Schubumkehr - Die Zukunft der Mobilität - Stephan Rammler - E-Book

Schubumkehr - Die Zukunft der Mobilität E-Book

Stephan Rammler

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Beschreibung

Der bekannte Zukunftsforscher Professor Stephan Rammler entwirft eine spannende Vision der Mobilität von morgen. »Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie selbst zu gestalten.« R. Buckminster Fuller Mobilität ist von fundamentaler Bedeutung für unsere arbeitsteilige Ökonomie wie für unseren privaten Lebensstil. Sie ist dabei extrem produkt- und ressourcenintensiv und stellt große Herausforderungen an die Zukunft. Angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung und knapper Ressourcen ist klar: Wir brauchen eine drastische Richtungsänderung, eben eine Schubumkehr. Stephan Rammler entwickelt das Bild einer Zukunft mit innovativen Technologien, klugen ökonomischen Strategien und einer veränderten politischen Kultur. Eine spannende Reise in die Welt von morgen! Ein Buch aus der Reihe »Entwürfe für eine Welt mit Zukunft«, herausgegeben von Klaus Wiegandt und Harald Welzer.

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Seitenzahl: 349

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Stephan Rammler

SCHUBUMKEHR - Die Zukunft der Mobilität

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoEntwürfe für eine Welt mit ZukunftGucklöcher in die ZukunftKapitel I Gewebe der Zivilisation – Eine kurze Geschichte der RaumüberwindungZivilisierung als MobilisierungDie Kunst der NavigationVom Rad zur Rakete – Zur Geschichte der BeschleunigungsinnovationenPferd, Rad und Schiff: Die Entwicklung der präfossil-organischen BeschleunigungsinnovationenDampfmaschine, Ottomotor und Raketen: Die Entwicklung der fossil-industriellen BeschleunigungsinnovationenBrennstoffzellen, Elektromobilität und Solarenergie: Die Entwicklung der postfossil-solaren BeschleunigungsinnovationenSchienen, Autobahnen und Datenhighways – Zur Geschichte der VernetzungsinnovationenMobilität im goldenen KäfigKapitel II Zukunftstrends der MobilitätMobility PeakRiskante MobilitätSchlechtes Klima durch verkehrsbedingte Treibhausgase»Vision Zero« in weiter Ferne – Der kalte Krieg auf den Straßen der WeltWenn der soziale Zusammenhalt auf der Strecke bleibt – Die psychischen und sozialen Kosten der MobilitätFliegende Städte und Inseln aus StahlPeak OilHackerangriffe, Starkwetter und andere Katastrophen»Menge in der Enge«Digitaler TreibstoffKapitel III Von Ikarus lernenZiele und Kriterien nachhaltiger MobilitätErneuerbare MobilitätDematerialisierte MobilitätSichere MobilitätResiliente MobilitätDie richtige Flughöhe findenKapitel IV Zukunft erzählenMüssen und WollenAntiapokalyptisches RedenDie Kunst, Schiffe zu bauenKapitel V Schubumkehr – Reiseberichte aus der Zukunft der MobilitätDie Konferenz der FuturnautenTake-off mit dem Luftschiff»Zeppelin-Tourismus«, Auszug aus dem Netzlog von Peter Fischer, Berlin 2044, Teil 1Airship Airborne – Die zweite Entdeckung des Luftschiffs. Auszüge aus dem Geo-Spezial zur Zukunft des Fliegens, Autor: Peter Fischer»Zeppelin-Tourismus«, Auszug aus dem Netzlog von Peter Fischer, Berlin 2044, Fortsetzung»Rettung aus der Luft«, Auszug aus einem dpa-Hintergrundbericht vom April 2043»Nurflügler und Ekranoplane. Smart Flying – Wenn es ganz ohne das Flugzeug nicht geht« – Auszug aus einem Reisebericht vom Mai 2040»Zeppelin-Tourismus«, Auszug aus dem Netzlog von Peter Fischer, Berlin 2044, FortsetzungHyLand IslandEine Reportage von Peter Fischer, Reykjavik 2044Der Grüne Drache und das Märchen von den Goldenen KarottenProf. Dr.-Ing. Michael Sommer im Interview mit Peter FischerDer Weg zum Sonnenauto – Ein Rückblick auf das europäische SunCar-Projekt. In Energy Policy, Vol. 4, 2030Von Michael Sommer, Executive Director von SunCar Europe von 2015 bis 2020Die SunCar-PolicyEine maritime WeltreiseEin Reisebericht von Peter Fischer, aus: Technology Today, Ausgabe 4/2043Historischer Exkurs: Die »Neue Hanse« – Der maritime Boom in der norddeutschen KüstenregionDie Arktis – der neue KontinentDie maritime Mobilität im pazifischen JahrhundertAuf dem Putzerschiff nach JapanMaritimes Cradle-to-Cradle: Zu Gast beim Stoffstromgiganten JapanMonotonie in der Südsee – Durch den Stillen OzeanVom Zankapfel zum Peacemaker – Per Schiff durch den neuen SuezkanalNeue Blütezeit im Mittelmeer: Das mediterrane Großlabor der Meeres-LandwirtschaftMaritime Architektur – Wie die Holländer auf dem Wasser lebenFutourismus 2043Prora – Von der Volkserholung zum Ferienlabor Notizen von Peter FischerEssayskizze: Die weite Ferne so nah – Wie Nordeuropa zum Ferienland wurde»Sanfter Tourismus«Die schwimmenden FerieninselnEssayskizze: Cybertourismus – Reisen im virtuellen RaumFischers Harzreise»Major Tom to Ground Control …« – Der Weltraumtourist als planetarer BeobachterKapitel VI Futurpedia – Die Enzyklopädie für ZukunftsfragenUrbane MobilitätPassepartu – Kuratierte MobilitätCap-a-City-PolitikRiding RepublicQuartiere innovativen Lebens (QIL) – Sustainable Communities+30 (Flight-Level-1-Mobilität)MobilitätsfukushimaSmart ParkingAvatar MobilityMateboardNew H (Rurale Kolonien bzw. Dorf 2.0)Kollaborative MobilitätCarsharingAutomobilclub NobilitySwoshMOBprogressIV – Mikromobil & multimodal unterwegsCaring Mobility (Beyond Sharing)MeinCS oder IndiMobil-ErlebnisweltM-KampagneLuftverkehrBER – InternationalGreenwingsMobilitätsinfrastrukturEisstraßenPipelineAutobahn NGBettaBusBiofrastrukturMaterialaufwand der MobilitätCradle-to-Cradle-MobilitätsdesignHanfautoUpdate-GenerationLogistik und GütertransportGrüne LogistikBinnenschifffahrtHyWayNight SwimmingBring & WinNeue AntriebstechnologienSheikCarWohnenPlus – Von der Immobilie zur E-MobilieExolec – das zivile ExoskelettBesuch aus dem KosmosLiteraturDank

Good times are coming

I hear it everywhere

Good times are coming

But they’re sure coming slow

(Neil Young)

Entwürfe für eine Welt mit Zukunft

Das 19. und 20. Jahrhundert waren die Epoche der expansiven Moderne. Immer weitere Teile der Welt folgten dem wachstumswirtschaftlichen Pfad und erlebten materiellen und vor allem auch immateriellen Fortschritt: die Gesellschaften demokratisierten sich, wurden freiheitliche Rechtsstaaten, Arbeitsschutzrechte, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversorgung wurden erkämpft. Im 21. Jahrhundert, da die Globalisierung fast den ganzen Planeten in den wachstumswirtschaftlichen Sog gezogen, aber dabei keineswegs überall Freiheit, Demokratie und Recht etabliert hat, stehen wir vor der Herausforderung, den erreichten zivilisatorischen Standard zu sichern, denn dieser gerät immer mehr unter den Druck von Umweltzerstörung, Ressourcenkonkurrenz, Klimaerwärmung – um nur einige der gravierendsten Probleme zu nennen. Wie sieht eine moderne Gesellschaft aus, die nicht mehr dem Prinzip der immerwährenden Expansion folgt, sondern gutes Leben mit nur einem Fünftel des heutigen Verbrauchs an Material und Energie sichert? Das weiß im Augenblick niemand; einen Masterplan für eine solche Moderne gibt es nicht. Wir brauchen daher Zukunftsbilder, die die Lebensqualität in einer nachhaltigen Moderne vorstellbar machen und mit den Entwürfen einer anderen Mobilität, einer anderen Ernährungskultur, eines anderen Bauens und Wohnens die Veränderung der gegenwärtigen Praxis attraktiv und nicht abschreckend erscheinen lassen.

Deshalb haben wir für die Buchreihe »Entwürfe für eine Welt mit Zukunft« Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebeten, konkrete Utopien künftiger Wirtschafts- und Lebenspraktiken zu skizzieren. Konkrete Utopien, das heißt: Szenarien künftiger Wirklichkeiten, die auf der Basis heute vorliegender technischer und sozialer Möglichkeiten herstellbar sind. Erst vor dem Hintergrund solcher Zukunftsbilder lässt sich abwägen, welche Entwicklungsschritte heute sinnvoll sind, um sich in Richtung einer wünschenswerten Zukunft aufzumachen. Anders gesagt: Ohne Zukunftsbilder lässt sich weder eine gestaltende Politik denken noch die Rolle, die die Zivilgesellschaft für eine solche Politik spielt. Wenn Politik und Zivilgesellschaft wie Kaninchen vor der Schlange ausschließlich auf die Bewahrung eines fragiler werdenden status quo fixiert sind, verlieren sie die Fähigkeit, sich auf ein anderes Ziel zuzubewegen. Sie verbleiben in der schieren Gegenwart, was in einer sich verändernden Welt eine tödliche Haltung ist.

Nach 18 Bänden der ebenfalls im Fischer-Taschenbuch erschienenen Vorgängerreihe, die unter großer öffentlicher Resonanz eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme des naturalen status quo der Erde in den einzelnen Dimensionen von den Ozeanen bis zur Bevölkerungsentwicklung vorgelegt hat, wenden wir nun also den Blick von der Gegenwart in die Zukunft – in der Hoffnung, konkrete Perspektiven für die Gestaltungsmöglichkeiten einer nachhaltigen modernen Gesellschaft aufzuzeigen, Perspektiven, die der Politik wie den Bürgerinnen und Bürgern Mut machen, ihre Handlungsspielräume zu nutzen und Wege zum guten Leben einzuschlagen.

 

Harald Welzer & Klaus Wiegandt, im Juli 2014

Gucklöcher in die Zukunft

»The best way to predict the future is to design it.«

(R. Buckminster Fuller 1973)

Ein Team von Wissenschaftlern, Zukunftsforschern, Designern, Künstlern, Schauspielern, Drehbuchautoren und Schriftstellern wird für ein Experiment an einem abgelegenen Ort einquartiert. Dort wurde für alles Nötige gesorgt: Es gibt wissenschaftliche Literatur, Natur, Ruhe, ein unterstützendes Team von Fachleuten und Personal, das es an nichts mangeln lässt. Die Kreativen haben nur eine Aufgabe: sich um nichts anderes zu kümmern als in kreativen Séancen in die Zukunft zu reisen. Sie sollen sich tief hineinbohren in die noch verborgenen Möglichkeiten des Zukünftigen. Anders als in der herkömmlichen Szenarioforschung soll es diesmal nicht um die Beschreibung wahrscheinlicher Zukunftspfade gehen, sondern um die Möglichkeiten einer ganz anderen Zukunft, um die Utopie. – So weit die Rahmenhandlung dieses Buches.

 

Lassen Sie sich auf das Gedankenspiel ein, so werden diese Reisenden für die Dauer der Lektüre unsere »Futurnauten« in das Universum der Zukunft sein. Zukunfts-Scouts, die für uns in eine fiktive Welt reisen und dort in der Tradition der optimistischen Utopie-Entwürfe des 19. und 20. Jahrhunderts die Geographie einer besser als heute gelingenden, zukunftsfähigen Kultur und Gesellschaft vorfinden. Inmitten einer Kultur, die das Erzählen kaum anders als zur Beschreibung individueller und gesellschaftlicher Brüche verwendet, mag diese Erzählstrategie naiv erscheinen, unrealistisch und unzulässig zweckoptimistisch. Wer Visionen hat, möge bitte zum Arzt gehen, heißt es noch immer. Das war jedoch schon zu Zeiten von Helmut Schmidt, der dieses Verdikt in die Welt setzte, nur grandios gepoltert. Ist nicht im Gegenteil gerade in unseren Tagen die verrückteste, der Behandlung bedürftigste Vision von allen die Vorstellung, genau so weitermachen zu können wie bislang? Man wird sich außerdem vielleicht nicht ganz der Auffassung verschließen können, dass der Schilderung der »Eutopie« – des Guten Ortes der Antiapokalypse – in unserer weltuntergangsgesättigten Zeit eine besondere motivierende und ermächtigende Kraft innewohnen könnte. Heute braucht es womöglich weniger einen Wettbewerb der besten Krisenanalysen und Untergangsszenarien als der besten Geschichten einer gelingenden Zukunft.

 

Ob wir es uns eingestehen oder nicht, wir sind immer die Erzähler unserer Zukunft. Und mit der Art unserer Erzählungen tragen wir dazu bei, diese Zukunft zu erschaffen. Wir gestalten bereits, indem wir erzählen. Die Apokalypse ist das Leitmotiv unserer heutigen kollektiven Erzählung. Von der Literatur bis zu den Blockbustern Hollywoods dominieren die Geschichten einer düsteren Zukunft, wenn nicht sogar das Armaggedon des globalen Untergangs droht. Unabhängig davon, wie man die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Zukunftsentwürfe beurteilt, bieten Storys dieser Art ein immenses dramaturgisches und kommerzielles Potential für spannende und ergreifende, packende und fesselnde – und letztlich doch nur scheinbar wachrüttelnde Erzählungen. Ob Vulkanausbrüche, Eiszeiten, Virenepidemien, Superstürme oder Blackouts, fast wohlige Angstschauer überkommen uns auf dem warmen Sofa, während liebende Eltern in irgendeiner ökologischen Apokalypse ihr Leben für ihre Kinder hergeben. Bildwelten sind mächtig, und für einen kurzen Augenblick nehmen wir uns womöglich vor, am nächsten Tag unser Leben zu ändern. Irgendetwas nur – weniger Auto zu fahren, den Müll sorgfältiger zu trennen oder für den Erhalt des Regenwaldes und für die Menschenaffen im Urwald zu spenden. Meist schon am kommenden Morgen hat uns der Alltag mit seinen kleinen und großen Problemen wieder, und wir gehen den vor langer Zeit eingeschlagenen Weg immer weiter. Und wahrscheinlich werden wir mit jedem Schritt noch phantasieloser, bequemer und abhängiger. Im Netz unserer Gewohnheiten gefangen, verlieren wir die Perspektive und wissen nicht mehr, welchen anderen Weg wir einschlagen, wie wir die gewohnten Pfade verlassen könnten.

 

Womöglich fehlen uns in solchen Momenten einfach die Alternativen. Es mangelt am attraktiven Bild einer zukunftsfähigen Kultur, und es fehlt die Landkarte des Weges, der zu ihr führt. Gestützt wird das Bemühen um solche positiven Zukunftsbilder von einer gehirnphysiologischen Studie, deren Ergebnisse in der Zeitschrift Nature Neuroscience im Jahr 2011 veröffentlicht wurden. Demnach verändern achtzig Prozent aller Menschen ihre eigene Erwartung der Zukunft – und mit ihr ihre zukunftsbezogenen Handlungsweisen – nur dann, wenn die neuen Informationen zu einem optimistischen Zukunftsbild führen (Sharot et al. 2011). Das menschliche Gehirn scheint darauf programmiert, einem positiven Zukunftsbild zu folgen. Womöglich erklärt dies die Grundannahme der utopischen Tradition, dass der Verlockung des Besseren eine weit größere Motivationskraft innewohnt als der paralysierenden Bedrohung. In diesem »eutopischen« Sinne leitbildhafte und motivierende Bilder und Erzählungen können entgegen dem dystopischen Mainstream den »Möglichkeitssinn« – so der schöne Begriff Robert Musils (1994: 16) – entstehen lassen, den wir brauchen, um uns mit der Kraft und dem Pragmatismus unseres »Wirklichkeitssinns« (ebd.) auf große Veränderungen unseres Lebensstils einzulassen, sie im bestmöglichen Fall aktiv voranzutreiben. Der humanistische Visionär R. Buckminster Fuller war der Meinung, die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, sei, sie selbst zu erschaffen. Der erste Schritt dahin ist, sie anders zu erzählen.

 

Deswegen ist dieses Buch nach einer Einleitung zur Geschichte und einem wissenschaftlichen Kapitel zu den wahrscheinlichen Entwicklungstrends der Mobilität weitgehend im Stil narrativer Szenarien gehalten. Es bietet auf der Grundlage wissenschaftlicher Faktensammlung und Analyse kleine und große Beispiele der zukunftsfähigen Gestaltung unserer Gesellschaft. Längere Storys und Miniszenarien über neue Technologien, über kluge soziale Strategien, innovative ökonomische Konzepte und eine veränderte politische Kultur verbinden sich zu dem Versuch einer überwiegend »eutopischen« Gesamtbetrachtung, die – man muss es der Ehrlichkeit halber sagen – angesichts der tatsächlichen Entwicklungen nicht immer leichtfällt und leicht als naiv abgetan werden kann. Andererseits gibt es schon heute so viele Beispiele für konstruktive und phantasievolle Lösungen, dass auch das Einstimmen in einen apokalyptischen Abgesang zu kurz gedacht ist. Deswegen handelt dieses Buch von den vielfältigen Möglichkeiten des Zukünftigen, wie sie in der Gegenwart bereits angelegt sind.

 

Visionäre Szenarien sind Gucklöcher in die Zukunft und in diesem Sinne gedankliche soziale Erfahrungsräume und Leitbilder zugleich. Natürlich sind Szenarien einer zukunftsfähigen Kultur weniger greifbar als ein konkret nutzbares Produkt oder die von uns täglich vorgefundenen und bekannten Verhältnisse und Infrastrukturen. Andererseits sind sie immer noch sehr viel konkreter als abstrakte Zahlenkolonnen, politische Programme oder ideologische Parolen. Im Wechselspiel von Vision und Gegenwärtigkeit ist es ihr Ziel, eine Art Vertrautheit, eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Zukünftigen zu erzeugen und im besten Falle die Bereitschaft anzuregen, selbst in dieses Wechselspiel einzutreten, mögliche Veränderungen gedanklich auszuprobieren und schließlich in eine experimentierfreudige Grundhaltung stetiger Zukunftsoffenheit einzutreten. Die hier versammelten Szenenbilder der Zukunft sind Ausdruck dieses Experimentierwillens, der schlicht davon ausgeht, dass die Veränderung der Welt zunächst im Kopf beginnt. Dann nämlich, wenn wir gedanklich so tun, als wäre sie schon längst eingetreten: als vorübergehende Phase der Transformation, deren Herausforderungen unsere kreativen Potentiale fokussiert und uns in unserem Alltag zu schrittweisen Veränderungen inspiriert. Anders gesagt: Die Veränderung zum Besseren, im Großen der Gesellschaft wie im Kleinen des privaten Alltags, ist kein irres Zerrbild, kein Wunschtraum überambitionierter Weltenretter. Sie ist eine sehr reale Chance unserer Gegenwart, die wir – als tatsächliche Realisten – nur ergreifen müssen.

 

Ein Bereich, der für die Entwicklung einer zukunftsfähigen Kultur von besonderer Bedeutung sein wird, ist die Mobilität. Ohne Mobilität, ohne Austausch und Kommunikation kein gesellschaftliches Leben. In ihrer nach wie vor fossilen und produktintensiven Ausprägung, den damit verbundenen geopolitischen und ökologischen Stressfaktoren nationalistischer Ressourcensicherungsstrategien, in ihrer fundamentalen Bedeutung für die arbeitsteilige globale Wachstumsökonomie wie für entfernungs- und beschleunigungsintensive private Lebens- und Konsumstile gleichermaßen und schließlich in ihrer extremen Technologieaffinität überschneiden sich so vielfältige Herausforderungen in so komplexer Weise, dass die Mobilität als ein beispielhaftes Anwendungs- und Gestaltungsfeld der gesamtkulturellen Transformation gelten kann. Wie in einem Brennglas bündeln sich an ihrem Beispiel zentrale Zukunftsfragen. Zugleich ist die Mobilität jedoch der Bereich, in dem, eben aufgrund ihrer essentiellen Bedeutung für die moderne Zivilisation, auch eine der stärksten Innovationsdynamiken überhaupt beobachtbar ist. Sie entwickelt sich immer stärker von der traditionellen und noch immer dominanten Lösungsstrategie technologischer Effizienzsteigerung weg, hin zu suffizienten (also sozialen), organisatorischen und kollaborativen (also gemeinschaftlichen) Handlungsstrategien. Gerade in dieser Hinsicht ist die Mobilität also auch ein vorbildhafter Politikbereich der kulturellen Transformation zur Zukunftsfähigkeit. Deswegen sind unsere Futurnauten vor allem Reisende in Sachen Mobilität. Sie entfalten und illustrieren in ihren fiktiven Reiseberichten wie durch ein Kaleidoskop betrachtet das facettenreiche Bild einer überwiegend eutopischen Zukunft.

 

Passend zu dieser Schwerpunktlegung ist auch der Titel dieses Buches, der Begriff der Schubumkehr, der Sprache der Mobilitätswelt entliehen. Die Schubumkehr bezeichnet im Jargon der Luft- und Schifffahrt ein Verfahren zum Abbremsen eines Flugzeugs oder zur Umkehr eines Schiffes durch Umlenken des Schubes entgegen der eingeschlagenen Bewegungsrichtung. Eine Schubumkehr muss früh genug eingeleitet werden, um rechtzeitig zu wirken. Angesichts der enormen Masse eines Fliegers oder Tankers ist das nur zu verständlich. Übertragen auf die komplexen Systeme der Mobilitätswelt ist unschwer nachvollziehbar, dass auch das Momentum dieses lange gewachsenen Systems aus Infrastrukturen, Institutionen, Interessen, Gewohnheiten, Leidenschaften, Ansprüchen und Lebensstilen nicht von heute auf morgen abgebremst oder auch nur zu einer Richtungsänderung veranlasst werden kann. Es braucht Vorausschau, einen langen Atem und eben Leitbilder, die auch über Durststrecken und Konfliktlinien hinweg verlässlich die Handlungen und Entscheidungen vieler Menschen motivieren, ausrichten und unterstützen können.

 

In diesem Sinne bildet der Hauptteil dieses Buches in den Kapiteln V und VI ausgedachte Szenenbilder einer solchen gesellschaftlichen Schubumkehr am Beispiel der Mobilität ab. Allerdings: Keine Zukunft ist ohne die Kenntnis ihrer historischen Hintergründe ausdenkbar. Für den interessierten oder auch den in Mobilitätsfragen unbewanderten Leser stehen deswegen vor den Reiseberichten drei wissenschaftlich gehaltene Kapitel, die eine Annäherung an die Geschichte, die aktuelle Situation und an zukünftige Herausforderungen der Mobilität liefern sollen.

Kapitel IGewebe der Zivilisation – Eine kurze Geschichte der Raumüberwindung

»Inzwischen ist uns der Gedanke vertraut geworden, daß wir auf einer Kugel hausen, die mit Geschoßgeschwindigkeit in Raumestiefen fliegt, kosmischen Wirbeln zu. […] Und jeder antikopernikanische Geist wird bei Erwägung der Lage auf den Gedanken stoßen, daß es unendlich leichter ist, die Bewegung zu steigern als umzukehren zu ruhigerer Bahn.«

(E. Jünger, Strahlungen I)

Dreitausend Jahre vor Christi Geburt. Ein Raumschiff nähert sich dem dunklen Erdball im Nachtschatten der Sonne. Nur an wenigen Stellen entdecken die fremden Astronauten beim Näherkommen den Abglanz von Siedlungen scheinbar intelligenter Wesen an den Rändern der Meere, den Kreuzungspunkten von Tälern und den Mündungsgebieten einiger großer Flussläufe. Die Bewohner dieser Welt siedeln an den Orten des geringsten geographischen Widerstandes, an den natürlichen Wegen der Bäche, Flüsse und Meere und ihren reichen Nahrungsgründen. Es ist still auf diesem Planeten, fast zu still für den Geschmack der Abgesandten einer hochentwickelten technologischen Zivilisation. Nur in den Schwärmen riesiger Meereslebewesen geht es munter zu. Sie scheinen auch über große Distanzen mit Schallwellen zu kommunizieren und eine höhere Sprache entwickelt zu haben. Komplexe Muster elektromagnetischer Strahlen oder künstlich erzeugter Radiowellen lassen sich auf dieser Kugel nicht ausmachen. Die Fremden entscheiden, dass sich eine Landung nicht lohnt. Die Zivilisation dieses Planeten erscheint ihnen nicht intelligent genug für den Austausch von Erfahrungen und Wissen, auf den es ihnen ankommt.

 

Wie anders stellt sich das Bild allerdings dar, als die Fremden fünftausend Jahre später wieder an der Erde vorbeikommen. In den Maßstäben ihrer Zeitrechnung war es nur ein kurzer Augenblick, und doch scheint der Planet plötzlich erwacht. Großflächig sind die Küstengebiete und große Teile der Landflächen in der Nacht hell erleuchtet. Die Fremden werden neugierig, jetzt lohnt es sich, näher zu kommen. Mit jedem Kilometer entdecken sie neue Details. Es wimmelt auf diesem nachthellen Ball. Kleine Raumschiffe umkreisen seinen Orbit, etwas tiefer viele verschiedene Fluggeräte, die Gas- und Wärmespuren hinter sich herziehen, und auf der Erdoberfläche Millionen von Geräten, die sich langsamer voranbewegen. Die milliardenfachen Lichtspuren dieser Vehikel und die Hitzeabstrahlung ihrer Motoren erzeugen ein Gemälde aus Bahnen und Vektoren auf dem dunklen Ball. Dieses Wimmelbild aus Licht entwickelt immer komplexere Muster und Strukturen, je näher sie kommen. Ganze Korridore aus Licht und Bewegung verbinden die Siedlungsgebiete. Laut ist es jetzt auch auf diesem Planeten, sehr laut. Wellen der unterschiedlichsten Art und Reichweite jagen um die Kugel und hinauf zu den kleinen Orbitkreuzern und geostationären Satelliten in der Umlaufbahn.

 

In der Stille des Alls verharren die Fremden vor dieser grellen Kugel wie die unangekündigten Besucher einer wilden Party, die sich schon an der Straßenecke lauthals ankündigt. Noch eines fällt den stillen Beobachtern beim Blick auf ihre Sensoren und Messgeräte auf: Es ist heiß, stickig und eng geworden, obwohl die Fenster und Türen bei der Party weit aufstehen und die Kugel die Hitze ihrer Motorenwelt weitgehend ungenutzt ins winterkalte All abstrahlt. Die Rechner der Besucher analysieren sehr schnell, dass die Ökosysteme dieser kleinen Welt kurz davorstehen könnten, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Nun erscheint auch dies den Fremden nicht als besonders intelligent. Erneut können sie hier nichts lernen, was ihnen wichtig erschiene. Nur helfen. Kosmische Retter sind sie aber nicht. Wieder drehen sie ab.

Zivilisierung als Mobilisierung

Nur in den Zeitläufen einer kosmischen Perspektive enthüllt sich die außergewöhnliche Dynamik und Reichweite der Verwandlung der menschlichen Zivilisation in der jüngeren Vergangenheit. Was dem Menschen in seiner alltäglichen Zeiterfahrung wie eine stetige Evolution erscheint, präsentiert sich im Blick der außerirdischen Beobachter als ein Quantensprung. Wären sie beständig zugegen gewesen, hätten ihnen die ersten hunderttausend Jahre Menschheitsgeschichte den Eindruck eines sich langsam beschleunigenden Anlaufs gemacht, der erst im 20. Jahrhundert im fulminanten Weitsprung einer nunmehr durch und durch wissenschaftlich-technologischen Zivilisation mündete. Und dieser Weitsprung hält noch an. Wo ist der Landungspunkt? Wird die Landung glücken, oder endet sie in einem Crash? Und trägt der Vergleich des Weitsprungs überhaupt? Oder war der Absprung ein Take-Off in ganz neue Dimensionen? Noch wissen wir es nicht, genauso wenig wie die außerirdischen Besucher, die in der Auswertung und Extrapolation ihrer Sensorenmessungen offenbar zu einer betrüblich ungünstigen Prognose für die Menschheit gelangt sind. Zu hoffen bleibt, dass sie sich irren und zu früh weitergezogen sind.

 

Unstrittiger ist wohl, dass die Methoden der Raumüberwindung und ihre Techniken und Infrastrukturen bis heute einen der eindrücklichsten Belege dieser radikalen Veränderung darstellen. Als die der Nahrung folgenden, wandernden Menschengruppen Tier und Pflanze domestizierten und bei ihnen sesshaft wurden, entstanden Siedlungen, Völker und Kulturen. Diese schufen sich mit der Zeit ein immer dichteres Netz von Wegen und Kommunikationsmitteln und erschlossen stetig neue geographische Räume, bis schließlich der ganze Planet ihre Heimat geworden war. Häfen, Straßen, Parkplätze, Schienen, Bahnhöfe, schließlich Flughäfen und Raumbahnhöfe markieren die Technisierung der Mobilität und sind zugleich sichtbarster Ausdruck des Umbaus der Welt zur Beschleunigungsarena, die mit ihren Lichtspuren stets und ständig das Gewebe unserer Zivilisation in den Nachthimmel schreibt.

 

Die Geschichte der Mobilität ist oft als eine Abfolge von genialen Augenblicken richtungsweisender Einzelereignisse beschrieben worden, in denen wissenschaftlich und technologisch immer voraussetzungsreichere Erfindungen uns das Rad, das Schiff, die Nautik, den Verbrennungsmotor, das Flugzeug und schließlich die Raketentechnik und das Internet bescherten. Man kann diese Aufwärtstransformation des Verkehrswesens aber auch als das stete Verweben von systemischen Optimierungs- und Innovationsprozessen beschreiben, die mit Eintritt ins 19. Jahrhundert wissenschaftlich fundiert, methodisch angeleitet und systematisch vorangetrieben wurden. Mindestens drei solcher Innovationskomplexe der Mobilität überlagerten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts und brachten eine gigantische Mobilitätsmaschinerie hervor, die unter Verbrauch enormer Mengen an Ressourcen, Boden, Kapital und Arbeitskraft und zum Preis immer größerer negativer Begleiterscheinungen für Umwelt und Gesellschaft bis heute einen stetig wachsenden Output an Bewegung von Menschen und Materie ermöglicht, der zur Grundlage unserer modernen Lebensstile geworden ist. In diesen drei Innovationskomplexen – der Orientierungsinnovationen, der Beschleunigungsinnovationen und der Vernetzungsinnovationen – bündeln und verweben sich produkttechnologische Erfindungen mit systemischen Infrastrukturinnovationen und zunehmend auch mit – und dies gibt Anlass zur Hoffnung – völlig neuen Formen und Ausprägungen einer Dienstleistungs- und Sharingkultur.

Die Kunst der Navigation

Keine Mobilität ohne Navigation. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Mobilität ist kaum zu überschätzen. Seit sich Menschen im Raum bewegen, stehen sie vor der Herausforderung, sich zu orientieren. Bei der steinzeitlichen Jagd, beim Wandern der Nomaden, beim Handeln und Reisen. Zunächst halfen Sterne, Landmarken, Orientierungssinn und Gedächtnisnavigation. Als die Räume größer wurden, die Wege und Reisen länger und die Zahl der Reisenden größer, reichte das nicht mehr aus. Die Gedankenkarten wurden ergänzt durch Landkarten, und die Kartographie entwickelte sich zu einer hochgeschätzten Kunst. Die Karten galten der Sicherstellung, Überlieferung und Reproduzierbarkeit der gefundenen Wege und Orte. Sie waren auf Tafeln, Leder und geschöpftem Papier gespeichertes Wissen. Auf diesem Wissen konnten die immer neuen, die bekannten Grenzen überschreitenden Expeditionen aufbauen, auf die gleiche Weise, wie das Voranschreiten der Wissenschaft auf den in Büchern dokumentierten Erkenntniskontinenten aufbaute. Als die Schifffahrt schließlich mit dem Weltverkehr der frühen Neuzeit die Flüsse und Küstenstraßen verließ und das offene Meer suchte, war dies eine Blütezeit der Navigation, der Steuermannskunst mit ihren über die nachfolgenden Jahrhunderte immer weiter verfeinerten und verwissenschaftlichten Verfahren der Orts- und Routenbestimmung zu Wasser, Land, in der Luft und schließlich im Weltraum.

 

Zwei Schritte der Orientierung gehen jedem Steuern voraus: das Feststellen der aktuellen Position und das Ermitteln der günstigsten Route zum Ziel. Beides wurde über die Jahrhunderte kontinuierlich perfektioniert und mündete mit der Erfindung der Satellitennavigation und der Verkehrstelematik in der flächendeckenden Individualisierung der Routenfindung durch Millionen von Navigationssystemen für Auto- und Lkw-Fahrer, Schiffsoffiziere und Flugkapitäne. Auch die Kriegsführung ist heute nicht mehr ohne die perfektionierten Methoden der Ortsbestimmung und Zielfindung für Panzer, Kampfbomber und U-Boote denkbar, für Marschkörper, Raketen und unbemannte Drohnen jeglicher Art. Die millimetergenaue, computergestützte Navigation wird selbst aus dem Operationssaal bald nicht mehr wegzudenken sein, wo die Operateure sich mit Hilfe eines medizintechnischen Systems auf der Grundlage von Röntgenbilddaten und Computertomographien präzise durch schwieriges Terrain manövrieren können, etwa im äußerst verletzlichen Gehirngewebe, in dem jeder Fehlgriff schwerwiegende Folgen haben kann.

 

Die fortschreitende Digitalisierung der Navigation verlangt heute unsere gleichzeitige Orientierung in drei Typen von Welten: Neben der realen Welt steht die Welt der digitalen Daten, und zwischen diesen beiden wächst die immer komplexer werdende Mischwelt aus digitalen und geographischen Raummarken, beweglichen Gegenständen und Menschen, die zunehmend mit einer virtuellen Bedeutungsschicht überzogen werden. Die virtuelle Welt des weltweiten Netzes, der Datenwolken und digitalen Parallelwelten ist heute durch den technologischen Fortschritt so überaus komplex geworden, dass wir uns auch dort vielleicht bald nur noch mit individuellen Routenscouts und Rechercheassistenten zurechtfinden können. In der sich rasant entwickelnden Mischwelt aus realen und digitalen Bewegungen wird unsere hybride Existenz als ortspolygame Cyberwesen zukünftig womöglich auf die Spitze getrieben. Allerdings zeigt sich schon heute in Sackgassen, vor toten Brücken und an Hafenkanten, dass mitunter derjenige ziemlich verlassen ist, der sich vollkommen auf die digitalen Techniken der Orientierung verlässt. Je mehr wir der informationstechnologischen Unterstützung unserer digitalen Navigatoren vertrauen, desto mehr ähneln wir tumben Päckchen, die verlorengehen, wenn diese Unterstützung plötzlich wegfällt.

 

Deswegen kann für die Zukunft die Gefahr eines digital lost – des digitalen Verlorengehens – gar nicht ernst genug genommen werden. Je perfekter uns die Technologie in der Alltagsorientierung unterstützt, desto schneller stellen sich unsere Gewohnheiten darauf ein und machen uns abhängig. Es wäre denkbar, dass sich am Ende bestimmte neuronale Verknüpfungen gar nicht erst ausbilden, die die Notwendigkeit, sich im Raum zurechtzufinden, in den Gehirnen der früheren Menschen entstehen ließ. Gehirnstrukturen und Fähigkeiten, die sich durch lange Übung von klein auf ausbilden, wären dann im Notfall eines Technologieversagens nicht mehr abrufbar. Bereits für das Jahr 2014 wird erwartet, dass über eine Milliarde GPS-fähige Handys und Smartphones verkauft werden. Steht uns damit die eigentliche Kollektivierung der Orientierungslosigkeit erst bevor? Ein Rückfall in die Zeiten vor der ursprünglichen Kultivierung von technologischen und kulturellen Orientierungssystemen, paradoxerweise gerade weil wir die Kunst der Navigation informationstechnologisch auf die Spitze getrieben haben? Die Mobilisierung der Welt hätte ohne die zeitgleiche Entwicklung von Systemen der räumlichen Orientierung nicht stattfinden können. Hinter Jahrtausenderfindungen wie der des Rades, des Verbrennungsmotors und anderen Beschleunigungsinnovationen der Mobilität – wie sie im folgenden Abschnitt beschrieben werden – tritt die Bedeutung der Orientierungssysteme in der wissenschaftlichen wie in der Laienwahrnehmung häufig zurück. Was würde passieren, wenn durch einen Sonnensturm, einen Stromausfall oder eine Cyber-Attacke die globalen Datennetze ausfielen? Im Cyber-GAU würde die globale Mobilitätsmaschine abrupt zum Stillstand kommen. Dieses Risiko wächst mit dem Grad der technologischen Durchdringung und Abhängigkeit, was für die Zukunft vor allem die Frage nach der Möglichkeit resilienter – also krisensicherer – Infrastrukturen aufwirft.

Vom Rad zur Rakete – Zur Geschichte der Beschleunigungsinnovationen

Der Mensch, so der Sozialanthropologe Arnold Gehlen, »könnte sich in der ihm gegebenen biologischen Konstitution innerhalb der rohen Natur gar nicht halten. Sein intelligentes Handeln zielt deswegen in erster Linie auf die Veränderung der Außenwelt aus barer organischer Bedürftigkeit. So muss er sich die ihm organisch versagten Waffen erst selbst herstellen, und wenn er in die Kälte vordringt, dann hängt er sich den Pelz um, der ihm nicht wächst« (Gehlen 1961:69). Auch die Gestaltung von einzelnen Techniken und schließlich ganzen Systemen der Raumüberwindung lassen sich in Gehlens Lesart der Technikentstehung als Organersatz, Organentlastung und Organüberbietung begreifen: »Der Wagen, das Reittier entlasten uns von der Gehbewegung und überbieten weit deren Fähigkeit. Im Tragtier wird das Entlastungsprinzip handgreiflich anschaulich. Das Flugzeug wieder ersetzt uns die nicht organisch gewachsenen Flügel und überbietet weit alle organische Flugleistung« (Gehlen 1961: 93). Die gleichzeitige Ansässigkeit des Menschen in der Grenzenlosigkeit des Raums und der Begrenztheit der Zeit bot Anlass, das Rad zu erfinden und – metaphorisch gesprochen – immer neu zu erfinden, indem ein ganzes Arsenal künstlicher Organe der Raumüberwindung geschaffen wurde, mit deren Hilfe sich die Einschränkungen des gegebenen menschlichen Körpers überwinden lassen. Diese Hilfsmittel werden hier deswegen unter dem Begriff der Beschleunigungsinnovationen zusammengefasst, weil die Beschleunigung eine Strategie ist, trotz knapper Zeitressourcen – und Zeit ist individuell angesichts des Todes und gesellschaftlich aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftsweise immer knapp – immer weitere Räume zu erschließen. Aus heutiger Sicht lassen sich drei Phasen von Beschleunigungsinnovationen unterscheiden: eine präfossil-organische, die weitgehend hinter uns liegt, eine fossil-industrielle, in der wir uns gegenwärtig befinden, und eine postfossil-solare Phase, die wir anstreben sollten.

Pferd, Rad und Schiff: Die Entwicklung der präfossil-organischen Beschleunigungsinnovationen

Den überwiegenden Teil ihrer Zivilisationsgeschichte verbrachte die Menschheit im Zustand des Organischen. Mit organisch ist gemeint, dass die im Alltag verwendeten Stoffe und Materialien fast ausschließlich aus dem Pflanzen- und Tierreich stammten. Selbst die anorganischen Stoffe, die in dieser Epoche Verwendung fanden, wie etwa die Metalle, blieben ebenfalls organisch gebunden insofern, als ihre Gewinnung und Herstellung in Ermangelung anderer Brennstoffe großer Mengen Holz bedurfte (vgl. Sombart 1969[1902]: XII). Gleichermaßen waren die Kraftquellen der Raumüberwindung organisch oder »metabolisch« (Virilio 1993: 7), was bedeutet, dass Menschen entweder auf die eigenen Füße oder auf die Muskelkraft von Reit- und Zugtieren angewiesen waren. Insofern ist die Kulturtechnik der Zähmung und Züchtung von Tieren, die sich wahrscheinlich im vierten Jahrtausend vor Christus ausbildete, eine erste Beschleunigungsinnovation von epochemachender Bedeutung für den Landverkehr. Im selben Jahrtausend wurde auch das Rad erfunden, wahrscheinlich im Zuge einer Weiterentwicklung der Schleppbahre, die ein Pferd oder Rind hinter sich herzog, um schwere Lasten zu bewegen. Noch älter ist die Mobilität zu Wasser mit Hilfe von Baumstämmen, Flößen und Schiffen. Spätestens seit dem fünften Jahrtausend vor Christus war die Nutzung der Windkraft mit Hilfe von Segeln bekannt. Das Schiff, insofern es Strömungen oder Windkraft nutzte, kann somit als das früheste nichtmetabolische Fahrzeug gesehen werden, das den weite Distanzen überbrückenden Transport von Menschen, Tieren und Gütern von der Körperkraft entkoppelte und damit die Entfaltung der ersten großen Kolonialmächte wie den hellenischen Staatenbund und das Römischen Imperium ermöglichte.

Dampfmaschine, Ottomotor und Raketen: Die Entwicklung der fossil-industriellen Beschleunigungsinnovationen

Zur Explosion der Beschleunigungsinnovationen kam es während der industriellen Revolution, die auch eine Revolution des Transportwesens mit sich brachte. Ausgangspunkt war die Erfindung des Verbrennungsmotors in Form der Dampfmaschine – durch sie wurde die Tür zur Schatzkammer der fossilen Energieträger weit aufgestoßen. Neben der plötzlichen Leistungssteigerung brachte die Dampfmaschine auch die Unabhängigkeit von Jahreszeiten, Winden, Strömungen und Muskelkraft und damit einen Zuwachs an Planbarkeit, Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit. In ihrem Zusammenspiel waren diese Neuerungen von so grundstürzender Dynamik, dass wir das Ausmaß der Umwälzungen, die sie in allen Bereichen des Lebens mit sich brachten, heute wohl nur mehr schwer nachvollziehen können. Die industrielle Revolution hätte sich ohne die zeitgleiche Industrialisierung des Transportwesens wohl ebenso wenig entfaltet wie der moderne Kapitalismus, dessen Eisenbahnen und Dampferlinien einen globalen Markt erschlossen und es möglich machten, sich der Rohstoffe und Arbeitskräfte aus allen Teilen der Welt zu bemächtigen. Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr fossil angetriebenen Verkehrsmittel, allen voran die Eisenbahnen und Dampfschiffe, dienten der Integration ganzer Nationen und immer weiter gespannter Wirtschaftsräume. Im Übergang zum 20. Jahrhundert folgten weitere Beschleunigungsinnovationen in immer rascherer Folge: Der Elektromotor erlaubte die Umstellung des Betriebs von S- und Straßenbahnen von Dampf- und Pferdekraft auf elektrischen Strom, später wurde ein nicht unerheblicher Teil der städtischen Logistik zur Feinverteilung von Waren und Gütern mit elektrisch angetriebenen Transportern abgewickelt. Die zweite Erfindung des Verbrennungsmotors als Otto- und Dieselkraftmaschine entwickelte sich schließlich zur wohl folgenreichsten Beschleunigungsinnovation der fossil-industriellen Phase. Im Stadtverkehr ersetzte das Automobil die Pferdekutsche und eroberte mit den Jahrzehnten auch immer weitere Teile des Überlandverkehrs. Nach der ersten Suburbanisierungsphase der Metropolen mit neuen Stadtteilen entlang von S- und Hochbahnstrecken wurden die dazwischen liegenden Räume mit Hilfe von Straßenbahnen und Kraftomnibussen erschlossen. Eine zweite Phase der Suburbanisierung, die Entwicklung großer Eigenheimsiedlungen an den Stadträndern, wurde seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vom Automobil ermöglicht und geprägt. Heute ist die Automobilität im Güter- wie im Personenverkehr die dominierende individuelle Fortbewegungsform für kurze und mittellange Distanzen in allen industrialisierten Gesellschaften, während der Luftverkehr den internationalen Personentransport im Geschäfts- und Freizeitverkehr dominiert und die Tanker- und Containerschiffflotten das Rückgrat der globalisierten Ökonomie bilden. Allen diesen Beschleunigungsinnovationen ist gemeinsam, dass sie direkt oder indirekt auf die ökologisch wie geopolitisch zunehmend problematische Nutzung großer Mengen fossiler Energie angewiesen sind, meist in Form von Erdöl, dessen jährliche Weltproduktion überwiegend vom Verkehr verbraucht wird. Schon jetzt ist abzusehen, dass die wissenschaftlichen und technologischen Bemühungen, dieses Problem zu lösen, die dritte Phase der Entwicklung von Beschleunigungsinnovationen stark prägen werden.

Brennstoffzellen, Elektromobilität und Solarenergie: Die Entwicklung der postfossil-solaren Beschleunigungsinnovationen

R. Buckminster Fuller hat in seinem Essay Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde (1973: 31ff.) ein treffendes Gleichnis aufgestellt. Die Erde, so Fuller, sei ein Raumschiff und die fossile Energie gleichsam das Geschenk einer der Menschheit mitgegebenen »Anlasserbatterie« für das Raumschiff. Diesen kostbaren Schatz gelte es sorgsam einzusetzen, um auf einem zivilisatorisch wie technologisch hochentwickeltem Niveau den eigentlichen Motor des Schiffs in Schwung zu bringen und dann dauerhaft mit diesem zu fliegen. Als Hauptmotor kam für Fuller nur die Nutzung regenerativer, also letztlich solarer Energie in Frage, mit der das Schiff von seiner Sonne dauerhaft bestrahlt wird. Will man den Gedanken Fullers fortführen, so waren die Phasen der organischen und der fossilen Entwicklung der Zivilisation kein Fehler oder Irrweg, wie es von manchen fundamentalökologischen Kritikern dargestellt wird, sondern notwendige Phasen der Modernisierung, um ein Niveau von gesellschaftlicher Klugheit zu erreichen und ein Set an wissenschaftlichen, technologischen und ökonomischen Handlungsoptionen zu entwickeln, die nötig sind, um in einem nächsten großen zivilisatorischen Schritt mit Hilfe regenerativer Energie ein hohes Maß an individueller wie gesellschaftlicher Wohlfahrt und Lebensqualität mit einem dauerhaften und globalen ökosystemischen Gleichgewichtszustand zu verknüpfen.

 

Zu Beginn dieses Jahrhunderts sind zumindest einige Voraussetzungen für diesen Schritt gegeben. Blickt man nur auf das technologische Potential, so sind mit Windkraft, Wasserkraft, Wellen- und Gezeitenkraftwerken, mit Geothermie, Biomasse, Solarthermie und Photovoltaik vielfältige, den jeweiligen regionalen geologischen und meteorologischen Bedingungen angepasste Technologien bereits verfügbar, um große Mengen an Energie aus regenerativen Quellen zu gewinnen und in Form des Energieträgers Strom universell nutzbar zu machen. Um den fossilen Entwicklungspfad der Mobilität zu verlassen, werden gegenwärtig Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen zur durchgängigen Elektrifizierung des Verkehrssektors unternommen. Die Vorteile der Nutzung regenerativ erzeugten Stroms liegen dabei auf der Hand: Erstens werden große Teile des urbanen und interurbanen öffentlichen Verkehrs – zumindest in Europa – bereits elektrisch betrieben, so dass die notwendige Infrastruktur nicht ausgebaut und nicht von Grund auf neu geschaffen werden muss. Zukünftig sollte eine vollständige Elektrifizierung aller schienengebundenen Fahrzeuge und auch des urbanen Busverkehrs angestrebt werden. Zweitens muss auch für die Elektrifizierung des Pkw-Verkehrs keine vollständig neue Infrastruktur aufgebaut werden, da Stromleitungen flächendeckend vorhanden sind und im Zuge der in Deutschland verfolgten Energiewende ohnehin weiter ausgebaut werden müssen. Notwendig ist allein eine entsprechende Ladeinfrastruktur für batterieelektrische Fahrzeuge, während brennstoffzellenelektrische Fahrzeuge beispielsweise aus dem vorhandenen Gasnetz mit regenerativ erzeugtem Methangas versorgt werden könnten, das an Bord der Fahrzeuge mit Hilfe der Brennstoffzelle zu Strom für den Betrieb des Elektromotors umgewandelt wird. Gegenwärtig wird die Elektrifizierung der Automobilität vor allem von der Speicherproblematik behindert. Es gibt noch keine hinreichend sichere, leichte, leistungsfähige und dabei kostengünstige Batterietechnologie. Sowohl bei der regenerativen Bereitstellung von Energie, der Weiterentwicklung der stationären Speicher- und Verteilungsinfrastruktur sowie der Ladeschnittstellen als auch bei der mobilen Speicher- und Antriebstechnologie gibt es noch viele offene technische Fragen. Mit Blick auf die gegenwärtigen Forschungsergebnisse und die Forschungsdynamik kann man aber durchaus hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Im Vergleich der Investitionen an Zeit, Ingenieurskraft und Kapital, die in den vergangenen einhundert Jahren in die Optimierung der fossilen Verbrennungstechnologien geflossen sind, steht die Entwicklung der regenerativen Energie und der erneuerbaren Mobilitätstechnologien noch am Anfang, und eine auch weiterhin dynamische Entwicklung der Innovationskraft ist hier mit Sicherheit zu erwarten. Allerdings nur unter der Bedingung, dass die dafür nötigen energie- und forschungspolitischen wie unternehmenspolitischen Weichenstellungen in Richtung einer solaren Mobilitäts- und Energiekultur tatsächlich vorgenommen werden.

Schienen, Autobahnen und Datenhighways – Zur Geschichte der Vernetzungsinnovationen

Keine Eisenbahn ohne Schienen, kein Autoverkehr ohne Straßen und Autobahnen. Den Fokus auf antriebs- und fahrzeugtechnische Erfindungen zu legen verstellt oft den Blick auf die Tatsache, dass sich Beschleunigungsinnovationen letztlich bei allen Verkehrsarten nur im Zusammenspiel mit dem massiven Auf- und Ausbau von Infrastruktur- und Betriebssystemen durchsetzen konnten. Daher lässt sich die Geschichte der Mobilität auch als eine Geschichte der Verkehrsnetze schreiben. Von den ersten gepflasterten Straßen des Römischen Reiches, von den Eisenbahnschienen, die die Gründung und Integration der europäischen Nationalstaaten entscheidend mitbeförderten, über das sogenannte achte Weltwunder des nordamerikanischen Highwaynetzes, das internationale System von Flughäfen und Funkfeuern, Häfen und Schifffahrtsrouten bis hin zu den Datenautobahnen des Internets und die Verkehrssteuerung via Satellitenkommunikation – immer sind es Netzwerke aus Stahl, Asphalt, Beton, Kupfer und schließlich Glasfasern, die der ungehinderten Bewegung durch die unebenen, verstellten und widerständigen Räume der Natur die Bahn brechen. Diese Netzwerke sind es auch, die die Ressourcenintensität der modernen Mobilität mitbedingen. Je höher die Geschwindigkeit, desto größer der Bedarf an Flächen, Baumaterial, Maschinen und Energie für die Erzeugung von Fundamenten und Infrastrukturen und desto höher auch der planerische und logistische Aufwand von Kapital und Intelligenz. Insofern ist die Mobilisierung und Ermöglichung an der einen Stelle im Kern immer auch eine Festsetzung, Begrenzung und Immobilisierung von Geldern, Dingen und Möglichkeiten an einer anderen Stelle. Die Konflikte um Großbahnhöfe und Flugdrehkreuze speisen sich aus diesem Gegensatz, und sie werden sich zuspitzen in dem Maße, in dem weitere Mobilitäts- und Geschwindigkeitszuwächse unserer nunmehr hochmobilen und quasi mobilitätssaturierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht mehr als Erweiterungen von Freiheitsräumen und Lebensqualität wahrgenommen werden – wie in der Nachkriegszeit in Deutschland und gegenwärtig in China –, sondern nur noch als marginale Verbesserungen in einem teuer erkauften Grenzkostenbereich.

 

Wenn heute über Vernetzung gesprochen wird, so ist meist von Datennetzwerken und Kommunikationssystemen die Rede. Historisch betrachtet, ist der Aufbau von Kommunikationsnetzen untrennbar mit der Entwicklung von Verkehrssystemen verbunden, insofern die planmäßige Steuerung dieser Systeme immer auch eine sichere und leistungsfähige Kommunikation erforderte. So begleitete die Telegraphie die Eisenbahn wie die Funktechnik den Luftverkehr und die Schifffahrt. Heute dient die satellitengestützte Kommunikation und Navigation der Optimierung fast jeder Form von Mobilität. Ob iPhone oder Navi – mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des Daumens klinken wir uns in die rasenden Datenströme unserer Gegenwart ein. Während wir im Zug oder zu Fuß unterwegs sind, mobilisieren und beschleunigen wir zugleich Myriaden von Daten zwischen Himmel und Erde, damit wir den richtigen Weg finden, während der Reisezeit unterhalten sind, unsere Finanzgeschäfte regeln oder unserer Arbeit nachgehen können. Insofern ist fast jede Bewegung heute zu einer Doppelbewegung von Körper und Daten, einer Bewegung zur Mehrbewegung, einer Potenzierung von Kraft und Zugang geworden, wie sie vor wenigen Jahrzehnten noch nicht auszumalen war. Und diese Entwicklung der durchgängigen Vernetzung im Sinne einer Digitalisierung der Mobilität wird noch weiter massiv an Fahrt aufnehmen.

Mobilität im goldenen Käfig

Den Ansprüchen detailbewusster Kenner der Materie wird die voranstehende Darstellung nicht genügen. Ziel dieser Darstellung war nicht das vollständige Bild, das in den umfangreichen Kompendien der Verkehrshistoriker facettenreich und spannend niedergelegt ist. Vielmehr ging es darum, in einem kompakten Überblick zu beschreiben, wie sich die Praktiken der Raumüberwindung mehr und mehr zu einem gigantischen Netzwerk aus Geräten, Infrastrukturen, Raummustern, Zeitmustern und Verhaltensgewohnheiten ausgebildet haben, das für die Freiheiten und Möglichkeiten der modernen Kultur fundamental wurde. In Auseinandersetzung mit seiner inneren und äußeren Natur hat der Mensch seine Umwelt geprägt und festgeschrieben. Jeder verbaute Stein, jeder Meter Asphalt, jede Tonne Schienenstahl, jeder Hafen, Flugplatz, Bahnhof, jede Produktionsanlage und jede Siedlung wurde so auch zum Datum der zukünftigen Entwicklung. Der Verkehrsökonom Fritz Voigt (1953: 199ff.) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der »Anteludialeffekte« für die Gestaltungswirkungen von Verkehrsmitteln, die durch »Festlegungen« hervorgerufen wurden, »die seinerzeit vielleicht berechtigt gewesen sein mögen, sich aber seitdem bei möglicher oder tatsächlicher Verbesserung der Verkehrswertigkeit als Fessel oder Gegenkraft gegen die Tendenz der Entwicklung der Grundstruktur auswirken«. Mit anderen Worten: Ein Verkehrssystem, das einmal existiert, kann nicht ohne weiteres wieder beseitigt werden. Gleiches gilt für die mentalen Dispositionen des modernen Menschen. Jede Handlung, jeder Gedanke, jede stetig erregende Emotion trägt zur Ausprägung mentaler Muster bei, und diese werden umso stabiler und widerständiger gegenüber Veränderungsbemühungen, je häufiger sie getätigt, gedacht und empfunden und je mehr Generationen in ihrem Sinne sozialisiert wurden. Handlungen werden zu Gewohnheiten und Gewohnheiten zu Institutionen, die beharrungsmächtiger sein können als stählerne Infrastrukturen. Das gilt immer und überall, auch für Veränderungen der Mobilitätskultur. Wer also Verkehrspolitik betreiben will, wird stets gewahr sein müssen, welch große Macht die Anfänge über die Zukunft haben.

 

Der makroskopische Blick auf die Geschichte offenbart also, wie sich das Gewebe der Freiheit der Mobilität zugleich zu einem der stabilsten »Gehäuse der Hörigkeit« (Max Weber 1988[1920]: 203) in unserer fossil-industriellen Kultur entwickelte, aus dem zu entrinnen heute wohl so nötig geworden ist wie noch nie und doch so schwerfällt wie die Suche nach dem Ausweg aus einem goldenen Käfig. Andererseits hat sich gezeigt, dass die technologischen Startbedingungen für das »Raumschiff Erde« (Fuller 1973: 31ff.) womöglich so günstig liegen wie nie zuvor. Was Fuller nicht in Betracht gezogen hat, war jedoch, dass es einerseits an der nötigen politischen Klugheit mangeln könnte, andererseits das Momentum der kulturellen Pfadabhängigkeit des einmal eingeschlagenen – fossilen – Entwicklungsprinzips sich ökonomisch und kulturell viel mächtiger erweisen würde als von ihm erwartet. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob es in Zukunft wirklich noch ausreichen wird, allein technologische Funktionsäquivalente zur postfossilen Befriedigung gegebener Bedürfnisse der Mobilität zu suchen, ohne das mittlerweile sehr hohe Niveau dieser Bedürfnisse und Ansprüche selbst in Frage zu stellen. Womöglich liegen die zukunftsfähigsten Lösungen der Mobilitätspolitik eher im Bereich sozialer und kultureller Entschleunigungsstrategien als allein in einer Fortführung der bekannten technologischen Effizienzoptimierung unter solaren Vorzeichen. Mit dem Blick in die mögliche Zukunft der Mobilität werden im folgenden Kapitel weitere Informationen und Bewertungskriterien zur Beantwortung dieser Fragen geliefert.

Kapitel IIZukunftstrends der Mobilität