Totensee - Michael Kibler - E-Book

Totensee E-Book

Michael Kibler

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Beschreibung

Auf dem Grund eines Badesees wird ein alter Mercedes entdeckt, darin die sterblichen Überreste zweier Menschen. Als sich herausstellt, dass das junge Paar seit den Achtzigerjahren verschwunden ist, stehen Steffen Horndeich und seine Kollegin Margot Hesgart von der Darmstädter Mordkommission vor vielen offenen Fragen. Doch dann wird in einem stillgelegten Zivilschutzbunker eine weitere Leiche gefunden – ein Mann aus Berlin wurde erschossen. Wo zunächst kein Zusammenhang scheint, entdeckt Horndeich schon bald eine Parallele. Und er bemerkt: Erst vor wenigen Tagen hatte er selbst mit dem Mann gesprochen …

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Für Nuf

ISBN 978-3-492-30044-5

Originalausgabe

Dezember 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Gregor Schuster/getty images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

FREITAG, 19. SEPTEMBER

»Notruf Polizei Darmstadt, Süllmeier.« Süllmeier sah auf die Uhr. Kurz vor sechs. Bald wäre die Nachtschicht in der Polizeieinsatzzentrale endlich vorbei. Manchmal, so wie heute, verfluchte er es, den Lehrgang zur Arbeit in der Einsatzzentrale zusätzlich absolviert zu haben. Wenn Not am Mann war, wurde er immer wieder eingesetzt – und er hasste diese Nächte mit dem Headset auf dem Kopf.

»Da sind zwei Leichen in dem Auto.«

»Mit wem spreche ich bitte?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Nennen Sie mir bitte Ihren Namen.«

»Ich sagte schon, der ist jetzt nicht wichtig. Aber da sind die beiden Leichen in dem Mercedes.«

Süllmeier tippte: Junger Mann, zwischen zwanzig und dreißig. »Herr …«

»… auf dem Rücksitz. Haben Sie was zu schreiben?«

»Ja natürlich.«

»Ich gebe Ihnen jetzt die Koordinaten durch, wo Sie die Leichen finden.«

Süllmeier sah auf das Display: Die Telefonnummer stammte von einem Handy. Wahrscheinlich hatte der Schlaumeier »Rufnummer unterdrücken« eingestellt, nicht wissend, dass das bei eingehenden Notrufen nichts brachte: Die Nummer wurde immer angezeigt. Deshalb hakte Süllmeier auch nicht weiter nach. »Okay, schießen Sie los.«

»Nördliche Breite 49 Grad, 53 Bogenminuten und dann noch 54,22 Sekunden. Östliche Länge: acht Grad, 44 Minuten und 8,81 Sekunden.«

Süllmeiers Frau hatte ihren Mann oft gefragt, wieso er dieses blöde Geocaching als Hobby betreibe, bei dem er völlig belanglosem Krimskrams quer durch die Natur nachspürte. Spätestens jetzt konnte Süllmeier das seiner Frau erklären: Ohne seine Grundkenntnisse in Navigation, zu denen auch gehörte, Koordinaten nach Längen- und Breitengraden unterscheiden zu können, inklusive der feineren Einteilungen in Bogenminuten und Bogensekunden, wäre für ihn die Beschreibung des Unbekannten am Telefon nur ein böhmisches Dorf gewesen. Süllmeier lächelte.

»Haben Sie das?«, fragte der Fremde.

»Ja, habe ich«, antwortete der Polizeikommissar. Er wollte gerade dazu ansetzen, den Mann noch einmal nach seinem Namen zu fragen, als er ein Klacken in der Leitung vernahm. Der Kerl hatte das Gespräch beendet.

Süllmeier überlegte kurz. Dann entschied er sich dafür, zunächst die Koordinaten zu überprüfen. Er gab sie in das Kartensystem des Polizeirechners ein und staunte nicht schlecht. Der Ort befand sich tatsächlich innerhalb der Stadtgrenzen Darmstadts. Süllmeier hatte erwartet, dass die Angaben ihn zu einer Stelle irgendwo im Wald führen würden. Dem war aber nicht so. Die Koordinaten zeigten mitten ins Wasser des Badesees Grube Prinz von Hessen.

Die Villa lag kurz vor dem Ende des Seiterswegs. Beneidenswert, dachte Margot Hesgart, Polizeihauptkommissarin bei der Mordkommission in Darmstadt. Nicht, dass sie mit ihrem Häuschen im Komponistenviertel unzufrieden gewesen wäre, aber diese Luxusvillen übten schon eine Faszination auf sie aus. Zumal man durch die Gartentürchen hinter dem Haus direkt zur Rosenhöhe und dem Oberfeld gelangte, Spazierwiese und Refugium seit jeher.

Vor der Doppelgarage stand ein Landrover neueren Baujahrs, und schon der erste Blick auf den Wagen offenbarte, dass jemand sehr großzügig die Häkchen auf der Liste der Sonderausstattungen verteilt hatte. Dazu passte auch das Kennzeichen, das den Besitzer als Inhaber diplomatischer Vorrechte auswies. Allein die Dreckspuren an den Radkästen – für gewöhnlich eher Adelstitel eines echten Geländewagens – wirkten deplatziert.

Bernd Süllmeier war etwa zehn Jahre jünger als Margot. Sie hatte den Kollegen der Schutzpolizei in den vergangenen Jahren an unterschiedlichen Tatorten immer wieder getroffen. Süllmeier war so groß, dass er aus reiner Vorsicht immer ein wenig den Kopf einzog, wenn er durch einen Türrahmen ging. Margot schätzte ihn auf knapp zwei Meter. Er hatte direkt bei ihr angerufen, nachdem er den seltsamen Anruf entgegengenommen hatte, und ihr mitgeteilt, dass er den Eigner des Handys ausfindig gemacht habe und ihm jetzt einen Besuch abstatten werde. »Ich habe nicht den Eindruck, dass der Kerl am Telefon nur einen schlechten Witz machen wollte«, hatte er gesagt.

Er hatte den Namen des Handybesitzers – Jonathan Wiesner – sofort durch den Polizeicomputer gejagt, aber keinen Treffer gelandet. Als er den Namen jedoch in die Suchmaschine des Internets eingegeben hatte, fand er schnell ein Bild des jungen Mannes: Wiesner war vierundzwanzig Jahre alt, studierte in Darmstadt Elektrotechnik, und – wohl der wichtigste Hinweis – er war Hobbytaucher. Den Kommentaren auf seiner Facebook-Seite nach nicht einmal ein schlechter.

Margot hatte ohnehin Bereitschaftsdienst, war wenige Minuten vor Süllmeiers Anruf aufgestanden und hatte sich entschlossen, Süllmeier zu begleiten. Der drückte nun auf den messingfarbenen Klingelknopf, der unter dem gravierten Schild mit dem Schriftzug des Nachnamens prangte.

Wenig später tönte aus der Gegensprechanlage: »Ja bitte?«

Margot sprach: »Kriminalhauptkommissarin Hesgart und Polizeikommissar Süllmeier – dürften wir bitte mit Ihnen sprechen?«

Ein deutliches Knacken war in der Gegensprechanlage zu vernehmen, dann herrschte Stille.

Margot wartete fünfzehn Sekunden, dann drückte sie den Klingelknopf erneut. In dieser Stellung beließ sie den Daumen, bis nach etwa fünfzehn Sekunden abermals die Stimme aus dem kleinen Lautsprecher ertönte: »Ich muss Ihnen nicht aufmachen.«

»Nein, das müssen Sie natürlich nicht. Wir können uns gern auch durch die Gegensprechanlage unterhalten. Es würde Ihnen und uns die Sache nur wesentlich vereinfachen, wenn Sie jetzt einfach die Tür öffnen und wir von Angesicht zu Angesicht über die beiden Leichen in dem Mercedes reden könnten.«

Wieder das nun schon vertraute Knacken. Dann die ebenfalls vertraute Stille.

Margot seufzte. Und brachte ihren Daumen wieder in Position.

»Ich muss nicht mit Ihnen sprechen!«, gellte die Stimme aus dem Lautsprecher.

»Und ich muss meinen Daumen nicht von der Klingel nehmen«, antwortete Margot gelassen.

Zehn Sekunden später ertönte der Türsummer, der das Gartentürchen öffnete und den Weg zum Haus freigab.

»Sie machen das ganz schön geschickt«, sagte Süllmeier.

Üblicherweise tätigte Margot solche Besuche gemeinsam mit ihrem Kollegen Steffen Horndeich. Allerdings hatte der keine Bereitschaft. Sollte sich dieser Besuch hier als Flop erweisen, hätte sie ihn nicht umsonst aus dem Bett gescheucht. Und wenn da was dran war an der Geschichte von den Leichen, dann wäre Horndeich ohnehin in anderthalb Stunden im Büro.

Margot und Süllmeier mussten noch einige weitere Sekunden vor der Haustür ausharren, bevor auch diese geöffnet wurde. Die Tür führte in einen großzügigen Flur. Der Boden war gefliest, die Wände mit Rauputz versehen. Unter einem Rokoko-Spiegel stand ein antikes Flurschränkchen. Die Garderobe schien mit ihrem glänzenden Messing anzudeuten, dass sie eigentlich lieber aus Gold gewesen wäre. Und zwei Schwerter an der Wand unterstrichen die Dekadenz der Hausbesitzer.

Der junge Mann, der nun die Treppe herunterschritt, passte so gar nicht ins Bild. Er war barfuß, trug eine Jeans um die hagere Taille und ein schlabbriges, ausgewaschenes T-Shirt mit der Aufschrift Yo, Mr. White!. Ein Haargummi hielt die Haarpracht im Zaum, wobei Margot sofort erkannte, dass große Teile zu Dreadlocks gefilzt waren. Mr. White konnte glatt als eurasischer Bob Marley durchgehen.

»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte der junge Mann; die Überraschung, die sich in seinem Gesicht abzeichnete, war offensichtlich echt.

»It’s a kind of magic«, intonierte Bernd Süllmeier leise den alten Queen-Song und schnippte mit den Daumen – etwas, was Margot ihm gar nicht zugetraut hätte.

Ein zweiter Mann kam die Treppe herab. Er schien ungefähr im gleichen Alter zu sein. Auch seine Statur war schlank. Er trug ebenfalls Bluejeans und ein gleichfalls graues T-Shirt, das sich nur im Aufdruck unterschied. Das Bild zeigte das Phantombild eines Mannes mit Sonnenbrille und schwarzem Filzhut, dazu die Überschrift Heisenberg, wobei die ersten beiden Buchstaben in einem grünen Quadrat abgebildet waren; He, wie beim Symbol des Elements Helium im Periodensystem. Doch wenn Margot sich recht erinnerte, war Heisenberg der Name eines berühmten Physikers.

»Ich hab dir gleich gesagt, das ist ’ne saudumme Idee, dass du die Bullen von deinem Handy aus anrufst!«

Mr. White wandte sich an Heisenberg: »Ich hab keine Ahnung, wie die auf uns kommen konnten!«

Süllmeier seufzte. »Wenn ich das kurz erklären dürfte: Sie haben die Rufnummer Ihres Handys unterdrückt, und das funktioniert auch, wenn Sie mit anderen Netzteilnehmern telefonieren. Das funktioniert aber nicht, wenn Sie eine Notrufnummer wählen. Könnte ja sein, dass Sie überfallen worden sind und nichts mehr sagen können. Dann ist es gut, wenn wir wissen, wem das Handy gehört. Oder Sie melden eine Leiche und haben keine Lust, Ihren Namen zu nennen. Auch so ein Fall, in dem das ganz praktisch sein kann. Hier sind wir also. Und würden gerne wissen, was es mit den Leichen im Badesee auf sich hat.«

Besser hätte Margot es auch nicht formulieren können.

Wenig später saßen sie im Wohnzimmer der Dachgeschosswohnung der Villa. Außer Heisenberg und Mr. White schien sich derzeit niemand im Haus aufzuhalten. Die Wohnung gehörte Jonathan Wiesner, seine Eltern bewohnten die beiden Stockwerke darunter. Ein süßlicher Duft entströmte Tapeten, Möbeln und den Bezugsstoffen des roten Sofas und der drei grünen Sessel. Hier wurde ganz offensichtlich nicht nur am Wochenende ein Tütchen geraucht. Erst nachdem Margot den Zaubersatz gesagt hatte – »Ihr Marihuanakonsum interessiert uns im Moment in keiner Weise« –, wurden Heisenberg und Mr. White lockerer. Heisenbergs Name im richtigen Leben war Thorsten Born. Margot fragte sich, ob Born mit dem lustigen T-Shirt sich dessen bewusst war, dass er den Nachnamen eines weiteren berühmten Physikers trug.

Margot sah sich im Raum um. Heisenbergs T-Shirt-Motiv fand sich nochmals als großes Poster an der Wand von Mr. White wieder, in gelben Farben gehalten und mit der martialischen Aufschrift I am the one who knocks!. Dann entdeckte Margot den fleckigen Kaffeepott neben der Tastatur. Auch darauf war ein Porträt von Heisenberg gedruckt, daneben der Schriftzug Breaking bad. Offensichtlich waren dies alles Devotionalien für die gleichnamige Fernsehserie. Der Rest des Zimmers war mit Möbeln bestückt, die Wiesner wahrscheinlich im Alter von zwölf von seinen Eltern spendiert bekommen hatte. Allein die Unterhaltungselektronik deutete darauf hin, worin Jonathans Geld investiert worden war. Die Lautsprecherboxen waren groß, der Flachbildschirm noch größer, und auf dem Schreibtisch standen drei Monitore und zwei Laptops. Neben dem Schreibtisch ein Gerät, das Margot zunächst für eine Discobeleuchtung gehalten hatte, das aber beim näheren Hinsehen eindeutig die Züge eines Rechners im Tower-Gehäuse trug.

»So, dann erzählen Sie mal«, forderte Margot Mr. White und Heisenberg auf.

»Sie müssen das nicht meinen Eltern erzählen, oder?«, leitete Jonathan Wiesner das Gespräch ein.

Der junge Mann wandelte nun schon fast ein Vierteljahrhundert auf dieser Erde. Und seine größte Sorge war, dass man seine Untaten den Eltern berichtete? Wo war sie hier nur gelandet? »Erzählen Sie bitte erst mal, wo Sie wie irgendwelche Leichen gesehen haben.«

Mr. White sah zu Heisenberg, der zuckte nur mit den Schultern. »Wir waren heute Nacht am Badesee. Mit dem Wagen meines Vaters. Er arbeitet im Generalkonsulat der Niederlande in Frankfurt. Natürlich darf ich mit dem Wagen nicht fahren. Da versteht mein Vater keinen Spaß. Aber wir wollten unbedingt in der Grube Prinz von Hessen tauchen.«

Margot sah zu Heisenberg, fragte sich, welche Rolle der dabei spielte, entschied sich dann aber, diese Frage auf später zu verschieben. Stattdessen erkundigte sie sich bei Wiesner: »Warum wollten Sie dort tauchen?«

Jetzt ergriff Heisenberg das Wort: »Wir beide arbeiten an einem Projekt. Wir tauchen in den Seen Darmstadts, fotografieren das Ganze und planen, einen Bildband herauszubringen.«

»Seen in Darmstadt?«, hakte Süllmeier sofort nach.

»Ja, es gibt eine ganze Menge davon. Im Bürgerpark mit Wasser vollgelaufene ehemalige Tongruben, dann Richtung Traisa den See hinter dem Steinbruch-Theater, dann den ehemaligen Steinbruch an der Radrennbahn – da kriegt man so ein Buch ganz schnell voll.«

»Aber die Grube Prinz von Hessen – da ist doch überhaupt kein klares Wasser«, wandte nun Margot ein.

»Das ist richtig, es sei denn, Sie tauchen richtig tief, also unter die Sprungschicht von sechs Metern, und genau das haben wir gemacht. Die Schwebstoffe im Wasser, die befinden sich nur in den oberen Schichten direkt unter der Wasseroberfläche. Darunter ist das Wasser klar, auch wenn es stockdunkel ist. Aber wenn Sie in dieser Tiefe den Boden nicht berühren, sodass keine Dreckwolken aufsteigen, dann können Sie da mit entsprechenden Leuchten richtig gut sehen.«

»Und da haben Sie die Leichen entdeckt? In einem Mercedes? Auf dem Grund des Sees?«

Heisenberg nickte, und Mr. White tat es ihm nach. »Die Grube Prinz von Hessen war mal ein Braunkohle-Tagebau. Vom Ersten Weltkrieg an bis 1924 wurde hier oberirdisch Kohle gefördert. Dann wurden der Abbau eingestellt und die Pumpen abgestellt, die das Grubenwasser fortschafften. Und die Zeche füllte sich schnell mit Wasser. Viele der ehemaligen Anlagen sind dort unten heute noch zu sehen. Die Eisengerüste von Förderbändern zum Beispiel. Und auch Eisengerüste von Gebäuden. Und deswegen wollten wir Fotos machen.«

»Und die haben Sie gemacht?«

»Ja.«

»Und dabei sind Sie auf einen Mercedes mit Leichen gestoßen?«

»Ja. Wir waren völlig baff. Die ganzen Anlagen sind ja alle ungefähr hundert Jahre alt. Aber der Mercedes – das ist ganz sicher ein Modell aus den Achtzigern. Zuerst haben wir den Wagen ignoriert, haben uns viel mehr für ein Förderband interessiert, bei dem die Metallstruktur noch richtig gut erhalten war. Erst dann sind wir zu dem Mercedes runter, und der liegt auf etwa zwölf Metern.«

»Und in dem Mercedes, da waren Leichen?«

Heisenberg übernahm wieder: »Ja. Zwei. Auf dem Rücksitz.«

Margot sah zu Süllmeier, dann zu Wiesner: »Und Sie haben Fotos davon gemacht?«

Wiesner blickte zu Heisenberg, doch bevor einer der beiden etwas sagen konnte, meinte Margot: »Zeigen!« Sie war sich nicht sicher, ob es nicht schon zu spät war. Ob die jungen Männer ihre tollen Fotos nicht bereits auf Facebook, Instagram, Twitter oder wo auch immer gepostet hatten, noch bevor sie, die Polizei, Gelegenheit gehabt hatten, sich den Wagen anzuschauen.

Wiesner ging zum Schreibtisch, griff nach dem Laptop und trug ihn an den flachen Couchtisch. Seine Finger flogen kurz über die Tastatur, dann zeigte er den Polizisten ein Foto.

Margot warf nur einen kurzen Blick darauf, dann griff sie zum Telefon.

Als Horndeich seinen Wagen von der Dieburger Straße auf den Waldweg lenkte, war es bereits 9:30 Uhr. Margot hatte ihn schon vor einer Stunde angerufen, er möge bitte sofort zum Südufer der Grube Prinz von Hessen kommen. Am Grund des Sees liege ein Auto mit zwei Leichen auf dem Rücksitz.

Und dann war alles auf einmal gekommen. Stefanie war wieder aufgewacht und hatte geweint. Horndeichs Tochter war inzwischen drei Jahre alt und durchlebte gerade eines der Highlights jeder Kindheit: Windpocken. Wobei Horndeich sich nach inzwischen vier fast schlaflosen Nächten nicht so ganz sicher war, wer derzeit mehr litt, Stefanie oder ihre Eltern. Für gewöhnlich verabschiedete sich Horndeich um diese Uhrzeit zum Dienst, küsste seine Frau, küsste seine Tochter, griff zur Jacke und ging. Doch seine Frau Sandra hatte die Nacht im Badezimmer verbracht und sich mehrfach übergeben – auch sie war alles andere als gesundheitlich auf der Höhe. So war Horndeich in dieser Nacht zwischen Kinderbett und Badezimmer hin- und hergependelt, mal rote Pusteln betupfend, mal seine Frau im Arm haltend. Nachdem Margot sich bei Horndeich gemeldet hatte, hatte Sandra gleich bei ihrer Mutter angerufen. Horndeichs Schwiegereltern wohnten nicht weit von Darmstadt entfernt in Büttelborn. In solchen Momenten war Horndeich darüber sehr froh. In solchen Momenten wohlgemerkt. Seit Stefanie krank war, hatten die Schwiegereltern auch den Familienhund Che zu sich genommen, einen ausgesprochen gut erzogenen und liebenswerten Chihuahua.

Zwei Kollegen der Schutzpolizei hoben das Absperrband an, und Horndeichs auberginenfarbener Mazda Xedos 9 rollte darunter hindurch. Viel weiter konnte Horndeich nicht fahren, denn überall standen bereits Fahrzeuge der Polizei. Er stellte den Wagen ab und ging die restlichen hundert Meter zur südöstlichen Ecke des Sees zu Fuß.

»Moin«, begrüßte ihn Margot. »Nicht viel Schlaf gekriegt heute Nacht, was?«

Horndeich winkte ab. »Was haben wir hier?«

Margot fasste nochmals kurz die Fakten zusammen, dann sagte sie: »Jetzt gehen die Taucher gleich runter.«

Unmittelbar neben Horndeich stand der grüne MAN-Laster mit der Aufschrift Polizeitaucher. Direkt dahinter ein Landrover, davor ein grüner Unimog mit Schaufel an der Frontseite und Kranaufbau am Heck. Die Kollegen der technischen Einsatzeinheit – kurz: TEE – aus Mühlheim am Main waren offensichtlich für jede Situation gerüstet.

»Und du bist sicher, dass da unten zwei Leichen sind?«

Margot antwortete nicht, sondern wischte ein paarmal auf der Glasfläche ihres Tablets. »Hier siehst du sie«, sagte sie und hielt ihm den flachen Computer unter die Nase. »Haben unsere Hobbytaucher für uns aufgenommen.«

Offensichtlich verfügten die beiden jungen Männer, von denen Margot berichtet hatte, über eine gute Fotoausrüstung, denn das Bild war gestochen scharf. Zu sehen war der Schädel eines Menschen, der auf dem ausladenden Kragen eines Rollkragenpullovers ruhte. Das Bild wirkte surrealistisch, denn der Hals, der für gewöhnlich den Abstand zum Kragen wahrt, fehlte.

»Tauchtiefe elfeinhalb Meter«, ergänzte Margot.

Ein Hüne von einem Mann, über zwei Meter groß, kam auf Margot und Horndeich zu. »Wir wären jetzt so weit«, meinte er. Er wandte sich an Horndeich: »Thorsten Becho, ich leite hier die Tauchergruppe.«

Horndeich reichte ihm die Hand.

»Bitte geben Sie uns noch mal die genauen Koordinaten«, sagte Becho zu Margot.

Sie nannte sie, und der Hüne gab die Daten in sein GPS-Gerät ein. Dann meinte er: »Wenn Ihre Informanten recht haben, liegt der Wagen rund fünfzig Meter vom Ufer entfernt. Wir fahren jetzt mal mit einem Schlauchboot raus. Mein Kollege Gisbert« – er deutete auf einen rothaarigen Wuschelkopf – »macht die Dokumentation. Wir sind mit ihm in ständigem Funkkontakt. Wenn Sie sich neben ihn setzen, kriegen Sie alles mit – und können auch Fragen stellen.«

Der Wuschelkopf kam auf sie zu und hatte drei Campingstühle unterm Arm. Er klappte sie mit der Routine eines Profis auf und stellte sie in die Nähe des Ufers. Am östlichen Ufer befand sich der Badebereich, an allen anderen Stellen wuchsen Bäume und Schilf, immer wieder nur von schmalen Stellen unterbrochen, die für Angler gerodet worden waren. An solch einer Stelle saßen sie nun.

Horndeich nahm das Angebot, sich auf einen Campingstuhl zu setzen, sehr gern an. Neben ihm ließ sich der Wuschelkopf nieder, neben diesem Margot.

Der Taucher, ein schmächtiger Bursche, hatte inzwischen den Taucheranzug angezogen. Gemeinsam mit Thorsten Becho und einem weiteren Kollegen stieg er in das Schlauchboot. Wenige Minuten später hatten sie vierzig Meter vom Ufer entfernt den Anker geworfen. Gisbert schaltete den kleinen Kofferverstärker ein. »Damit können wir jetzt alles hören, was der Taucher sagt«, meinte er und zog einen Schnellhefter aus der Tasche.

Horndeich sah, wie der Froschmann sich nach hinten ins Wasser fallen ließ, und beobachtete dessen Partner, der die Verbindungsleine zu seinem tauchenden Kollegen in der Hand hielt. Aus dem Lautsprecher hörte Horndeich die Bemerkungen des Tauchers, der immer tiefer nach unten schwamm. »Die Sicht ist schlecht«, meinte er, gefolgt von Angaben zur Tauchtiefe und anderem Taucherlatein, das Horndeich nicht interpretieren konnte.

Er selbst war einmal in der Karibik getaucht, wo er mit einer Freundin, an deren Namen er sich nicht mal mehr erinnern konnte, Urlaub gemacht hatte. Sie waren in einem All-inclusive-Ghetto abgestiegen. Was Horndeich nicht vergessen hatte, waren die zahllosen Streitereien mit dieser Freundin und das absolute Highlight: Er hatte sich eine Schnorchel-Ausrüstung geliehen und war ein wenig in die Bucht gepaddelt. Das Licht war fantastisch gewesen, und unter ihm waren all die bunten Fische ihrer Wege gezogen, die er sonst nur aus Unterwasserdokumentationen im Fernsehen kannte. Es war einfach unbeschreiblich gewesen, die schillernde Farbenpracht von Korallen und Fischen mit eigenen Augen zu sehen!

Horndeich wachte auf, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Vom Tagtraum war er fließend in den Schlaf hinübergeglitten. »Es wird interessant«, hörte er die Stimme seiner Kollegin.

»Ich sehe das Auto«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Sicht ungefähr drei Meter, Tauchtiefe neun Meter fünfzig. Muss noch ungefähr zwei Meter runter.«

Wenige Sekunden später war erneut die Stimme des Tauchers zu vernehmen: »Bin da.«

Der Wuschelkopf tauschte via Funk mit seinen Kollegen ein paar Informationen aus. Horndeich sah, dass er die »Checkliste Kfz« mit einigen Bemerkungen füllte.

»Was für einen Wagen siehst du?« Die Stimme des Leinenführers, der seinen Taucher im wahrsten Sinne des Wortes an der Leine führte.

»Das ist ein Mercedes. Ich sehe hier nur den Kofferraum. Moment – die Typenbezeichnung ist 230E.«

Der Wuschelkopf fragte: »Also eine E-Klasse?«

»Nein, das ist ein älteres Modell. Hat noch eckige Rückleuchten.«

Außerdem steht bei der E-Klasse das E vor der Zahl, korrigierte Horndeich in Gedanken. Und der jüngste Benz mit rechteckigen Rückleuchten war seiner Erinnerung nach die Baureihe W123, quasi der Enkel seines Flossen-Benz, der leider inzwischen das Zeitliche gesegnet hatte. Ein Oldtimer als Familienkutsche – das hatte leider nicht lange funktioniert.

»Ich kann auch das Kennzeichen erkennen«, klang die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher, die immer wieder durch das laute Schnauben von Einatmen und Ausatmen unterbrochen wurde. »WO – die beiden Buchstaben danach kann ich nicht lesen –, dann die Ziffern 337.«

Gisbert trug das Kennzeichen an der entsprechenden Stelle ein.

»Es ist ein Viertürer. Farbe wahrscheinlich rot, könnte auch braun sein, werden wir über Wasser sicher besser sehen.«

»Kannst du sonst noch was über den Wagen sagen?«

»Frag mich!«

»Lage?«

»Der Wagen steht auf allen vier Rädern, liegt also nicht auf dem Kopf oder so.«

»Zustand von Türen oder der Heckklappe?«

»Alles geschlossen, nur die Fahrertür ist geöffnet.«

»Scheiben?«

»Sind alle drin, bis auf die Heckscheibe.«

»Lenkung?«

»Soweit ich das sehen kann, zeigt die Lenkung geradeaus.«

»Getriebe?«

»Hä?«

»Ist ein Gang eingelegt?«

»Da muss ich erst reintauchen. Ich will aber zunächst von außen fotografieren.«

Ein paar Momente später meldete sich der Taucher wieder. »So, jetzt kommen die Details aus dem Inneren. Getriebe ist ein manuelles, der erste Gang ist eingelegt. Die Handbremse ist nicht gezogen, der Schlüssel steckt.«

»Irgendwas kaputt?«

»Nur die Heckscheibe. Aber der Wagen ist nicht grad in einem guten Zustand. Die beiden Typen auf der Rücksitzbank übrigens auch nicht.«

Horndeich sah, wie sein Nachbar Blätter im Schnellhefter austauschte.

»Zu den Leichen: Was kannst du da sagen?«

»Du bist echt gut!«

»Also?«

»Was willst du wissen?«

»Ich meine, gibt es auf den ersten Blick Verletzungen, die du erkennen kannst?«

»Die haben keinen Hals mehr.«

»Wie?«

»Die beiden Köpfe liegen direkt auf dem Kragen. Bei einem der Kragen eines Rollkragenpullovers, bei der anderen Leiche auf dem Kragen von etwas, was auf den ersten Blick wie die Überreste einer Jacke aussieht. Da ist nichts mehr übrig außer Knochen.«

Der Wuschelkopf schwieg. »Okay. Dann sieh mal nach, ob du in dem Wagen noch irgendwas Wichtiges findest.«

Kurz herrschte Schweigen in der Leitung, dann ertönte wieder die Stimme des Tauchers: »Ich hab eine Pistole gefunden.«

Gisbert hakte nach: »Wo?«

»Im Fußraum auf der Beifahrerseite. Ich fotografiere sie, dann pack ich sie ein.«

Wenig später sagte der Taucher: »Ich bin jetzt durch. Außer der Pistole keine weiteren relevanten Gegenstände, also eine Handtasche oder so was. Ich hab auch die Fahrertür geschlossen, dann kann bei der Bergung nichts rausgespült werden. Jetzt tauche ich auf und hole die Bergesäcke.«

Bergesäcke, ließ sich Horndeich erklären, waren riesige Luftmatratzen, die Taucher an schwere Gegenstände unter Wasser anschnallten. Dann wurden sie aus Pressluftflaschen von Land über einen Schlauch mit Luft befüllt. So hob sich das versunkene Objekt dann langsam an die Wasseroberfläche.

Es dauerte noch rund fünfundzwanzig Minuten, dann sah Horndeich, wie das Dach des Mercedes, flankiert von zwei großen gelben Luftsäcken, aus dem Wasser auftauchte.

»Wir ziehen das jetzt langsam an Land, dann holen wir die Karosse ganz raus«, erklärte Thorsten Becho.

»Na, da komme ich ja gerade rechtzeitig«, hörte Margot die vertraute, aber nicht unbedingt geliebte Stimme des Frankfurter Gerichtsmediziners Martin Hinrich. »Das ist ja mal eine richtige Überraschung. Die letzte gemeinsame Wasserleiche hatten wir, glaube ich, vor – gut zwei Jahren, oder?«

Margot und Horndeich hatten ihre Sitzplätze in der ersten Reihe aufgeben müssen, da der Unimog der Polizeitaucher ans Ufer fahren musste. Die Taucher hatten die Luft der Bergesäcke rund vier Meter vor dem Ufer abgelassen und die Hightech-Luftmatratzen danach abmontiert. Der Mercedes war sofort wieder in den Fluten verschwunden. Über ein Seil war er mit der Heckwinde des Unimogs verbunden. Das lauter werdende Motorgeräusch zeigte akustisch an, dass der Unimog den Wagen nun an Land zog.

»Da bekomme ich ja das gesamte Spektakel noch mit!«, frohlockte Hinrich. Margot konnte dessen Begeisterung nicht teilen. Sie warf einen Seitenblick auf ihren Kollegen Horndeich. Der schien jetzt im Stehen zu schlafen.

Es dauerte noch drei Minuten, dann durchbrach das Dach des Mercedes erneut die Wasseroberfläche, Sekunden später auch der Kofferraumdeckel. An dieser Stelle war das Ufer ziemlich steil. Zentimeter für Zentimeter gelangte der Wagen aus den Fluten ans Land. Margot erkannte auf dem Kofferraumdeckel die schwarze Silhouette eines Aufklebers. Die Form erinnerte an ein nach rechts geöffnetes Zahnseide-Gäbelchen. Dann identifizierte sie den Umriss: Es war einer jener früher einmal so beliebt gewesenen schwarzen Sylt-Aufkleber. Offenbar hatte sich der Sticker über Jahre hinweg unter Wasser gehalten. Thorsten Becho hatte ihr, kurz bevor Horndeich angekommen war, bereits erklärt, dass die tiefste Stelle des Sees fast vierzehn Meter unter der Wasseroberfläche lag. In den unteren Regionen hatte das Wasser nur noch sehr wenig Sauerstoff. Das schien neben dem Aufkleber auch dem Lack des Autos zugutegekommen zu sein. Die Lackierung war eindeutig rot.

»Der sieht ja noch richtig gut aus!«, meinte jetzt auch Thorsten Becho, der an ihre Seite getreten war. Während der Unimog den Wagen weiter aus dem See zog, drang aus allen Ritzen Wasser. Nachdem das gesamte Fahrzeug an Land stand, wollte Horndeich direkt die Fahrertür öffnen.

»Lassen Sie das besser«, stoppte ihn Becho. »Wenn Sie die Tür jetzt aufmachen, kommt Ihnen das restliche Wasser mit einem Schwall entgegen. Und spült Gegenstände raus, die noch im Auto liegen.«

Margot trat gemeinsam mit Hinrich ebenfalls an den Wagen. »Wollen Sie das Seil nicht lösen?«, fragte sie.

»Besser nicht«, sagte Becho. »Dann rutscht uns der Wagen geradewegs wieder zurück ins Wasser.«

Hinrich sah durch die Öffnung, in der früher mal die Heckscheibe gewesen war, in das Auto hinein. »Wo sind denn hier Leichen?«

»Auf dem Rücksitz«, antwortete Horndeich und machte damit klar, dass er auf seinem Campingstuhl nicht nur geschlafen hatte.

»Da ist gar nichts«, sagte Hinrich.

Auch Horndeich und Margot sahen in den Wagen – auf dem Rücksitz war tatsächlich nichts zu sehen. »Wo sind die denn hin?«, stellte Margot die vermeintlich blöde Frage.

»Zu viel Trubel hier, die sind fortgeschwommen.« Hinrich, wie er leibte und lebte.

In dem Moment stieß Silvia Rauch von der Spurensicherung zu der kleinen Gruppe hinzu. »Alle, die sich diesem Wagen jetzt nähern wollen: Bitte zieht euch die Overalls an.« Sie war mit gutem Vorbild vorangegangen und trug bereits den weißen Anzug und die blauen Überzüge über den Schuhen.

Wenige Minuten später tropfte es nur noch aus der Karosse. Bevor Silvia Rauch die linke Hecktür öffnete, versuchte sie, am Türgriff noch Fingerabdrücke zu gewinnen. Doch es zeigte sich, dass dies vergebliche Liebesmüh war. Sie öffnete die Tür – in der Tat war der Rücksitz völlig leer.

»Mit dem Trick sollten wir auftreten«, erklärte Hinrich lachend. »Der wundersame Leichenschwund – cooler Titel, oder?«

Als Silvia Rauch die vordere Tür öffnete, löste sich das Rätsel: Die Überreste der Skelette sowie die der Kleidung waren durch die Strömung beim Herausziehen des Wagens nach vorn gedrückt worden und lagen jetzt im vorderen Fußraum und unter den Vordersitzen.

Hinrich beugte sich hinein. »Okay. Eine der beiden war eine Frau.«

»Wow! Sie sind ja richtig in Form heute! Haben Sie den Beckenknochen gefunden und können ihn so mir nichts, dir nichts bestimmen?«

»Nein. Aber dieses Kleidungsstück hier war eindeutig einmal eine Nylonstrumpfhose. Kann natürlich auch sein, dass der Todeszeitpunkt der Christopher-Street-Day war und hier zwei Jungs liegen.«

Margot verdrehte nur die Augen und klopfte Horndeich auf die Schulter. »So, lass die erst mal ihren Job machen.«

Wie aus dem Nichts waren inzwischen zwei Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts herangetreten. Sie hatten zwei Zinkwannen mitgebracht, die sie nun unweit des Mercedes an der Böschung abstellten.

Silvia Rauch fotografierte zunächst den Wagen, dann sammelte sie gemeinsam mit Hinrich die Knochen und Kleiderreste der beiden Insassen ein.

Margot war inzwischen an das Heck des Fahrzeugs getreten. Bei Tageslicht konnte sie auch die beiden fehlenden zwei Buchstaben des Nummernschildes lesen. Sie griff zum Handy und rief in der Zentrale an, gab das Kennzeichen durch. »Wahrscheinlich ist das gar nicht mehr bei uns im System. Es sieht so aus, als hätte der Wagen mehrere Jahre hier im See verbracht.«

»Einen Moment bitte«, sagte die Kollegin am anderen Ende der Leitung. Wenige Sekunden später murmelte sie: »Sie haben recht, Kollegin. Ich hab den Wagen nicht im System. Er ist also nicht als gestohlen gemeldet.«

Margot beendete das Gespräch und rief beim Kraftfahrtbundesamt an. Wieder stellte sie die Frage nach dem Wagen und gab das Kennzeichen durch. Der junge Mann, der dort am Computer saß, sagte: »Ein roter Mercedes 230E mit diesem Kennzeichen. Viertürer. Ja, den habe ich im System. Aber der ist angemeldet. Hat sogar vor ein paar Wochen ein H-Kennzeichen als Oldtimer bekommen.« Er nannte Margot Name und Adresse des Fahrzeughalters – ebenso dessen Telefonnummer. Margot wählte sie und führte ein kurzes Gespräch.

»Komm mit«, sagte sie danach zu Horndeich. »Während die hier die Spuren sichern, gönnen wir uns einen kleinen Ausflug nach Worms.«

Der Hof lag ein paar Kilometer südlich der Stadtgrenze von Worms. Das Umland der Nibelungen-Stadt war flach und bestand zum größten Teil aus Ackerland. Der Hof lag jedoch in einem kleinen Wäldchen. Die Zufahrt war so gut zwischen den Bäumen versteckt, dass Margot zunächst daran vorbeifuhr und erst einige hundert Meter später wieder wenden konnte.

»Knuffig«, brachte es Horndeich auf den Punkt. Margot hatte ihm auf der Fahrt berichtet, dass der Besitzer des Wagens Rüdiger Kramer hieß. Er war Orthopäde – und hatte an diesem Freitag keine Sprechstunde, sodass er für die Beamten natürlich »eine halbe Stunde Zeit erübrigen konnte«, wie Margot zitiert hatte.

Die Zufahrt zum Hof führte rund hundert Meter in den Wald hinein. Dann öffnete sich eine Lichtung, und darauf befand sich der Hof. Auf Horndeich wirkte er wie ein Fort im Wilden Westen, umgeben von einer Mauer mit einem richtigen Hoftor als Einfahrt.

Rechts neben dem Tor waren zwei große Schilder angebracht. Auf dem einen stand Dr. Rüdiger Kramer – Orthopäde – Alle Kassen. Auf dem Schild darunter war zu lesen: Physiotherapeutische Praxis – Sieglinde Kramer. Na, wenn das keine Win-win-Situation war …

Die Gebäude waren in einem Karree angeordnet, und so wirkte der Innenhof noch größer, als es der Blick von außen hätte vermuten lassen. Margot parkte ihren Mini Clubman, der ihr jetzt auch schon einige Jahre treu diente. Beide stiegen aus. Horndeich hatte kaum die Beifahrertür geschlossen, als zwei Hunde auf ihn zugestürmt kamen. Ganz eindeutig rassereine Exemplare der Gattung »Einmal-die-Straße-rauf-und-runter«. Sie bellten nicht, sondern beschnupperten die Neuankömmlinge nur gründlich.

»Ah, da sind Sie ja«, sagte der Mann, der dem Mini-Rudel wenige Sekunden später folgte. Er reichte Margot die Hand. »Rüdiger Kramer«, fügte er hinzu. Margot übernahm ihren Teil des Vorstellungsrituals: »Kriminalhauptkommissarin Margot Hesgart und Kriminalhauptkommissar Steffen Horndeich.«

Kramer war groß und schlank. Obwohl er keine Sprechstunde hatte, trug er die klassische Ärzte-Uniform: weiße Stoffhose, weißer Kittel, weiße Crocs. Dazu eine Brille mit passendem schwarzem Horngestell. Allein der Dreitagebart brach das Klischee ein wenig. Horndeich schätzte Kramer auf um die vierzig Jahre. Er sah sich um. Eine Seite des Innenhofs wurde fast vollständig von einer Glasscheibenfront begrenzt. In Schemen konnte Horndeich dahinter regelmäßige Bewegungen wahrnehmen – offensichtlich war dort der Trainingsraum der Physiotherapeutin.

»Wir wohnen noch nicht lange hier«, erklärte Kramer, als er die beiden Beamten quer über den Hof geleitete. »Meine Frau, ich und die Kinder sind vor zwei Jahren aus der Stadt hierhergezogen. Da haben wir uns selbstständig gemacht. War schon ein gewisses Risiko, aber es läuft gut.«

Der Wohnbereich im Inneren des Hauses war in großen Teilen so belassen, wie er früher einmal gebaut worden war. Das hieß in der Praxis: Der großzügige Wohnraum wies auch mitten im Raum nach einem nicht auf den ersten Blick zu erkennenden System Fachwerkbalken auf. Der Boden war jedoch neu und eben.

Kramer bot den Polizisten etwas zu trinken an, und sie nahmen in der geräumigen Sitzecke Platz. Die Einrichtung war eher spartanisch; ein paar Gemälde hingen an der Wand, abstrakte Werke, in denen die Töne Knallrot und Weiß eindeutig die Vorherrschaft innehatten. Sie bildeten einen angenehmen Kontrast zum fast schwarzen Holz der Balken.

»Sie haben wegen des Mercedes angerufen«, kam Kramer zum Thema.

»Ja. Wir haben einen Mercedes aus einem See gezogen, der das Kennzeichen Ihres Wagens trägt.«

Kramer lächelte und zeigte dabei sein perfektes Gebiss. »Das ist wohl kaum möglich, denn mein Wagen war seit dem Tag, an dem mein Vater ihn gekauft hat, ununterbrochen auf ihn, danach auf meine Mutter und nun auf mich zugelassen.«

Das Kraftfahrtbundesamt hatte Margot den Datensatz zum Fahrzeug bereits zugeschickt, und Horndeich hatte ihn sich auf der Fahrt nach Worms angeschaut: Wie bereits anfangs vermutet – und wie es sich bestätigt hatte, nachdem der Wagen an Land gezogen worden war –, handelte es sich tatsächlich um die Baureihe W123. Die Bezeichnung 230E verriet, dass es sich um einen Vierzylinder-Einspritz-Motor mit 2300 Kubikzentimetern Hubraum handelte.

»Und Sie fahren den Wagen heute noch?«, wollte Horndeich wissen.

»Ja. Ist eine Liebhaberei. Aber eine alltagstaugliche.«

»Welche Farbe hat das Fahrzeug?«

»Dunkelrot. In der Mercedes-Sprache nennt sich die Lackierung Barolo-Rot.«

»Dürfen wir den Wagen sehen?«

»Klar, kommen Sie mit, er steht in der Scheune – also in unserer Garage.«

Sie gingen quer über den Hof. Die Scheune war mit einem antik wirkenden Rolltor verschlossen. Als Kramer es öffnete, glitt es leicht und geräuschlos zur Seite. Es gab keine Zwischenböden in der Scheune, sodass Horndeich das Dachgebälk sah, als er nach oben schaute.

Vor ihnen standen drei Fahrzeuge. Ein blauer VW Golf der aktuellen Baureihe, ein Renault Espace, ebenfalls in Blau, und der Mercedes. Horndeich ging einmal um das Auto herum. Es sah genauso aus, wie der Wagen aus dem Wasser einmal ausgesehen haben musste. Horndeich warf einen Blick hinein: »Lederausstattung?«

»Ja, was das angeht, war mein Papa etwas eigen. Wenn er irgendetwas nicht mochte, dann Kunststoffe. Er hat immer nur Baumwolle und Leder getragen und wäre nie auf die Idee gekommen, Autositze mit Bezügen aus Kunstfaser zu bestellen.«

Die Sitze des gefluteten Wagens waren in keinem guten Zustand gewesen. In Gedanken notierte sich Horndeich die Frage an die Spurensicherung, ob die Limousine aus dem Wasser ebenfalls Lederausstattung gehabt hatte.

»Ist Ihnen dieser Wagen irgendwann einmal gestohlen worden?«

»Nein. Da bin ich mir sicher.«

Margot deutete auf den Kofferraumdeckel. »Hatten Sie jemals einen Aufkleber der Insel Sylt auf Ihrem Wagen?«

Kramer runzelte die Stirn, sah Margot direkt an. »Ja. Woher wissen Sie denn das?«

»Bis wann klebte der dort?«

»Vor drei Jahren ist mir in Worms vor einer roten Ampel einer von hinten reingefahren. Die Versicherung bezeichnete es als Totalschaden, klar, bei dem Alter, ich hab also noch was draufgelegt und hab ihn wieder richtig herrichten lassen. Am Heck musste sogar etwas geschweißt werden. Also habe ich mich entschlossen, die Außenhaut komplett neu lackieren zu lassen, wenn auch in der alten Farbe. Und dabei fiel der Sylt-Aufkleber der Lackpistole zum Opfer.«

»Wann genau hat Ihr Vater den Wagen gekauft?«

»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: Wenige Tage vor dem 15. August 1985 hat er das Auto bekommen. Ich habe am 15. August Geburtstag, und an diesem Tag sind wir mit dem Wagen in Richtung Sylt aufgebrochen. Gleich bei dieser ersten Reise ist dann auch der Aufkleber auf dem Heck gelandet.«

SAMSTAG, 20. SEPTEMBER

Margot saß im Garten vor ihrem Haus und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Vor ihr standen ein halb volles Glas und eine Flasche mit Apfelschorle. Nach ihrem gestrigen Trip nach Worms hatten Horndeich und sie die beiden Hobbytaucher ins Polizeipräsidium bestellt und ihre Aussagen aufgenommen. Gerichtsmediziner Hinrich hatte sie wissen lassen, dass er ein wenig Zeit brauche, um die sterblichen Überreste der beiden Menschen aus dem Auto zusammenzupuzzeln. Genau so hatte er sich ausgedrückt. Das Einzige, was sie bisher mit Gewissheit sagen konnten, war, dass die beiden Insassen nicht aus freien Stücken in den See gefahren waren und dass sich ihre Überreste wohl schon Jahre auf dem Rücksitz befunden hatten. Auch Silvia Rauch hatte ihnen mitgeteilt, dass die Spurensicherung eine Weile dauern würde – allein schon, weil sie die Karosse erst einmal trocken kriegen mussten. Am Dienstag – also in drei Tagen – wollte sie einen vorläufigen Bericht fertig haben.

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