie bis dahin tun?

Sie sah sich um. Hinter Inka erstreckte sich der schmale Flur, dessen letzte Tür zu dem Raum mit der Treppe führte. Die davon abgehenden Zimmer zu beiden Seiten erschienen ihr nun abweisend, beinahe bedrohlich. Als wäre ihre Anwesenheit hier drinnen unerwünscht. Sie öffnete die Haustür und trat vor das Haus. Es hatte aufgehört zu regnen. Sie konnte gut hier draußen auf Olaf warten. Wer sie vor der Tür unter dem Vordach stehen sah, würde vielleicht denken, dass sie eine Zigarette rauchte.

Warum war ihr die boshafte Ausstrahlung der Räume nicht schon vorher aufgefallen? Weil sie bisher immer nur die Möglichkeiten gesehen hatte, die dieses Haus bot. Sie war hindurchgegangen mit Gedanken wie: Diese Wand könnte man entfernen und so einen schönen Durchblick und einen großen Koch-Ess-Bereich schaffen. Jenes Fenster würden sie zumauern, dort eine Tür in den Garten einbauen. Den Kamin konnten sie wieder aktivieren und weiß streichen …

Das alte Haus war ihr wie ein riesiger Spielplatz erschienen, auf dem sie sich austoben konnten. Eine weiße Leinwand, auf der sich nach Herzenslust etwas Neues erschaffen ließ. Das Bestehende und das Vergangene hatten ihrer Ansicht nach keinerlei Berechtigung mehr gehabt weiterzuexistieren. Es konnte einfach ausradiert werden, mithilfe eines Entrümpelungsunternehmens, eines Abrisshammers und diverser Schuttcontainer, die sie füllen würden. Doch sie hatte nicht bedacht, dass ein altes Haus mehr war als Steine, Mörtel und Bretter. Etwas wohnte darin … Etwas, was frühere Bewohner zurückgelassen hatten und was auf rätselhafte Weise wohl fortbestand.

Das beste Beispiel dafür war der Halbkeller, den der Makler ihnen nicht gezeigt hatte. Entweder weil er ihn nicht kannte oder weil er die Requisiten da unten auch unheimlich gefunden hatte? Jedenfalls stellte die Sammlung keinen Wert dar, der den Kaufanreiz für dieses Haus wesentlich erhöhte.

Da unten schwitzen die alten Mauern Dekadenz und Bosheit geradezu aus, dachte sie und lachte nervös auf. Sie wünschte, sie wäre gestern nicht allein dort hinuntergegangen. Vor allem wünschte sie, dieser Schädel wäre nicht dort. Wie hatte sie ihren Fund nur für skurril und sogar amüsant halten können? Weil Olaf damit eine Theaterszene aufgeführt hatte? Olaf war Englischlehrer und shakespeare-verrückt. Aber sie hätte einen kühlen Kopf bewahren sollen. Wo war ihr Urteilsvermögen geblieben? Sie hätten sofort die Polizei verständigen müssen!

Der Mitarbeiter der Holzhandlung hatte gesagt, dass vor ungefähr zehn Jahren eine junge Frau aus Barnebek verschwunden und niemals wieder aufgetaucht war. Aber das da unten im Keller würde doch wohl kaum ihr Schädel sein? Das ergäbe überhaupt keinen Sinn … Niemand bewahrte so etwas in seinem Keller auf, wenn der Schädel mit einem bekannten Todesfall, vielleicht sogar einem Mord, zusammenhing. Und dieses Ding sah so … sauber aus. Wirklich mehr wie ein Theaterrequisit oder Anschauungsmaterial für den Biologieunterricht als etwas, was sich mal im Inneren eines Menschen befunden hatte.

Inka betrachtete ihr Smartphone. Sie hielt es immer noch umklammert. Kopfschüttelnd ließ sie das Handy in ihre Jackentasche gleiten. Es würde sich alles aufklären, und später würden sie darüber lachen. Sie hatte sich bestimmt nur von der morbiden Atmosphäre des Hauses und den Sprüchen dieses ungehobelten Mannes, der das Aufmaß genommen hatte, ins Bockshorn jagen lassen.

Die Kinder strömten aus dem Haupteingang des Schulgebäudes. Die ersten rannten, danach folgten ein paar, die hüpften oder die Hände vor sich um ein imaginäres Steuer geschlossen hatten und wohl ein fantasiertes Gefährt lenkten. Dann kamen die, die in normalem Tempo gingen, in Gruppen, zu zweit oder allein. Pia sah Felix als einen der Letzten hinausschlendern. Er unterhielt sich mit Raphael, seinem Freund, den er schon aus dem Kindergarten kannte. Felix war, ebenso wie sie, eher zurückhaltend mit neuen Bekanntschaften und beständig in seinen Freundschaften.

Pia musterte ihren Sohn. Seine Haare schimmerten weich, weil das Sonnenlicht auf sie fiel. Sie betrachtete seine Statur, seinen Gang. Er hatte wenig Ähnlichkeit mit Hinnerk. Das war ihr schon öfter aufgefallen. Aber sah er deswegen aus wie sie? Felix’ Haar war früher hellblond gewesen, doch es dunkelte schon nach und hatte jetzt eher ein helles Braun angenommen. Es war deutlich dunkler als ihres, aber nicht so dunkel wie das von Hinnerk.

Felix schien sich zu freuen, als er sie erblickte, und hüpfte vorwärts. Er rief Raphael noch etwas zu und winkte ihm zum Abschied. Dann hatte er sie erreicht.

Direkt vor der Schule sollte sie ihn nicht in den Arm nehmen, hatte er sie angewiesen, das sei peinlich. Deshalb beschränkte Pia sich auf einen freundschaftlichen Knuff. »Hey, wie war es heute in der Schule, Felix?«

»Normal.«

»Normal? Was meinst du damit?«

»Wir haben zwei neue Buchstaben gelernt. Und es gab Schokoladenkuchen zum Nachtisch.« Er klang nicht begeistert.

»Ist doch toll. Oder war der Kuchen nicht so lecker?«

Felix’ Gesicht verdüsterte sich noch mehr. »Weiß nicht.«

»Wieso? Du magst doch Schokoladenkuchen so gern. Hast du keinen Kuchen gegessen?«

»Nö.«

Pia ging vor ihm in die Hocke und sah ihn prüfend an. Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und klare Augen. Sie waren hellgraublau, mit diesem auffälligen dunkelgrauen Rand um die Iris. Ganz anders als ihre, deren Iris beinahe einfarbig aussah.

Verdammt, was hatte Marten da angestoßen? Sie hasste diese Verunsicherung. Alles war klar gewesen. Nicht einfach, doch zumindest wohlgeordnet und geregelt. Martens Frage hatte ihre Gefühle ins Chaos gestürzt. Das Letzte, was sie wollte, war, dass ihr Sohn etwas davon mitbekam. Ihr prüfender Blick auf ihn hatte sie aber auch beruhigt. Felix sah zum Glück vollkommen gesund aus. Der Grund dafür, dass er auf Schokolade in irgendeiner Form verzichtet hatte, musste woanders liegen. »Willst du mir erzählen, was los war?«

Felix schüttelte den Kopf.

»Bei mir war es heute auch normal«, sagte sie. »Wir haben in letzter Zeit nicht besonders viel zu tun. Ich sitze den ganzen Tag am Schreibtisch und sehe Papiere durch.« Sie richtete sich wieder auf.

»Ja. Bis etwas Schlimmes passiert …«

»So ist es bei der Polizei.« Sie nahm seine Hand, und sie gingen los.

»Aber du nimmst die richtig bösen Leute fest und sperrst sie ein, oder?«

»Ich nehme nur Verdächtige fest. Ob sie schuldig sind und ob sie für länger ins Gefängnis müssen, darüber entscheiden nicht wir von der Polizei, sondern ein Gericht.«

»Und das Gericht macht das, damit diese Leute nichts Böses mehr anstellen können, oder?« Felix krauste die Stirn. »Sind die Bösen auch manchmal böse auf dich?«

Pia war kurz davor, die Frage zu verneinen, damit er sich keine Sorgen machte. Aber sie wollte ehrlich zu ihm sein, sonst konnte er ihr auf lange Sicht nicht vertrauen. »Normalerweise sind die nicht böse auf mich«, sagte sie. »Es ist ja nicht meine Schuld, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind. Und das wissen sie auch.«

»Und wenn doch?«

»Wenn die Verbrecher im Gefängnis sind, können sie mir ja nichts tun.«

»Und wenn sie wieder rauskommen?«

»Dann haben sie entweder eingesehen, dass sie etwas falsch gemacht haben, und wollen sich bessern, oder …«

»… sie lassen sich von niemandem etwas sagen. Nicht mal von Frau Brandner«, warf Felix aufgebracht ein.

Frau Brandner war Felix’ Lehrerin. Sie war eine erfahrene Pädagogin und eine resolute Person. Pia traute ihr durchaus zu, auch die schwierigeren Grundschüler in den Griff zu bekommen. »Wen meinst du denn, Felix?«

»Es gibt einen Jungen, der neu in meiner Klasse ist. Er heißt Victor, und er stört andauernd den Unterricht. Außerdem ärgert er in den Pausen die anderen Kinder. Wir haben neulich in der ›Kummerstunde‹ darüber gesprochen, und Frau Brandner hat auch noch mal allein mit Victor geredet und auch mit seinen Eltern. Aber das nützt überhaupt nichts. Es wird immer schlimmer.«

»Das klingt schwierig. Hat er dich auch schon geärgert, Felix?«, hakte Pia vorsichtig nach. Seit drei Wochen war seine Begeisterung für die Schule etwas abgeklungen, und sie fragte sich nun, ob das mit diesem Neuzugang zusammenhing.

»Ja. Manchmal. Und Raffi auch.« Er presste die Lippen zusammen. »Auch heute, in der Pause …«

Sie hatten inzwischen den Hauseingang erreicht. Pia schloss auf, und sie stiegen die Treppe hinauf. »Was ist denn in der Pause passiert?«

»Die haben Ball auf dem Schulhof gespielt. Victor und sein älterer Bruder und noch einer von den Größeren, den ich nicht kenne. Ich stand mit Raffi und Lisa an der Schaukel, und wir haben Fußball-Karten getauscht. Und dann hat Victor den Ball mit voller Absicht gegen meinen Kopf geworfen, und die anderen Kinder haben gelacht!«

»Was? Raffi und Lisa auch?«

»Nein, die nicht. Aber alle anderen.«

»Hat es doll wehgetan, Felix?« Pia nahm ihn mit in die Küche, hob ihn hoch und setzte ihn auf die Küchenarbeitsplatte, wo sie ihn im Licht, das durch die Balkontür hereinfiel, mustern konnte.

»Ach, lass das, Mama«, wehrte er ab, als sie seinen Kopf begutachtete und nach Beulen absuchte. »Das hat gar nicht so wehgetan, doch der Ball war ganz matschig. Und als ich mir nach dem Mittagessen ein Stück Schokoladenkuchen holen wollte, hat die Frau an der Essensausgabe gesagt, ich bekomme keinen Kuchen, weil ich schon welchen hatte!«

»Aber das stimmte nicht?«

»Nein!« Felix’ Augen füllten sich mit Tränen. »Überhaupt gar nicht.«

»Wieso dachte sie denn, dass du schon Schokoladenkuchen gegessen hast?«

»Weil ich noch Matsch von dem blöden Ball im Gesicht hatte.«

»Das war wirklich Pech, Felix. Konntest du ihr das nicht erklären?« Pia nahm ihren Sohn in den Arm.

»Doch.« Er schniefte. »Aber ich wusste es zuerst nicht. Und es war so voll. Die anderen haben mich weitergeschoben. Und als ich später noch mal zu ihr hingegangen bin und es ihr erzählt habe, da war der Kuchen schon alle.«