Totenstille über dem Lago Maggiore - Bruno Varese - E-Book
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Totenstille über dem Lago Maggiore E-Book

Bruno Varese

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Beschreibung

Mord hoch in den Bergen des Val Grande: Bruno Vareses Roman »Totenstille über dem Lago Maggiore« ist der dritte Band seiner erfolgreichen Krimi-Reihe um den ermittelnden Fleischer und ehemaligen Polizeipsychologen Matteo Basso. Über den wild bewachsenen Gipfeln und tiefen Schluchten des Nationalparks Val Grande braut sich ein Sommergewitter zusammen. Eigentlich wollte der melancholische Opern-Liebhaber Matteo Basso nur den sagenhaften Ausblick auf den Lago Maggiore genießen und über sein turbulentes Leben und die Beziehung zu Kommissarin Nina Zanetti nachdenken. Doch während es am Himmel immer finsterer wird, entdeckt er weit unten auf einem Felsen den leblosen Körper eines Mannes. Als er Hilfe holen will, trifft er in einer nahegelegenen Alpe eine äußerst merkwürdige Gruppe Wanderer. Obwohl sie jemanden aus ihren Reihen vermissen, scheint sie Matteos Fund nicht zu beunruhigen. Im Morgengrauen muss er feststellen: Der Verunglückte ist nicht der Einzige, dessen Leben in der vergangenen Nacht ein gewaltsames Ende gefunden hat. Da die Polizei den Fall schnell zu den Akten legt, ist wieder einmal Matteo Basso gefragt. Werden von den Bergdörfern seiner Kindheit aus internationale Wirtschaftsverbrechen verübt? Seine Ermittlungen führen ihn auf die herrschaftlichen Anwesen dubioser Glaubensgemeinschaften, ins Turiner Rotlichtmilieu und bis an die Küste Marseilles. Entdecken Sie den Lago Maggiore auf den Spuren von Matteo Basso: Zur Krimireise in Kooperation mit Maggioni Tourist Marketing.

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Seitenzahl: 388

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Bruno Varese

Totenstille über dem Lago Maggiore

Ein Fall für Matteo Basso

Mit Karten von Oliver Wetterauer

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Bruno Varese

Über dieses Buch

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

1

Der Schweiß rann Matteo die Stirn hinunter und brannte ihm in den Augen. Langsam beruhigte sich sein Atem. Die Oberschenkel zitterten noch leicht von der Anstrengung des Aufstiegs, die Füße in den Wanderschuhen glühten. Wie herrlich! Wie frei er sich plötzlich fühlte. Die schlechten Gedanken, die ihn noch im Tal beschäftigt hatten, erschienen ihm auf einmal mickrig und unbedeutend.

»Wenn es dir nicht gut geht, wenn die Welt dir übel mitspielt, steige auf einen Berg«, hatte sein Vater immer gesagt, »setz dich auf den Gipfel, schau auf all die winzigen Gestalten da unten, und du wirst erkennen, wie lächerlich sie sind mit all ihren Sorgen und Befindlichkeiten. So wie du selbst es natürlich auch bist.« Weise gesprochen, alter Mann, dachte Matteo und leerte gierig seine Wasserflasche.

Hatte er vor ein paar Minuten allen Ernstes noch den Gefangenenchor aus Nabucco vor sich hin gesummt, um das Puccini-Gedudel, das im Agriturismo gelaufen war, aus seinem Kopf zu vertreiben? Und, zugegeben, um ein wenig in Selbstmitleid zu baden? Das war doch wirklich albern. Ging es vielleicht ein bisschen weniger bombastisch? Die Landschaft war doch spektakulär genug.

Die Berggeister hatten es gut mit ihm gemeint. Er war ganz allein auf dem Gipfel. Unter ihm erstreckte sich der Lago Maggiore in tiefem Blau, Palmen und Zitronenbäume wuchsen dort am Ufer genauso wie Oleander und Platanen, was der Gegend ein mediterranes Flair verlieh. Das wiederum stand in merkwürdigem Kontrast zu den rauen Bergen, die den See umgaben und auf deren Spitzen auch in den warmen Monaten mitunter noch Schnee lag.

Aus dieser Höhe war die Blütenpracht, die die Gegend im Sommer in Matteos Augen beinahe eine Spur zu schön und lieblich machte, allenfalls zu erahnen. Nur die Farbe des Wassers und das Grün der Bäume an den Berghängen ließen darauf schließen, dass man sich auf der Südseite der Alpen befand. Im Norden prägten Nadelbäume und türkisgrüne Bergseen das Bild, hier ließen die Farben bereits an das nicht allzu weit entfernte Mittelmeer denken.

Vom richtigen Standpunkt aus betrachtet, ist das Leben doch eigentlich ganz gut zu ertragen, dachte Matteo, und kickte, in einem Anflug von Unwillen, einen Stein über den Abgrund, weil ihm einfiel, dass genau die Frage des richtigen Standpunktes seine Beziehung zu Nina so kompliziert machte. Einerseits war er es, der das Gefühl hatte zu ersticken, wenn die Zweisamkeit, wie in den vergangenen Monaten, allzu selbstverständlich geworden war. Andererseits fand er es schwer zu ertragen, dass Nina kurzerhand und ohne ihn auch nur zu fragen, ob er sie begleiten wolle, eine Reise an die Amalfi-Küste gebucht hatte. Vielleicht hätte er ja ebenfalls Lust gehabt, ihren Vater wiederzusehen, den pensionierten Polizeibeamten, der vor Jahren während Matteos Mailänder Zeit einmal zu seinen Patienten gezählt hatte?

Als er sich vorbeugte, um zu verfolgen, wie das Gesteinsbröckchen in die Tiefe fiel, erstarrte er für einen Moment. Dann ließ ihn der Anblick schreckensbleich ins Straucheln geraten. Nur mühsam fand er sein Gleichgewicht wieder.

»Hallo, können Sie mich hören?«

Eine Wolke schob sich vor die Sonne, was die Temperatur unmittelbar ein wenig zu drücken schien.

»Hallo? Hören Sie mich?«

Der Mann, der mit verdrehten Gliedmaßen auf dem Fels unter ihm lag, zeigte keinerlei Regung.

Inhaltsverzeichnis

2

Drei Stunden zuvor hatte Matteo ungläubig auf die Schüsseln vor sich geblickt. Sein Magen signalisierte ihm flehentlich, dass er weder willens noch fähig war, mehr von der mit einer fingerdicken Schicht Bergkäse überzogenen Polenta aufzunehmen. Und auch von dem Rindsragout, so köstlich es war, würde er keinen Happen mehr herunterbekommen. Die bedrückende Schwere, die sich in ihm ausgebreitet hatte, ließ keinen Zweifel daran. Die groben Steingut-Gefäße allerdings, in denen das Essen hier serviert wurde, vermittelten den Eindruck, er habe von den Speisen nur ein paar vorsichtige Bissen probiert.

Matteo wusste, wie entbehrungsreich das Leben in den Bergen noch bis vor wenigen Jahrzehnten gewesen war und wie unglaublich hart die Arbeit, die die Menschen hier verrichtet hatten. Der Wirt dieses einfachen Agriturismo, der immer noch als Bergbauer arbeitete, mochte einer der letzten Vertreter dieser Spezies sein und die Größe der Portionen nach seinem eigenen Appetit bemessen, nicht nach dem Bedürfnis seiner Gäste.

»Keine Chance«, hatte Matteo gebrummt und, so gut es ging, die dünne, mit verblichenen rot-weißen Karos gemusterte Serviette über einer der Schüsseln drappiert, um wenigstens die Reste der Polenta notdürftig zu verdecken. Trotzdem erntete er ein Kopfschütteln, als der Wirt sich anschickte, den Tisch abzuräumen.

Heute wurden im Nationalpark Val Grande und in den umliegenden Tälern nur noch wenige Alpen bewirtschaftet. Die meisten der traditionell aus Stein gebauten Hütten waren verfallen. Nur etwa ein Dutzend hatte man innerhalb des Parkareals restauriert. Sie dienten den Wanderern als Nachtlager. Anders war das mit den Rustici, die sich in der Nähe der schmalen Straße befanden, die hier am Fuße des Cima della Laurasca auf beinahe 1.300 Metern Höhe endete. Diese waren fast durchweg instand gesetzt und wurden als Ferienhäuser oder Wochenenddomizile genutzt.

Seufzend lehnte Matteo sich zurück. Sein Blick wanderte über die mächtigen, zerklüfteten Gipfel, die das Hochplateau des Valle Loana umschlossen. Mit beinahe übernatürlicher Klarheit stand das graue Felsgestein vor ihm, eingerahmt vom Blau des wolkenlosen Himmels und des satten Grüns der Bergwiesen und Bäume. Enzianblau, dachte Matteo, streckte den Rücken durch und sog die frische Luft tief ein.

Weit war es nicht bis zum belebten Ufer des Lago Maggiore, und doch hätte die Welt, die sich hier vor ihm auftat, nicht unterschiedlicher sein können. Unten im Tal herrschte ein vom Tourismus geprägtes buntes Treiben und die Menschen flanierten vor pittoresker Kulisse an Boutiquen vorbei oder bevölkerten die zahlreichen Bars und Restaurants, während sich hier oben, gleich hinter der Alpsiedlung Fondo Li Gabbi, die letzte Wildnis der Alpen verbarg. Ein Ort karger Schönheit, eine seit Jahrzehnten unberührte Landschaft, die dem Idealbild des Paradieses schon sehr nahe kam, gehüllt in eine geradezu majestätische Stille, die man zu ertragen erst wieder lernen musste. Was Schritt für Schritt gelang, wenn die körperliche Anstrengung des Bergaufwanderns verbunden mit den übrigen Sinneseindrücken ein neues, ganz eigenes Zeitempfinden entstehen ließ.

Unter dem vom Wetter zerfurchten Holztisch schnaufte es wohlig, und etwas für diese Temperaturen entschieden zu Warmes legte sich auf Matteos Fuß.

»Gustavo, bitte.« Erfolglos versuchte Matteo sich von dem ausladenden Kopf des Hundes zu befreien, aber dieses Wesen – wirklich, es war ein Wesen, eine andere Bezeichnung war schwerlich zu finden – dachte gar nicht daran, seinem Wunsch nachzugeben. Unweigerlich musste er grinsen. Dieses Tier passte zu ihm. Es war ebenso eigensinnig wie er.

Der Hund hatte einem Galeristen gehört, der in einen Mordfall verwickelt gewesen war, den Matteo gemeinsam mit Nina, die er damals noch Kommissarin Nina Zanetti genannt hatte, aufgeklärt hatte.

Anfangs hatte Matteo sich gesträubt, den Hund, den Nina ihm ungefragt zugeschoben hatte, zu behalten. Ein Hund in einer Macelleria? Das konnte nicht gut gehen und war – auch wenn Matteo sich sonst herzlich wenig um Vorschriften kümmerte – ganz sicher verboten. Früher oder später würde man sein Lädchen vor der Ortseinfahrt von Cannobio schließen, hatte er gegenüber Nina zu argumentieren versucht. Aber weder hatte sie sich davon beeindrucken lassen, noch hatte bisher irgendjemand Anstoß an Gustavos Anwesenheit genommen. Völlig ungestört konnte sich Matteo nach wie vor mit einer überwältigenden Aussicht auf den Lago Maggiore der Zubereitung von Prosciutto und Salsicce widmen, zumindest dann, wenn er das störrische Viech dazu verdonnerte, sich derweil im Hinterzimmer aufzuhalten, das Matteo als Wohnung diente, oder auf der daran anschließenden Terrasse.

Viel Zeit hatten der Hund und er auch in Ninas Wohnung verbracht. Matteo ruckelte noch einmal entschieden mit dem Fuß, um ihn von dem erhitzten Hundekopf zu befreien, und wunderte sich, wie eigentlich jeden Tag, darüber, dass ihm so etwas noch einmal passiert war. Nannte man das jetzt schon Beziehung? Irgendetwas in ihm sträubte sich mit aller Macht dagegen. Und wenn er ganz ehrlich war, dann lag das nicht nur an dem Nachklang der schmerzhaften Trennung von Teresa, wegen der er vor ein paar Jahren alle Zelte in Mailand abgebrochen und seine Arbeit als Polizeipsychologe an den Nagel gehängt hatte.

Vielleicht war er, obwohl sein fünfzigster Geburtstag noch in äußerst erträglicher Ferne lag, mittlerweile wirklich der heillos verschrobene Dickkopf, als den Nina ihn mitunter bezeichnete. Und vielleicht hätte er das sogar als Kompliment aufgefasst, wenn ihm nicht aufgefallen wäre, dass das belustigte Glucksen, das anfangs in Ninas Stimme gelegen hatte, in den vergangenen Wochen mehr und mehr verklungen war.

Endlich hatte Gustavo ein Einsehen und bequemte sich, den Kopf zwischen die Vorderpfoten zu betten. Einen Wimpernschlag später erklang ein lautes Schnarchen.

Üblicherweise fand man auf dieser Höhe Schutz vor heißen Julitagen. Aber die Hitze hatte in diesem Jahr schon im Juni begonnen, ohne dass abendliche Gewitter für Abkühlung gesorgt hätten. Selbst nachts fielen die Temperaturen hier oben nicht unter zwanzig Grad. Matteo nahm einen Schluck Wasser, das direkt vom hauseigenen Brunnen abgezapft wurde. Nicht zu begreifen, dass es tatsächlich Menschen gab, die sich stattdessen gezuckerte, künstlich aromatisierte Getränke bestellten.

»Grappa?«, fragte der gedrungene Wirt, dessen zusammengewachsene Augenbrauen wie ein borstiger Strich das schmale, wettergegerbte Gesicht durchzogen. Als Matteo gedankenverloren verneinte, traf ihn ein skeptischer, beinahe verächtlicher Blick, und Matteo bereute unmittelbar, den kostenlos offerierten Digestif ausgeschlagen zu haben. Er sah dem träge über die Holzbohlen der Veranda in den dunklen, kühlen Innenraum des Agriturismo schlurfenden Mann nach. Diesen Fauxpas konnte wohl auch ein noch so gutes Trinkgeld nicht wettmachen.

Um diese frühe Mittagszeit saßen außer ihm nur noch ein Wanderer und ein älteres Ehepaar auf der überdachten Terrasse. Zuerst betrachtete er den Mann mittleren Alters, der gerade den letzten Schluck Caffè, der sich mit dem Zucker zu einer süßen dickflüssigen Masse verbunden hatte, aus seiner Tasse löffelte. Dann blieb sein Blick an dem Ehepaar haften, das wohlig aneinandergelehnt zwei Tische von ihm entfernt saß und bereits mehrere Male versucht hatte, eine weitere Karaffe vom Hauswein zu ordern, was dem Wirt bislang entgangen war. Angesichts der Hitze erschien Matteo das durchaus fürsorglich.

Es versetzte ihm immer einen kleinen Stich, wenn er ältere Paare in derart trauter Zweisamkeit sah. Wie lange mochten die beiden sich kennen? Dreißig Jahre oder gar vierzig? Vielleicht waren sie sogar im selben Dorf aufgewachsen. Kinder hatten sie sicher. Mindestens zwei. Ob es einfach Glück war, dass manche Beziehungen so lange hielten? Oder war es, umgekehrt, meist eher ein Unglück, das man durchstand, aus einem gewissen Ehrgeiz, aus einer unerschütterlichen Moralvorstellung heraus? Aber nein, dafür waren die beiden zu zärtlich miteinander. Dieses Maß an Zuneigung war nur jenen möglich, die das gemeinsame Leben als Geschenk betrachteten. Warum um alles in der Welt, ärgerte sich Matteo, musste er ausgerechnet jetzt über Beziehungsfragen nachdenken? Was ging ihn das Glück oder Unglück dieser Menschen an?

Er nestelte die Futura-Packung aus der Tasche und klopfte eine Zigarette hervor. Eine automatisierte Handbewegung, ähnlich der Geste, mit der er seine Locken aus der Stirn strich, auch wenn sie ihm gar nicht ins Gesicht hingen. Für einen Moment sah er das spöttische Lächeln von Nina vor sich, das sie ihm bei ihren ersten Begegnungen immer dann geschenkt hatte, wenn er, vor Nervosität fahrig, in seinen Haaren gewühlt hatte.

Ein Lächeln, das irgendwann immer liebevoller geworden war, ohne dass der Spott daraus verschwunden wäre – wann hatte er es zuletzt an ihr gesehen? Energisch schob er die Zigarette in die Packung zurück. Bei dieser Hitze zu rauchen, kam selbst ihm absurd vor, und überhaupt, ein bisschen Nikotinentzug konnte jetzt nicht schaden, dann hatte er wenigstens einen Grund, gereizt zu sein. Nina verbrachte gerade einen fantastischen Urlaub, so fantastisch, dass sie ihm lediglich vor drei Tagen in einer kurzen SMS ihre Ankunft an der Amalfi-Küste vermeldet hatte und seitdem nichts mehr von sich hören ließ.

Und deshalb war es die richtige Entscheidung gewesen, den Tag freizunehmen und hierherzukommen. Auch wenn sein geliebtes, über dreißig Jahre altes Lancia Gamma Coupé bei den letzten steilen Kurven bedenklich zu keuchen begonnen hatte. Er würde den Wagen demnächst zur Inspektion in die Werkstatt der drei Alten bringen müssen. Denn wenn jemand seine wankelmütige Diva wieder in Form bringen konnte, dann waren das Flavio, Luigi und Beppo, die man selbst an den Wochenenden in ihrer kleinen Werkstatt in Cannobio finden konnte, meist von weither vernehmbar, weil ihre andauernden Zänkereien durch die umliegenden Gassen schallten.

Angesichts der Grobheiten, die die alten Herren untereinander austeilten, war Matteo immer wieder erstaunt, mit welch liebevoller Hingabe sie sich den Reparaturen an den Oldtimern widmeten. Es waren ganz besondere Liebhaberstücke, vor allem aus italienischer Produktion. Nur in Ausnahmefällen ließen die drei Wagen jüngerer Jahrgänge auf ihre Hebebühne.

Erst vor ein paar Tagen hatte Flavio wieder einem Kunden erklärt, er solle mit seinem lächerlichen Aluminium-Monstrum gefälligst in eine dieser gesichtslosen Großwerkstätten im nächsten Gewerbegebiet fahren. Den Hinweis des sichtlich konsternierten Mannes, dass es sich nur um einen kleinen Lackschaden handele, hatte Flavio mit einem angedeuteten Schulterzucken quittiert und sich dann übergangslos der Felgenpolitur eines BMW 503 Coupé zugewandt.

Die Wiese, die sich vor der Terrasse des Agriturismo bis zu den umliegenden Bergen erstreckte, von einem eiskalten Bach durchzogen, bot ein idyllisches, wie aus der Zeit gefallenes Bild. Zwei Esel trotteten vorbei und im Schatten einer Baumgruppe grasten stämmige Pferde. Haflinger, wie Matteo vermutete. Ein paar Hühner huschten aufgescheucht umher, ohne dass es einen ersichtlichen Grund für ihre Aufregung gab.

Die wenigen Kühe standen ausnahmslos träge herum, sogar zu faul, die Fliegen zu vertreiben. Nur wenn der Durst allzu groß wurde, bewegten sie sich ein paar Schritte weiter zu einem der Brunnen, aus denen permanent frisches Bergwasser floss und sich in menschengroße Steinwannen ergoss. Matteo, von Hitze und Essen müde geworden, dachte eher halbherzig darüber nach, warum die Kühe der Einfachheit halber nicht gleich am Brunnen stehen blieben, um bei Bedarf ohne viel Mühe ein paar Schlucke trinken zu können.

Aus den Augenwinkeln nahm Matteo eine Gruppe von vier Personen wahr, die sich der Veranda näherte. Sie störten das Bild, wie er sofort feststellte, als er die neuen Besucher genauer in Augenschein nahm. Voran gingen zwei Männer, dahinter, mit etwas Abstand, zwei junge Frauen in Miniröcken, die sichtlich Mühe hatten, auf ihren hochhackigen Sandalen vorwärts zu kommen.

Der eine der beiden Männer mochte in seinem Alter sein. Mitte, eher Ende vierzig. Er war Matteo auf Anhieb unsympathisch, was seinem albernen Aufzug geschuldet war. Ein blau-metallisch glitzerndes, bis zum Bauchnabel geöffnetes Hemd, eine betont jugendliche Jeans mit seitlich aufgesetzten Taschen und dazu weiße Lacklederschuhe waren nicht nur für diese Gegend eindeutig das falsche Outfit, sondern gehörten generell verboten. Vielleicht hätte Matteo ihn nicht ganz so unmöglich gefunden, wenn der Mann nicht ohne Pause und wild gestikulierend in sein Handy gesprochen hätte.

Matteos Smartphone hingegen, das ihm, dem erklärten Telefon-Muffel, Nina ebenso aufgezwungen hatte wie den Hund, vermeldete ein Funkloch. Dabei hätte er gern mit den drei Alten telefoniert, um zu hören, in welchem Zustand sich seine Macelleria befand. Ob sie überhaupt noch stand, musste er wohl eher fragen. Was für ein Irrsinn! Wie hatte er zustimmen können, dass diese Chaos-Combo seinen Laden umbaute? Nun gut, es war eine Notlösung gewesen. Alle echten Handwerker, die er angefragt hatte, waren für das nächste Jahr oder länger ausgebucht, und er brauchte den Anbau eben jetzt.

»Da musst du gar nicht so unschuldig tun, mein Lieber.« Matteo warf einen Blick auf den schlafenden Hund. »Wir brauchen mehr Platz, wenn wir es dauerhaft und ohne Konventionalstrafe dort miteinander aushalten wollen.« Der Hund schnarchte unbeeindruckt weiter.

So möchte ich die Dinge auch mal aussitzen können, dachte Matteo und ertappte sich dabei, dass er doch wieder an Nina und die Auseinandersetzungen dachte, die sie vor ihrer Abreise hatten. Es mochte ja sein, dass das von ihr alles gut gemeint war. Aber warum hörte sie nicht darauf, wenn er ihr sagte, dass er ganz sicher nicht in den Polizeidienst zurückkehren wollte? Seine Mailänder Jahre als Polizeipsychologe gehörten der Vergangenheit an, und das war gut so. Er hatte die Macelleria seines verstorbenen Vaters übernommen und war glücklich damit, basta!

Ja, verflucht noch mal, zweimal war er während dieser Zeit mehr oder weniger unfreiwillig zum Ermittler geworden, porca miseria, was konnte er dafür? Es stimmte, seine Arbeit war für Nina und ihre Kollegen auf dem Präsidium in Verbania hilfreich gewesen. Aber Matteo glaubte nicht, dass das der Grund war, warum sie ihn zu einer offiziellen Rückkehr bewegen wollte. Eher hatte er den Eindruck, dass es ihr schlichtweg peinlich war, mit einem Fleischer liiert zu sein. Ihr Problem. Matteo nahm einen Schluck Wasser und zog im gleichen Moment mit der anderen Hand die Futura-Packung erneut aus der Tasche. So weit kam es noch, dass er sich vom Wetter seine Rauchgewohnheiten diktieren ließ. Das Aufschnappen des Zippos beruhigte ihn sofort. Genüsslich ließ er den Rauch durch den Mund in die Lungen gleiten.

Der Wirt schlurfte heran und schob Gustavo eine Schale Wasser unter den Tisch. Matteos »Grazie, un caffè per me, per favore« schien er schon nicht mehr zu hören, während er sich dem Tisch der vier Neuankömmlinge näherte. Der unsympathische Anführer der Truppe hatte sein Telefonat beendet und diskutierte stattdessen mit seinem wesentlich jüngeren Begleiter, der ihn unverwandt mit weit aufgerissenen Augen ansah und nur hin und wieder den Versuch unternahm, etwas zu erwidern.

Matteo machte sich nichts aus Mode, aber dieses metallisch-blaue Hemd war wirklich eine Zumutung. Vielleicht stach es auch nur deshalb so ins Auge, weil aus dem Blau des Himmels all das Gute herauszuleuchten schien, das er mit dieser Farbe eigentlich verband: Weite, Hoffnung, Sehnsucht. Nicht eitle, schmierige Typen.

Die beiden blondgefärbten, aus der Nähe sehr jung wirkenden Frauen hatten aus ihren bunten Gucci-Taschen Modezeitschriften gekramt, die eine wie die andere hätten auf die Mailänder Via Montenapoleone oder in eine x-beliebige Strandbar gepasst, aber nicht in ein Agriturismo auf mehr als 1.200 Metern Höhe. Matteo spekulierte, ob sie wirklich in den Zeitschriften lasen oder ob sie nur eine Rechtfertigung brauchten, um sich nicht am Gespräch der Männer beteiligen zu müssen.

Obwohl ihre Münder zu einem Dauerlächeln verzogen waren, wirkten sie eigentümlich apathisch. Die Augen waren hinter den Designersonnenbrillen nicht zu erkennen. Mit leichtem Unbehagen registrierte Matteo, dass der ältere der beiden gelackten Machos die Hand unter den Rock einer der Frauen geschoben hatte. Unter den Achseln zeichneten sich Schweißflecken auf seinem Hemd ab. Zu viel Testosteron, dachte Matteo.

Es war allerdings nicht zu leugnen, musste er sich eingestehen, dass er selbst ebenfalls nicht gut ausgestattet war, um seinen Plan umzusetzen, bis zur Alpe Scaredi zu wandern. Vielleicht sogar bis zum Gipfel in 2195 Metern Höhe. Ein Paar leidlich ramponierte Wanderschuhe war das Einzige, was ihn als Wanderer auswies. Darüber hinaus hatte er nur eine dünne Jacke und einen kleinen Rucksack bei sich, in dem sich allerdings kein Proviant befand. Aber die üppige Mahlzeit hier würde lange vorhalten, und Wasser, das er in seine Halbliter-PET-Flasche füllen konnte, würde es auf dem Weg ausreichend geben. Außerdem vertraute er der kürzlich installierten Wetterapp, die bisher immer recht behalten hatte und für heute keinen Wetterumschwung prognostizierte.

Knappe drei Stunden würde der Aufstieg dauern. In der ersten Hälfte war er sehr steil und anstrengend, ein alter Maultierpfad, der aus einer endlosen Folge von Steinstufen bestand, es war, als würde man zu Fuß das Empire State Building besteigen und gleich darauf, weil es so schön war, noch das Rockefeller Center.

Dafür wurde man, hatte man die Baumgrenze erreicht, mit einem herrlichen Ausblick über das Loana-Tal und die Walliser Alpen belohnt. Das Panorama, das sich einem schließlich auf Höhe der Alpe Scaredi bot, war atemberaubend und gab den Blick frei auf das Herz des Val Grande und den von weithin sichtbaren Monte Rosa. Von der Spitze des Cima della Laurasca schaute man über die benachbarten Täler Val Vigezzo, Centovalli, Val Grande, Val Ossola sowie den Lago Maggiore, den Orta- und den Luganersee. Und all die Gipfel zu zählen, die es dort zu sehen gab, war unmöglich.

 

Wer wollte, konnte das symbolisch finden – oder sogar theatralisch, aber für ihn gab es keinen besseren Ort, um das Dasein zu überdenken, um schließlich, da war Matteo sicher, zu dem Ergebnis zu kommen, dass sich alles in bester Ordnung befand. Und wenn erst der Ausbau der Macelleria erledigt war, würde sich auch die elende Diskussion mit Nina erübrigt haben, ob das kleine weiß getünchte Häuschen ein adäquater Lebensraum für einen erwachsenen Mann oder eben nun einen erwachsenen Mann und einen hünenhaften Hund war. Genauso wie die sich daran anschließende Auseinandersetzung darüber, ob er nicht doch in den Polizeidienst – Matteo hatte es wirklich über. Unwirsch rieb er sich mit der flachen Hand über das Gesicht.

Unter dem Tisch schmatzte es zufrieden. Das ältere Ehepaar, dem doch noch eine Karaffe Weißwein gebracht worden war, döste in der Mittagssonne.

Zu Matteos Überraschung stellte der Wirt einen Caffè vor ihm ab. Nachdenklich kratzte der Mann sich den Bauch.

»Das packt der nicht.«

»Bitte?«

Der Wirt deutete auf Gustavo.

»Alpe Scaredi?«

Matteo nickte. »Oder ganz hinauf.«

»Das schafft der Kerl nicht.«

Matteo schnupperte. Der Wirt roch, als hätte er die vergangenen zwei Tage in einem Räucherofen verbracht. Dann betrachtete er Gustavo, dessen behäbiges Atmen das schwarze gekräuselte Fell sachte hob und senkte. Wenn Matteo ehrlich war, hatte er an die Kondition seines Hundes keinen Gedanken verschwendet, zu besessen war er von der Idee gewesen, dem Chaos zu entkommen, das die Alten in der Macelleria veranstalteten.

»Lassen Sie ihn hier.«

»Scusi?« Matteo brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte.

Sein Gegenüber deutete auf Gustavo. Wahrscheinlich hatte er recht.

»Wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

Der Wirt lachte trocken auf und auf einmal wirkte sein zerfurchtes Gesicht überraschend sympathisch.

»Der Kerl sieht mir nicht danach aus, als wäre er in der Lage, irgendwelche Umstände zu machen. Der soll hier gemütlich schlafen. Steigen Sie heute wieder herunter oder übernachten Sie auf der Alpe?«

»Ich komme zurück.«

Der Wirt nickte.

»Wir schließen um zweiundzwanzig Uhr. Soll ich Ihnen ein Zimmer zurechtmachen oder fahren Sie gleich weiter ins Tal?«

Unentschlossen wiegte Matteo den Kopf. Über die Möglichkeit, sich in dem Agriturismo einzumieten, hatte er noch nicht nachgedacht.

Eine Antwort blieb er ihm schuldig, weil der Aufschneider in seinem viel zu weit geöffneten Hemd ungeduldig und aggressiv mit dem Finger schnippte, um seine Essensbestellung aufzugeben. Matteo fluchte leise. Wenn er eins verabscheute, dann waren es Typen, die glaubten, andere Menschen nach Belieben herumkommandieren zu können. Wenn man, wie der Wirt vermutlich, auf jeden Gast angewiesen war, dann war man solchen Leuten hilflos ausgeliefert. Matteo fragte sich, was die Truppe hierherverschlagen hatte. Dass die schmale Serpentinenstraße nicht der Weg zum Lido sein konnte, musste auch Deppen wie ihnen klar sein.

Offenbar entsponn sich zwischen ihnen gerade ein Disput. Skeptisch beobachtete Matteo die Szenerie, ohne etwas verstehen zu können, denn der Typ in dem Metallic-hemd und der Wirt hatten ihre Stimmen gedämpft. Die Schärfe, die in ihren Worten lag, war dennoch offenkundig. Plötzlich erhob sich der Gast mit einem Ruck, sodass der Wirt nach hinten weichen musste, damit sie nicht mit den Köpfen zusammenstießen. Der jüngere Begleiter betrachtete währenddessen betont interessiert das Treiben der Hühner. Auch die beiden Frauen ignorierten die Situation.

Mit einem Mal lachte der Mann auf, klopfte seinem Gegenüber auf die Schulter und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder. Matteo runzelte die Stirn und bemerkte mit Bedauern, dass er wegen dieser Idioten seinen Caffè vergessen hatte, der nun nicht mehr so dampfend heiß war, wie er es gern hatte.

Auf dem Tisch surrte es. Verwundert bemerkte Matteo, dass sein Handy den Eingang einer Nachricht vermeldete. Und tatsächlich erspähte er auf dem Display einen winzigen Empfangsbalken.

Er ging zum Rand der Terrasse, in der Hoffnung, dass der Empfang dort besser war, und hörte die Mailbox ab. Der gellende Heulton ließ ihn das Handy schnell ein Stück vom Ohr weghalten, er seufzte. Für einen Moment hatte er natürlich doch gehofft, die Nachricht würde aus Amalfi kommen.

Das Heulen war in ein quietschendes Wimmern übergegangen.

»Nun schießt schon los, ihr Hornochsen«, brummte Matteo.

Im Hintergrund vernahm man abgehackte Laute, die von einem unterdrückten Weinen genauso hätten stammen können wie von dem Versuch, ein Lachen zu verbergen. Matteo verdrehte die Augen. Er hatte keinen Zweifel, wen er da in der Leitung hatte.

»Madonna mia«, jammerte Flavio, »was habe ich gesündigt, dass du mir diese Hölle auf Erden bescherst?« Ohne ohrenbetörendes Bohei ging bei den drei Alten nichts.

»Untersteh dich, den Namen der Heiligen Mutter Gottes in den Dreck zu ziehen, du Kanaille!« Das war Beppo. Der hielt sich nur zurück, wenn Flavio, den selbst die unsäglichsten Korruptionsskandale um Berlusconi und Co nicht von seiner Leidenschaft für die Lega Nord abbringen konnten, und Luigi sich über Politik stritten, was nicht ausblieb, war doch Letzterer seit seiner Zeit in Pariser Studentenkreisen glühender Sozialist. Während der Reparaturarbeiten pfiff er versonnen französische Arbeiterlieder, deren Text Flavio zwar nicht kannte, geschweige denn verstanden hätte, aber allein das Pfeifen empfand er schon als eine Provokation, die er kaum länger als eine halbe Minute auf sich sitzen lassen konnte.

Während dieser Dispute zwischen dem rechten und dem linker Lager begann Beppo meist, seine an der Werkstatt-Wand sorgsam aufgereihten Baseball-Caps auszuschlagen oder neu zu ordnen. Wenn es aber um Glaubensfragen ging, war nicht mit ihm zu spaßen.

»Wer zieht hier was in den Dreck? Wer zieht hier was in den Dreck?« Flavios Stimme überschlug sich beinahe und Matteo fragte sich, ob ausnahmsweise doch etwas Ernsthaftes vorgefallen war. Nicht so sehr der Gesundheit der Alten galt seine Sorge, sondern der Macelleria. Schließlich sollten die drei nicht nur ein Zimmer anbauen, sondern mussten dafür auch die Wand seines Schlaf- und Wohnzimmers durchbrechen. Für einen Moment sah Matteo alles in einer Wolke aus Staub in sich zusammenbrechen.

»Matteo, du schräg gehobelter Radicchio«, kreischte nun Luigi über Flavio hinweg, der immer wieder etwas vor sich hin jammerte, das Matteo nicht verstehen konnte. »Du vertrocknete Peperoni, wie kannst du mich mit solchen Stümpern allein lassen?«

»Moment mal«, wollte Matteo gerade einwenden, aber dann fiel ihm ein, dass die drei ihn ja nicht hören konnten. Ohnehin hatte mittlerweile Beppo das Telefon an sich gerissen.

»Katastrophe! Katastrophe!«, keuchte er.

»Verdammt noch mal, jetzt redet schon.« Nervös tastete Matteo nach der Futura-Packung.

»Matteo, lieber Matteo«, diese Anrede war allerdings Grund zur Sorge, »du musst jetzt ganz tapfer sein.« Beppo räusperte sich ausgiebig »Ganz tapfer.«

»Es hat sich wirklich nur um eine klitzekleine Verwechslung gehandelt«, fügte Luigi eilfertig an. »Eine statistisch gesehen vollkommen unwahrscheinliche Statik-Angelegenheit.«

Matteo rieb sich entnervt das Gesicht.

»Nicht ernsthaft, Männer. Ich dreh euch den Hals um.«

»Du wirst uns jetzt vermutlich den Hals umdrehen wollen«, Beppo versuchte, seine Stimme in ein versöhnliches Schnurren zu verwandeln, was aber eher wie ein Gurgeln klang. »Aber im Grunde ist alles gar nicht so schlimm, wie es vielleicht auf den ersten Blick aussieht.«

»Oder auch auf den zweiten!«, krähte Luigi.

Die Hitze schien Matteo plötzlich unerträglich, sie schnürte ihm regelrecht die Luft ab. Was war das nur für ein vermaledeites Wochenende.

In diesem Moment brach auf der anderen Seite ein Kreischen los, das Matteo das Telefon wieder vom Ohr wegreißen ließ.

»Spaß, du verschrumpelte Möhre! War nur Spaß!« Luigi konnte kaum sprechen vor Lachen. »Wir wollten dir nur schnell Bescheid sagen, dass hier alles in Ordnung ist! Es geht gut voran. Du wirst staunen, wenn du zurückkommst.«

Matteo ließ das Telefon in die Hosentasche gleiten.

»Extrem witzig, Jungs, echt, extrem witzig.«

Er wusste nicht recht, ob er erleichtert sein sollte, dass da unten alles nach Plan lief, oder ob er sich ärgern sollte, dass er den drei Alten mal wieder auf den Leim gegangen war. Wann würden diese Männer zur Vernunft kommen? An ihrem achtzigsten Geburtstag? Vermutlich niemals.

Matteo bedeutete dem Wirt, zahlen zu wollen. Dann warf er einen Blick auf das Zifferblatt seiner Courage, die glücklicherweise hatte repariert werden können, nachdem sie einen Wasserschaden erlitten hatte. Seine Lust, sich an diese brenzlige Situation zu erinnern, in die er während der Aufklärung des Mordfalls im vergangenen Jahr geraten war, hielt sich in Grenzen.

Es war kurz nach halb eins. Wenn er jetzt aufbräche und oben nicht allzu lange pausierte, würde er am frühen Abend zurück sein. Er ging zum Tisch zurück und beugte sich zu Gustavo hinunter.

»So lange hältst du es ohne mich aus, oder?«

Alles wie gehabt: Der Hund schnarchte seelenruhig vor sich hin.

»Alles klar. Ich hab dich auch sehr lieb.«

Kopfschüttelnd deutete Matteo auf die Rechnung, die der Wirt ihm hingelegt hatte und auf der unter einem konfusen Gewirr von Zahlen eine lächerliche Summe stand.

»Sind das nur die Getränke?«

Der Wirt schien es nicht für nötig zu halten, Matteos Frage zu kommentieren.

»So werden Sie aber nicht reich.«

Der Wirt machte eine unbestimmte Handbewegung, es war nicht erkenntlich, ob sie nur die Tiere, die vor der Veranda grasten und von denen sich ein paar mittlerweile in den Schatten der Bäume zurückgezogen hatten, oder das ganze Bergmassiv einschloss.

»Ich habe alles, was ich brauche.«

Fast unmerklich wandte er den Kopf zur Tür, die in den Gastraum führte. Matteo folgte seinem Blick, konnte aber niemanden ausmachen.

»Wir haben alles, was wir brauchen.«

Matteo legte einen Zehn-Euro-Schein auf die grob gearbeitete Tischplatte. Was der Wirt gesagt hatte, war zweifelsohne die einzige richtige Antwort auf seine dümmliche Bemerkung gewesen. Erst jetzt nahm er die leise Musik wahr, die aus dem Innern des Gastraums drang. Obwohl Matteo selbst meistens zu alten Verdi-Aufnahmen griff, wenn er in seinen nicht unbedingt seltenen Anflügen von Melancholie den altertümlichen Plattenspieler in Gang setzte, erkannte er sehr wohl, was da gerade zu ihm hinausplätscherte.

Puccini wäre ja noch in Ordnung gewesen. Aber dass ihn ausgerechnet La Rondine, dieses so selten gespielte, für seinen Geschmack viel zu liebliche und simple Liebesgesäusel, hier heimsuchte! So war die Welt, aber sicher doch, lieber Giacomo Puccini. Ein bisschen romantisches Geplapper, ein bisschen Verkleidungskomödie, dann kurz ein bisschen Drama, mittendrin ausgerechnet ein in Leidenschaft entbrannter Dichter. Und trotz aller Widrigkeiten landeten die beiden Liebenden schließlich auf einer einsamen Insel und lebten dort glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Oder immerhin bis zum Ende dieser Komposition. Himmelschreiend seicht war das und dramaturgisch allenfalls Vorabendprogramm. Ausgerechnet La Rondine, das war doch wirklich lächerlich. Hätte ein schlechter Witz der Alten sein können, aber die hatten ihr Soll für heute ja schon erfüllt.

Um sich abzulenken, deutete Matteo auf die deplatziert wirkende Vierergruppe.

»Ärger ?«

Der Wirt winkte ab.

»Ist schon in Ordnung. Sie haben sich über die Essensauswahl beschwert. Aber wer hier heraufkommt, muss sich mit dem begnügen, was es gibt.«

Matteo erhob sich. Wahrscheinlich hatten sie sich darüber echauffiert, dass kein Champagner kaltgestellt war. Aber war das wirklich alles? Die Situation hatte einen ernsteren Eindruck auf ihn gemacht. Andererseits, was gingen ihn anderer Leute Angelegenheiten an?

»Danke, dass Sie den Hund dabehalten.«

»Di niente«, gab der Wirt zurück. Unter seinen borstigen Augenbrauen blitzte es freundlich, als er die Hand zu einem angedeuteten Gruß hob.

Matteo schob sich zwischen den Tischen hindurch und merkte, dass die Schwere in seinem Magen sich noch nicht aufgelöst hatte.

Als er an dem Tisch vorbeikam, an dem der blau behemdete Unsympath schon wieder herrisch in sein Telefon keifte, registrierte Matteo, dass die Zeitschriften, in denen die beiden Frauen blätterten, kyrillische Schriftzüge trugen. Warum hatte er das nicht früher bemerkt? Natürlich waren die beiden Frauen Prostituierte oder, wie man es beschönigend nannte, Escort-Girls. Sofort schämte Matteo sich für den gedanklichen Kurzschluss. Nur weil die beiden Frauen aus Osteuropa stammten und in Begleitung dieser unangenehmen Typen waren, hieß das noch lange nicht, dass sie sich für Geld verkauften.

Mit einem Sprung setzte er von der Terrasse auf die Wiese, wo zwei der ohnehin aufgeregten Hühner empört aufflatterten. Als er sich noch einmal umwandte, bemerkte er, wie der Wortführer der Gruppe ihm abschätzig nachschaute. Und vielleicht war es dieser Blick, der Matteo davon überzeugte, dass er so falsch mit seiner Vermutung doch nicht gelegen hatte.

Ohne sich noch einmal umzusehen, strebte er dem Aufstieg entgegen, vorbei an bunt angestrichenen Bienenstöcken, über denen es emsig summte. Er widerstand dem Drang, sich in dem eiskalten Bach, der den Weg säumte, und dessen Wasserstand aufgrund der Hitze weit abgesunken war, schon jetzt eine Erfrischung zu gönnen. Er wollte erst ein paar Höhenmeter zurücklegen, bevor er pausierte. Nur die Wasserflasche füllte er am Brunnen, wofür er eine der friedlich dösenden Kühe zur Seite schieben musste, die nun doch auf die Idee gekommen war, dort stehen zu bleiben. Klaglos trottete das Tier von dannen, schlug mit dem Schwanz erfolglos nach ein paar Fliegen, von denen es gepiesackt wurde, die Augen halb geschlossen.

Inhaltsverzeichnis

3

Matteo kniete sich hin, um mehr Halt zu haben. Der Mann, der einige Meter unter ihm auf einem Felsvorsprung lag, hatte das Gesicht abgewandt, so, als wäre er unmittelbar dort, wo Matteo hockte, vornübergefallen und auf dem Felsen aufgeschlagen.

»Hallo, können Sie mich hören?«

Noch während Matteo die Frage hinunterrief, ahnte er, wie sinnlos sie war. Die Gliedmaßen des Mannes waren unnatürlich verrenkt. Um den Kopf hatte sich eine Lache Blut gebildet. Auf die Entfernung konnte Matteo nicht erkennen, ob sie bereits getrocknet war.

Fünf oder sechs Meter waren es bestimmt bis zur Absturzstelle. Der Mann war schwer verletzt und ohnmächtig oder tot. Letzteres war wahrscheinlich. Matteo rieb sich über das Gesicht. Nun stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn und er bekam eine Gänsehaut. Aber wenn der Mann wie durch ein Wunder doch den Sturz überlebt hatte, musste er so schnell wie möglich Hilfe holen.

Der Notruf auf dem Handy müsste auch hier oben funktionieren, und der Rettungshubschrauber aus Domodossola würde sicher nicht länger als zwanzig Minuten benötigen, um hierherzukommen. Matteo zog das Gerät aus der Tasche und drückte hektisch darauf herum. Nichts. Das Display blieb schwarz, das Gerät glühte. Das Betätigen des Einschaltknopfes rief ebenfalls keine Reaktion hervor.

»Verflucht, was ist mit dir?«

Matteo schüttelte den Apparat heftig, ein vergeblicher Versuch, so wie man früher auf einen alten Röhrenfernseher geschlagen hatte, wenn das Bild krisselig geworden war. Der Akku musste sich innerhalb kürzester Zeit entladen haben, wegen der Hitze vermutlich, das Ding war defekt.

Er sah zu dem Abgestürzten hinunter. Der trug zwar Wanderkleidung und eine dieser bis knapp über das Knie reichenden Funktionshosen mit Seitentaschen, aber seine Waden machten keinen durchtrainierten Eindruck. Ein Hobbywanderer, ein unerfahrener Ausflügler wie er selbst einer war.

Das Alter des Mannes war, weil er dessen Gesicht nicht sehen konnte, schwer zu schätzen.

Eingehend betrachtete Matteo die Stelle, wo der Mann lag, und suchte dann mit den Augen das umliegende Gelände ab. Gab es einen Weg, der es ihm erlaubte, hinabzusteigen? Unmöglich ohne Seil und die Hilfe einer zweiten Person. Bei dem Versuch würde er sich unweigerlich selbst in Gefahr bringen. Und je länger er den Mann betrachtete, umso offensichtlicher erschien es ihm, dass dieser Mensch nicht bloß verletzt, sondern tödlich verunglückt war.

Aber warum war er abgestürzt? Vielleicht war er, ähnlich wie Matteo eben, so gebannt von dem Ausblick gewesen, dass er einen Schritt zu weit in Richtung Abgrund getan hatte. Oder hatte sich ein Stein plötzlich gelöst und er hatte den Halt verloren? Und wie lange lag er schon dort? Warum hatte ihn keiner der Bergsteiger, die vor Matteo heute hier gewesen waren, entdeckt?

Ein tragischer Unfall. Dass er sich einen anderen Ausgang seines Ausflugs gewünscht hätte, dachte Matteo, während er sich hochrappelte und die Knie abklopfte.

Da bemerkte er es: das dunkle Grollen, das in weiter Ferne erklang und langsam, aber kontinuierlich anschwoll. Und den tiefdunklen Schatten, der sich mit rasender Geschwindigkeit über die Umgebung legte.

»Das darf doch nicht wahr sein.«

Aber der Blick zum Himmel bestätigte seinen Verdacht. Die Wetterumschwünge in den Bergen konnten selbst geübte Wanderer überraschen. Das Gewitter, das hier gerade heraufzog, schien tatsächlich aus dem Nichts zu kommen. Aus heiterem Himmel – Matteo versuchte sich an einem zynischen Lachen, was allerdings gründlich misslang.

Dass die Wettervorhersage sich irrte, konnte schon mal vorkommen. Aber wo hatte er seine Augen gehabt? Sommergewitter, selbst wenn sie überraschend kamen, kündigten sich üblicherweise durch aufgetürmte Quellwolken an, die kaum zu übersehen waren. Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Situation war ernst, das stand außer Frage. Und bevor er sich weitere Gedanken um den Abgestürzten machte, musste er sich darum kümmern, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Ohnehin war er in dieser Situation alleine machtlos. Er musste Hilfe verständigen, um den Mann zu bergen.

Er musste sich bis zur Alpe Scaredi durchschlagen, bevor das Gewitter direkt über ihm war. Der Abstieg dauerte bei trockenem Wetter eine Dreiviertelstunde. Eine andere Möglichkeit blieb ihm nicht. Ein Regenguss konnte die Bergpfade innerhalb kürzester Zeit in reißende Flüsse verwandeln. Am Horizont zuckten die ersten Blitze. Seine Lust, durch einen von ihnen erschlagen zu werden, hielt sich in Grenzen.

»Porca miseria«, murmelte Matteo nicht zum ersten Mal an diesem Tag und warf einen letzten, flüchtigen Blick auf den Verunglückten unter ihm, als ihm ein ungewöhnliches Detail auffiel. Der Rucksack des Mannes lag etliche Meter von diesem entfernt. Wenn er den Rucksack auf dem Rücken gehabt hätte, als er stürzte, hätte der sich wohl kaum gelöst. Hätte er ihn aber, um zu pausieren und die Aussicht zu genießen, abgenommen und neben sich gestellt, hätte der Rucksack noch auf dem Plateau stehen müssen. Beides sprach gegen einen Unfall. Doch darüber nachzudenken, blieb keine Zeit.

Was eben noch berückende Natur gewesen war, hatte sich innerhalb von Minuten in eine bedrohliche Kulisse verwandelt. Matteo beeilte sich, den Berg hinunter zu gelangen. Die ersten hundert Meter schaffte er noch im Trockenen. Dann setzte abrupt Starkregen ein.

Er fluchte, als er ins Schlingern geriet, stürzte und unsanft ein Stück bergab schlitterte, ehe er sich wieder fing. Vorsichtig rappelte er sich hoch. Seine linke Hand war aufgeschürft, in dem Oberschenkel, auf dem er gelandet war, pochte ein dumpfer Schmerz, aber er schien sich nichts Ernstes getan zu haben. Mittlerweile war er bis auf die Haut durchnässt.

Trotz der Anstrengungen fror er. Über ihm zuckte ein Blitz, ohrenbetäubend laut krachte Sekunden später der Donner. Das Gewitter war nun direkt über ihm. Es war so dunkel, als wäre es Nacht.

Er lief weiter und geriet immer wieder ins Rutschen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich rückwärts und auf allen vieren den spiegelglatten Stein hinunterzuhangeln. Orkanartiger Wind setzte ein.

Matteo fuhr zusammen, so grell erleuchtete der nächste Blitz die Umgebung, der Donner entlud sich beinahe zeitgleich. Nirgendwo sah er einen Felsvorsprung, unter dem er sich hätte in Sicherheit bringen können. Sich möglichst klein zu machen, sich nicht aufzurichten, das war das Einzige, was ihm jetzt noch übrig blieb. Seine Wanderschuhe waren nun ebenfalls völlig durchnässt, mit dem Arm streifte er sich die tropfenden Haare aus der Stirn. Nur schwer konnte er dem Impuls widerstehen, einfach an dieser Stelle zu verharren und abzuwarten, bis das Unwetter über ihn hinweggezogen war.

Als er sich aufraffte und die nächsten Schritte abschätzen wollte, jubelte er auf. Weiter vorne machte er ein flackerndes Licht aus. Das musste die Alpe Scaredi sein. Er war gerettet. Und das Licht ließ darauf schließen, dass auch andere Wanderer dort Schutz gefunden hatten. Sicher hatte einer von ihnen ein funktionierendes Handy, und sicher brannte der Ofen schon.

 

Als Matteo eine halbe Stunde später auf einer der Holzbänke saß, die einen Tisch flankierten, der beinahe die gesamte Hütte durchmaß, war das Gewitter nur noch ein fernes Rauschen. Seine nassen Sachen hingen neben dem Ofen, der friedlich knisterte. Ein junger Mann, dessen Gesicht von einem bis auf die Brust reichenden Bart verborgen wurde, hatte Matteo einen groben Pullover und eine Leinenhose gegeben. Seine Gesichtsbehaarung stand in einem seltsamen Kontrast zu seinem Haupt, das vollkommen kahl war. Dankbar nahm Matteo das Brett mit Brot und Käse entgegen, das ihm eine der Frauen reichte.

Es waren sicher vierzehn, fünfzehn Menschen, die Matteo im Bivacco Alpe Scaredi, wie die unbewirtschaftete Schutzhütte offiziell hieß, angetroffen hatte. Sie gehörten zusammen, wie es ihm schien, ohne dass er bisher viel gefragt hatte, denn die Erschöpfung und der Schreck waren ihm mehr in die Glieder gefahren, als er sich eingestehen wollte. Auch er war nicht viel gefragt worden. In den Bergen erübrigten sich oft die Worte. Ein Blick auf seine Courage, die das Unwetter, wie er erfreut bemerkte, unbeschadet überstanden hatte, verriet ihm, dass es erst halb sieben war. In ihm breitete sich eine wohlige Wärme aus, der er sich allerdings nicht ganz hingeben mochte.

»Hat einer von Ihnen«, er korrigierte sich, unter Wanderern duzte man sich selbstverständlich, »hat einer von euch ein Telefon? Es ist wichtig, es gab einen Unfall. Wir müssen die Bergrettung alarmieren.«

Zwei Frauen wandten sich halb verwundert, halb verständnislos zu ihm um, widmeten sich dann aber wieder ihrer Beschäftigung. Saßen sie tatsächlich auf dem Steinboden und malten? Von seinem Platz aus konnte er es nicht genau erkennen. Von den anderen Personen im Raum reagierte niemand auf seine Frage. Matteo runzelte die Stirn. Fragend schaute er den bärtigen jungen Mann an, der sich auf der gegenüberliegenden Bank niederließ. Nur an dessen Augen war zu erkennen, dass er lächelte.

»Wir brauchen keine Telefone.«

»Wir?« Die Antwort irritierte ihn. »Ihr scheint ja strenge Regeln in eurer Wandergruppe zu haben.«

Sein Gegenüber verzog keine Miene, jedenfalls keine, die man hinter seinem Bart erkennen konnte.

»Wie dem auch sei.« Matteo beugte sich vor, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Am Gipfel ist jemand abgestürzt. Mehrere Meter in die Tiefe. Wir müssen einen Rettungshubschrauber rufen.«

Um die Augen bildeten sich erneut Lachfältchen. Auch wenn es Matteo störte, dass der andere die Dringlichkeit seines Anliegens ignorierte, war ihm sympathisch, wie der Mann in sich zu ruhen schien. Seine Hände lagen beinahe symmetrisch auf dem Tisch, ohne dass es angestrengt aussah.

»Filippo.«

»Matteo, Matteo Basso.«

»Wofür soll das denn gut sein?«

»Wie?« Matteo begriff nicht gleich, worauf Filippo hinauswollte.

»Wie viele Meter ist der Mann gefallen?«

»Fünf oder sechs.«

Matteo bemerkte, dass drei Frauen, die sich auf die obere Ebene des Rustico zurückziehen wollten, auf der Treppe innehielten und ihnen zuhörten. Als Matteo zu ihnen hinübersah, stiegen sie weiter nach oben, ohne seinen Blick zu erwidern. Eine von ihnen löste im Hinaufgehen ihr aufgestecktes Haar, das sich fast bis zur Hüfte über ihren Rücken ergoss.

»Wofür soll es also gut sein«, fragte Filippo noch einmal, »einen Rettungshubschrauber zu bestellen? Der Mann wird tot sein.«

»Aber wir können ihn dort nicht einfach liegen lassen.« Matteo spürte, wie Wut in ihm aufkam. Gut und schön, wenn Menschen gelassen waren, aber das ging zu weit.

Filippo zuckte die Schultern.

»Warum nicht?«

»Bitte?!«

»Warum sollten wir ihn nicht dort liegen lassen können? Kennst du ein ähnlich schönes Fleckchen Erde, fällt dir ein ähnlich atemberaubender Ausblick ein? Kein schlechter Platz für die Ewigkeit.«

Bevor Matteo etwas erwidern konnte, schob sich ein Mann mit einer auffallend schiefen Nase neben Filippo auf die Bank. Matteo registrierte, dass die Backenknochen des Mannes kontinuierlich in Bewegung waren. Als versuchte er, eine Furcht zu bändigen, indem er sie buchstäblich zermalmte.

»Geh dich ausruhen«, sagte Filippo leise, aber mit einer Bestimmtheit, die Matteo aufhorchen ließ. Das war kein guter Rat, sondern eine unmissverständliche Anweisung. Ein kurzes Aussetzen der Kaubewegung verriet, dass sich Widerspruch in dem Mann regte. Schließlich aber erhob er sich wortlos von der Bank und stieg die schmale Treppe hinauf.

»Schöner Platz hin oder her«, nahm Matteo den Faden wieder auf, ohne die vorangegangene Situation zu kommentieren. »Der Mann muss geborgen werden, seine Identität muss festgestellt werden, damit die Angehörigen informiert werden können.«

Filippo machte eine beschwichtigende Handbewegung.

»Schon gut. Wir kümmern uns darum. Aber bei diesem Wetter werden wir die Alpe nicht verlassen können. Und es wird auch für einen Hubschrauber nicht möglich sein, zu landen.«

Er deutete auf das Brett mit Käse und Brot, das Matteo noch nicht angerührt hatte.

»Jetzt iss erst mal, dann lass uns schlafen gehen. Sobald es hell wird, schauen wir, was wir für den Mann tun können. Einverstanden?«

Filippo hatte recht, vor morgen würden sie nichts ausrichten können. Matteo zwang sich hinzunehmen, dass er in den nächsten Stunden zur Tatenlosigkeit verdammt war. Da konnte er sich genauso gut ein wenig entspannen.

Er zog das Essen zu sich heran. Der Käse schmeckte fantastisch. Zu gern hätte er ein Glas Wein dazu getrunken. Ein samtiger Barbera würde auf der Zunge genau den richtigen Kontrast bilden zu dem würzigen Geschmack. Aber hier trank niemand Alkohol. Der war wohl ähnlich verpönt wie Mobiltelefone. An eine Zigarette gar nicht zu denken. Es kribbelte ihn seit geraumer Zeit in den Gliedern und in seinem Kopf hatte ein leichtes Ziehen eingesetzt, das er zu ignorieren versuchte, denn seine Futuras hatten sich während des Abstiegs in einen feuchten Klumpen verwandelt.

»Wo kauft ihr den? Der ist hervorragend.« Er steckte das letzte Stück Käse in den Mund.

»Den machen wir selbst. Wir halten nicht viel davon, uns von den kapitalistischen Geld- und Warenströmen dirigieren und von Pestiziden die Körper zerfressen zu lassen.«

Matteo konnte nicht feststellen, ob Filippo diese Auskunft ernst meinte oder ob sich eine gewisse Ironie in seine Worte mischte.

»Respekt«, entgegnete Matteo und ließ dabei seinerseits bewusst offen, ob er damit die Herstellung des Käses meinte oder die Ideologie des Selbstversorgens. Sein Eindruck, nicht an eine einfache Wandergruppe geraten zu sein, bestätigte sich.

»Wo genau hast du den Mann gefunden?«

»Im unzugänglichen Bereich gleich unterhalb des Gipfels. An der seeabgewandten Seite.«

»Verstehe.«

Filippo erhob sich.

»Deine Zigaretten sind ja ziemlich nass geworden. Ich habe etwas anderes für uns.«

Mit einer zerbeulten Blechschachtel kam er zurück an den Tisch. Matteo staunte nicht schlecht, als sich darin nicht nur Tabak und Blättchen befanden, sondern auch ein paar braune Bröckchen. Also doch nicht vollständig enthaltsam, diese Truppe. Wann hatte er zum letzten Mal gekifft? Das war Jahrzehnte her, und es war ihm in schlechter Erinnerung geblieben.

Als Filippo den Joint anzündete und hinüberreichte, winkte Matteo ab.

»Danke, das ist nett. Ich würde lieber eine Zigarette ohne Füllung nehmen.«

Filippo lachte auf.

»Ach komm, hab dich nicht so. Was bist du von Beruf? Polizist? Pfarrer? Du wirst dich wundern, wie selig du danach schlafen kannst.«