Redwall 2 - Brian Jacques - E-Book

Redwall 2 E-Book

Brian Jacques

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Beschreibung

Die spannende Vorgeschichte zu Redwall, ein Muss für jeden Fan der geliebten Bestseller-Saga. Die schlaue und gierige Wildkatze Zarina wird zur Herrscherin über die Mossflower Woods und ist entschlossen, die friedlichen Waldbewohner mit eiserner Hand zu regieren. Doch in den Tiefen des Kerkers von Schloss Kotir begegnen sich die mutige Maus Martin und der wortgewandte Mäusedieb Gonff. Die beiden entkommen und beschließen, Zarinas tyrannische Herrschaft zu beenden. Zusammen mit Kinny, dem Maulwurf, machen sich Martin und Gonff auf die gefährliche Suche nach Salamandastron – überzeugt, dass ihre einzige Hoffnung, Eber der Kämpfer, dort noch lebt.

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Seitenzahl: 574

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BRIAN JACQUES

IN DEN FÄNGEN DER WILDKATZE

ÜBERSETZT VON

CLAUDIA KERN & HELGA PARMITER

Die deutsche Ausgabe von

REDWALL 2: IN DEN FÄNGEN DER WILDKATZE

wird herausgegeben von CROCU, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Verlagsleitung: Luciana Bawidamann; Übersetzung: Claudia Kern & Helga Parmiter; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Coverillustration Christopher Dunn; Innenseiten- und Backcover-Illustrationen: Gary Chalk; Titellogo: Timo Würz; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.

Copyright © Brian Jacques, 1988

First published as MOSSFLOWER in 1988 by Random House Children's Publishers UK, an imprint of The Random House Group Limited which is part of the Penguin Random House group of companies.

Print ISBN 978-3-98743-011-4 (Dezember 2022)

E-Book ISBN 978-3-98743-010-7 (Dezember 2022)

WWW.CROCU.DE

Erstes Buch

Kotir

 

Zweites Buch

Salamandastron

 

Drittes Buch

Von Wasser und Kriegern

 

PROLOG

Spätherbstliche Windböen rüttelten heulend an der offenen Tür des Torhauses und ließen die goldbraunen Blätter im schwindenden Nachmittagslicht rascheln.

Bella von Grimhall kuschelte sich tief in ihren alten Sessel am Feuer. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete sie einen kleinen Mäuserich, der durch die Türöffnung zu ihr hin spähte.

»Nur herein, mein Kleiner, und mach die Tür zu.«

Der kleine Mäuserich gehorchte. Ermutigt durch das freundliche Lächeln der Dächsin, kletterte er auf die Armlehne des Sessels und ließ sich auf einem Kissen nieder.

»Ihr habt gesagt, Ihr würdet mir eine Geschichte erzählen, Frau Bella.«

Die Dächsin nickte bedächtig.

»Alles, was du um dich herum siehst, die ganze Ernte, von den rostroten Äpfeln bis zum goldenen Honig, kannst du ungehindert genießen. Nun hör gut zu, während der Wind die letzten Herbstblätter in den herannahenden Winter fegt. Ich werde dir von einer längst vergangenen Zeit erzählen, noch bevor die Rotwall-Abtei in Moosblume erbaut war. Damals gab es keine Freiheit für die Waldbewohner. Wir wurden unter der Schreckensherrschaft von Verdauga Grünauge und seiner Tochter Zarmina grausam unterdrückt. Ein Mäuserich wie du hat damals Moosblume gerettet. Seinen Namen kennt jeder: Martin der Krieger.

Ach, mein kleiner Freund, ich bin alt geworden, genau wie meine Wegbegleiter. Ihre Söhne und Töchter sind inzwischen selbst Eltern. Aber so ist das Leben. Für Kinderaugen ist jede Jahreszeit etwas Neues, und auch das Essen schmeckt mit dem Mund der Jugend frischer als mit meinem eigenen. Während ich hier im Warmen und in Friedenszeiten sitze, lebt alles wieder in meiner Erinnerung auf, eine seltsame Geschichte von Liebe und Krieg, Freund und Feind, großen Ereignissen und Heldentaten. Sieh ins Feuer, junger Mann. Hör mir zu und ich werde dir die Geschichte erzählen.«

ERSTES BUCH

Kotir

1

In Moosblume herrschte tiefster Winter. Der bleigraue Himmel schimmerte am Horizont scharlachrot und orange. Eine kalte Schneedecke überzog die Landschaft und bedeckte die flache Tiefebene im Westen. Überall war Schnee – er füllte Gräben, türmte sich an Hecken zu hohen Verwehungen, machte Wege unsichtbar und verwischte die Konturen der Erde in seiner weißen Umarmung. Ununterbrochen fiel Schnee durch die kahlen, blattlosen Wipfel des Moosblumenwalds. Er legte sich wie ein Teppich auf den Waldboden und setzte den immergrünen Sträuchern und Büschen weiße Kappen auf. Der Winter hatte das Land verstummen lassen. Die Stille wurde nur von den Pfoten eines Wanderers durchbrochen.

Ein kräftig gebauter junger Mäuserich mit flinken, dunklen Augen schritt selbstbewusst durch das verschneite Land. Als er einen Blick zurück nach Norden warf, sah er, wie sich seine Spuren in der Ferne verloren. Weiter südlich erstreckten sich die endlosen Weiten der Tiefebene, die im Westen von den schwachen Umrissen weit entfernter Hügel begrenzt wurde, während im Osten der lange, zerklüftete Waldsaum die Grenzen von Moosblume markierte. Seine Schnurrhaare zuckten, als ihm schwach der Geruch von brennendem Holz und Torf aus einer Feuerstelle in die Nase stieg. Kalter Wind fegte von den Baumkronen herunter, wirbelte Schnee auf und ließ ihn in eisigen Spiralen tanzen. Der Wanderer zog seinen zerlumpten Umhang enger um sich und rückte das alte, rostige Schwert zurecht, das er sich auf den Rücken geschnallt hatte. Dann stapfte er gleichmäßig voran, weg von der Wildnis und dorthin, wo andere Geschöpfe lebten.

Der Ort war abweisend und durch Armut heruntergekommen. Hier und da sah der Wanderer Hinweise auf eine Besiedlung. Die verwüsteten und zerstörten Behausungen waren unter den Schneewehen nur als klägliche Umrisse zu erkennen. Vor dem Wald ragte ein merkwürdiges Gebäude auf und warf seinen Schatten auf die heruntergekommene Siedlung. Es war eine marode, dunkle und düstere Festung, ein Symbol der Angst für die Waldbewohner von Moosblume.

Und so setzte Martin der Krieger zum ersten Mal seinen Fuß in Kotir, den Sitz der Wildkatzen.

In einer armseligen Hütte auf der Südseite von Kotir kauerte Familie Stachler um ein mickriges Torffeuer. Die nächtlichen Windböen drangen durch die Lücken zwischen den Balken, wo der Lehm fehlte, und ließ es immer wieder flackern. Ein zaghaftes Kratzen an der Tür ließ sie nervös aufspringen. Ben Stachler hob ein brennendes Holzscheit auf und gab seiner Frau Guttraud ein Zeichen, mit den vier kleinen Kindern im hinteren Teil der Hütte in den Schatten zu bleiben.

Während Guttraud Stachler ihre Sprösslinge mit Decken aus grobem Sackleinen zudeckte, packte Ben das Holz fester und rief so barsch es nur ging: »Verschwindet und lasst uns in Ruhe. Hier drin gibt es nicht einmal genug zu essen für eine anständige Igelfamilie. Ihr habt schon die Hälfte von allem genommen, was wir haben, um die Speisekammern in Kotir aufzufüllen.«

»Ben, Ben, ich bin’s, Erdklau! Uffmache, jurr. Kalt isses hier drusse, brr.«

Als Ben Stachler die Tür öffnete, schob sich ein Maulwurf mit einem gutmütigen Gesicht an ihm vorbei und eilte zum Feuer, wo er sich vor die Flammen stellte und seine Grabklauen aneinanderrieb.

Die Kleinen lugten aus den Decken hervor. Ben und Guttraud sahen ihren Besucher furchtsam an.

Erdklaue rieb seine kalte Nase, um sie zu wärmen, und redete in der eigentümlichen Sprechweise der Maulwürfe weiter. »G’sindl is unnerwegs, jurr, Wiesel un’ Hermlin un’ so. Guck’n nach mehr Futta.«

Guttraud wischte die Schnauze eines ihrer Kleinen an ihrer Schürze ab und schüttelte den Kopf. »Ich hab’s gewusst! Wir hätten wie die anderen weglaufen und diesen Ort verlassen sollen. Wo, um Himmels willen, sollen wir Essen finden, um ihre Abgaben zu bezahlen?«

Ben Stachel warf verzweifelt das Holzscheit fort. »Wohin sollen wir mitten im Winter mit vier kleinen Kindern laufen? Sie würden lange vor Frühlingsanfang umkommen.«

Erdklaue holte einen schmalen Streifen silberner Birkenrinde hervor und legte als Zeichen, dass sie schweigen sollten, eine Pfote an die Lippen. Auf der Rinde war mit Holzkohle ein einziges Wort eingekratzt: Rawim. Darunter befand sich eine einfache Karte, die einen Weg in den Moosblumenwald zeigte, weit weg von Kotir.

Ben betrachtete die Karte und war hin- und hergerissen zwischen der Möglichkeit zu entkommen und der misslichen Lage seiner Familie. Die Frustration stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Rumms! Rumms!

»Macht auf, ihr da drinnen! Na los doch! Macht die Tür auf. Hier ist eine offizielle Kotir-Patrouille.«

Soldaten!

Ben warf hastig einen letzten Blick auf den Rindenstreifen und warf ihn ins Feuer. Als Guttraud den Riegel anhob, wurde die Tür gewaltsam aufgestoßen. Guttraud wurde beiseitegefegt, als die Soldaten aus der Kälte der Winternacht in den Raum drängten. Rüde stießen und schubsten sie sich gegenseitig. Ein Frettchen namens Schwarzzahn und ein Hermelin, das Spaltnase genannt wurde, schienen die Patrouille anzuführen. Ben Stachler seufzte erleichtert, als sie sich von dem brennenden Rindenstreifen abwandten und dem Feuer den Rücken zukehrten.

»Also, ihr Dösstachel, wo versteckt ihr all das Brot, den Käse und das Oktoberbier?«

Ben gelang es nur mit Mühe, den Hass in seiner Stimme zu unterdrücken, als er dem höhnenden Schwarzzahn antwortete. »Es ist schon lange her, dass ich Käse oder Oktoberbier gekostet habe. Im Regal liegt etwas Brot, gerade genug für meine Familie.«

Spaltnase spuckte ins Feuer und griff nach dem Brot. Ben Stachler versuchte, sich nach vorn zu drängen, um das Hermelin aufzuhalten, wurde aber durch eine Wand aus Speerschäften daran gehindert.

Guttraud legte mahnend eine Pfote auf die Stacheln ihres Mannes. »Bitte, Ben, leg dich nicht mit diesen Rüpeln an.«

Erdklaue pflichtete ihr bei: »Jurr, gegn Speer machste nix, Ben.«

Schwarzzahn drehte sich zu dem Maulwurf um, als bemerke er ihn jetzt zum ersten Mal. »He, was machst du denn hier, Blinzler?«

Eins der Igelkinder warf die Decken beiseite und funkelte das Hermelin kühn an. »Er wollte sich nur an unserem Feuer wärmen. Lasst ihn in Ruhe!«

Spaltnase prustete lachend los und spuckte dabei Krümel von dem Brot umher, das er gerade aß. »Pass auf, Zahn. Da sind noch mehr unter der Decke. An deiner Stelle wär ich lieber auf der Hut.«

Ein Wiesel, das in ihrer Nähe stand, schlug die Decke zurück und die anderen drei Kleinen kamen zum Vorschein.

Schwarzzahn begutachtete sie. »Hm, die müssten eigentlich groß genug zum Arbeiten sein.«

Guttraut Stachler warf sich wütend dazwischen. »Lasst meine Kinder in Ruhe. Sie haben niemandem etwas getan.«

Schwarzzahn schien sie nicht zu beachten. Er schlug Spaltnase die Brotlaibe aus den Pfoten, dann wandte er sich an ein Wiesel und gab Anweisungen. »Heb das Brot auf und denk nicht mal dran, heimlich davon zu essen. Bring es ins Lager, sobald wir wieder in der Garnison sind.«

Er gab der Patrouille mit seinem Speer ein Zeichen, die Hütte zu verlassen. Schwarzzahn rief beim Verlassen der Hütte Ben und Guttraud zu: »Ich will diese vier morgen auf den Feldern sehen. Entweder das oder ihr könnt den Rest des Winters sicher und warm im Kerker von Kotir verbringen.«

Erdklaue spähte mit einem Auge durch einen Türspalt und beobachtete, wie die Patrouille nach Kotir davonmarschierte. Ben verschwendete keine Zeit. Er begann sofort, die Kleinen in alle Decken zu hüllen, die sie besaßen. »So, jetzt reicht’s! Genug ist genug. Wir werden noch heute Nacht aufbrechen. Du hast recht, altes Mädchen, wir hätten uns schon längst den anderen im Wald anschließen sollen. Was sagst du, Erdklaue?«

Der Maulwurf stand da und drückte sein Auge an den Türspalt. »Jurr, kimm her, des musste seh’n!«

Während Ben zusammen mit seinem Freund durch den Türspalt lugte, hüllte Guttraud ihre Kleinen weiter in Decken ein. »Was ist denn los, Ben? Sie kommen doch nicht zurück, oder?«

»Nein, Schatz. Ho ho ho, sieh dir das an, das glaubt man nicht! Siehst du, wie er dem Wiesel eins auf die Nase gegeben hat? Na los, zeig’s ihnen, Bursche!«

Stich, der vorwitzige Kleine von vorhin, krabbelte herbei und zerrte an Bens Pfote. »Auf die Nase? Wer hat ein Wiesel gehauen? Was machen die da?«

Ben beschrieb, was er sah. »Da ist ein Mäuserich, ein großer, starker Kerl. Sie versuchen gerade, ihn gefangen zu nehmen. Richtig so! Tritt noch mal zu, Mäuserich. Na los! Ha ha ha, man sollte meinen, dass eine Soldatenpatrouille mit einem Mäuserich fertig wird, aber weit gefehlt. Das muss ein richtig erfahrener Kämpfer sein. Au weia! Jetzt hat er doch glatt Schwarzzahn eine verpasst und der ist lang auf den Rücken geknallt. Schade, dass sie sein Schwert so gut festhalten. Heiliger Stachel, könnte der mit dieser Klinge Schaden anrichten, auch wenn sie rostig ist.«

Stich hüpfte auf und ab. »Lass mich auch mal gucken, ich will auch was sehen!«

Erdklaue wandte sich langsam von der Tür ab. »Is nix mehr los, kleene Stachlich. Ham en umworf’n un’ eengeschnürt. Is schad, sin’ zu vill für ’n, is abbe ’n mut’ge un’ tapf’re Krieger, jurr.«

Ben war einen Moment lang niedergeschlagen, dann klatschte er in die Pfoten. »Jetzt oder nie, solange die Patrouille durch den Krieger abgelenkt ist. Sie haben jetzt alle Pfoten voll damit zu tun, ihn zur Katzenburg zu schleppen. Na los, machen wir uns auf den Weg, solange es noch geht.«

Kurze Zeit später erstarb das Feuer in einer leeren Hütte allmählich, während die kleine Gruppe in die ausgedehnten Wälder von Moosblume stapfte. Ihre Augen tränten und sie mussten die Köpfe gegen den scharfen Wind gesenkt halten. Erdklaue folgte ihnen und verwischte die Pfotenspuren auf dem verschneiten Boden.

2

Gonff, der Mausedieb, schlich lautlos den Gang entlang, der von der Speisekammer und dem Vorratsraum von Kotir wegführte. Er war ein pummeliges kleines Tier und trug ein grünes Wams und einen breiten Gürtel mit großer Schnalle. Er war ein wahrer Lebenskünstler, ein ausgezeichneter Schauspieler, Balladendichter, Sänger und Schlösserknacker, und bei alledem ein äußerst fröhlicher Kerl. Die Waldbewohner hatten den kleinen Dieb ins Herz geschlossen. Gonff nahm das mit einem Schulterzucken hin und nannte jedes Geschöpf Matrose, in Anlehnung an die Otter, die er sehr bewunderte. Er kicherte leise vor sich hin, zog den kleinen Dolch aus seinem Gürtel und schnitt ein Stück von dem Käse ab, den er bei sich trug. Von seiner Schulter baumelte eine große Flasche Holunderbeerenwein, die er ebenfalls aus der Vorratskammer gestohlen hatte. Gonff aß Käse und trank Wein und dazwischen sang er mit tiefer Bassstimme leise vor sich hin.

»Der Prinz der Mausediebe ehrt euch

Heut’ mit seinem Besuch.

Also schließt alles Essen weg,

Bedeckt’s mit einem Tuch.

Ach, ihr Narren, vermisst ihr sehr

Was alles ist nun mein?

Seid gewiss, ich hol mir noch mehr

Vor allem von dem Wein.«

Beim Geräusch schwerer Pfotentritte verstummte Gonff. Er verschmolz mit den Schatten, kauerte sich zusammen und hielt den Atem an. Zwei Wiesel mit Rüstung, die Speere trugen, stapften vorbei. Sie stritten heftig miteinander.

»Hör zu, ich werd nicht den Kopf dafür hinhalten, dass du aus der Speisekammer klaust.«

»Wer, ich? Sei vorsichtig, was du sagst, Kumpel. Ich bin kein Dieb.«

»Du bist in letzter Zeit ganz schön fett geworden, mehr sag ich ja gar nicht.«

»Hm, nicht halb so rund wie du, Schmalzbacke.«

»Selber Schmalzbacke. Als Nächstes wirst du mich noch beschuldigen.«

»Ha, du hast den Schlüssel, wer sollte es sonst sein?«

»Du könntest es genauso gut gewesen sein. Schließlich bist du immer mit mir da unten.«

»Ich geh ja nur hin, um dich im Auge zu behalten, Kumpel.«

»Und ich geh nur, um dich im Auge zu behalten, damit du’s weißt.«

»Gut, dann behalten wir uns gegenseitig im Auge.«

Gonff stopfte sich eine Pfote in den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. Die Wiesel blieben stehen und sahen sich an.

»Was war das?«

»Oho, ich weiß, was das war – du lachst mich aus.«

»Pah, red doch kein dummes Zeug.«

»Ich red also dummes Zeug, ja?« Entrüstet wandte sich das Wiesel von seinem Gefährten ab.

Gonff rief schnell mit einer recht gut nachgeahmten Wieselstimme: »Großer, fetter Räuber!«

Die beiden Wiesel stürzten sich wütend aufeinander.

»Großer, fetter Räuber, ja? Dir werd ich helfen!«

»Au! Du hinterhältige Kröte, da hast du’s!«

Die Wiesel schlugen wütend mit ihren Speerstielen aufeinander ein.

Gonff wagte sich aus seinem Versteck und schlich in die entgegengesetzte Richtung, während die beiden Wachen sich auf dem Boden des Gangs wälzten. Sie dachten nicht einmal mehr an ihre Speere und bissen und kratzten sich gegenseitig.

»Aua, lass los. Grr, nimm das!«

»Von wegen Räuber! Dir werd ich’s zeigen. Au, du hast mir ins Ohr gebissen!«

Gonff steckte seinen Dolch ins Futteral und konnte sich vor Vergnügen kaum halten. Er öffnete einen Fensterladen und verschwand durch den Schnee in Richtung Wald.

»Oh kämpft, kämpft fein.

Kratzt, beißt rein.

Wenn Gonff heut’ nach Haus kommt,

Genießt er Käs’ und Wein.«

Martin grub seine Fersen in den Schnee, als er durch das Tor in der Außenmauer des abstoßenden Steinhaufens geschleift wurde, den er bereits früher an diesem Tag entdeckt hatte. Bewaffnete Soldaten stießen klirrend und klappernd zusammen, als die Seile, mit denen der Gefangenen gefesselt war, sie in die Mitte zogen. Keiner von ihnen wollte dem wehrhaften Mäuserich zu nahe kommen.

Schwarzzahn und Spaltnase warfen das Haupttor schlecht gelaunt mit einem lauten Knall zu. Pulverschnee wehte von der Mauerkrone auf sie herunter. Der Schnee auf dem Exerzierplatz war von den hin und her eilenden Soldaten – alles Frettchen, Wiesel und Hermeline, einige davon mit brennenden Fackeln – festgetreten und rutschig. Einer von ihnen rief Spaltnase zu: »He, Spalti, irgend’ne Spur von der Füchsin da draußen?«

Das Hermelin schüttelte den Kopf. »Meinst du die Heilerin? Nein, nicht ein Schnurrhaar. Aber wir haben einen Mäuserich gefangen. Sieh dir mal an, was er bei sich hatte.«

Spaltnase schwang Martins rostiges Schwert durch die Luft. Schwarzzahn duckte sich. »Hör auf, mit dem Ding zu spielen! Du wirst noch jemanden aufschlitzen, wenn du damit so rumfuchtelst! Sie warten also mal wieder auf die Füchsin, ja? Es sieht in letzter Zeit nicht so aus, als ginge es mit dem alten Grünauge bergauf. He, ihr da, zieht gefälligst die Seile straff! Haltet ihn still, ihr Holzköpfe.«

Der Mausekrieger machte es ihnen sehr schwer, ihn durch die Tür zu bugsieren, denn es gelang ihm, sich an einem der hölzernen Türpfosten festzuklammern. Die Soldaten mussten ihn mit ihren Speeren geradezu loshebeln. Das für das Brot zuständige Wiesel hielt sich wohlweislich fern und marschierte geradewegs zum Vorratsraum und zur Speisekammer. Als es durch die Eingangshalle ging, wurden viele gierige Blicke auf die braunen, selbst gebackenen Brote geworfen. Der Winter war bislang hart für alle gewesen, denn viele Bewohner hatten die Siedlung bei Kotir nach der frühen Herbsternte verlassen und so viele Nahrungsmittel, wie sie nur tragen konnten, in die Wälder mitgenommen. Es wurden auch nicht viele Abgaben oder Steuern entrichtet. Das Wiesel drückte das Brot fest an sich und trottete weiter.

Die Halle war unwirtlich und feucht, mit hölzernen Läden vor den niedrigen Fenstern. Der Boden bestand aus einem dunklen, granitähnlichen Gestein, auf dem man eiskalte Pfoten bekam. Hier und da hatten Nachtwachen in den Ecken kleine Feuer angezündet, deren Rauch und Asche die Wände schwarz färbten. Nur Haupttiere durften als Zeichen ihres Rangs lange Umhänge tragen, aber einige der Soldaten hatten sich in alte Säcke und Decken gehüllt, die sie aus der Siedlung gestohlen hatten. Die Treppe zu den unteren Stockwerken bestand aus ausgetretenen Wendeltreppen und geraden Steinstufen, die sich völlig willkürlich abwechselten. Die Hälfte der Wandfackeln war ausgebrannt und nicht ersetzt worden, sodass große Abschnitte der Treppe dunkel und gefährlich waren. An den meisten Wänden und Treppen der unteren Stockwerke wucherten Moos und Pilze.

Das Wiesel eilte einen schmalen Gang entlang und klopfte an die Tür des Vorratsraums. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss.

»Was bringst du da? Brote, ja? Immer her damit.«

Die beiden Wachposten, die sich gerade noch gestritten hatten, saßen auf Mehlsäcken. Einer von ihnen beäugte hungrig das Brot. »Oh weh, mehr habt ihr heute Abend nicht mitgebracht? Eins sag ich dir, Kumpel, hier wird’s immer schlimmer. Wer hat dich denn damit hergeschickt?«

»Schwarzzahn.«

»Ach, der. Hat er sie gezählt?«

»Äh, nein, ich glaub nicht.«

»Gut. Da sind fünf Brotlaibe. Jeder nimmt sich einen halben Laib, dann bleiben dreieinhalb übrig. Das merkt keiner.«

Hungrig stürzten sie sich auf Guttraut Stachlers braune Brotlaibe.

Oben hatte Martin es geschafft, eins der Seile um eine Steinsäule zu wickeln. Die Soldaten spotteten über die Bemühungen der Patrouille, ihn von der Säule loszubekommen und die Treppe hinaufzubringen. »Na, was ist denn los, Jungs, habt ihr etwa Angst vor ihm?«

Schwarzzahn wandte sich den Spöttern zu. »Hat jemand von euch Lust, es mit ihm aufzunehmen? Nein? Das dacht ich mir.«

Hinter ihnen öffnete sich die Tür und Schnee wehte mit einem kalten, zugigen Windstoß herein. Eine Füchsin in einem zerlumpten Umhang eilte an ihnen vorbei und die breite, flache Treppe zum ersten Stock hinauf. Die Soldaten hatten ein neues Ziel für ihren Spott.

»Ho ho, wart’s nur ab, Füchsin. Du bist spät dran.«

»Ja, dem alten Grünauge gefällt’s gar nicht, wenn man ihn warten lässt.«

»An deiner Stelle würd ich Dame Zarmina aus dem Weg gehen.«

Die Füchsin ignorierte sie und lief schnell die Treppe hinauf.

Martin versuchte, durch die halb geöffnete Tür auf den Exerzierplatz zu stürmen, wurde aber von der Übermacht zu Boden gerissen. Trotzdem kämpfte er tapfer weiter.

Die höhnischen Soldaten begannen wieder, zu rufen und lustige Ratschläge zu erteilen. Schwarzzahn versuchte, sie mit einem strengen Blick zum Schweigen zu bringen, aber dieses Mal nahmen sie keine Notiz von ihm.

Spaltnase schniefte entrüstet. »Seit Gebieter Verdauga krank ist, ist die Disziplin hier den Bach runtergegangen.«

Fortunata, die Füchsin, wartete unruhig in der zugigen Vorhalle von Kotir. Ein kleines Feuer warf einen flackernden Lichtschein auf die feuchten Sandsteinwände. Schleimige grüne Algen und Pilze wucherten zwischen durchnässten Bannern, die in rostigen Eisenhalterungen steckten und allmählich zu fadenscheinigen Fetzen zerfielen. Die Füchsin schauderte unwillkürlich. In diesem Moment gesellten sich zwei in schwere Kettenhemden gekleidete Frettchen zu ihr. Beide trugen Schilde, auf denen das Zeichen ihrer Gebieter prangte: unzählige böse grüne Augen, die in alle Richtungen blickten. Die Wachen bedeuteten der Füchsin mit ihren Speeren, dass sie ihnen folgen sollte, und so marschierte Fortunata mit ihnen im Gleichschritt durch die lange, feuchte Halle. Sie hielten vor zwei riesigen Eichentüren an. Die Frettchen schlugen mit ihren Speerenden auf den Boden und die Türen schwangen auf. Der Füchsin bot sich ein Anblick von verfallener Pracht.

Kerzen und Fackeln erhellten den Raum nur spärlich, die Deckenbalken über ihr verloren sich in der Dunkelheit. An einem Ende des Raums standen drei kunstvoll verzierte Sessel, auf denen zwei Wildkatzen und ein Baummarder saßen. Dahinter stand ein Himmelbett mit zugezogenen Vorhängen aus muffigem grünem Samt. Auf dem Brett am Fußende war eine Schnitzerei mit dem gleichen Wappen wie auf den Schilden der Wachen.

Der Marder humpelte herüber und durchsuchte den Ranzen, den Fortunata bei sich trug. Die Füchsin schreckte davor zurück, sich von der furchtbar entstellten Kreatur berühren zu lassen. Aschebein, der Marder, hatte ein Holzbein und sein ganzer Körper war zu einer Seite gekrümmt, als wäre er schwer verstümmelt worden. Um dies zu verbergen, trug er einen überlangen roten Umhang, der mit Taubenfedern geschmückt war. Mit einer geschickten Bewegung leerte er den Inhalt des Ranzens auf den Boden. Das übliche Sammelsurium von Kräutern, Wurzeln, Blättern und Moosen, das ein Heilerfuchs benötigte, kam zum Vorschein.

Aschebein näherte sich dem Bett und stimmte einen unheimlichen, klagenden Singsang an: »Oh mächtiger Verdauga, Gebieter von Moosblume, Herr der Tausend Augen, Bezwinger der Feinde, Herrscher über Kotir …«

»Ach, hör schon auf mit dem Gejammer, Aschebein. Ist die Füchsin hier? Zieh diese Vorhänge auf, sonst ersticke ich noch.« Die gebieterische Stimme hinter den Vorhängen klang zwar heiser, knurrte aber trotzdem bedrohlich.

Zarmina, die größere der beiden sitzenden Wildkatzen, machte einen Satz nach vorn und fegte mit einer einzigen Bewegung die staubigen Bettvorhänge beiseite. »Fortunata ist hier. Überanstrenge dich nicht, Vater.«

Die Füchsin glitt mit routinierter Gelassenheit ans Krankenbett und untersuchte ihren grausamen Patienten. Verdauga von den Tausend Augen war einst der mächtigste Kriegsherr im ganzen Land gewesen – einst. Jetzt waren die Muskeln und Sehnen unter dem gelbbraunen Fell, das seinen großen, müden Körper bedeckte, erschlafft. Sein Gesicht war das eines Wildkaters, der viele Kämpfe überlebt hatte: Ein Geflecht aus alten Narben zog sich von den spitzen Ohren bis zu den Schnurrhaaren. Fortunata betrachtete die furchterregenden, vergilbten Zähne und die grünen, barbarischen Augen, in denen noch immer ein seltsames Feuer loderte.

»Meinem Gebieter geht es heute etwas besser, nicht wahr?«

»Kein bisschen, dein wertloser Hokuspokus bringt nichts, Füchsin.«

Der etwas kleinere Wildkater erhob sich von seinem Sessel. Sein sanftes Gesicht wirkte besorgt. »Vater, beruhige dich. Fortunata gibt sich alle Mühe, dich wieder gesund zu machen.«

Zarmina stieß ihn verächtlich beiseite. »Ach, halt doch die Klappe, Gingivere, du Heuchler.«

»Zarmina!« Verdauga setzte sich auf und wies mit einer Klaue auf seine eigensinnige Tochter. »Sprich nicht so mit deinem Bruder, hörst du?«

Der Gebieter der Tausend Augen wandte sich müde an seinen einzigen Sohn: »Gingivere, lass dich nicht von ihr schikanieren. Biete ihr die Stirn, mein Sohn.«

Gingivere zuckte mit den Schultern und sah schweigend zu, wie Fortunata die Kräuter mit einem Stößel zerkleinerte und sie dann in einem Hornbecher mit einer dunklen Flüssigkeit vermischte.

Verdauga beobachtete die Füchsin misstrauisch. »Keine Blutegel mehr, Füchsin. Ich will nicht, dass diese schmierigen Schnecken mir das Blut aussaugen. Eher lasse ich mich von einem feindlichen Schwert durchbohren, als dass diese widerlichen Dinger mich noch mal beißen dürfen. Was braust du da für ein Zeug zusammen?«

Fortunata lächelte gewinnend. »Sire, dies ist ein harmloser Trank, hergestellt aus dem Kraut Mutterwurz. Er wird Euch helfen zu schlafen. Junker Gingivere, würdet Ihr das bitte Eurem Vater einflößen?«

Gingivere verabreichte Verdauga die Medizin und keiner von beiden bemerkte, wie Fortunata und Zarmina sich mit verschlagenem Blick zuzwinkerten.

Verdauga lehnte sich wieder in seine Kissen zurück und wartete darauf, dass der Trank seine Wirkung entfaltete. Plötzlich wurde die Ruhe durch einen lauten Tumult von draußen gestört. Die Flügeltüren flogen weit auf.

3

Ben Stachler wäre beinahe aus seinen Stacheln gefahren, als Gonff hinter einem schneebedeckten Busch im nächtlichen Wald hervorsprang.

»Buh! Rate mal, wer da ist? Ha ha ha, Ben, alter Matrose, du hättest mal dein Gesicht sehen sollen. Und überhaupt, warum stapfst du hier im Schnee rum?«

Ben erholte sich schnell wieder. »Gonff, das hätte ich mir denken können! Hör zu, junger Mann, ich habe keine Zeit, um mit dir zu plaudern. Wir haben die Siedlung endlich verlassen und ich suche die kleine Hütte, die der Rawim für Leute wie uns bereithält.«

Der Mausedieb zwinkerte Erdklaue zu und drückte Guttraut frech einen Kuss auf. »Ach, da willst du hin. Mir nach, Matrose. Dann bist du schneller da, als ein Katzenschnurrhaar zuckt.«

Guttraut schauderte. »Ich wünschte, du würdest so was nicht sagen, du kleiner Schlingel.«

Aber Gonff hörte gar nicht zu und hüpfte mit den Kleinen voran, für die das alles ein großes Abenteuer war.

»Ist es da schön, Herr Gonff?«

»Ach, gar nicht so übel. Besser als eure letzte Behausung.«

»Was ist das unter Eurem Wams, Herr Gonff?«

»Sei nicht so vorwitzig, kleiner Stachel. Das ist ein Geheimnis.«

»Ist es sehr weit, Herr Gonff? Ich bin müde.«

»Nein, es ist nicht mehr weit, Sträußchen, meine Kleine. Ich würde dich ja tragen, wenn nur deine Stacheln nicht wären.«

Guttraud Stachler schüttelte den Kopf und lächelte. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Gonff gehabt.

Die Hütte des Rawim lag gut versteckt tief im Wald, damit sie schwer zu finden war. Erdklaue verabschiedete sich und trottete davon, um seine Artgenossen zu suchen. Ben sah ihm hinterher, während Gonff das Feuer anzündete. Er nickte voller Zuneigung. »Guter alter Erdklaue. Er ist nur unseretwegen in der Siedlung geblieben, da bin ich mir sicher.«

Guttraut, Gonff und Ben setzten sich ans Feuer, als es hell brannte. An einer Seite der Feuerstelle lugten die Schnauzen der vier Igelkinder aus den Decken hervor.

»Hast du wieder aus Kotir gestohlen, Gonff? Was hast du dieses Mal gemopst?«

Der Mausedieb lachte über Guttrauds entsetzten Gesichtsausdruck. Er warf den Kleinen ein Stück Käse zu. »Es ist kein Stehlen oder Mopsen, wenn es aus Kotir kommt, Freunde. Das nennt man befreien. Hier, stärkt euch damit und schlaft ein bisschen, ihr vier.«

Ben Stachler zog an einer leeren Pfeife und schürte die brennenden Holzscheite mit einem Zweig. »Gonff, ich wünschte wirklich, du wärst vorsichtiger. Wir kommen mit dem, was wir haben, bis zum Frühjahr aus. Guttraut und ich würden es uns nie verzeihen, wenn man dich in der Katzenburg beim Stehlen von Käse und Wein erwischt.«

Guttraut Stachler wischte sich die Augen mit ihrer geblümten Schürze ab. »Nein, das würden wir nicht, du kleiner Spitzbube. Oh, bei meinen Stacheln, ich mag gar nicht daran denken, was dieses Gesindel dir antun würde, wenn du geschnappt würdest, Gonff.«

Gonff tätschelte sie sanft. »Schon gut, Guttraut. Ein Happen zu essen und etwas Warmes zu trinken, was ist das schon unter Freunden? Die Kleinen brauchen doch was zu essen. Außerdem werde ich nie vergessen, wie du und Ben mich aufgezogen und umsorgt habt, als ich ein kleiner Waisenjunge aus dem Wald war.«

Ben trank einen Schluck Wein und schüttelte den Kopf. »Trotzdem, sei vorsichtig und vergiss nicht das Motto des Rawim: Warte ab und lass dich nicht erwischen. Eines Tages wird Moosblume wieder uns gehören.«

Guttraut seufzte und machte sich daran, den Haferbrei für das Frühstück am nächsten Morgen zu kochen. »Schöne Worte, aber wir sind friedfertige Geschöpfe. Wie wir jemals unser Land gegen all diese ausgebildeten Soldaten zurückgewinnen sollen, ist mir schleierhaft.«

Gonff schenkte Holunderbeerenwein in Ben Stachlers Becher nach und starrte mit einem grimmigen Ausdruck auf dem sonst so fröhlichen Gesicht in die flackernden Flammen. »Eins sage ich euch, Matrosen: Der Tag wird kommen, an dem was passiert, wodurch sich all das ändert, wartet nur ab. Jemand, der vor nichts Angst hat, wird nach Moosblume kommen, und wenn es so weit ist, werden wir bereit sein. Wir werden es dem widerlichen Gesindel und ihren Wildkatzenherren mit aller Macht heimzahlen und sie werden glauben, dass ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen sei.«

Ben rieb sich müde die Augen. »Ein Held, hm. Komisch, dass du das sagst. Ich dachte, ich hätte vorhin so jemanden gesehen. Aber der ist wahrscheinlich schon tot oder im Kerker. Lasst uns etwas schlafen. Ich bin todmüde.«

Die kleine Hütte war eine Insel der Wärme und Geborgenheit in der Nacht, während der Nordwind Schneeflocken vor sich hertrieb und um die kahlen Bäume von Moosblume pfiff und heulte.

4

Der gefangene Mäuserich zappelte wild, als er von zwei Hermelinen in das Schlafgemach gezerrt wurde. Er war mit einem langen Seil gefesselt und die Wachen versuchten, es straff zu halten. Doch er sprang, duckte sich, kratzte und biss, bis das Seil erschlaffte. Sofort stürzte er sich nach vorn, sodass die beiden Wächter zusammenstießen. Er warf sich auf sie und nicht einmal das Seil, mit dem seine Vorderpfoten an seine Seiten gefesselt waren, konnte ihn daran hindern, kräftig zuzubeißen und zu treten. Ein Frettchen, das an der Tür Wache hielt, eilte zu Hilfe. Zu dritt gelang es ihnen, den Mausekrieger zu Boden zu drücken. Sie lagen auf ihm und versuchten, den Kopfstößen und den schnappenden Zähnen zu entgehen. Der Mäuserich atmete schwer und seine Augen blitzten seine Peiniger trotzig an.

Verdauga war plötzlich hellwach, setzte sich aufrecht hin und wandte sich an die beiden Hermeline: »Wo bleibt euer Bericht? Wen haben wir da?«

Eins der Hermeline befreite seine Pfote und salutierte zackig. »Gebieter, der hier wurde auf Eurem Land aufgegriffen. Es handelt sich um einen Fremden, der bewaffnet ist.«

Ein Wiesel marschierte herein und legte das alte rostige Schwert des Wanderers ans Fußende des Bettes.

Verdauga betrachtete mit hängenden Augenlidern das Schwert und den kräftigen jungen Mäuserich, der am Boden lag. »Wer Waffen trägt oder unerlaubt meinen Herrschaftsbereich betritt, verstößt gegen mein Gesetz.«

Der Mäuserich rang mit seinen Wächtern und rief mit lauter, erboster Stimme: »Ich wusste nicht, dass es dein Land ist, Kater. Sag deinen Wachen, sie sollen ihre Krallen von mir nehmen und mich freilassen. Ihr habt kein Recht, einen in Freiheit Geborenen einzusperren.«

Verdauga konnte nicht umhin, den offensichtlichen Mut des Gefangenen zu bewundern. Er wollte gerade etwas erwidern, da ergriff Zarmina das ramponierte Schwert und setzte dessen Spitze an die Kehle des Gefangenen. »Du unverschämter Abschaum! Rede, schnell, wie ist dein Name? Wo hast du dieses rostige Relikt gestohlen?«

Die Wachen hielten den Mäuserich, der sich immer noch erbittert wehrte, weiter fest. Seine Stimme bebte vor Zorn. »Mein Name ist Martin der Krieger. Dieses Schwert gehörte einst meinem Vater, jetzt gehört es mir. Ich komme und gehe, wie es mir beliebt, Katze. Ist das eure Art, Reisende willkommen zu heißen?«

Zarmina zwang Martins Kopf mit der Schwertspitze nach hinten. »Für einen Mäuserich nimmst du den Mund denen gegenüber, die dir überlegen sind, ganz schön voll«, sagte sie verächtlich. »Du bist jetzt in Moosblume und jegliches Land, das du während eines Tagesmarschs bei guter Sicht sehen kannst, gehört nach dem Recht der Eroberung uns. Das Gesetz meines Vaters besagt, dass nur seine Soldaten bewaffnet sein dürfen. Auf Gesetzesbrecher wartet der Tod.«

Sie gab den Wachen mit einer katzenhaft geschmeidigen Bewegung ein Zeichen. »Bringt ihn raus und exekutiert ihn.«

Gebieter Grünauge wandte sich an seinen Sohn und seine Stimme ließ die Wachen stehen bleiben. »Gingivere, warum so schweigsam? Was sollen wir deiner Meinung nach mit diesem Mäuserich tun?«

»Es heißt, Unkenntnis des Gesetzes ist keine Entschuldigung«, antwortete Gingivere, ohne seine Stimme zu erheben. »Dennoch wäre es ungerecht, Martin zu bestrafen. Er ist fremd hier und man kann nicht von ihm erwarten, dass er uns oder unsere Gesetze kennt. Außerdem wäre es für uns zu einfach, ihn zu töten. Auf mich macht er einen aufrichtigen Eindruck. Wenn du mich fragst, würde ich ihn bis zur Grenze unseres Gebiets eskortieren lassen und ihm dann seine Waffe aushändigen. Er wäre bestimmt nicht so dumm, noch einmal herzukommen.«

Verdaugas Blick wanderte von seinem Sohn zu seiner Tochter. »Jetzt werde ich euch sagen, was ich beschlossen habe. Es gibt schon genug Feiglinge auf der Welt, da müssen wir nicht aus so nichtigem Anlass ein tapferes Tier töten. Dieser Martin ist ein wahrer Krieger. Andererseits könnte man es uns als Zeichen von Schwäche auslegen, wenn wir ihn frei wie der Wind über unser Land streifen lassen. Mein Urteil lautet, dass er in den Kerker gesteckt wird, bis seine Pfoten ein wenig abgekühlt sind. Nach einiger Zeit kann er dann unter der Voraussetzung freigelassen werden, nie wieder so unbesonnen mein Land zu betreten.«

Knack!

Alle Anwesenden hörten den scharfen Knall. Zarmina war außer sich, weil sie überstimmt worden war. Sie hatte das Schwert zwischen Türpfosten und Mauer geklemmt. Mit einem gewaltigen Ruck warf sie ihr gesamtes Gewicht gegen die altehrwürdige Waffe. Plötzlich zerbrach sie. Die alte Klinge landete klirrend auf dem Boden und Zarmina hielt nur noch den Griff in der Pfote.

Sie warf ihn einer Wache zu. »Hier, bindet ihm das um den Hals und werft ihn in den Kerker. Sollten wir ihn jemals freilassen, werden andere ihn sehen und erkennen, wie barmherzig wir sein können. Schafft den elenden Wicht weg – sein Anblick beleidigt meine Augen.«

Die Wachen zerrten an dem Seil, aber Martin blieb standhaft und widersetzte sich ihnen. Einen Moment lang sah er Zarmina in die Augen. Seine Stimme war klar und unerschrocken. »Die Entscheidung deines Vaters war gerecht, aber deine war die richtige. Ihr hättet mich töten sollen, als ihr die Gelegenheit dazu hattet, denn ich schwöre, dass ich euch eines Tages töten werde.«

Der Bann war gebrochen. Die Wachen zerrten an den Seilen und schleiften Martin in den Kerker. In der darauffolgenden Stille ließ Zarmina sich auf ihren Sessel sinken und kicherte. »Ein Mäuserich will mich doch tatsächlich töten! Da muss ich mir nun wirklich keine Sorgen machen.«

Verdauga hustete unter Schmerzen. Er lehnte sich wieder zurück in die Kissen. »Wenn du das glaubst, Tochter, dann begehst du einen schweren Fehler. Ich habe schon oft wahren Schneid gesehen, er hat viele Gesichter. Er mag ein Mäuserich sein, aber deswegen ist er nicht weniger ein Krieger als ich. Er hat ein Kämpferherz, das habe ich in seinen Augen gesehen.«

Zarmina beachtete ihren Vater nicht und rief nach Fortunata. »Füchsin, misch Gebieter Grünauge einen stärkeren Trank. Nach all der Aufregung braucht er seinen Schlaf. Gingivere, gib Vater seine Medizin. Du bist der Einzige, von der er sie nehmen wird.«

Fortunata reichte Gingivere den Becher mit dem zubereiteten Trunk. Zarmina nickte ihr zu und sie verließen gemeinsam den Raum. Draußen im Gang packte die Wildkatze mit ihren kräftigen Krallen die Pfote der Füchsin. »Hast du die Medizin gepanscht?«

Fortunata zuckte vor Schmerz zusammen, als sich die Krallen in ihre Pfote bohrten. »Zweimal. Einmal, bevor der Mäuserich hereinkam, und gerade eben, bevor wir gingen, wieder. Er hat genug Gift genommen, um die halbe Garnison niederzustrecken.«

Zarmina zog die Füchsin an sich, ihre grausamen Augen funkelten böse. »Gut, aber sollte er morgen früh noch leben, rate ich dir, selbst etwas zu nehmen. Das wäre jedenfalls angenehmer, als mir unter die Augen zu treten, wenn du versagst.«

Der Kerker lag tief unter Kotir. Die Zellen waren uralt, dunkel, feucht und übel riechend. Martin der Krieger wurde von den beiden Wachen, die ihn durch den Gang und die Treppen hinuntergezerrt hatten, in sein Gefängnis geworfen. Er hatte sich auf jedem Zentimeter des Weges gewehrt und sie waren froh, ihn los zu sein. Jetzt lag Martin mit einer Wange auf dem kalten Steinboden. Die Tür fiel krachend hinter ihm zu. Eins der beiden Hermeline spähte durch das Türgitter und drehte den Schlüssel im Schloss. »Du hast wirklich Glück gehabt, Mäuserich. Wär’s nach Dame Zarmina gegangen, würdest du jetzt in einer der dunkelsten und feuchtesten Zellen weiter unten im Gang sitzen. Gebieter Grünauge wollte, dass du in eine gute Zelle gesteckt wirst und dass du Wasser und Brot und etwas trockenes Stroh erhältst. Du hast es ihm wohl angetan. Der alte Verdauga ist schon ein komischer Kauz.«

Martin lag still da und lauschte, bis die Pfotentritte der Wachen verklangen und er allein war. Dann stand er auf und betrachtete seine neue Umgebung. Von einer Fackel, die an der gegenüberliegenden Wand des Korridors brannte, fiel immerhin etwas Licht zu ihm herein. Er spürte einen leichten Luftzug und sah hoch. In der Nähe der Decke war ein schmales Gitter in die Wand eingelassen. Martin wechselte die Position, ohne den Blick abzuwenden. Dann sah er plötzlich draußen den Nachthimmel mit einem leuchtenden Stern. Das war seine einzige Verbindung zur Freiheit und zur Außenwelt. Er setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und kuschelte sich in seinen zerlumpten Umhang, um sich etwas zu wärmen. Der Rest seiner Zelle war genauso wie in jedem anderen Verlies: kaum mehr als vier nackte Wände. Hier gab es nichts, was ihn trösten oder aufmuntern konnte. Er war ein einsamer Gefangener an einem fremden Ort.

Der Mausekrieger schlief, von Müdigkeit übermannt. Irgendwann vor dem Morgengrauen wurde er von Pfoten geweckt, die ihm etwas über den Kopf streiften und um den Hals legten. Noch im Halbschlaf versuchte Martin, seine Angreifer zu packen. Ein grober Tritt schleuderte ihn beiseite, dann fiel die Tür mit lautem Krachen zu und der Schlüssel wurde wieder im Schloss umgedreht. Martin sprang auf und rannte zur Tür. Das Hermelin lugte durch das Gitter, kicherte und drohte ihm mit einer Pfote. »Diesmal hättest du mich fast gehabt, Mäuserich.«

Der Mausekrieger knurrte wütend und warf sich gegen das Gitter, aber das Hermelin wich zurück und grinste angesichts seiner vergeblichen Bemühungen. »Hör zu, Mäuserich, ich an deiner Stelle würd mich hier unten mucksmäuschenstill verhalten, sonst könntest du Dame Zarminas Aufmerksamkeit erregen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dir das gefallen würd. Also sitz einfach still und benimm dich, dann wird sich vielleicht irgendwann jemand wie Gingivere daran erinnern, dass du hier bist, und dich freilassen.«

Nachdem die Wachen abgezogen waren, bemerkte Martin, dass sie in einer Ecke sauberes Stroh und außerdem etwas Wasser und Brot zurückgelassen hatten. Instinktiv ging er darauf zu und spürte, wie etwas gegen seine Brust schlug. Es war der Schwertgriff, der von einem Seil um seinen Hals baumelte. Martin hielt ihn sich vor die Augen und starrte ihn lange an. Er würde ihn tragen, nicht als Zeichen der Schande, weil man ihn dazu verurteilt hatte, sondern um sich daran zu erinnern, dass er eines Tages die böse Katze töten würde, die das Schwert seines Vaters zerbrochen hatte.

Er machte es sich im trockenen Stroh bequem, trank Wasser und knabberte hungrig an dem trockenen Brot. Er schlief gerade wieder ein, als im Obergeschoss Rufe und wüstes Getöse laut wurden. Martin zog sich am Türgitter hoch und lauschte den Geräuschen, die in der Stille der Zellen widerhallten.

»Gebieter Grünauge ist tot!«

»Dame Zarmina, kommt schnell, Euer Vater!«

Man hörte, wie mit Speeren laut auf den Boden gestampft wurde, wie Schritte gepanzerter Pfoten kreuz und quer liefen und Türen zugeschlagen wurden.

Zarminas Stimme heulte gequält auf: »Mord, Mord! Mein Vater wurde ermordet!«

Aschebein und Fortunata fielen in das Geschrei ein. »Mörder, Gingivere hat Verdauga vergiftet!«

Ein wilder Tumult war ausgebrochen. Martin konnte nicht genau hören, was vor sich ging. Einen Moment später kamen schwere Schritte die Treppe herunter. Es klang nach einer großen Zahl von Tieren. Martin drückte sich an eine Seite des Gitters und beobachtete alles. Angeführt von Zarmina marschierte ein aufgebrachter Haufen Soldaten mit Fackeln den Gang entlang, unter ihnen Aschebein und Fortunata. Als sie an seiner Zellentür vorbeikamen, erhaschte Martin einen Blick auf das fassungslose Gesicht des sanften Wildkaters Gingivere. Man hatte ihn in Ketten gelegt. Blut tropfte aus einer Wunde an seinem Kopf. Ihre Blicke trafen sich für eine Sekunde, dann wurde er von den wutentbrannten Soldaten mitgerissen. Ihre Gesichter waren im flackernden Fackelschein verzerrt und sie riefen immer wieder: »Mörder, Mörder! Tötet den Mörder!«

Durch das Gitter konnte Martin sie nicht mehr sehen, aber er hörte, was vor sich ging. Ein Stück weit den Gang hinunter schlug eine Zellentür zu und ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Zarminas Stimme übertönte den Lärm. »Ruhe! Ich werde euch sagen, was jetzt zu tun ist. Auch wenn mein Bruder ein Mörder ist, kann ich ihm kein Leid zufügen. Er wird bis an sein Lebensende hier eingesperrt bleiben. Für mich ist er von nun an tot. Ich will seinen Namen nie wieder innerhalb der Mauern von Kotir hören.«

Martin hörte Gingiveres Stimme. Er versuchte, etwas zu sagen, aber seine Worte gingen sofort in einem Singsang unter, den Aschebein und Fortunata anstimmten und in den die Soldaten sofort lauthals einfielen: »Lang lebe Königin Zarmina. Lang lebe Königin Zarmina!«

Als der Mob erneut an Martins Zelle vorbeizog, wich er zurück. Trotz des Gebrülls hörte er, wie Zarmina in der Nähe der Tür mit Aschebein sprach. »Hol Oktoberbier und Holunderbeerenwein aus den Vorratskammern. Sorg dafür, dass genug für alle da ist.«

Martin hielt sich die Ohren zu, damit er die Geräusche der Feiernden nicht mehr hören musste, und legte sich ins Stroh. Er drückte den Schwertgriff an seine Brust. Jetzt, da auch seine letzte Hoffnung dahin war, sah es nach einem langen, harten Winter aus.

5

»Unter dem Laub und über der Au,

Hurra, hier kommt der Prinz der Diebe,

Wenn die Landschaft im Frühling wird lau,

Und die Vögel singen von Liebe.

So mutig, schneidig und betucht,

man sieht ihn und wird keck,

aber wenn er dich mal besucht,

schließ deine Schätze weg.«

Sonnenlicht glitzerte auf dem gurgelnden Bach, der den ganzen Winter über vereist und stumm gewesen war. Schneeglöckchen und Krokusse wiegten sich sanft im warmen Südwind. Überall hatte der Frühling Einzug gehalten. Goldene Osterglocken und ihre blasseren Verwandten, die Narzissen, hielten Wache zwischen den knospenden Bäumen des Moosblumenwalds. Immergrüne Pflanzen, die den dunklen Winter überdauert hatten, schöpften neue Lebensenergie.

Gonff kehrte gerade von einem weiteren erfolgreichen Beutezug in Kotir zurück. Die Weinflaschen stießen klirrend gegen seinen breiten Gürtel, während er flink durch die blühenden Wälder hüpfte und berauscht von Frühlingsgefühlen laut sang.

»Kuckuck, Kuckuck, dir einen guten Tag.

Oh Listiger, du kennst dich aus.

Den Nestbauern bist du ein Graus.

Denn dein Ei im Nest oft lag.

Aber ich, Kuckuck, bin klüger,

Und du, mein Freund, wirst müder.«

Das Blut strömte wie das Wasser eines Bachs durch Gonffs junge Adern. Es gluckerte fröhlich und machte so beschwingt, dass er Purzelbäume schlug. Ab und zu zog er eine Schilfrohrflöte aus seinem Waffenrock und spielte vor lauter Freude, an einem solchen Morgen am Leben zu sein, eine kleine Melodie. Mit einem lauten Freudenschrei warf Gonff sich ins dichte Gras. Schweißgebadet blieb er liegen, um etwas abzukühlen. Der Himmel über ihm war zartblau mit kleinen weißen Wölkchen, die im Wind dahinjagten. Gonff stellte sich vor, wie es wäre, auf einer kleinen, flauschigen weißen Wolke zu liegen und sich über den sonnigen Himmel treiben zu lassen.

»Holla, passt auf! Wusch, puff, fump! Aus dem Weg, ihr großen Wolken!« Der kleine Mausedieb klammerte sich am Gras fest und schwankte hin und her, während er ganz in seine Fantasie versunken war.

Die beiden Wiesel in der Rüstung von Kotir bemerkte er erst, als es zu spät war. Sie sahen grimmig und diensteifrig auf ihn hinunter.

Gonff grinste frech und dachte an seine klirrenden Weinflaschen. »Äh, aha ha. Hallo, Matrosen. Ich bin gerade auf meiner Wolke geflogen, wisst ihr …«

Der größere der beiden stieß ihn mit seinem Speer an. »Hoch mit dir, auf die Pfoten. Man will dich in Kotir sehen.«

Gonff zwinkerte ihm fröhlich zu. »Kotir? Was du nicht sagst! Das ist ja schön! Hört zu, ihr beiden netten Burschen, warum geht ihr nicht schon mal vor und richtet ihnen aus, dass ich heute beschäftigt bin, aber morgen früh gern vorbeikomme.«

Die Speerspitze an Gonffs Kehle hielt ihn von weiteren Späßen ab. Das kleinere der beiden Wiesel versetzte Gonff einen Tritt. »Hoch mit dir, Dieb. Jetzt wissen wir, wohin die besten Käsesorten und der Holunderbeerenwein den ganzen Winter über verschwunden sind. Deine Diebstähle aus Kotir werden dich teuer zu stehen kommen.«

Gonff stand langsam auf. Er legte eine Pfote auf seinen kleinen, dicken Bauch und sah mit Unschuldsmiene von einem Wächter zum anderen. »Ich soll gestohlen haben? Ich muss doch sehr bitten. Wissen die Herren nicht, dass der Küchenchef mir die Erlaubnis erteilt hat, aus seiner Speisekammer zu entleihen, was immer mir beliebt? Eigentlich wollte ich mich erkenntlich zeigen, indem ich ihm ein paar gute Rezepte zukommen lasse. Wie ich höre, lassen seine Kochkünste einiges zu wünschen übrig.«

Das große Wiesel lachte hämisch. »Soll ich dir was sagen, Dieb? Der Küchenchef höchstpersönlich hat geschworen, dir mit einem rostigen Messer das Fell über die Ohren zu ziehen und das, was von dir übrig ist, zum Abendessen zu braten.«

Gonff nickte anerkennend. »Oh gut, ich hoffe, er hebt etwas für mich auf … Aua!«

Die Wachen nahmen ihn in ihre Mitte, richteten ihre Speere auf ihn und marschierten mit ihm in Richtung Kotir davon.

Ein blasser Sonnenstrahl fiel zwischen den Eisenstäben der Fensteröffnung oben an der Wand hindurch. Feuchtigkeit tropfte von den Wänden der Zelle und manchmal drang das leise Trillern einer Feldlerche vom Tiefland her an das Ohr des Gefangenen. Martin wusste, dies war ein sicheres Zeichen für den Frühlingsbeginn. Sein Gesicht war hager, sein Körper ausgemergelt, aber seine Augen hatten nichts von ihrem kriegerischen Glanz verloren. Martin stand auf und ging in seiner Zelle auf und ab. Der Schwertgriff um seinem Hals schien mit der Zeit immer schwerer zu werden. Fünfzehn Schritte – ganz gleich ob er von Tür zu Wand oder von Wand zu Wand ging, es waren immer fünfzehn Schritte. Er hatte sie im Laufe der Tage und Wochen, die zu Monaten geworden waren, immer wieder zurückgelegt. Gingivere war zu weit weg, um sich mit ihm zu verständigen, außerdem machte es die Wachen nur wütend. Einmal hatte er versucht, mit demjenigen zu sprechen, dessen Name nicht genannt werden durfte. Daraufhin hatte man ihm Wasser und Brot entzogen. Inzwischen war Martin davon überzeugt, dass man ihn wirklich vergessen hatte und dass er unter der neuen Schreckensherrschaft von Zarmina hier sterben würde. Er stand im schwachen Sonnenlicht und versuchte, nicht an die Welt draußen zu denken, wo der Himmel blau war und die Blumen blühten.

»Schnell, rein hier mit dem kleinen Teufel! Es macht weniger Arbeit, zwei auf einmal zu füttern. Autsch, mein Schienbein!«

Martin war so in Gedanken versunken gewesen, dass er die Wärter nicht gehört hatte, die kamen, um einen Gefangenen zu seiner Zellentür zu bringen.

»Aah, lass mein Ohr los, du Satansbraten. Beeil dich mit der Tür, bevor er mir das Ohr komplett abbeißt.«

»Autsch. Aua. Er hat mich gekniffen! Halt ihn gut fest, während ich meinen Schlüssel suche.«

Als der Schlüssel sich im Schloss drehte, gab es noch mehr Geschrei und Gepolter. Martin rannte zur Tür, wurde aber sofort von einer anderen Gestalt umgeworfen, die durch die Türöffnung hereingeschossen kam und auf ihm landete. Beide stürzten rückwärts zu Boden, während die Zellentür wieder zugeschlagen wurde. Die beiden Gefangenen blieben still liegen, bis die Schritte der Wärter im Gang immer leiser wurden.

Martin bewegte sich vorsichtig und schob den Körper beiseite, der auf ihn gefallen war. Er kicherte. Er zog seinen Zellennachbarn in den Sonnenstrahl, wo er ihn besser sehen konnte.

Gonff zwinkerte ihm zu, spielte eine kurze Melodie auf seiner Schilfrohrflöte und begann dann zu singen:

»Eine Maus hinter Gittern saß,

Kam hundert Jahr’ nicht raus.

Die Haare wuchsen bis zum Boden,

Sogar aus den Ohren, oh Graus.

Die Augen trüb, die Zähn’ verloren,

Das Fell wurd’ silberlich.

Er sagte: »Wenn Großvater das säh,

Wüsst’ er, das bin ich?«

Martin lehnte sich an die Wand. Er musste einfach lächeln, als er seinen seltsamen kleinen Zellengenossen sah.

»So ein Unsinn! Wie soll denn der Großvater einer hundertjährigen Maus etwas sagen können? Entschuldige, ich bin Martin der Krieger. Und wie heißt du?«

Gonff streckte eine Pfote aus. »Martin der Krieger, ja? Donnerwetter, Martin, du bist ein stattlicher, kräftiger Bursche, auch wenn du ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen vertragen könntest. Ich bin Gonff der Dieb, oder für dich Prinz der Mausediebe, Matrose.«

Martin schüttelte Gonff herzlich die Pfote. »Prinz der Mausediebe, was sagt man dazu? Meinetwegen könntest du auch der König der Lüfte sein, solange ich einen Zellengefährten habe, mit dem ich mich unterhalten kann. Weshalb hat man dich hier reingeworfen?«

Gonff zuckte zusammen. »Wenn du aufhörst, meine Pfote zu zerquetschen, sag ich’s dir.«

Sie setzten sich gemeinsam ins Stroh und Gonff rieb sich seine Pfote. »Sie haben mich dabei erwischt, wie ich die Wein- und Käsevorräte aus der Speisekammer geplündert habe, verstehst du? Aber keine Sorge, Matrose, ich kann jedes Schloss in Kotir knacken. Wir werden nicht allzu lange hier sein, du wirst sehen. Überlass das nur Gonff.«

»Willst du damit sagen, du kannst – wir können von hier fliehen? Wie? Wann? Wohin?« Martins Stimme überschlug sich geradezu und er zitterte vor Aufregung.

Gonff lehnte sich lachend gegen die Wand. »Hoppla, Matrose, nicht so hastig! Keine Sorge, sobald ich alles organisiert habe, werden wir diesem Drecksloch den Rücken kehren. Aber zuerst brauchst du etwas zu beißen. Die sollten sich schämen, einen so großen Kerl wie dich bei Wasser und Brot darben zu lassen.«

Martin zuckte mit den Schultern und rieb sich den leeren Bauch. »Tja, was soll es sonst geben? Manchmal konnte ich mich glücklich schätzen, überhaupt Wasser und Brot zu bekommen. Was schlägst du vor? Frische Milch und Haferkekse?«

»Tut mir leid, Matrose. Ich habe weder Milch noch Haferkekse. Aber würdest du dich auch mit Käse und Holunderbeerenwein zufriedengeben?«, fragte er ernst.

Martin war sprachlos, als Gonff ein Stück Käse und eine flache Feldflasche mit Wein unter seinem Wams hervorzog.

»Für Notfälle oder zum Handeln habe ich immer etwas dabei. Hier, nimm nur. Ich habe erst mal genug von Käse und Wein.«

Das ließ Martin sich nicht zweimal sagen. Er schlang den Käse gierig hinunter und kippte den Wein in seinen vollen Mund. Gonff schüttelte staunend den Kopf, als Wein und Käse blitzschnell verschwanden. »Nur die Ruhe, Matrose. Dir wird sonst noch schlecht. Lass dir Zeit.«

Martin bemühte sich, den guten Rat zu beherzigen, aber es fiel ihm schwer, nachdem er so lange von Hungerrationen gelebt hatte. Während er aß, begann er, Gonff auszufragen. »Sag mal, wo bin ich hier eigentlich hineingeraten, Gonff? Ich bin nur ein einsamer Krieger auf der Durchreise. Ich weiß rein gar nichts über Moosblume und Wildkatzen.«

Der Mausedieb strich sich nachdenklich über seine Schnurrhaare. »Tja, wo fange ich am besten an? Schon lange vor meiner Geburt herrschte der alte Tyrann Verdauga Grünauge, Herr der Tausend Dingsbums bla bla bla, über Moosblume. Eines Tages, vor langer Zeit, fiel er an der Spitze seiner Armee hier ein. Natürlich kamen sie von Norden her angerückt und hatten es wohl auf die Festung abgesehen. Für die Waldbewohner war sie nichts weiter als eine alte Ruine, die schon immer dort gestanden hatte – Verdauga sah sie jedoch mit anderen Augen. Hier gab es alles im Überfluss, also wollte er sich hier niederlassen. Er zog direkt ein, setzte die Festung so gut wie möglich instand, nannte sie Kotir und gebärdete sich als Tyrann. Da war niemand, der ihm Widerstand hätte leisten können, denn die Waldbewohner waren schon immer friedliebend gewesen. Sie waren noch nie einem ganzen Heer ausgebildeter Soldaten oder Wildkatzen begegnet. Verdauga konnte also beliebig schalten und walten, aber er war klug: Er gestattete den Einheimischen, in seinem Schatten zu leben und das Land zu bewirtschaften. Die Hälfte ihrer Erzeugnisse wurde als Steuer einbehalten, um ihn und sein Gesindel zu ernähren.«

»Hat sich denn niemand zur Wehr gesetzt?«, unterbrach Martin ihn.

Gonff nickte traurig. »Oh doch. Selbst heute wagen die Greise vor lauter Angst nicht, zu erzählen, wie Verdauga und seine grausame Tochter den schlecht organisierten Aufstand niederschlugen. Wer nicht niedergemetzelt wurde, landete in diesem Kerker, wo man sie verrotten ließ. Man sagte mir, meine Eltern seien auch darunter gewesen, aber ich weiß nicht, ob das wahr ist. Nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, bewies Verdauga, was für ein schlauer General er war. Er schloss tatsächlich eine Art Frieden mit den Waldbewohnern. Sie durften in Kotirs Schatten leben und das Land bewirtschaften. Als Gegenleistung wollte er uns vor Überfällen von umherstreifen Banden aus dem Norden schützen. Wir waren damals zum Teil versklavt und sehr unorganisiert. Wir besaßen keine nennenswerte Kampfkraft und alle Aufständischen waren aus dem Weg geräumt worden. Deshalb schienen die meisten ihr Schicksal einfach hinzunehmen. Dann wurde Verdauga im letzten Sommer krank. Seitdem hat er die Herrschaft über die Siedlung seiner Tochter Zarmina überlassen. Anders als ihr Vater ist sie einfach nur grausam und böse. Die Waldbewohner wurden auf den Feldern geschunden, durften aber nicht genug zum Leben behalten. Igel wie Ben Stachler und seine Familie trauten sich nicht wegzulaufen. Sie wussten nicht, wohin, und außerdem mussten sie auch an ihre Kleinen denken. Doch es wurde immer schlimmer, sodass viele von ihnen aus der Siedlung flohen. Je weniger Bewohner zurückblieben, desto mehr verlangte Zarmina von den wenigen Verbliebenen. Ich sage dir, Matrose, es ist eine traurige Geschichte.«

Sie saßen Seite an Seite und beobachteten das Sonnenlicht, das auf den Zellenboden fiel. Martin reichte Gonff den Wein. »Was weißt du über den Wildkater Gingivere?«

Gonff nahm einen Schluck Wein und gab ihn zurück. »Ich weiß, dass er niemals jemanden getötet hat. Die Waldbewohner haben immer gehofft, dass Verdauga ihm die Zügel überlassen würde. Für einen Wildkater soll er ein ganz anständiger Kerl sein. Seine Schwester Zarmina hingegen ist das personifizierte Böse. Man sagt sogar, sie sei noch grausamer als Verdauga. Bei meinen Besuchen hier in Kotir habe ich so manchen Klatsch und Tratsch gehört, Matrose. Wusstest du, dass man sich erzählt, der alte Grünauge sei tot und sein Sohn hier im Gefängnis? Das bedeutet, Zarmina ist jetzt wohl die neue Herrscherin.«

Martin nickte. »Das stimmt. Ich habe es selbst gesehen und gehört. Gingivere ist in einer Zelle weit den Gang hinunter. Ich habe versucht, mit ihm zu sprechen, aber er ist zu weit weg.« Der Mausekrieger schlug verdrossen mit der Pfote gegen die Wand. »Warum unternimmt denn niemand etwas, Gonff?«

Der Mausedieb tippte sich an die Nase und sprach mit leiser Stimme. »Sitz still und hör mir zu, Matrose. Jetzt, da die letzten Familien die Siedlung verlassen haben, schmieden wir Pläne. Alle verstreuten Familien und Waldbewohner haben sich dort draußen im Moosblumenwald zusammengeschlossen. Sie schöpfen wieder neue Kraft und ihr Kampfgeist kehrt zurück. Wir bilden echte Kämpfer aus. Es gibt Otter und Eichhörnchen, außerdem Igel und Maulwürfe und solche wie mich. Da ist sogar eine Dächsin, Bella von Grimhall. Ihre Familie hat in den guten alten Zeiten über Moosblume geherrscht. Du wirst sie mögen. Gemeinsam bilden wir den Rat des Widerstands in Moosblume – Rawim, das ist die Kurzform. Ha, wir werden jeden Tag stärker!«

Martin spürte, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. »Glaubst du, der Rawim weiß, dass wir hier eingesperrt sind? Wird er uns bei der Flucht helfen?«

Gonff zwinkerte, ein verschmitztes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Psst, nicht so laut, Matrose. Warte nur ab, du wirst schon sehen.«

Er reichte Martin die Weinflasche. »Etwas wüsste ich gern, Matrose. Warum wirst du Krieger genannt? Wo kommst du her? Hast du an einem Ort wie Moosblume gelebt? War es schön da?«

Martin stellte den Wein beiseite, lehnte sich zurück und starrte an die Decke. »Wo ich herkomme, Gonff, gibt es keine Wälder, nur Felsen, Gras und Hügel. Ja, so ist das Nordland. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Mein Vater hat mich aufgezogen. Er hieß Lukas der Krieger. Wir waren schon immer eine Kriegerfamilie. Wir lebten in Höhlen und wurden ständig von umherstreifenden Seerattenbanden angegriffen, die ins Landesinnere vordrangen. Wenn man nicht überrannt werden wollte, hatte man keine andere Wahl, als seine Höhle und sein Stück Land zu verteidigen. Es gab noch andere Familien wie unsere und ich hatte viele Freunde: Tragg den Starken, Pfeilschwanz, Felldoh den Ringer, Timballisto.«

Martin lächelte bei der Erinnerung an seine Gefährten. »Ach, eigentlich war es gar nicht mal so übel. Damals schienen wir eigentlich nur zu essen, zu schlafen und zu kämpfen. Sobald ich groß genug war, lernte ich, das Schwert meines Vaters zu heben und damit zu üben.«

Er berührte die zerbrochene Waffe, die um seinen Hals hing. »Ich habe so manchem Feind mit diesem Schwert eine Lektion erteilt – Seeratten und Füchsen, die sich als Söldner verdingten. Einmal wurde mein Vater verwundet und musste in unserer Höhle bleiben. Hach, ich weiß noch, dass ich den ganzen Sommer Feinde abwehrte, während er am Höhleneingang lag, unser Essen zubereitete und mir Ratschläge zurief. Eines Tages zog er mit einer Gruppe älterer Krieger los, um die Seeratten an den Ufern weit entfernter Gewässer anzugreifen. Es sollte das Ende der Ratteneindringlinge sein. Es war ein kühnes Vorhaben. Bevor er loszog, gab er mir sein treues altes Schwert, dann ging er mit Speer und Schild bewaffnet fort. Mein Vater sagte, ich solle zurückbleiben und unsere Höhle und unser Land verteidigen. Doch wenn er bis zum Spätherbst nicht zurückgekehrt sei, solle ich tun, was ich für richtig hielt.«

Gonff nickte. »Und er kam nie zurück?«

Martin schloss die Augen. »Nein, ich habe ihn nie wiedergesehen. Ich verteidigte unser Land ganz allein gegen alle, die kamen. Damals nannte man mich zum ersten Mal Martin den Krieger und nicht mehr den Sohn von Lukas dem Krieger. Ich wartete in jenem Herbst so lange es nur ging, dann schien es sinnlos, eine Höhle und ein Land nur für mich zu verteidigen. Und so zog ich allein nach Süden. Wer weiß, wie weit ich noch gekommen wäre, wenn man mich nicht in Kotir aufgegriffen hätte.«

Gonff stand auf und reckte sich. »Ich bin froh, dass du hier gelandet bist, Matrose. Ich würde nur äußerst ungern in dieser Kerkerzelle hocken und Selbstgespräche führen. Da unterhalte ich mich doch lieber mit einem Krieger wie dir.«

Martin reichte den Wein wieder zurück. »Tja, und mir ist es lieber, mit einem Dieb wie dir eingesperrt zu sein, als allein umherzuwandern, Matrose.«

6

Es war ein merkwürdiger Zufall, dass in dem Moment, in dem Gonff und Martin über den Rawim sprachen, ebendieser Rat auch über sie sprach. In Ben Stachlers bescheidenem Zuhause drängten sich die Waldbewohner, die größte unter ihnen eine Dächsin – Bella von Grimhall. Sie war die Vorsitzende der Versammlung. Ebenfalls anwesend waren der Skipper der Otter, Dame Bernstein, die Anführerin der Eichhörnchen, Ben Stachler und Willem, ein zuverlässiger Maulwurf, der seinen Anführer vertrat. Buche, das Eichhörnchen, saß am Feuer und beantwortete die Fragen des Rates.

»Wo wurde Gonff gefangen genommen?«

»Westlich von hier, in der Nähe des Waldrandes bei Kotir.«

»Wie konnte Gonff sich nur gefangen nehmen lassen?«

»Tja, das kommt davon, wenn man albern herumtollt.«

»Du sagst, es waren zwei von Verdaugas Soldaten.«

»Ja, daran besteht kein Zweifel. Sie trugen Uniformen und Speere.«

»Und wo warst du, als das alles passierte, Buche?«

»Ich saß auf einer alten Eiche ganz in der Nähe.«

»Konntest du hören, was sie sagten?«

»Ich hörte sie sagen, sie würden ihn nach Kotir bringen. Ihr wisst ja, wie Gonff ist. Er tat so, als wäre das Ganze ein großer Scherz. Zweifellos wird ihm das dumme Grinsen in den Zellen des alten Grünauge schon vergangen sein.«

Dame Bernstein nickte Buche zu. »Gut gemacht. Gibt es noch etwas zu berichten?«

»Nein, Ehrwürdige. Ich bin ihnen so weit wie möglich gefolgt, dann habe ich Argulor in einer Fichte entdeckt. Ich konnte nicht erkennen, ob er wach war, also beschloss ich, hierher zurückzukommen, da ich wusste, dass der Rawim eine Versammlung einberufen hatte.«

Ben Stachler zwinkerte Buche zu. »Richtig, und es ist auch schon später Mittag. Wir haben einen Topf mit Frühlingssuppe, etwas Käse und Nussbrot. Möchtest du etwas davon haben, Buche?«

Das Eichhörnchen erwiderte das Zwinkern, verbeugte sich respektvoll vor den Anführern des Rawim und war verschwunden, bevor man ihm noch weitere Fragen stellen konnte.