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Die provozierende Dokumentation eines streitbaren Theologen, der bereits 1972 seinen Bruch mit der traditionellen Kirche vollzogen hat.Die >>Häresie<< geht um in unserem Land, beschränkt sich freilich nicht mehr wie früher darauf, Unter- und Nebenströmung zu sein, sondern greift tief in das Zentrum unseres überlieferten abendländischen Religionsverständnisses ein. Religiosität heute ist nicht mehr an einen personal aufgefassten, männlich geprägten Gottesbegriff gebunden, sondern umfasst eine lebendige Vielfalt mystischer Erfahrungen, ethischer Impulse, transpersonaler Erlebnisse.In offenen Selbstzeugnissen, spannenden Erfahrungsberichten, kundigen Kommentaren und Deutungen beschreibt der Autor das Paradigma eines fundamentalen Bewusstseinswandels.
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Seitenzahl: 411
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Hubertus Mynarek
Religiös ohne Gott?
Aufbruch zu einer kosmischen Religiosität in Selbstzeugnissen, Erfahrungsberichten, Kommentaren und Deutungen
Impressum
©NIBE Media ©Hubertus Mynarek
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Buch
Eine der aufschlussreichsten Studien zum aktuellen Religionsverständnis, die anhand zahlreicher Selbstzeugnisse und Erfahrungsberichte die Dokumentation eines Bewusstseinswandels leistet: Religiosität ist, im Unterschied zu früheren Jahrhunderten, zunehmend weniger an einen personal erlebten Gottesbegriff gebunden, vor allem jedoch nicht mehr an die traditionell »männlich« geprägte Gottesvorstellung. Religiosität heute umfasst eine Vielfalt mystischer Erfahrungen, Bewusstseinserlebnisse und Tiefenerlebnisse, die den einzelnen berühren. Umwelt und Wirklichkeit werden unmittelbar, in ihrer Einheit und Komplexität erfahren. Im Mittelpunkt dieser neuen religiösen Ethik steht der Mensch, die Suche nach seinem Ursprung und dem Sinn seines Daseins. Professor Hubertus Mynarek beschreibt in seinem streitbaren Buch, wie es zum Verlust des überlieferten Gottesglaubens kam und zeigt auf, worin sich das Unbehagen an den traditionellen Kirchen begründet.
Autor
Prof. Dr. Hubertus Mynarek, geboren 1929 in Großstrehlitz, studierte Theologie, Philosophie und Psychologie in Krakau, Lublin, Münster und Würzburg. 1953 Weihe zum katholischen Priester, 1966-1968 Professor für Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie in Bamberg, 1968-1972 Professor für Religionswissenschaften in Wien, 1971-1972 Dekan der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. 1972 provozierte er als Dekan durch einen »offenen Brief an den Papst« den Bruch.
Die Konsequenz war Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis und Zwangspensionierung. Danach trat Hubertus Mynarek aus der Kirche aus. Seitdem macht er als provokativer Schriftsteller von sich reden. Seine Veröffentlichungen kreisen um Ethik und Religionsverständnis als wichtige Themen unserer heutigen Zeit.
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
Erster Teil
DER ABSCHIED
Das Unbehagen an der Kirche und der Verlust des Glaubens an den von ihr verkündeten Gott
Einführende Vorbemerkungen
Berichte Kirchen- und Gottesgeschädigter
Menschen, die sich als kirchengeschädigt, jedoch nicht als gottesgeschädigt empfinden
Menschen, die sich weder als kirchengeschädigt noch als gottesgeschädigt betrachten
Zweiter Teil
DER ÜBERGANG
Der Verlust des Gottesglaubens führt nicht zwangsläufig zum Atheismus, sondern zu einer neuen Form von Religion, einer Religiosität ohne Gott
Einführende Vorbemerkungen
Vom alten Glauben zu neuen Formen der Religiosität
Abweichende Meinungen von Agnostikern und nichtreligiösen Atheisten
Dritter Teil
DER NEUE REICHTUM DES LEBENS
Bewusstseinsveränderung - Tiefenerlebnisse - Ethische Impulse im Rahmen der Neuen Religiosität
Einführende Vorbemerkungen
Neues Leben - Neue Spiritualität - Neues Handeln
Abweichende Meinungen
»Gott inspiriert und motiviert mich!«
Menschen, die ihre Bewusstseinsveränderungen, religiösen Erlebnisse und ethischen Impulse im Zusammenhang mit ihrer personalistischen Gottesauffassung sehen
»Gott spielt in meinem Leben keine Rolle!«
Bewusstseinsveränderung, areligiöses Welt- und Wirklichkeitserlebnis sowie ethische Impulse bei Atheisten
Schlussbetrachtung
Neue Religiosität und Spiritualität
Anmerkungen
Anhang
Kleine Enzyklopädie der im Buch genannten religiösen, spirituellen und weltanschaulichen Strömungen, Bewegungen, Gruppen, Vereinigungen und Gesellschaften.
Buchveröffentlichungen von Hubertus Mynarek
Einleitung
Dieses Buch versucht anhand zahlreicher Selbstzeugnisse die Dokumentation eines Bewusstseinswandels in der Religiosität der Gegenwart. Der Buchtitel »Religiös ohne Gott?« bringt diese Veränderung der religiösen Landschaft auf den kürzesten Nenner. Oberflächlich gesehen, wird Religion gerade bei uns in Deutschland, aber auch in Europa doch weitgehend mit kirchlichem Christentum und Gottesglauben gleichgesetzt. Aber unter der dünnen Oberflächenschicht konventioneller, kirchlicher Religion ist seit geraumer Zeit ein Prozess im Gange, der das religiöse Antlitz Europas möglicherweise wesentlich verändern wird.
Da Religionswissenschaft und Religionssoziologie bei uns noch immer vorwiegend von kirchlichen Theologen betrieben werden, sind auch bisher nur wenige Religionstheoretiker auf besagten Prozess gestoßen, haben ihn bislang noch kaum zum Gegenstand eingehenderer Analysen gemacht. Den Rahmen, in dem das Phänomen einer neuen Religiosität zu suchen und zu analysieren ist, steckt aber der Soziologe G. Kehrer gut ab, wenn er darauf hinweist, dass zwar »in Deutschland Religion letztlich doch von den beiden großen Kirchen monopolisiert wurde«, es aber »keinem Zweifel unterliegen« könne, »dass trotz des Schweigens von Soziologie und Religionswissenschaft auch in der Bundesrepublik Hunderttausende von Menschen ihr religiöses Engagement in Gruppen finden, deren Platz in der Bundesrepublik unbestimmt ist … es handelt sich immer um Formen nicht-privilegierter Religion, d.h. um Religion, die sich, um existieren zu können, nicht auf wohlwollende Staatshilfe verlassen kann«. Dabei sei »die Dominanz der kirchlichen Religion in der Bundesrepublik vor allem eine organisatorische, die durch politischen Protektionismus begründet ist. Unter der Oberfläche dieser Dominanz lebt eine Welt des Religiösen, die teilweise nicht unter dem traditionellen Stichwort ›Religion‹ zu fassen ist, aber dennoch alle funktionalen Merkmale von Religion erfüllt.«
Diese »Welt des Religiösen« stört »das Desinteresse der deutschen Soziologen an der sozialwissenschaftlich so reizvollen Welt der kleinen Religionen«1 nicht mehr, weil sie in Bezug auf Substanz, Qualität und Vitalität gar nicht mehr klein ist, sondern dem kirchlichen Religionssystem schon einiges voraushat. Ihr gelten die Gesamtausführungen des vorliegenden Buches, in dem zahlreiche Mitglieder religiöser Gruppen und neuer religiöser Bewegungen ebenso wie religiös Nichtorganisierte zu Wort kommen und ihr Selbstzeugnis ungeschminkt und authentisch zum Ausdruck bringen können. Natürlich werden auch die Aussagen von Mitgliedern der beiden Großkirchen in der Bundesrepublik wiedergegeben, aber sie vermögen den Gesamteindruck, der durch die Mehrheit der Teilnehmer an meiner nachher noch näher zu charakterisierenden Umfrage hervorgerufen wird, nicht zu verwischen. Und dieser Gesamteindruck wird eben bestimmt durch das Phänomen einer inhaltsreichen Religiosität, die aber nicht mehr Gott zum Mittelpunkt und eigentlichen Bezugspunkt hat, zumindest nicht mehr den dogmatisch definierten und entsprechend eingeengten patriarchalisch-maskulinen Gott der beiden christlichen Großkirchen. In diesem Zusammenhang siehe auch die Einleitung zum ersten Teil, wo der Verlust des Gottesglaubens als eine Abkehr von diesem Gott definiert wird. Dies gilt auch weitgehend für den Titel dieses Buches »Religiös ohne Gott?«
Wir begegnen in den Selbstzeugnissen, die vorgetragen werden, einer erstaunlichen Vielfalt religiöser Bewusstseinsprozesse, den verschiedensten Motiven, Vehikeln, Arten, Klassen, Gestalten religiösen Erlebens und Erfahrens, wir werden von Zeitgenossen mit dem Verhältnis ihrer Religiosität zu so gut wie allen Dimensionen der Wirklichkeit und der Gesellschaft konfrontiert: Religion und Leben, Religion und Lebensphasen, Religion und Krankheit, Religion und Tod, Religion und Unsterblichkeit, Religion und Natur, Religion und Weltraum, Religion und Ästhetik, Religion und Schicksal, Religion und Erotik, Religion und Parapsychologie, Religion und Drogen, Religion und Gemeinschaft, Religion und Musik, Religion und Dämonie, Religion und Reinkarnation, Religion und Menschsein, Religion und Ethik, Religion und Psychopathologie - all diese Verhältnisse und Zusammenhänge, Funktionen und Aktionen der Religion werden von Umfrageteilnehmern thematisiert. Aber deren Mehrheit ist keineswegs der Meinung, dass zu diesem Funktionieren der Religion in ihrer ganzen qualitativen und substantiellen Fülle der herkömmliche Glaube an einen persönlichen Gott, wie ihn die Kirchen verkünden, nötig sei.
Erstaunlich ist auch die Mannigfaltigkeit menschlicher Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, des Hinausgehens über die profanen, alltäglichen Gewohnheiten des Konsummenschen, der ethischen Impulse und Gestaltungskräfte auf der Basis einer Religiosität ohne Gott, weil sie die jahrhundertelang von den beiden großen Kirchen verkündete These vom notwendigen Zusammenhang zwischen hoher Moral und Glauben an einen persönlichen Gott widerlegt.
Kein Zweifel: Die Häresie geht um, nur dass sie sich nicht mehr wie in all den Jahrhunderten davor darauf beschränkt, Unter- und Nebenströmung zu sein, sondern sich anschickt, zur ansteckenden Globalhäresie zu werden, indem sie das Zentrum des bisherigen religiösen Selbstverständnisses des abendländischen Menschen, den Glauben an einen persönlichen Gott, als nicht notwendig für das Funktionieren von Religion erklärt. Indem sich auch die stets von Kirchenpredigern an die Wand gemalte exklusive Alternative zwischen religiösem Gottesglauben und bösem, religionslosem Atheismus als falsch erweist, weil man eben doch religiös und trotzdem ohne Gott sein kann. Das ausgeschlossene Dritte - es scheint zur eigentlichen Dominante in der Religiosität der Gegenwart zu werden.
Auch die Kirchen werden auf die Dauer an diesem Phänomen einer Religiosität ohne Gott und ihrem Wachstumsprozess nicht vorbeikommen können, wiewohl sie es bislang, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu ignorieren versuchen oder es durch ihre landeskirchlichen »Sektenexperten« in der Presse, in Flugschriften und Broschüren verächtlich machen lassen. Mag auch der »Normalbedarf« an Religion, wie ihn der Durchschnittsbürger hat, noch eine Weile und vielleicht sogar auf längere Dauer von den beiden großen Kirchen befriedigt werden, so fühlen sich doch alle die von der Kirche im Stich gelassen, die nicht im Funktionieren für die Gesellschaft aufgehen möchten, die leidenschaftlich ihre Identität und ihren eigentlichen Daseinssinn suchen und leben wollen. Diese letzteren verlangen nach einer Religion von umfassender Dynamik, einer Religion des totalen Engagements, der totalen Hingabe (in der religionssoziologischen Fachsprache: nach ›religion totale‹ mit ›totalem commitment‹). Und das sind nicht wenige. Begründeten Schätzungen und Umfrageergebnissen demoskopischer Institute zufolge liegt das Potential derer, die sich mit den Wertprioriäten der Wohlstands- und Leistungsgesellschaft, dem technischen Fortschritt und dem Fetisch des Wirtschaftswachstums, dem Profit- und Karrieredenken nicht mehr abfinden wollen, mindestens bei 15 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik. Dieser Teil der Bevölkerung sucht nach »postmateriellen Orientierungen«, nach Selbstverwirklichung und Überwindung der Entfremdung durch negativ empfundene gesellschaftliche Faktoren, wie Unternehmens- und Betriebshierarchien, bürokratische Mechanismen, Verdatung der Bürger, Meinungsmanipulation durch Pressekonzentration, traditionelle geschlechtsspezifische Rollenzwänge, eingeengte oder verhinderte Berufschancen usw.
Zwar handelt es sich auch bei den Jugendlichen »nur« um 15 bis 20 Prozent, die in selbständiger Weise gesellschafts-, technologie- und konsumkritisch sind, die neue Wege der Selbstentfaltung und -Verwirklichung gehen wollen, aber alle Demoskopen weisen darauf hin, dass sie als sogenannte »opinion leaders« bei der Mehrheit der Jugend Eindruck machen und Teile ihrer Lebensauffassung und -praxis dieser zu vermitteln vermögen. Gerade der kritische und selbständigere Teil der Jugendlichen (nach der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wollen sich 36,2 Prozent aller Studenten mit keiner der in unserer Gesellschaft angebotenen Kulturen mehr identifizieren, 11,9 Prozent gehören der Alternativ-Kultur an) entfernt sich auch immer mehr vom religiösen Establishment der Kirchen, hält das, was diese für ihre religiösen Bedürfnisse anbieten, für zu minimalistisch. Kein Wunder also, dass z. B. nur noch zwei Prozent der 16 bis 29 Jahre alten Protestanten in der Bundesrepublik 1980 regelmäßig den sonntäglichen Gottesdienst besuchten. Kirchentage mit dem gewaltigen Zustrom Jugendlicher liefern in dieser Hinsicht eine etwas schiefe Optik, weil sie etwas Besonderes sind und viele alternative Angebote enthalten. Gesucht wird auch von den jugendlichen Besuchern der Kirchentage gerade das Grenzüberschreitende und radikal Erschütternde der Religion, das in der konventionell-kirchlichen Religiosität nicht vorkommt: also das Mystische, Ekstatische, Orgiastische, mitunter auch das Asketische und Esoterische, ohne dass sie deswegen auf rationale Wahrheitsfindung unbedingt verzichten müssten. Sie wollen nur nicht mehr Verstandesmenschen auf Kosten der emotionalen Werte sein.
Jedenfalls, die religiöse Renaissance, auch unter Jugendlichen greifbar, begibt sich jenseits der Großkirchen, was mittlerweile sogar Kirchenfürsten zu ahnen beginnen. Kardinal Ratzinger, Präfekt der »Kongregation für die Glaubenslehre«, der früheren Inquisitionsbehörde des Vatikans, bescheinigt den Jugendlichen »Unfähigkeit zum konkreten Mitglauben und Mitleben in der Kirche«, weil Kirche »hier bei uns weithin mit der Welt, aus der man aussteigen möchte, identifiziert wird, weil sie vielleicht selbst in eine zu starke Identifizierung mit dieser Welt geraten war«.
Als »formale Methode« zur Verinnerlichung, Verlebendigung und Bereicherung der konventionell erstarrten katholischen Religiosität hat man z. B. die Technik der Transzendentalen Meditation des Maharishi Mahesh Yogi bereits so gut wie anerkannt, obwohl dieser doch letztlich auch eine Religiosität ohne persönlichen Gott verkündet, weil ihm zufolge im siebenten, also höchsten Bewusstseinszustand des Menschen, im Einheitsbewusstsein, Selbst und Gott distanzlos identisch sind, jeder Rest von Dualität und Subjekt-Objekt-Struktur verschwunden ist. Einer der Teilnehmer an meiner Umfrage aus der Gruppe der Anhänger der Transzendentalen Meditation (TM) legte seinen Antworten auf meinen Fragebogen stolz die »Bescheinigung« der Unbedenklichkeit der TM durch einen Jesuitenprofessor bei. In dem Schreiben des Jesuiten lesen wir u. a.: »Ich bin ein jesuitischer Priester und lehre Philosophie und Religion an der Universität von Sudbury in Kanada - einer von Jesuiten geleiteten Institution. Ferner bin ich Lehrer der Technik der Transzendentalen Meditation, die nach meiner Kenntnis die nützlichste, anstrengungsloseste und durch und durch wirksamste Technik darstellt, die uns jetzt zur Verfügung steht, um das volle geistige und körperliche Potential des einzelnen zu entwickeln. Ich bin jedoch nicht der einzige Priester, der TM praktiziert. An der Universität von Sudbury gibt es acht Jesuiten und einen bischöflichen Geistlichen, die diese Technik ausüben und die sie für äußerst nützlich halten, das Nervensystem von Stress und Verspannungen zu befreien und dadurch den Geist zu reinigen und das Bewusstsein des Lebens zu weiten. Außerdem gibt es drei Gemeindepfarrer, die nun in der Sudbury-Region meditieren. In Montreal und Quebec-Stadt meditieren bereits einige Jesuiten, und unser Provinzial unterstützt nicht nur die Technik, sondern wird sich in den nächsten zehn Tagen selbst einführen lassen. Außerdem haben wir den Segen des Papstes für die TM-Technik. In dem TM-Programm spricht nicht nur nichts gegen die Religion oder die Einbeziehung der Religion - wie könnte auch etwas, das einen friedvollen Menschen hervorbringt, der in Körper und Geist harmonisiert ist und sein volles Potential nutzt, gegen Religion sein? -, sondern tatsächlich hilft TM jedem Gläubigen jedweder Konfession, echter den Anforderungen seines Glaubens zu leben, indem sie ihm einen klareren Geist und ausgeruhten Körper gibt, der letztlich von allem Stress befreit ist.«
Schon seit einigen Jahren trug ich mich mit dem Gedanken, die neue Religiosität, vor allem im deutschsprachigen Raum, möglichst authentisch einzufangen. Ich wollte das religiöse Bewusstsein einer möglichst großen Zahl von Zeitgenossen kennenlernen, wollte sie zum Sprechen über ihre weltanschaulichen, metaphysischen, religiösen Einstellungen und Erfahrungen bringen, um in einer Buchveröffentlichung das subjektive Element des Autors weitgehend auszuschalten. So forderte ich bei meinen zahlreichen Begegnungen mit Anhängern der verschiedensten religiösen und weltanschaulichen Gruppen und Gemeinschaften sowie mit nichtorganisierten Religiösen im Rahmen von Vorträgen, Seminaren, Arbeitsgemeinschaften, Tagungen, Kongressen, Podiumsdiskussionen, Selbsterfahrungsgruppen und dergleichen und in der sich oft daran anschließenden Korrespondenz die Interessierten zunächst dazu auf, mir frei und ungehemmt durch irgendwelche Bedenken oder Rücksichten über ihre Art von Religiosität und Sinnproblematik zu schreiben. Auf der Grundlage des mir auf diese Weise zufließenden Materials kristallisierte sich dann die erste Formulierung eines Fragebogens heraus, den ich teils bei Begegnungen verteilte, teils mit der Post verschickte. Die erste Form des Fragebogens enthielt folgende Fragen:
1. Halten Sie sich für einen religiösen Menschen?
2. Wenn ja, was verstehen Sie unter einem religiösen Menschen oder überhaupt unter Religiosität bzw. Religion?
3. Wenn nein, könnten Sie dann begründen oder näher ausführen, warum Sie sich nicht für religiös halten?
4. Meinen Sie, dass in Ihrer Religiosität Gott eine wesentliche Rolle spielt, oder sind Sie der Meinung, dass ein echt religiöses Dasein auch ohne einen persönlichen Gott möglich, vielleicht sogar besser ist? Führen Sie evtl. Ihren Standpunkt näher aus.
5. Hatten Sie schon einmal eine Erfahrung, die Sie als religiös einstufen würden? Wenn ja, könnten Sie bitte diese Erfahrung beschreiben?
6. Gab es Entwicklungsphasen in Ihrer Religiosität?
Angefügt war folgende Bemerkung: »Für Ihre Beantwortung sichere ich Ihnen absolute Diskretion zu. Deshalb brauchen Sie Ihren Namen nicht anzugeben. Dankbar wäre ich jedoch, wenn Sie Alter, Geschlecht und - wenn möglich - Beruf angeben könnten. Wenn Sie für die Beantwortung der obigen Fragen mehr Raum brauchen, dann schreiben Sie einfach auf der Rückseite weiter oder fügen Sie ein weiteres Blatt bei.«
Später ergänzte ich diese erste Form des Fragebogens. Ich tat dies vor allem im Hinblick auf die schon eingegangenen Antworten, die inhaltlich oft über die von mir formulierten sechs Fragen des ersten Fragebogens hinausgingen. Die zweite, endgültige Form des Fragebogens enthielt dann folgende Fragen:
1. Halten Sie sich für einen religiösen Menschen?
2. Wenn ja, was verstehen Sie unter einem religiösen Menschen oder überhaupt unter Religion bzw. Religiosität bzw. Spiritualität?
3. Wenn nein, könnten Sie dann begründen oder näher ausführen, warum Sie sich nicht für religiös halten?
4. Meinen Sie, dass in Ihrer Religiosität bzw. Spiritualität bzw. in Ihrem Leben überhaupt Gott eine wesentliche Rolle spielt? Oder sind Sie der Meinung, dass echt religiöses oder spirituelles Dasein auch ohne persönlichen Gott möglich, vielleicht sogar besser ist?
5. Wie stehen Sie zu religiösen Institutionen, Kirche usw.?
6. Hatten Sie schon einmal eine Erfahrung, die Sie als religiös, spirituell oder geistig einstufen würden? Wenn ja, könnten Sie diese Erfahrung beschreiben?
7. Erlebten Sie Fälle von Bewusstseinserweiterung, -erhellung, -erleuchtung oder ähnliches? Wie war das? Können Sie das beschreiben?
8. Gab es Entwicklungsphasen in Ihrer Religiosität bzw. Spiritualität?
9. Gibt es Ihrer Meinung nach ein Leben des Menschen vor seiner Geburt bzw. nach dem Tode? Hatten Sie in dieser Hinsicht gewisse Erfahrungen, Erlebnisse, Begegnungen, Erinnerungen?
10.Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Ihrer Spiritualität, Ihrem geistigen, religiösen oder areligiösen Zustand und Ihren Beziehungen zur Gemeinschaft, zum Partner, zur Sexualität, überhaupt zu verschiedenen Bereichen des Lebens und der Gesellschaft?
Angefügt war wiederum die bereits im ersten Fragebogen stehende Schlussbemerkung.
Insgesamt verteilte und verschickte ich knapp viertausend Exemplare teils des ersten, teils des zweiten Fragebogens. An die Adresse verschiedener religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften und Gesellschaften, Organisationen, Gruppen und Bewegungen gingen Exemplare meines Fragebogens mit der Bitte, ihn zu fotokopieren bzw. zu vervielfältigen und an ihre Mitglieder bzw. Anhänger zu verteilen. Pfarrer D. Gehrmann, Generalsekretär der IARF (International Association for Religious Freedom; deutscher Name: Weltbund für Religiöse Freiheit), verfasste dankenswerterweise ein Schreiben an die Mitgliedsorganisationen des Bundes (der über 10 Millionen Mitglieder zählt), in dem er auf meine Fragebogenaktion aufmerksam machte und zur Teilnahme an ihr aufrief. Angeschrieben wurden von mir z. B. auch 33 Meditationszentren und Ashrams der Bhagwan Shree Rajneesh-Bewegung in der Bundesrepublik; auch fast alle anderen sogenannten, d. h. fälschlich so bezeichneten Jugendreligionen, genauer deren Filialen und Ableger in der Bundesrepublik.
(Der Ausdruck »Jugendreligionen« wurde von dem fast nur tendenziös, d.h. mit kirchlich-politischer Zielsetzung und heftiger Polemik arbeitenden »Sektenexperten« der evangelischen Landeskirche Bayerns, F.-W. Haack, geprägt. Außerhalb Deutschlands versteht diesen Ausdruck kein Mensch. New religious movements or groups - neue religiöse Bewegungen oder Gruppen - wäre der treffendere Sammelbegriff.)
Auch nahm ich persönliche Kontakte mit einer Reihe dieser Gruppen auf, was mir zum Teil durch an mich ergehende Einladungen zur Teilnahme an Podiumsdiskussionen, die sie veranstalteten, erleichtert wurde. Als ganz besonders interessant empfand ich in diesem Zusammenhang eine Podiumsdiskussion mit Swami Satyananda (dem früheren Sternreporter J. A. Elten) und Swami Guruprem (Prof. Dr. G. Wolf, früher Hochschullehrer für mittelalterliche Geschichte) im »Devageet«, dem »Rajneesh Meditation Center« von Heidelberg, eine andere mit Juristen und Religionssoziologen, zu der die Scientology-Bewegung nach München eingeladen hatte, sowie eine ganze Reihe von Diskussionen mit Ökologen und Anthroposophen im Rahmen einer Tagung im Internationalen Kulturzentrum Achberg. Im Anschluss an solche Veranstaltungen kam es immer wieder zu persönlichen Gesprächen mit zahlreichen Gruppenmitgliedern, und ich bekam die Möglichkeit, meinen Fragebogen direkt an Interessierte zu verteilen.
Sodann schrieb ich verschiedene weltanschauliche, religiöse und Kulturzeitschriften an und bat sie, meinen Fragebogen zu veröffentlichen und ihren Lesern seine Beantwortung zu empfehlen. Einige von ihnen entsprachen meiner Bitte. Insgesamt wurden auf dem Weg solcher Inserate etwa 40000 Zeitschriftenleser mit meinem Vorhaben, aufgrund der Beantwortung eines Fragebogens ein Buch über die religiös-weltanschauliche Situation der Gegenwart zu schreiben, bekanntgemacht. Auch Teilen der GEE
(Gemeinschaft Evangelischer Erzieher) wurde mein Fragebogen unterbreitet, und eine ganze Reihe sehr interessanter Antworten erhielt ich von daher.
Obwohl ich mir aufgrund meiner sich über einige Jahre hinziehenden Bemühungen eigentlich noch mehr Antworten erhofft hatte, so muss ich doch mit der Anzahl der bei mir eingegangenen Reaktionen auf meinen Fragebogen zufrieden sein. Insgesamt sind es 1922 Personen, die meinen Fragebogen beantwortet zurückschickten. Zufrieden muss ich vor allem im Hinblick auf die Qualität der Antworten auf meinen Fragebogen sein. Zwar gab es gelegentlich stereotype, schematische, klischeehafte, auch banale Antworten, zwar beantworteten manche Umfrageteilnehmer nicht alle, bisweilen sogar nur eine oder zwei Fragen des Fragebogens. Aber Qualität und Niveau, Anschaulichkeit und 15 Konkretheit der Darstellung lagen bei den meisten Umfrageteilnehmern doch weit über dem Maß, das ich erwartet und mir vorgestellt hatte. Mir traten Selbstzeugnisse eines neuen Lebensgefühls, einer neuen Sensibilität und Spiritualität, einer erneuerten religiösen, kosmischen, metaphysischen Daseinsorientierung von mitunter ungeahnter Tiefe und Intimität entgegen. Ich wurde mit einer fast unbegrenzten Vielfalt nichtmaterieller, postmaterieller, spiritueller Erfahrungsweisen der Wirklichkeit und ihrer Hintergründe konfrontiert. Bewusstseinsveränderungs-, -erweiterungs-, -erleuchtungsprozesse wurden geschildert, die man beim profanierten, säkularisierten Menschen der Gegenwart nicht vermuten würde. Dabei ist das intellektuelle Niveau gerade derer, die diese Dinge mitteilen, beachtlich hoch. Es scheint sich um eine legitime Ausweitung des Vernunft- und Bewusstseinsbegriffs zu handeln, nicht um einen Rückfall ins Okkulte. Texte von radikaler Offenheit und Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, das eigene Lebensschicksal, aber auch gegen die herrschenden religiösen Institutionen, die ich unter den eingegangenen Antworten fand, stellen auch jeden, der sie liest, in Frage. Der Bewusstseinswandel in den religiösen Einstellungen der Gegenwart ist hier mit Händen zu greifen. Diese Aussagen von Umfrageteilnehmern in ihrer quellfrischen Ursprünglichkeit, Lebendigkeit, Echtheit zeigen: Eine neue Religiosität schickt sich an, den Staub von Jahrtausenden abzuschütteln, befreit sich von konfessioneller Enge, bricht jahrhundertealte Erstarrungen und Verkrustungen auf, wird wieder zu etwas, über das man nicht mehr verächtlich die Nase rümpft, über das man vielmehr engagiert und zutiefst existenzbezogen reden und diskutieren kann.
Antworten bekam ich aus praktisch allen religiösen und weltanschaulichen Lagern, von Christen, Exchristen und Nichtchristen, von Katholiken und Exkatholiken, von Marxisten und Exmarxisten, von Freichristen, Freikirchlichen, Freireligiösen, Freidenkern, Freimaurern und Freigeistern, von Theisten, Deisten, Pantheisten, Atheisten und Agnostikern, von Anthroposophen und Theosophen, von Mitgliedern der rationalistisch orientierten Humanistischen Union wie von Anhängern der Transzendentalen Meditation, von Bhagwan-Verehrern und Scientologen wie überhaupt von einer ganzen Reihe der kleinen neuen religiösen Gruppen, die man bei uns Jugendreligionen nennt. Viele Antworten erhielt ich auch von Grünen und überhaupt ökologisch Orientierten, Interessierten, Betroffenen, außerdem von Mormonen, Baptisten, Adventisten bis hin zu Anhängern der Internationalen Schule des Goldenen Rosenkreuzes und der »Deutschen Gesellschaft für Reinkarnationstherapie und esoterische Psychologie«, von Unitariern und »Singulariern«, d. h. allem Organisatorischen abholden religiösen Einzelgängern. Schon hier sei angemerkt, dass es nicht Aufgabe dieses Buches ist, die Lehren und Systeme der eben erwähnten Religionsgemeinschaften und -gruppen darzustellen. Allerdings vermögen die im Buch zur Wiedergabe gelangenden Aussagen ihrer Mitglieder bzw. Anhänger auch manches zu korrigieren und zurechtzurücken, was in der Öffentlichkeit durch verzerrte Berichte in den Medien über diese Gruppen verbreitet wird. Das Gesagte gilt besonders für die sogenannten Jugendreligionen. Mit Recht haben Religionswissenschaftler darauf hingewiesen, dass die meisten Journalisten bei der Darstellung dieser Religionen nur polemisch interessiert sind und sich deshalb im Allgemeinen auf den »Nachweis« beschränken, dass diese Gruppen lediglich Instrumente der Geld- und Machtgier ihrer Führer seien.
Geantwortet haben Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Berufssparten, und gerade diese breite, Schichten, Klassen und Berufe übergreifende Streuung der Aussagen zeigt, dass es sich bei dem in diesem Buch demonstrierten religiösen Bewusstseinswandel um keine am Schreibtisch ausgeknobelte Sache handelt.
Die Ergebnisse meiner Umfrage werden auf den Anfangsseiten eines jeden der drei Teile dieses Buches, und zwar bezogen auf seine jeweilige Thematik, mitgeteilt und analysiert. Jeder Teil hat eine auf seine Thematik bezogene Einführung.
Die drei Teile des Buches bauen in logischer Reihenfolge aufeinander auf. Die neue Religiosität, wie sie von der Mehrheit der Umfrageteilnehmer vertreten wird, hat eine negative Seite, die in der Abwendung vom (kirchlich geprägten) Glauben an einen persönlichen Gott besteht (= erster Teil), und eine positive Seite, die sich in der Hinwendung zu einer anderen Form religiösen Lebens, eben zu einer optimal erlebten Religiosität ohne Dogmen und willkürliche Schranken äußert (= zweiter Teil). Die Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der mit dieser Religiosität verbundenen Phänomene, insbesondere die Vielfalt von Bewusstseins- und Bewusstseinsveränderungsprozessen, von Tiefenerlebnissen und besonderen Erfahrungen sowie von ethischen Impulsen und Initiativen werden im dritten und letzten Teil behandelt. In den Einführungen der drei Teile werden natürlich auch jeweils die in der Überschrift des jeweiligen Buchteils verwendeten Begriffe erläutert.
Nur noch eine letzte Vorbemerkung im Rahmen dieser Einleitung: Im vorliegenden Buch wird nicht die Wahrheitsfrage im philosophischen, ontologischen, erkenntnistheoretischen und -kritischen Sinne gestellt. Eine Auswertung der Ergebnisse meiner Umfrage im Sinne der Erstellung einer philosophischen Theorie, die nun zu beweisen versuchte, dass Gott nicht existiert und deshalb die Religiosität ohne Gott, zu der sich die Mehrheit der Umfrageteilnehmer bekennt, besser, weil wirklichkeitsentsprechender sei, lag nicht im Aufgabenbereich der vorliegenden empirischen Untersuchung. Diese konnte aufgrund des dem Autor zur Verfügung stehenden Umfragematerials lediglich gewisse Trends, Prioritäten, Schwerpunktverschiebungen im zeitgenössischen religiösen und weltanschaulichen Bewusstsein, bestimmte Mehrheiten für die eine oder andere Einstellung, die eine oder andere Glaubenshaltung herauskristallisieren.
Mit den statistischen Mitteln einer Umfrage wäre es auch gar nicht möglich, die Wahrheit eines Glaubens, einer Überzeugung, einer Religion, einer (wissenschaftlichen) Theorie zu ermitteln.
Die Wahrheit ist nicht, muss nicht die Sache einer Mehrheit sein.
Wenn also laut unserer Umfrage die Mehrheit der Teilnehmer an ihr für eine Religiosität ohne Gott votiert, so ist damit nicht gesagt, dass jene Minderheit unter den Umfrageteilnehmern, die sich für eine Religiosität mit dem Glauben an einen persönlichen Gott ausspricht, oder jene andere, die für einen areligiösen Atheismus plädiert, notwendigerweise und logischerweise im Unrecht ist.
Denn ein Trend - und um einen solchen handelt es sich bei der Religiosität ohne Gott - muss nicht Ausdruck der ontologischen Wahrheit sein, wiewohl er gesellschaftlich wahr in dem Sinne ist, dass er die gesellschaftliche Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Hinsicht maßgeblich widerspiegelt.
Ein Trend kann auch - unabhängig von der Frage der ontologischen und philosophischen Wahrheit - psychologisch wahr sein.
Das kann der Fall sein, wenn eine große Gruppe von Menschen mit einem bestimmten, überkommenen Denk- und Ideensystem nicht mehr zu leben, sich nicht mehr mit ihm zu identifizieren vermag, weil sie sich an seinen Verkrustungen, Verhärtungen und Erstarrungen wundreibt. Genau das ist die psychologische Wahrheit des Trends zu einer Religiosität ohne Gott. Denn im Laufe der Jahrhunderte wurde der Gottesbegriff von den beiden großen Kirchen derart monopolisiert, dogmatisiert und eingeengt, dass er der gewachsenen Weite des menschlichen Bewusstseins, seiner Lebendigkeit und Freiheit nicht mehr zu genügen vermag. Viele Selbstzeugnisse von Umfrageteilnehmern bringen gerade diese Diskrepanz zwischen Gottesbegriff und eigener Psyche in mitunter geradezu tragischer Weise zum Ausdruck.
Obwohl also die philosophische Wahrheitsfrage nicht Gegenstand dieses Buches sein konnte, so konfrontieren doch solche Zeugnisse von Umfrageteilnehmern, wie die eben erwähnten, den Leser ständig auch mit ihr. Scharfsinnige Einsichten, logisch frappierendes Denken, faszinierende Zusammenhangserlebnisse zwischen Tiefenpsyche und All, auch argumentative Gedankenketten sowie staunenswerte Selbst- und Fremdanalysen finden sich ja allenthalben in den in diesem Buch abgedruckten Antworten von Umfrageteilnehmern. Und wenn wir uns nicht ganz einer skeptisch-nihilistischen Weitsicht in die Arme werfen wollen, müssen sie doch, muss doch unser Denken und Erkennen, Erleben und Erfahren irgendetwas mit der Wirklichkeit an sich zu tun haben.
Erster Teil
DER ABSCHIED
Das Unbehagen an der Kirche und der Verlust des Glaubens an den von ihr verkündeten Gott
Einführende Vorbemerkungen
Von 1922 Teilnehmern an meiner Umfrage lehnen 1501, also über 78%, nicht nur die Kirche (d.h. die evangelische und/oder die katholische Großkirche), sondern auch den von ihr verkündeten persönlichen Gott ab. 269 Umfrageteilnehmer, d. h. 14%, lehnen zwar die Kirche, nicht aber Gott ab, und nur 39 Personen, also etwas über 2%, konnten sich total oder überwiegend sowohl mit der Kirche als auch mit dem Glauben an den von ihr gepredigten Gott identifizieren. Der Rest, nämlich 113 Umfrageteilnehmer (knapp 6%), hatte keine oder keine eindeutig festlegbare Meinung zu den beiden Problemkreisen Gott und Kirche.
Auf den ersten Blick ergibt sich damit eine Diskrepanz zu anderen Umfrageergebnissen, wonach der Glaube an einen persönlichen Gott unter den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland doch häufiger anzutreffen sein soll. Der sehr bekannt gewordenen, im Oktober 1980 vom Ifak-Institut durchgeführten Spiegel-Umfrage zufolge glauben 51% der 47 Millionen erwachsenen Bundesbürger an die Existenz Gottes.2 Diese Diskrepanz zu den Ergebnissen meiner Umfrage, wonach bestenfalls3 22% der Teilnehmer an ihr für Gott optieren, löst sich auf, wenn man berücksichtigt, dass ich Antworten auf meine Fragebogenaktion vorwiegend von Menschen erhielt, die heute nicht mehr der Kirche angehören, die sich mehr oder minder enttäuscht von ihr abgewandt haben, die dem konventionellen Christentum, wie es von den Kirchen vertreten wird, und auch dem konventionellen Glauben an einen mehr oder weniger anthropomorph vorgestellten Gott mit einschließt, teils kritisch, teils radikal ablehnend gegenüberstehen.
Zwar verschickte bzw. verteilte ich genügend viele Fragebögen auch unter Angehörigen der Kirchen, aber ich erhielt nur wenige Antworten (insgesamt knapp 9%, d.h. 171 Umfrageteilnehmer erklärten, noch einer der beiden Großkirchen in der Bundesrepublik anzugehören, aber selbst unter ihnen waren es, wie bereits erwähnt, nur 2 %, die ein ziemlich vorbehaltloses Ja zu Kirche und Gott äußerten, die anderen standen der Kirche durchaus reserviert bis radikal-kritisch gegenüber, blieben aber aus opportunistischen Gründen weiter drin). Viel mehr Antworten bekam ich von freien Christen und Freireligiösen, von Freigeistern und Atheisten, von Freidenkern und Freimaurern, von Mitgliedern der Humanistischen Union, von Anthroposophen und Anhängern der Transzendentalen Meditation, von Mitgliedern und Sympathisanten der vielen sogenannten Jugendreligionen, von Grünen und überhaupt ökologisch Orientierten und Interessierten, von Unitariern und - wenn ich so sagen darf - ›Singularien‹, d. h. von den vielen Einzelgängern in weltanschaulich-religiöser Hinsicht, die schon den leisesten Kontakt zu irgendwelchen Gruppen scheuen, weil sie darin bereits eine Antastung ihrer selbständig erworbenen Meinung befürchten.
Es war also vor allem das religiöse und weltanschauliche Non-Establishment, das meine Fragebogenaktion durch seine Berichte und Antwortbeiträge unterstützte. Von daher erklärt sich dann auch ohne weiteres der hohe Anteil derer, die an einen persönlichen Gott nicht mehr glauben oder sich durch diesen Glauben geradezu geschädigt fühlen, ebenso auch die Diskrepanz zwischen der obenerwähnten Spiegel-Umfrage und den Ergebnissen meiner Fragebogenaktion.
Keine Diskrepanz dagegen bestand von vornherein im Hinblick auf die Einstellung von Umfrageteilnehmern zur Kirche.
Denn selbst der durchschnittliche, etablierte Bundesbürger hat heute sehr viel Kritisches gegen die Kirche(n) vorzubringen. Bei allen Umfragen sind es über 75 % der Bundesbürger, die die Kirchen in irgendeiner Form ablehnen. »Wie auch immer gefragt wurde, stets erklärte eine Zweidrittelmehrheit die Kirchen für antiquiert«, sagt der Kommentator der vorhin genannten Spiegel-Umfrage.4 Das bezieht sich aber nur auf den Bundesdurchschnitt.
In Wirklichkeit ist das (Unglaubens-)Gefälle bereits von den Katholiken zu den Protestanten erheblich. Sind es (immerhin!) 61 von je 100 Katholiken, die der These: »Man kann Christ sein, ohne einer Kirche anzugehören«, zustimmen, so erklären sich sogar 80 von je 100 Protestanten mit dieser These einverstanden. Und während 36 von je 100 Katholiken den Glauben ihrer Kirche für den einzig richtigen halten, sind es in derselben Hinsicht nur 16 Protestanten.5
Doch kommt es in diesem Buch gar nicht so sehr auf quantitativ Statistisches an, somit auch nicht auf Übereinstimmungen mit Umfrageergebnissen großer Meinungsforschungsinstitute. Für uns ist der qualitativ-inhaltliche Aspekt, sind die existentiellen Aussagen Betroffener zum Gesamtkomplex Religion, Gott und Kirche viel wichtiger und vorrangiger. Und gerade von diesen Aussagen, die durch den zu weiten Raster der Meinungserforschungsmethoden der erwähnten Institute einfach durchfallen, ihnen auch gar nicht so außerordentlich bedeutsam erscheinen, weil sie sich in ihrer individuellen Eigenart und Tiefe zahlenmäßig-statistisch weder erfassen noch verwenden lassen, bietet das vorliegende Buch eine, wie mir scheint, erstaunliche Fülle an.
Jetzt noch einige Vorbemerkungen zu den sogleich zu zitierenden Aussagen von Umfrageteilnehmern zu den Problemkreisen Kirche und kirchlich geprägter Gottesglaube. In meinem in der Einleitung dieses Buches abgedruckten Fragebogen (in seiner letzten, 10 Fragen enthaltenden Fassung) waren es vor allem die Fragen 4 und 5, die die Umfrageteilnehmer dazu animierten - auch animieren sollten -, sich Gedanken über ihre Einstellung zur Kirche und zu einem persönlichen Gott zu machen. Aber auch in den Antworten auf die achte Frage, in der nach Entwicklungsphasen in der eigenen Religiosität gefragt wird, findet sich erstaunlich viel verwertbares Material zum Thema unseres jetzigen Buchteils. Darüber hinaus aber befassten sich manche Umfrageteilnehmer auch da mit den Themen Kirche und Gottesglauben, wo im Fragebogen gar nicht spezifisch danach gefragt, sondern eine Antwort auf die Frage nach der Art der eigenen Religiosität oder Areligiosität erwartet wurde (Fragen 1, 2, 3, 6, 10).
Nach dem Zusammenhang zwischen Zugehörigkeit zur Kirche und Glauben an einen persönlichen Gott bzw. zwischen Enttäuschung oder Unbehagen an der Kirche und Verlust oder Zusammenbruch des Gottesglaubens wird im Fragebogen formell und begrifflich nicht gefragt. Umso bemerkenswerter ist es, dass knapp 32% der Umfrageteilnehmer, d.h. 612 Personen, von sich aus einen solchen Zusammenhang herstellten. Bei einigen anderen findet sich dieser Zusammenhang wenigstens andeutungsweise, der Rest lässt die Aussagenreihen »pro bzw. contra Kirche« und »pro bzw. contra Gott« einfach unvermittelt nebeneinander herlaufen und/oder überlässt es dem Buchautor, einen vielleicht bestehenden Zusammenhang zu ergründen. Angesichts der Tatsache, dass 78% der Umfrageteilnehmer gegen Gott und Kirche, jedoch nur etwas über 2% für diese beiden Größen votieren, und unter Berücksichtigung des Umstands, dass knapp 32% diese beiden Voten auch noch miteinander genetisch-ursächlich verbinden, erscheint aber die Hauptüberschrift dieses Buchteils voll gerechtfertigt. (Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Diese 32% befinden sich sowohl unter den 78% der Umfrageteilnehmer, die sich gegen Gott und Kirche aussprechen, als auch unter jenen 2%, die ja zu Gott und Kirche sagen. Natürlich sind dabei jene Aussagen besonders interessant, die eine Beschreibung der Art liefern, wie die Enttäuschung durch die Kirche oder ihre Vertreter zum Zusammenbruch des Gottesglaubens führte.)
Die meisten Umfrageteilnehmer berichteten sehr ausführlich über ihre Entwicklungsphasen, ihre religiösen Erlebnisse oder areligiösen und atheistischen Welterfahrungen, ihre Stellung zu Gott, Kirche und Religion. Ausgewählt und in diesem Buchteil wiedergegeben werden Aussagen, die sich durch Originalität, Qualität oder Interessantheit in logisch-argumentativer oder in psychologischer und psychoanalytischer oder in autobiographischer und zeitgeschichtlicher Hinsicht auszeichnen. Bei manchen Umfrageteilnehmern besticht in der Tat die Art, wie sie ihren Kirchenaustritt und/oder ihre Aufgabe des Gottesglaubens rational begründen bzw. rechtfertigen; andere bieten eine erschütternde Sicht der psychischen Schäden, die sie durch autoritär-kirchliche Erziehung oder durch dogmatische Indoktrination oder durch die Vorstellung eines persönlichen Gott-Despoten erlitten haben; wieder andere bringen im Rahmen ihrer autobiographischen Berichte zeitgeschichtliche Details, die in keinem Geschichtsbuch vermerkt werden.
Ich habe die Fülle an Material zum Kirchen- und Gottesproblem der Gegenwart, wie sie in diesem Teil ausgebreitet wird, dadurch übersichtlicher zu machen versucht, dass ich die Aussagen der Umfrageteilnehmer in drei verschiedenen Kapiteln (Kap. 2, 3, 4) platziert habe. Im 2. Kapitel berichten Umfrageteilnehmer über ihre negative Einstellung zu Kirche und Gott. Sie stehen stellvertretend für jene 78% der Umfrageteilnehmer, die diese Einstellung teilen. Im 3. Kapitel finden sich Bekenntnisse von Umfrageteilnehmern, die sich gegen die Kirche, aber für Gott aussprechen. Im 4. Kapitel äußern sich Umfrageteilnehmer positiv zu diesen beiden Problemkreisen.
Noch eine letzte Vorbemerkung: Wo in diesem Buchteil innerhalb meiner Kommentare, also nicht innerhalb der Aussagen von Umfrageteilnehmern selbst, ohne nähere Erläuterung von Gott oder Gottesglauben die Rede ist, sind dabei stets der persönliche Gott der kirchlichen Dogmatik und der Glaube an ihn gemeint.
Dass der Begriff Gott auch anders verwendet werden kann und von vielen Umfrageteilnehmern tatsächlich verwendet wird, zeigt u. a. der zweite Teil dieses Buches.
Berichte Kirchen- und Gottesgeschädigter
Eine 19-jährige, »unbeschreiblich weiblich«, wie sie bei der in meinem Fragebogen stehenden Bitte um Angabe des Geschlechts vermerkt, und »Studentin nur pro forma«, hält sich »für einen tief religiösen Menschen, auch wenn man es mir nicht ansieht«. Gerade aus ihrer tiefen Religiosität heraus empfindet sie jedoch »jede Reglementierung und Institutionalisierung als eine Beschneidung der Freiheit. Dass der Mensch sich diese Freiheit selbst beschneidet, deutet an, dass er statt der Bewusstseinserweiterung eine Bewusstseinseinengung in Dogmen und starre Formelemente vorzieht; er geht den uneinsichtigen, aber bequemen Weg. Der Mensch fürchtet das, was in seinem Bewusstsein verborgen ist, weil er ahnt, wie viele ungenutzte Möglichkeiten er in sich birgt. Doch die geistige Gewalt und die Kraft, die durch eine Bewusstseinserweiterung freigesetzt werden, schrecken ihn, und er flüchtet sich in Äußerlichkeiten und Perversionen des Denkens (siehe Wachstumsglauben, Verehrung des Mammons etc.).«
Bezüglich ihrer eigenen persönlichen Entwicklung glaubt die Betreffende aber, »bereits eine Bewusstseinsstufe erreicht zu haben, die es mir unmöglich macht, wieder in eine Verengung meines Bewusstseins zurückzuverfallen«. Diese Verengung sei in der ersten Phase der religiösen Entwicklung jedes Menschen immer gegeben, denn diese Phase sei »fremdbestimmt, durch die Eltern und andere Erziehungs- und Bezugspersonen«. Bei ihr sei dann »in der Pubertät eine Phase der totalen Loslösung von Gott« gefolgt, »da ich viel zu sehr in mir selbst gefangen war«.
Inzwischen stehe sie in einer weiteren »Phase, in der ich durch Meditation und konstruktives Gespräch mein Bewusstsein langsam und kontinuierlich entdeckte und ausweitete, was ich auch heute noch versuche«. Die Einsichten und Erfahrungen, die sie in dieser - bisher - letzten Phase sammeln konnte, führten sie zur Anthroposophie, sie schloss sich dem sehr lebendigen und aktiven Achberger Kreis der Anthroposophen an. Klar sei ihr nun auch die Funktion des Gottesbegriffs bzw. der Gottesvorstellung im Rahmen dogmatischer Religion geworden. »Religion ist ein Grundbedürfnis der menschlichen Psyche. Sie befriedigt das Bedürfnis des Menschen, glauben zu können. Das Wissen des Menschen um die Dinge der Welt ist beschränkt; um dennoch die Illusion des ›Wissens‹ zu haben, schafft er sich einen Gott, eine Religion. Deshalb bin ich überzeugt, dass wenn das, was wir heute Gott nennen, plötzlich erklärbar würde, der Mensch sich eine andere Bezugsgröße für seinen Glauben suchen würde. Es gibt keinen persönlichen Gott … Die Fähigkeit zu denken ist … so unterentwickelt, dass der Mensch die Lücken seines Bewusstseins mit etwas zu füllen sucht, was er Gott nennt. Bezeichnend für diese Unterentwicklung ist, dass er sich einen Gott schafft, der ihm ähnlich ist, eine Person, die menschliche Züge trägt, da die Vorstellungskraft des Menschen nicht ausreicht, über die Grenzen des Optischen und sinnlich Wahrnehmbaren hinauszugehen … Gott ist in meinen Augen auch die Freiheit, sich ein Gottesbild je nach dem Bedürfnis der eigenen Seele zu schaffen. Wertung auf dem Gebiet der Religion ist etwas sehr Gefährliches, da absolut Subjektives.«
Losgelöst vom konventionellen, kirchlich-traditionellen Christentum und seinem Gottesbild hat sich auch ein 35-jähriger, der als seinen Beruf »Germanist, aber kaum lebenslänglich« angibt.
Folgende Entwicklungsphasen in seiner Religiosität führt er an:
»1. Elternreligion.
2. deren Versagen.
3. Einsicht in die Unerklärbarkeit der Welt durch menschliche Versuche - Einrichtung im religiös-philosophischen Agnostizismus.
4. Zehn ahre Marxismus, Psychoanalyse, pragmatischer Nihilismus und verzweifelte Pragmatik. 5. Anthroposophie und Integraler Yoga.«
Aufgrund dieser Entwicklung lehnt er heute einen persönlichen Gott ab: »Unsere Personalität gibt den Schatten einer Ahnung, der auch dazu verführt, sich ein Bildnis zu machen vom Absconditus. Gott, Götter, Unperson: auch eine Trinität.« Für einen religiösen Menschen aber hält er sich weiterhin, »zumindest der Absicht nach und nicht ununterbrochen von Faulheit«.
Die Kirche für tot hält ein 18-jähriger Schüler: »Der Kirche stehe ich ablehnend gegenüber. Sie hat im Laufe der Jahre Jesus und Gott vergewaltigt und ist zu einer repressiven Institution geworden. Es gibt zwar heute wieder einige neue Impulse, doch ist die Kirche insgesamt gesehen ziemlich tot, und damit nichtreligiös.«
Seine Wegentwicklung von Kirche und Gott beschreibt der junge Mann folgendermaßen: »1. Phase: bis ca. 11 Jahre katholisch-christliche Erziehung, kritiklose Übereinstimmung; jedoch nur Verinnerlichung von Werten und Normen, keine echte Religiosität (ist ja auch klar bei dem Alter); 2. Phase: bis ca. 15 Jahre: beginnende und stets zunehmende Kritik an Kirche und Christentum, jedoch (fast) keine Zweifel an der Existenz Gottes; 3. Phase: bis ca. 16,5 Jahre: Atheismus, völliges Ablehnen der Kirche und des Christentums; 4. Phase: ab ca. 16,5 Jahre: Selbsterfahrungsgruppe erweckt Interesse an religiösen Dingen, mehrere im weiteren Sinne spirituelle Erlebnisse, großes Interesse vor allem an östlichen Religionen (Zen, Tantra, Tao usw.), beginnende und stets zunehmende Beschäftigung (nicht nur theoretisch) mit Bhagwan Shree Rajneesh und seinen Sannyasins; mehr oder minder regelmäßig Meditationen.« (Tatsächlich lernte der Autor dieses Buches den jungen Mann nach einer Podiumsdiskussion in einem Bhagwan-Center einer deutschen Großstadt kennen.) Einen neuen Zugang zur Religion hat er, wie wir sahen, gefunden (die genauere Art dieses Zugangs wird noch in einem weiteren Kapitel behandelt werden müssen), die Ablehnung Gottes aber ist geblieben: »Ich denke, dass es keinen persönlichen, d. h. allwissenden, allmächtigen Gott gibt, der alles auf Erden lenkt oder straft, keinen alten Mann im Himmel oder sonst einen menschenähnlichen Gott. Wenn z. B. Jesus von seinem Vater im Himmel spricht, so halte ich das für ein schönes Bild, das das Gebet erleichtert … Für hier und heute halte ich religiöses bzw. spirituelles Dasein ohne persönlichen, d. h. menschenähnlichen Gott für besser, weil es damit schon so viel Missverständnisse und Missbrauch gegeben hat. In diesem Sinne spielt Gott in meinem Leben keine Rolle.«
Eine 23-jährige, die bei der Frage nach ihrem beruflichen Werdegang »Abitur, z. Z. technische Hilfskraft« angibt: »Jeder Mensch muss für sich«, unabhängig von religiöser Tradition, »zu Gott finden … Doch ist Gott nicht persönlich und jeder Mensch selbst verantwortlich vor seinem Gesetz. Gott greift auch nicht in unseren Willen ein.«
Ihren Glauben an einen persönlichen Gott nicht absolut aufgegeben, sondern sozusagen nur bis auf weiteres suspendiert hat eine 31-jährige Studienrätin: »Da ich noch keine Erfahrung eines persönlichen Gottes gemacht habe (höchstens als Ahnung seiner Existenz), habe ich mir darüber wenig Gedanken gemacht; ich halte eine Religiosität im pantheistischen Sinn für wertvoll, und die Frage nach einem persönlichen Gott wird sich mir erst bei entsprechenden Erfahrungen wieder stellen.«
Umso mehr Erfahrungen, darunter einige positive, aber noch mehr negative, hat die Pädagogin mit der Kirche hinter sich: »Ich bin katholisch aufgewachsen und hatte intensiven, engen Kontakt zur Kirche (viele Verwandte von mir sind im Kloster oder als Priester tätig). Einerseits gaben mir meine religiösen Erfahrungen in der Kindheit ein starkes Gefühl für Geborgenheit und ein Vertrauen, gleichzeitig trug ich mich mit extremen Schuldgefühlen und Ängsten sowie Komplexen bezüglich meiner Haltung zur Religion. Dies wurde für mich so belastend, dass ich mich in der Pubertät innerlich völlig von der Kirche und auch von der Religiosität loslöste, dabei aber auch meinen Halt verlor und eine starke Sehnsucht nach der Erfahrung der Sinnhaftigkeit der Welt blieb.
Diese Frage versuchte ich über die verschiedensten Mittel zu klären, d. h. Beschäftigung mit Philosophie bzw. starkes intellektuelles Streben. Auf der Universität merkte ich, dass dies auch nicht zum Ziel führt, da Wissen, je tiefer man eindringt, immer weiter und weniger fassbar wird. Ich kam in ziemlich starke persönliche Krisen, die von Selbstmordgedanken begleitet waren.«
Eine ganz und gar positive Erfahrungsquelle und eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit sinnvoller Lebensgestaltung und -erfüllung hat die Lehrerin inzwischen außerhalb der christlichen Kirchen, nämlich in der und durch die Methode der Transzendentalen Meditation (TM), gefunden. Aber darüber wird im dritten Kapitel im Zusammenhang mit Bewusstseinsveränderung durch Religiosität ohne Gott noch zu berichten sein.
Ganz besonders »Uneigennützigkeit« hat eine 27-jährige Erzieherin bei den Kirchen, bei den »herkömmlichen, konventionellen Religionen« überhaupt, vergebens gesucht. Sie lehnt sie deshalb insgesamt ab, weil in ihnen:
»1. künstlich eine Hierarchie aufgebaut wird, in der keine Gleichberechtigung möglich ist;
2. alles Lebendige unterdrückt und als schlecht angesehen wird;
3. keine Selbstentfaltung möglich ist, weil veraltete Gesetze und Gebote die Menschen in ein bestimmtes Schema pressen.«
Kurzum: »Die religiösen Institutionen sind veraltet, zu patriarchalisch, sind gegen das Leben, gegen Gleichberechtigung und Persönlichkeitsentfaltung.«
Ähnliche Zwänge wie von den religiösen Großinstitutionen gehen nach ihrer Meinung auch von der Konzeption eines persönlichen Gottes aus, die ja die Kirchen zur dogmatischen Norm erhoben haben. »Einen persönlichen Gott zu haben heißt: 1. keine freie Entfaltung und damit kein Erwachsen werden; Folge: man bleibt in der Kindrolle; 2. man lernt nicht Verantwortung für sich selbst zu tragen; 3. man verharrt in der passiven Rolle und schafft es nicht, sein Leben selbst aktiv zu gestalten.«
Trotzdem ist die Betreffende alles andere als areligiös. Sie ist nur gegen konventionelle, erstarrte, tote Religion. Ihre Begeisterung für alles Lebendige, für voll engagiertes Leben, für aktive Entfaltung dieses Lebens führte sie zur ökologischen Bewegung, ließ sie eine ›Grüne‹ werden, ein Prozess, der parallel mit ihrer Entwicklung »von der konservativen Religion hin zur lebendigen und befreienden Religion« verlief. Unter Religion will sie fürderhin nur noch das, aber auch all das verstehen, was »die primäre Natur des Menschen fördert und nicht wie bisher unterdrückt«. Es ist eine Religiosität ohne Gott, von der im nächsten Kapitel eingehender zu sprechen sein wird.
Ein heute 33-jähriger, von Beruf Optiker, war in seiner Jugend vier Jahre lang Klosterschüler. In dieser Zeit lernte er verachten, was »man landläufig unter religiös versteht: in die Kirche gehen, Autoritäten und Doktrinen anerkennen, blindlings glauben, nach Moralkodizes handeln, die meist überholt sind, etc. …«
In der Konfrontation mit dieser Art von Religiosität reifte in ihm die Einsicht, der Entschluss: »Das tue ich nicht, das bin ich nicht.«
Er trat aus der Kirche aus und einer freireligiösen Gemeinde bei, der er zwei Jahre lang angehörte. Später wurde er Atheist. Mit dem dogmatischen Kirchenglauben, mit der doktrinären Kirchenmoral verlor er auch den Glauben an den autoritären, allmächtigen Übervater, den die Kirche als allein gültiges Gottesbild verkündet. Zu diesem Gottesglauben gibt es für ihn kein Zurück mehr, aber als Atheisten möchte er sich inzwischen auch nicht mehr bezeichnen. Vielmehr machte er Entwicklungen durch, die ihn zu einer neuen Art von Religiosität führten. Über sie werden wir im nächsten Kapitel zu sprechen haben.
»Ich habe mich von der Kirche zurückgezogen«, sagt ein anderer, ein 28-jähriger Chemiker, »da sie mit Angstmachen und Unterdrückung arbeitet. Die Kirche weicht der Frage der Verantwortlichkeit des Individuums aus, durch Moralkodizes und den Hinweis auf die Allmacht Gottes.« Die Menschen zur Reife ihrer Individualität zu führen, sie »als geistige Wesen frei zu machen und zu behandeln«, ist sein Wunsch. Dieser Wunsch habe aber »den Glauben an einen Gott nicht unbedingt nötig«.
Ein Jünger Bhagwans, 25 Jahre alt, Student, antwortet auf die einzelnen Fragen meines Fragebogens nur ganz kurz. Unter die Frage nach dem Wert der religiösen Institutionen und Kirchen setzt er nur zwei Worte als Antwort: »Lebende Leichen«. Und einen persönlichen Gott negiert er einfach schon deshalb, weil »ich keine Menschen mag, die ständig von Gott reden«.
Schwerer macht es sich da schon mit Christentum bzw. christlichem Milieu und seinem Gottesbild ein freireligiöser Landespfarrer, 31 Jahre alt. Zwar habe sich seine Religiosität eher fern vom Christentum »im Kreis der Freireligiösen Gemeinde durch Unterricht, Jugendgruppe usw.« entwickelt. Trotzdem »kam ich«, so schreibt er mir, »von dem durch die christliche Umwelt in meinem Denken latent vorhandenen Dualismus« erst allmählich ab, insbesondere »durch die Beschäftigung mit Julian Huxley«. Heute sei er sich ganz klar darüber, dass er den christlichen Gottesbegriff, der ein dualistischer sei, nicht annehmen könne, weil dieser »dem Autonomiestreben des Menschen« nicht genügend Rechnung trage und eine Bindung »an einen von der Welt getrennten Gott«, »an ein außerhalb der Welt Stehendes erfordere«.
Eine 39-jährige Diplompädagogin beschreibt eingehend den Prozess ihrer Entfernung von der Kirche, von Gott, ihre Schwierigkeiten mit Bibel und Gebet: »Als Kind ging ich in den Kindergottesdienst, dann zur Jungschar und betete inständig. Die Bibel verstand ich nie; was in den Gruppen interessant war, waren später Seminare, die sich mit allgemeinen Themen von Gesellschaft und Politik beschäftigten. Da ich in meiner Berufsausbildung die Anforderungen im Beruf, die ich mir stellte, nicht erfüllen konnte, betete ich täglich um die Fähigkeit, fehlerloser, fröhlicher, netter, schneller arbeiten zu können. Es misslang jeden Tag neu. Mit 19, als ich in England für ein Jahr im Haushalt und als Putzhilfe im Krankenhaus zum erstenmal ungebunden vom Elternhaus und der deutschen Sprache war, beschloss ich von einem Tag zum anderen, mit Beten aufzuhören, da ich diese ständigen Misserfolge satthatte. Ich erwartete teils mit Demut, teils Trotz, teils Neugier, welche Strafe auf mich zukommen sollte, obwohl ich mit dem Kopf nicht ganz an die Existenz Gottes glauben konnte, da er ja nicht rational zu beweisen war. Die Strafe blieb total aus, und zu meinem Erstaunen wurde ich fröhlicher denn je.«
Einen neuen Zugang zur Religion, auch zur Bibel und zum Gebet, fand sie erst wieder durch die Transzendentale Meditation:
»Nachdem ich etwa vier Jahre meditierte, las mir jemand Heiligabend die Weihnachtsgeschichte vor, davon war ich so ergriffen und verstand zum ersten Mal mit dem Hintergrund des Wissens von Maharishi Mahesh Yogi die Bibel, dass ich ein Jahr lang täglich betete und die Bibel und Losungen las. Außerdem hatte ich damals das Empfinden, dass Jesus mir aus einer Ikone sehr lebendig entgegensah. Danach war mein Interesse zurückgegangen. Ich wusste das Wesentliche aus der Bibel. Heute betrachte ich die Bibel mit mehr Ehrfurcht und Verständnis als seinerzeit, als ich noch täglich betete. In Gottesdienste gehe ich wegen der unzulänglichen Predigten nicht, außerdem reichen mir meine Alltagserfahrungen und die Meditation als Gottesdienst. Ich habe aber eine bestimmte religiöse Ehrfurcht entwickelt und eine gewisse Sentimentalität, die ich bei den Riten der Gottesdienste empfinde, wenn ich sie mal aus Anlass von Konfirmationen etc. besuche. Beides schreibe ich der Meditation zu.«
Keine Rückkehr dagegen gab es zum Gott der Kirche, zu einem wie immer gearteten oder aufgefassten persönlichen Gott.
»Der persönliche Gott … hat für mich keine Bedeutung. Ich kann ihn mir nicht vorstellen, obwohl ich aufgrund meiner Erziehung manchmal einen Gott im Gebet anrufe. Mit dem Verstand, soweit ich informiert bin, gehe ich in diesem Fall davon aus, dass es Helfer gibt, die als frühere Avatare oder jetzt Erleuchtete innerhalb einer Hierarchie arbeiten und mir dann durch Hilfe antworten, z. B. dass eine Aufgabe oder ein Gespräch gut klappt.«
Eine 24-jährige kaufmännische Angestellte ist überzeugt, dass »schon der Glaube an etwas Höheres und Besseres eine religiöse Aktion ist«. Die Personifizierung dieses Höheren im Sinne seiner Identifizierung mit Gott aber hält sie für schlecht: »Der Glaube an das Gute und Schöne … ist besser ohne Gott, da diese Personifizierung schon zu einer Unterjochung der Menschheit führt … Je näher man an das ›Einfache‹ kommt, umso leichter glaubt man an etwas ›Höheres‹, welches nicht personifizierbar ist.«
Personifizierung des Göttlichen - daran sei doch allein die Kirche interessiert, die auf dieser Grundlage den Gläubigen einen strafenden oder belohnenden obersten Chef vorsetzen könne.
Wichtig sei jedoch für das echt religiöse Leben nur, »dass die Menschen durch den Glauben an etwas ein Ziel haben und es ihnen einfach gutgeht und sie nicht durch kirchliche Organisationen gepresst werden … Einfach dadurch, dass ich an etwas ›Höheres‹ glaube, lasse ich mich durch das Verhalten der Kirche nicht mehr beeinflussen.«