Zicke, Zacke, tot - Ingrid Werner - E-Book

Zicke, Zacke, tot E-Book

Ingrid Werner

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Beschreibung

Heilpraktikerin Karin Schneider glaubt nie und nimmer, dass sich ihre zugegebenermaßen durchgeknallte Patientin umbringen wollte. Schon bald findet sie ein Motiv für den Mord sowie mehrere Verdächtige, die sie zwischen Achterbahn, Schießbude und Bierzelt befragt. Hilfe bekommt sie vom Luftballonverkäufer Max und dem gutaussehenden Brauereibesitzer Georg, der ihr gehörig den Kopf verdreht. Gerade als sie glaubt, auf der richtigen Spur zu sein, geschieht der nächste Mord. Kann sich Karin auf die Mörderjagd konzentrieren oder übersieht sie vor lauter Verliebtheit das Wichtigste? Zicke, Zacke, tot: Der dritte Fall für Karin Schneider bietet bayrisch rustikales Volksfestvergnügen und feinsten Humor. „Ich bin keine Privatdetektivin!“, schreie ich und lasse mich fallen. Aber die beiden Frauen sind kräftig, sie ziehen mich einfach wieder auf die Füße. „Der Dreckskerl“, sagt Frau Ilzdorfer. „Na, dann geben wir ihr was zu berichten.“ Ein locker leichter Lesespaß, nicht nur für Rottaler Feuilleton der Passauer Neue Presse zu Karpfhamer Katz Achtung Neuauflage! Dieses Buch ist unter dem Titel Karpfhamer Katz schon im Emons Verlag erschienen.

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1. – Donnerstag
2. – Freitag
3. – Samstag
4. – Sonntag
5. – Montag
6. – Dienstag
Wissenswertes
Danke
Liebe Leserin, lieber Leser,
Flowerpower und Druidentrank
Karin Schneiders 4. Fall
Leseprobe
Wie geht es weiter?
Krimis für jede Lebenslage

Ingrid Werner

Zicke, Zacke, tot

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ingrid Werner lebt mit ihrer Familie und Hund im niederbayerischen Rottal. Die ehemalige Münchnerin genießt das Landleben, das so viel Potential für Mord(s)geschichten hat.

 

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

 

Ingrid Werner

 

Zicke, Zacke, tot

 

Karin Schneiders dritter Fall

 

Impressum

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Ingrid Werner

Hochstr. 12, 94086 Bad Griesbach

Lektorat: Carlos Westerkamp

Covergestaltung und Satz: Sabine Albrecht, [email protected]

Titelfoto: ©istockphoto.com/Kerrick

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 978-3-75266215-3

Besuchen Sie mich im Internet: www.werner-ingrid.de

 

 

 

 

 

 

Neuauflage

Dieses Buch ist bereits unter dem Titel „Karpfhamer Katz“ beim Emons Verlag erschienen.

 

 

Für Antonia, Felicitas und Xenia

 

1. – Donnerstag

 

»Mörder! Alles Mörder!« Direkt hinter uns poltert es und die Bremsen eines Autos quietschen.

Wir springen zur Seite und drücken uns an die Hausmauer. Eine gute Entscheidung. Keine Sekunde danach rumpelt ein hellblauer VW-Käfer mit den Vorderreifen auf den Bürgersteig und stoppt knapp neben unseren Füßen. Der Motor stirbt ab, ein derber Fluch dringt aus dem offenen Fenster. Dann wird die Tür aufgerissen und die Reitmeier Rosi stürmt heraus. Ihre graubraunen Haare stehen wirr vom Kopf ab und sie zerrt einen länglichen Gegenstand hinter sich her.

»Mörder«, schreit sie wieder und stürzt auf uns zu.

Meine Freundin Isabell, obwohl einen Kopf größer als ich, schiebt sich hinter mich. Sie umklammert meinen Oberarm. »Du meine Güte«, flüstert sie.

Rosi bleibt schnaufend vor uns stehen, zieht das Ding in die Höhe und schwingt es vor meinem Gesicht hin und her.

»Schau's dir an, Karin«, ruft sie, und ihre Stimme überschlägt sich. »Der Zauner hat die Mimi umbracht.«

Mein Blick gleitet von ihren rotfleckigen Wangen hinüber zu ihrer schwieligen Faust und hinunter auf das Ding. Mein Gott! An einem auffallend kurzen Schwanz baumelt eine getigerte Katze. Ich schlucke. Das arme Tier ist offensichtlich tot. Ein Stück seiner rosa Zunge ragt aus dem Maul, und auf einen seiner Augäpfel setzt sich gerade eine Fliege. Mich schüttelt es.

Hinter mir haucht Isabell: »Oh, die arme Katze. Was ist denn passiert?«

»Der Zauner war's«, giftet die Reitmeierin. »Ich hab's ja schon immer gesagt. Der Zauner bringt noch meine Katzen um. Und jetzt ist es geschehen. Ich war auf der Polizei. Hab dem Grieshuber die Mimi hingehalten und gesagt, dass der Zauner wieder seinen Dreck auf meinen Grund geschmissen hat, und sie hat's aufgefressen, das elende Viech. Aber der hat nur den Kopf geschüttelt. Immer nur den Kopf geschüttelt. So ein sturer Hammel, ein sturer.« Ihre Stimme bebt vor Zorn.

Ich streiche meine Locken aus der Stirn und seufze. »Rosi«, fange ich an, aber ich komme nicht weit.

»Der Zauner war's«, ruft sie über unsere Köpfe hinweg und hält die Katze hoch.

Ich drehe mich um. Ein älteres Ehepaar ist in einiger Entfernung stehen geblieben und sieht unsicher zu uns herüber. Ich kenne sie nicht. Wahrscheinlich Kurgäste aus dem nahen Bad Griesbach, die sich den historischen Platz von Kirchmünster anschauen wollen. Er ist ja auch pittoresk, unser Kirchplatz, mit den bunten Fassaden der Stadthäuser und den gewaltigen Kastanienbäumen. Im Moment jedoch haben sie dafür keinen Blick. Auf der anderen Seite kommen ebenfalls Leute heran und stecken ihre Köpfe zusammen. Wir haben gute Chancen, zum heutigen Tagesgespräch zu werden.

Zu allem Überfluss ist auch noch der Schulbus im Begriff, die Haltestelle anzufahren. Gleich wird es hier von Kindern wimmeln, die schreiend die tote Katze entdecken.

»Rosi«, wiederhole ich energischer als zuvor. »Es ist wirklich furchtbar, was mit der Mimi passiert ist.« Ohne die Reitmeier Rosi aus den Augen zu lassen, nehme ich die Bücher, die ich gekauft habe, aus der Plastiktüte und drücke sie Isabell in die Hand.

»Ganz schrecklich«, fahre ich fort. »Aber vom Rumschreien wird sie nicht wieder lebendig. Willst du sie nicht besser beerdigen?« Ich schüttle die Tüte auf und halte sie unter die Katze. »Die Mimi würde bestimmt lieber unter dem Holunderbusch liegen, als hier in der Sonne herumgezogen zu werden. Meinst du nicht?«

Ich stülpe die Tüte von unten über den toten Körper und nicke der Rosi auffordernd zu. Mit wildem Blick fixiert sie mein Gesicht. Ich bemühe mich, sie anzulächeln und freundliche Entschlossenheit auszustrahlen. So stehen wir uns eine Weile gegenüber. Ich höre das Zischen der sich öffnenden Bustüren, verstärke mein Lächeln und habe Glück. Tränen glitzern in ihren Augen und die Katze plumpst in den Beutel.

»Gut.« Erleichtert nehme ich die Tasche in die eine Hand, fasse Rosi am Ellbogen und drehe sie Richtung Auto. Ich schöpfe bereits Hoffnung, dass ich die unselige Situation schnell und glimpflich beenden kann. Aber ich habe Rosi unterschätzt. So schnell gibt sie nicht auf.

Sie wischt meine Hand von ihrem Arm und packt stattdessen meine Schultern. »Karin. Du kennst doch die ganze Geschicht. Der Zauner, der Mistkrippi, traktiert mich jedes Jahr. Es nimmt einfach kein End.«

»Rosi«, versuche ich, sie zu unterbrechen. Es bleibt bei dem Versuch.

»Und du wirst seh'n, jetzt beim Karpfhamer geht's auch wieder los mit der Stehlerei.« Sie beugt sich näher zu mir herüber und reißt ihre Augen auf. »Er hat eine ganze Bande, und er ist der Chef. Handtaschen«, zischt sie und nickt. »Glaub's mir. Handtaschen.«

In gebührendem Abstand verfolgen die Passanten das Geschehen. Sie tuscheln. Die Worte »Zauner« und »Handtaschendieb« spitzen aus dem Gemurmel heraus. Wenn die Rosi nicht aufpasst, hat sie gleich noch eine Anzeige wegen übler Nachrede am Hals. Wäre ja nicht die erste.

Ich neige mich zu ihr und sage leise: »Rosi, du bist jetzt aufgebracht. Sag nichts Unüberlegtes.« Ich hebe abwehrend die Hände, weil sie schon wieder den Mund öffnet, und spreche schnell weiter. »Es ist eine schwere Zeit für dich. Das Volksfest macht dir zu schaffen, erst der Aufbau, dann die vielen Leute.«

»Und dieser Krach!«, plärrt sie. »Den ganzen Tag und die ganze Nacht.«

Ich lege meine Hand auf ihren Arm. »Ja, ich weiß. Vielleicht solltest du mal wieder zu mir kommen. Dann üben wir zusammen autogenes Training. Zur Beruhigung.« Zwar habe ich dazu überhaupt keine Lust – ich erinnere mich mit Grausen daran, wie sie damals fast meinen Entspannungskurs mit ihrem Mitteilungsbedürfnis hätte platzen lassen – aber ich halte es für meine Pflicht, es ihr anzubieten. Schließlich bin ich Psychotherapeutin geworden, um den Menschen zu helfen.

Rosi beutelt sich jedoch wie ein Hund. »Ich brauch kein autogenes Training«, ruft sie. »Ich bin ganz ruhig. Aber helfen könnst mir schon. Du ...«, dabei pikt sie mir mit dem Zeigefinger in den Brustkorb, »du hast doch schon so viel aufgeklärt. Die ganzen Morde und das andere Zeug. Spionier dem Zauner hinterher. Du find'st bestimmt was. Dann kommt er ins Gefängnis und ich hab endlich mei Ruh.«

Ich bin sprachlos.

»Na, was sagst? Das wär doch was für dich. Ha?«

Langsam lasse ich die Luft aus meinen Backen entweichen. Ideen hat die! Den Zahn muss ich ihr allerdings gleich ziehen. Ich lasse mich nicht für ihre Spinnereien einspannen!

»Nein, Rosi, das mache ich nicht.« Ich sehe sie ernst an. »Der Zauner ist ein unbescholtener Bürger. Er kann nichts dafür, dass er auf dem Karpfhamer sein Festzelt genau neben deinem Hof stehen hat. Lass du ihn endlich in Ruhe, dann hast selber auch deine Ruh.« Klare Worte können nicht schaden.

»Pah, dann mach halt nichts. Du wirst schon noch sehen, dass ich recht hab.« Damit reißt sie mir die Tüte aus der Hand und läuft zu ihrem Auto. Der Motor heult auf, das Getriebe knirscht, dann holpert der alte Käfer vom Bürgersteig, drängelt sich in den Verkehr und rast davon.

Ich atme auf. Die Leute lachen und gehen weiter. Ein gutaussehender Mann mit grauen Schläfen lächelt mir zu und hält den Daumen nach oben. Ja, ich bin seiner Meinung. Ich habe mich prima geschlagen.

»Was war denn das?« Isabell tritt neben mich und wirft ihre langen, dunklen Haare nach hinten.

»Das war Rosi«, antworte ich.

Das ältere Ehepaar kommt langsam näher. Die Frau hat sich bei ihrem Mann untergehakt und macht immer noch einen ängstlichen Eindruck.

»Sagen Sie«, spricht er mich an, »sollten wir nicht lieber die Polizei rufen? Diese Frau war ja nicht ganz bei Sinnen.«

»Nicht nötig«, ich winke ab. Das fehlt mir gerade noch, mich mit dem Grieshuber wegen der Reitmeierin herumschlagen zu müssen. Ich setze mein treuherziges Gesicht auf. »Wir haben nur für ein Stück geprobt. Laienschauspielgruppe, wissen Sie.«

»Ah so.« Die beiden nicken. Nun taut auch die Frau auf. »Das ist ja interessant«, meint sie. »Wie heißt das Stück denn?«

»Die Karpfhamer Katz«, sage ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ein kurioser Name. Wird es denn bald aufgeführt?« Offenbar sind die beiden kulturbeflissen.

Ich wiege meinen Kopf hin und her. »Das steht noch nicht fest. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt im Rottal.« Schnell nehme ich Isabell bei der Hand und ziehe sie über die Straße zur Kirche hinüber.

Als wir außer Hörweite sind, bleibt meine Freundin stehen. »Karin, sag mal, den beiden hast du jetzt aber einen Bären aufgebunden, oder?«

Ich lache. »Natürlich. Was denkst denn du?«

Sie sieht mich tadelnd an und schüttelt den Kopf. »Aber wie kannst du darüber nur deine Witze machen? Die arme Katze. Es ist doch schlimm, wenn jemand Katzen vergiftet.«

»Natürlich. Aber ich glaube nicht, dass sie vergiftet worden ist. Die Reitmeier Rosi hat mindestens dreizehn Katzen, und da kann es schon vorkommen, dass eine stirbt.«

»Dreizehn Katzen?«, wiederholt Isabell.

Ich nicke. »Du kennst die Rosi nicht. Sie ist etwas sonderbar.«

»Na, das hab ich auch gerade gemerkt«, meint Isabell.

»Ja, die Rosi spinnt halt ein bisschen. Das eben war ein schönes Beispiel. Eigentlich darf ich nicht darüber reden, aber nur so viel: Vor zwei Jahren ungefähr war Rosi bei mir in Behandlung. Wegen ihrer Nervosität, wie sie sich ausgedrückt hat. Obwohl sie in Rente ist, seit Langem erwerbsunfähig, wenn ich das richtig im Kopf habe, war sie im Dauerstress. Und wie wir gerade gesehen haben, ist sie das zumindest um das Karpfhamer herum immer noch. Ich hab die Behandlung damals beendet. Sie war die anstrengendste Klientin, die ich jemals hatte. In jeder Sitzung ist sie über einen ihrer Bekannten hergezogen. Sie wusste über jeden etwas Schlechtes. Irgendwann hab ich ihr keine Termine mehr gegeben. Für ihre Tratscherei musste sie sich jemanden anderen suchen.«

Ich zeige Richtung Trachtengeschäft, das in der Volksfestzeit der Einkaufsmagnet in Kirchmünster ist. Die Leute geben sich quasi gegenseitig die Türklinke in die Hand. Tracht ist in und ein absolutes Muss für einen zünftigen Festbesuch. »Komm, lass uns jetzt endlich zu den Münchhamers gehen und dir ein Dirndl kaufen. Du sollst anständig angezogen sein fürs Karpfhamer.« Ich eile voran.

»Okay. Aber meinst du nicht, dass die Katze -«

»Nein, meine ich nicht. Jetzt komm. Vergiss es einfach.«

 

***

 

Die Glocke bimmelt, als ich die Tür des Geschäftes aufdrücke.

»Ja, Frau Schneider«, begrüßt mich sofort Vroni Münchhamer, und ihre Schwester Hilde winkt uns aus den Tiefen des Ladens zu. Die beiden sind Anfang sechzig und mit Leib und Seele Trachtenschneiderinnen. Sie haben den Laden von ihrer Mutter übernommen und nach einer Zeit der Dürre, in der nur sehr traditionsbewusste Frauen an hohen Festtagen im Dirndl gingen, floriert nun das Geschäft. Selbst ich habe mich von der wiederauflebenden Trachtenbegeisterung anstecken lassen und letztes Jahr mein erstes Dirndl seit Langem bei ihnen erworben. Als Kind in München hatte ich mal eins, doch in späteren Jahren wäre es mir nicht im Traum eingefallen, so etwas auch nur in meinen Kleiderschrank zu hängen. Aber was soll ich sagen? Ich fühle mich wohl darin. Man ist einfach gut angezogen. Letzte Woche habe ich dann noch ein zweites gekauft. Und jetzt schleppe ich meine Freundin hier herein. Damit zähle ich mich zu den Stammkundinnen.

Beide Münchhamerinnen sind beschäftigt. Hilde zupft bei einer Frau mit blonder Hochsteckfrisur und auffallend großem Mund am Saum einer lila Kreation herum. Die grasgrüne Schürze finde ich mehr als gewagt dazu. Auf den ersten Blick macht die Frau einen zu steifen Eindruck, als dass so ein Hingucker überhaupt in Frage käme.

Vroni schlichtet ein Rottaler Dirndl mit rotem Mieder und hellblauer Schürze in eine große Papiertasche und geleitet die Kundin zu Tür. Dann dreht sie sich zu uns um. »Wie schön, dass Sie vorbeischauen, Frau Schneider. Haben Sie in Ihrem Schrank noch ein Platzerl für ein drittes G'wand gefunden?«

Ich winke ab. »Nein, nein. Heuer nicht mehr. Vielleicht nächstes Jahr. Aber ich hab Ihnen hier meine Freundin Isabell Chiara mitgebracht. Die braucht dringend eins.«

»Ah, die Frau Chiara, grüß Sie Gott.« Vroni Münchhamer schüttelt Isabell die Hand. »Sie sind die Künstlerin, die im Schloss ein Atelier hat, gell?«

Isabell nickt. »Ja, im KUSS. Aber ich bin dort Gott sei Dank nicht allein. Ich hab sehr nette Kollegen.«

»Was heißt jetzt KUSS gleich wieder?«, fragt Vroni.

»Kunst im Schloss«, antworten wir gleichzeitig und lachen.

»Ja, freilich, Kunst im Schloss. Sehr schön. Und was kann ich jetzt für Sie tun?«

Meine Freundin lässt ihren Blick über die Kleiderstangen gleiten, an denen Dirndl an Dirndl hängen. In allen Farben und Größen. In kurz oder lang. Daneben passende Strickwesten oder auch die Lederhose für die Dame. Isabell schaut Frau Münchhamer unschlüssig an.

»Haben Sie etwas in Orange?«, fragt sie.

»Orange?« Sollte dieses Ansinnen Erstaunen bei der Trachtenexpertin ausgelöst haben, so merkt man es ihr nicht an.

»Ja, oder in Gelb«, ergänzt Isabell.

»Aber natürlich haben wir auch etwas in diesen Farben. Ich nehme an, Größe achtunddreißig.« Die Verkäuferin lässt einen professionellen Blick über Isabells Figur fliegen und zieht dann ein Kleid in sattem Gelbton hervor, an dem eine gelb-orangefarbene Schürze flattert.

»Wow«, entfährt es Isabell. Sie liebt bunt. Das kann man auch an ihren Bildern ablesen. Meistens malt sie großformatige Sonnen, von denen eine in meiner Praxis hängt und positive Energie ausstrahlt.

»Die Kabinen sind dort hinten, wenn Sie es anprobieren möchten.« Frau Münchhamer weist in den hinteren Teil des Ladens, und Isabell verschwindet hinter dem Vorhang.

Die blonde Frau hat das lilafarbene Kleid gegen ein vornehmes Modell in Dunkelblau vertauscht, das eindeutig besser zu ihrem Typ passt. Finde ich zumindest. Irgendwoher kenne ich sie. Dieser Gegensatz von leidenschaftlich vollen Lippen und offensichtlicher Zugeknöpftheit ist mir schon früher aufgefallen. Aber ich komme im Moment nicht darauf.

»Vorhin hatte die Reitmeierin wieder ihren Auftritt.« Frau Münchhamer grinst mich verschmitzt an. Ich wundere mich, woher sie das denn schon wieder weiß. Dann sehe ich jedoch aus ihrem Schaufenster und verstehe. Von hier aus hat man einen prima Blick auf die gegenüberliegende Seite des Kirchplatzes, an der vor ein paar Minuten ein alter Käfer nicht vorschriftsmäßig geparkt hat.

»Na ja.« Ich zucke mit den Schultern. »Sie hat's halt auch schwer, so direkt neben der Festwiese. Mir würde es auch nicht gefallen, wenn Hunderttausende an meinem Garten vorbeilaufen und mir beim Rasenmähen zuschauen.«

»Die spinnt, das ist alles«, kommentiert die blonde Frau mit einem strengen Zug um den Mund. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, dreht sie sich zum Spiegel zurück.

»Aha.« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

»Kennen Sie sich?«, fragt Frau Münchhamer. »Das ist Frau Ilzdorfer. Frau Schneider.« Mit gedämpfter Stimme sagt sie: »Ihrem Mann gehört die Ilzdorf-Brauerei.« Und ich kann hören, wie im selben Moment Hilde Münchhamer zu Frau Ilzdorfer flüstert: »Sie hat doch die Morde aufgeklärt.«

Jetzt fällt mir auch wieder ein, warum sie mir bekannt vorkommt. Ich gehe ein paar Schritte in ihre Richtung und sage: »Wir kennen uns vom Elternabend, nicht wahr? Unsere Kinder gehen in dieselbe Klasse, in die 9b. Meine Tochter heißt Susanne und Sie haben einen Sohn, den ...« Ich überlege, ob Susa schon mal seinen Namen erwähnt hat. Wohl nicht.

»Stefan«, spricht sie in den Spiegel.

»Genau. Den Stefan.« Von einem Stefan hat Susa sicherlich noch nie etwas erzählt. Dann muss er zu den nicht so angesagten Jungs gehören. Egal. »Wie geht's ihm denn in Chemie? Versteht er was? Meine Tochter tut sich ja damit ein bisschen schwer, und der Lehrer, der Meier, muss auch nicht so gut sein.«

Wenn ich dachte, auf diese Weise mit der Frau Ilzdorfer ins Gespräch zu kommen, habe ich mich geirrt. Sie dreht sich noch nicht einmal zu mir um, sondern spricht wieder in den Spiegel, und ihr Gesicht drückt keinesfalls freundliche Anteilnahme aus. In dezidiertem Tonfall erklärt sie: »Der Stefan ist sehr gut in der Schule.« Dann verschwindet sie in der Umkleidekabine. So ein arrogantes Weib!

Aber ich habe nicht viel Zeit, mich länger über sie aufzuregen, denn in diesem Moment gleitet der Vorhang der anderen Kabine zur Seite und der Raum erstrahlt in Gelb-Orange. Isabell tanzt auf uns zu.

»Ich fühle mich wundervoll«, flötet sie und dreht sich im Kreis. Einer Sonnenblume gleich wirbelt sie über den Teppich. »Ganz phantastisch.«

»Hab ich dir ja gesagt.« Ich bin froh, dass ich insistiert und recht behalten habe. Ein Dirndl hat was! Die Farbe ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber wenn das der Preis dafür ist, dass sie ordentlich ausgestattet mit mir aufs Karpfhamer geht, muss ich eben ein Auge zudrücken. Mit nur einem Auge ist der Farbschock auch nicht mehr ganz so extrem.

»Toll siehst du aus«, sage ich, und Frau Münchhamer fällt sofort ein: »Sie können das tragen. Da sieht man sofort, dass Sie Künstlerin sind. Sie werden allen die Schau stehlen, Frau Chiara.«

Isabell bewundert sich im Spiegel und fasst spielerisch ihre Haare nach oben zusammen. Frau Hilde hat Frau Ilzdorfer verabschiedet und gesellt sich zu uns. Sie schlägt begeistert die Hände vor ihrem Mieder aneinander. »Sehr kleidsam, Frau Chiara, und ja, eine Hochsteckfrisur, vielleicht geflochten, und hier, darf ich«, sie beugt sich vor und zupft an Isabells Haaren, »ein paar kleine Strähnen, perfekt.« Frau Hilde tritt zurück und bestaunt ihr Werk. Ihre Schwester verströmt ebenfalls vollste Zufriedenheit.

»Ich nehm's«, verkündet meine Freundin und erntet rundherum zustimmendes Nicken. »Am liebsten würd ich es ja gleich anlassen. Aber ich muss noch mal ins Atelier.« Sie vollführt zum Abschluss eine Pirouette und schwebt zur Umkleidekabine.

Die beiden Schwestern bestätigen sich gegenseitig noch einmal, wie gut ihre Kundin in einem ihrer Dirndl ausgesehen hat. Dann ist dieses Thema ausgeschöpft.

»Ja«, beginnt Frau Vroni. »Die Frau Ilzdorfer haben Sie also schon gekannt?«

Ich mache eine wegwerfende Geste. »Nur flüchtig. Aus der Schule. Unsere Kinder.« Dort drüben gibt es eine Samtauslage mit Trachtenschmuck, die sollte ich mir genauer ansehen.

»Kennen Sie dann den Herrn Ilzdorfer auch?«, fragt Hilde Münchhamer. »Eine Augenweide.« Sie kichert und ihre Schwester stimmt ein. »Und Georg heißt er. Sozusagen der George Clooney vom Rottal.« Die beiden verstecken ihr Giggeln hinter der Hand.

»Tatsächlich?« Für dieses Thema kann ich mich erwärmen.

»Ja, aber das ist für die Frau bestimmt nicht einfach. So ein Bild von einem Mann weckt natürlich bei den anderen Frauen Begehrlichkeiten.«

»Begehrlichkeiten?« Ich frage mich gerade, ob die beiden Schwestern überhaupt verheiratet sind. Ein Herr Münchhamer ist mir jedoch nicht bekannt.

»Genau.« Sie kichern wieder. Frau Vroni macht ein ernstes Gesicht und beugt sich näher zu mir. Ihre Nasenspitze leuchtet. »Man sagt, er hätte was mit der eigenen Haushälterin.«

»Ein junges hübsches Ding«, fügt ihre Schwester hinzu. »Aus der Großstadt.«

Ich verkneife mir ein Grinsen. Diese verruchte Großstadt. Der bin ich auch nur mit knapper Not entronnen. Ohne Frage, ich amüsiere mich.

»Mit der eigenen Haushälterin? Das ist frech. Und, ist die Frau über die Eskapaden ihres Mannes informiert?«

Die beiden weichen zurück. »Oh, das wissen wir nicht.«

Isabell tritt mit dem bayerischen Traum in Gelb über dem Arm aus der Kabine. »Nehmen Sie auch Kreditkarte?«

»Aber natürlich.« Die beiden Münchhamerinnen schalten sofort wieder auf Geschäftsfrau um.

Draußen vor der Tür hänge ich mich bei Isabell ein. »Na, bist du froh, dass ich dich quasi zu deinem Glück gezwungen habe?«

Sie drückt meinen Arm. »Natürlich, Karin, du hattest recht. Wie immer.« Wir gehen ein paar Schritte.

»Da drin erfährt man ja allerhand über seine Mitmenschen«, meint Isabell und nickt mit dem Kopf zurück in Richtung Trachtengeschäft. »Ich hab mit dem Umziehen extra getrödelt, damit ich die Geschichte nicht unterbreche.«

»Gut gemacht«, lobe ich sie. »Ich möchte allerdings nicht wissen, was sie dem Nächsten über uns so alles erzählen.«

Wir umrunden die Pfarrkirche und streben der Tiefgarage zu, in der ich meinen alten Kangoo abgestellt habe. Da bleibt meine Freundin unvermittelt stehen. »Kommt eigentlich Martin am Wochenende?«

Mit dieser Frage bringt Isabell eine gewisse Schwermut in diesen heiteren Vormittag. Denn meinen Mann sehe ich nur noch selten. Vor ein paar Monaten hat er einen Chefarztposten in München-Großhadern angenommen und beehrt seine Familie nur noch gelegentlich am Wochenende. Ich bin zur grünen Witwe geworden. Alleinerziehend mit drei Kindern, Linus, Susa und Vicky, denn Lilli, die untreue Tomate, hat der Provinz auch den Rücken gekehrt. Ihr ist es schon lange zu fad gewesen. Jetzt geht sie in Schwabing ins Gymnasium und macht ihre Geschwister mit ihren Geschichten vom Großstadtleben neidisch. Daran wird sich so schnell nichts ändern, denn Susa ist mir mit ihren fünfzehn Jahren noch zu jung, um tagsüber unbeaufsichtigt in München herumzulaufen, und Vicky ist eh erst zwölf. Aber Linus hat daran zu knapsen. Eigentlich wäre er mit seiner Zwillingsschwester, die nur noch die Ferien bei uns verbringt, mitgegangen. Aber im letzten Jahr ist Anna in sein Leben getreten, und ohne seine Freundin geht er im Moment nirgendwo hin. Das heißt, er bleibt mir noch eine Weile erhalten, denn Anna bekäme man höchstwahrscheinlich nur tot aus Niederbayern heraus. Mir soll es recht sein.

»Nein«, antworte ich. »Martin hat an diesem Wochenende eine Tagung in Berlin. Außerdem war er noch nie ein Fan vom Karpfhamer Volksfest.« Ich zucke mit den Schultern. »Egal. Uns beiden Hübschen wird schon nicht langweilig werden.«

Auch damit sollte ich recht behalten.

 

***

 

Kaum bin ich zu Hause angekommen, klingelt das Telefon. Gleichzeitig springt mir Runa zur Begrüßung freudig wedelnd entgegen. Ich tätschle meiner Hündin, einem Retriever-Mix, den Kopf, gehe zum Apparat und nehme ab.

»Karin, hier ist Claudia. Claudia Schlagl«, tönt es mir aus dem Hörer entgegen. Ich krame in meinem Gedächtnis und finde eine Übereinstimmung mit einer Bekannten aus dem Gartenbauverein. Ja, dieser Institution bin ich vor einigen Jahren gleich nach unserem Umzug von München nach Niederbayern beigetreten. Denn nirgendwo lernt man schneller Leute kennen als in Vereinen. Und da ich mit Blumen mehr anfangen kann als mit Gewehren oder auch mit Kegeln, war der Gartenbauverein meine erste Wahl.

»Claudia, grüß dich. Lang nicht mehr gesehen.« Was konnte die bloß von mir wollen?

»Ja, stimmt, ist schon eine Weile her.« Sie zieht die Nase hoch. »Aber ich hab deine Karriere in der Zeitung fleißig mitverfolgt.«

»Welche Karriere?« Ich runzele die Stirn. Auch wenn Claudia das nicht sehen kann, hängt der Zweifel wohl in meiner Stimme. Denn die paar Hansl, die in meine psychotherapeutische Heilpraktiker-Praxis kommen, kann man unmöglich eine Karriere nennen.

»Na, deine Erfolge als Ermittlerin«, trompetet sie in mein Ohr.

Ich schweige. Gerade heute habe ich wieder die Erfahrung gemacht, dass dieses Entree zu nichts Gutem führt.

Claudia schnieft. »Das war wirklich unglaublich, wie du dem Landrat draufgekommen bist. Oder die Sache mit der Pflegerin im Altenheim. Wer hätte das gedacht?«

Okay. Ich habe verstanden. »Danke, Claudia. Kann ich etwas für dich tun?« Ich gehe mit dem Mobilteil des Telefons in die Küche und gieße mir einen Orangensaft ein. Ich habe so das Gefühl, dass ich eine Stärkung gut gebrauchen kann.

»Wenn du mich so direkt fragst, Karin, da fällt mir schon etwas ein.« Ich höre, wie sie sich verhalten in ihr Taschentuch schnäuzt. »Ich bin krank, Karin. Nichts Ernstes. Gottlob. Eine verspätete Sommergrippe. Frau Dr. Brockkamp meinte, ich soll mich ein paar Tage ins Bett legen und Salbeitee trinken.« Sie niest. Explosionsartig. Leider habe ich nicht schnell genug reagiert. Na ja. Ich halte den Hörer ans andere Ohr. »Nun kann ich meine Dahlien nicht hochstecken. Und mein Gemüsegarten … Die Bohnen wuchern, ich sage dir.« Sie seufzt.

»Ich soll deinen Garten machen?« Nun bin ich wirklich verdutzt.

»Nein, natürlich nicht, Karin.« Ihr Lachen geht in ein Husten über. Als der Anfall vorüber ist, fährt sie fort: »Heute beginnt doch das Karpfhamer. Und mein Mann, der Franz, nimmt sich die ganzen sechs Tage frei. Er geht so gerne hin.« Ihr Taschentuch schrabbt über die Sprechmuschel. »Ich hab ihn damals auch am Karpfhamer kennengelernt. Im Motodrom. Ja. Das ist auch schon wieder fünfzehn Jahre her.« Sie stockt. Die Erinnerungen haben sie überwältigt.

Dann räuspert sie sich. »Auf jeden Fall war ich bisher immer dabei, auf dem Karpfhamer. Jeden einzelnen Tag. Und ich hab es gerne gemacht, Karin, das musst du mir glauben. Aber heuer«, ihre Stimme bekommt einen weinerlichen Unterton, »bin ich krank. Zu krank fürs Motodrom.« Sie schnaubt laut in ihr Tuch. Es dauert eine Weile, bis sich Claudia wieder gefasst hat. »Und deshalb«, sie hickst, »deshalb hab ich an dich gedacht, liebe Karin.«

»An mich?« Mir schwant Böses. Ich nehme noch einen Schluck Orangensaft.

»Ja, an dich.« Ihre Stimme hört sich nun erstaunlicherweise fester an. »Du hast doch Erfahrung in verdeckten Ermittlungen.«

Darauf fällt mir so schnell nichts ein.

»Deshalb ist es für dich doch ein Klacks, auf meinen Franz ein wenig aufzupassen.«

»Was?« Ich stelle mein Glas mit lautem Knall auf die Küchentheke.

Claudia hustet wieder. »Bitte, Karin. Du hast doch bestimmt auch in der PNP gelesen, dass sich die Scheidungsrate nach dem Karpfhamer um dreißig Prozent erhöht. Und ich will nicht zu den dreißig Prozent gehören.«

Sie schluchzt, und ich schnaufe. Wie komme ich aus dieser Nummer heraus? Ratlos reibe ich mir am Kinn.

»Claudia ...«, beginne ich.

»Bitte!«

»Mensch, Claudia, wie soll ich ihn denn überhaupt finden unter all den Leuten? Schließlich sprechen wir von knapp fünfhundertausend Menschen in sechs Tagen, also überschlägig achtzigtausend pro Tag.«

»Das ist ganz einfach. Du weißt doch, wie er aussieht.« Sie macht eine Pause.

»Nun, ja … Ich glaube schon.« Ich habe ihn mal beim Obstbaumschneidekurs auf der gemeindeeigenen Streuobstwiese gesehen. Vor Jahren. Ein etwas dicklicher Vierzigjähriger mit schütterem braunem Haar. Typ Versicherungsvertreter. Wenn ich mich recht erinnere, arbeitet er irgendwo in einem Büro. Ob Claudia wirklich so besorgt sein muss um ihn, würde ich bezweifeln. Aber, bitte, eventuell irre ich mich auch und er ist der reinste Casanova.

»Gut.« Der Punkt ist für Claudia damit abgehakt. »Franz geht immer am Donnerstag zum Anstich ins Zaunerzelt. Da kannst du ihn gar nicht verpassen.« Sie ist zuversichtlich.

»Claudia, ich weiß nicht …«

»Oh bitte. Wenigstens heute Abend, Karin. Ich zahle dir auch gern eine, wie sagt man dazu, eine Aufwandsentschädigung.«

»Nein, das kommt ja gar nicht in Frage.« Engagieren lass ich mich auf keinen Fall von ihr. Wer weiß, was ihr noch alles einfallen würde.

»Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll«, jammert Claudia und putzt sich geräuschvoll die Nase.

Ich seufze. Ich streiche mir über die Stirn. Ich seufze erneut. Dann gebe ich mir einen Ruck. »Na gut. Ich bin heute eh beim Anstich, falls ich deinen Franz sehen sollte, dann ...“ So genau weiß ich auch nicht, was ich dann machen werde. Aber sie scheint damit zufrieden.

„Super, Karin, danke dir! Du bekommst auch einen Fexer von meiner bayerischen Feige.«

»Na prima!« Was tut man nicht alles für einen Feigen-Ableger, noch dazu einen bayerischen. Nein, Quatsch. Aber ich bin ein von Grund auf gutmütiger Mensch und ich hasse es, meinen Mitmenschen eine Bitte abzuschlagen. Da ich vorhin mit Rosi schon so streng war – sein musste –, ist mein Kontingent für den heutigen Tag erschöpft. Ich kann nur hoffen, dass meine Kinder diesen Schwächezustand nicht mitbekommen.

Außerdem wollte ich heute sowieso aufs Fest. Den Anstich lasse ich mir nie entgehen. Endlich hat das Warten ein Ende und das Karpfhamer beginnt. Na, dann kann ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden und gleich ein gutes Werk tun. Was soll's?

Claudia triumphiert. Niesend. Und hustend. Wir beenden das Gespräch.

 

***

 

Es ist inzwischen zwölf Uhr. Gerade will ich mich um das Mittagessen kümmern, was, beiläufig erwähnt, nicht meine Lieblingsbeschäftigung ist. Kochen. Notwendige Pflichterfüllung für jede Mutter, die etwas auf sich hält. Schließlich sollen die lieben Kleinen etwas Vernünftiges zu sich nehmen. Aber so zeitaufwändig! Überlegen, einkaufen, kochen, abräumen. Und gerade das Gesunde macht am meisten Arbeit. Gemüse putzen, Salat waschen.

Egal.

Ich komme eh nur dazu, die Kühlschranktür für eine Inspektion zu öffnen, da klingelt es schon wieder. Diesmal an der Haustür. Als niemand schreiend aus dem oberen Stockwerk herunterstürzt, gehe ich an die Tür.

Davor steht ein Junge. Rotblonde Haare, am Scheitel zur Seite gekämmt. Ein schlaksiges Etwas mit einem Skatebord. Die vorstehenden Hüftknochen hindern die Jeans am Hinunterrutschen.

»Ja?« Ein aufmunterndes Lächeln begleitet meine Frage.

»Hey. Ist die Susa da?« Der Bub befindet sich gerade mitten im Stimmbruch. Süß!

»Hm. Ich glaube schon.« Schließlich bin ich erst seit Kurzem wieder zurück. Da kann sich an den häuslichen Verhältnissen seit dem Morgen einiges verändert haben. »Wer möchte das denn wissen?«

»Ich.« Er runzelt die Stirn. Vermutlich hält er mich für ziemlich begriffsstutzig.

»Ah ja, Ich, schön, dich kennenzulernen.« Ich strecke ihm meine Hand entgegen.

Erstaunlich, wie viele Falten auf so eine Jungenstirn passen. Er gewährt mir ein Händeschütteln. Dann sagt er doch noch: »Stefan.« Wahrscheinlich aus Mitleid.

»Stefan«, wiederhole ich mit für ihn sicherlich nicht nachvollziehbarer Begeisterung. »Ilzdorfer, nehme ich an.« Die Lippen hat er zweifelsfrei von seiner Mutter.

Die Stirn immer noch zerfurcht, nickt er. Langsam tut er mir leid. Ich halte die Haustür auf.

»Warte hier. Ich schau mal nach, ob die Susa da ist, okay?«

»Ist gut.« Er kommt herein und blickt auf Runa, die in den Flur spaziert ist, um den Gast zu begutachten.

»Sie tut nichts.« Mit dieser allseits beliebten Hundebesitzerfloskel überlasse ich ihn seinem Schicksal und steige die Treppe in den ersten Stock empor.

»Susa?« Ich klopfe an ihre Zimmertür und mache ebendiese auf. Meine Tochter liegt, wie es sich für eine Fünfzehnjährige gehört, bei strahlendem Sonnenschein um zwölf Uhr mittags mit herabgelassenen Jalousien im Bett. Aus den Kopfhörern dröhnen Bassklänge, die ihr Trommelfell sicherlich für alle Zeit zerstören werden.

Ich kenne das schon. Mit einem Griff habe ich die Anlage ausgeschaltet und lasse die Jalousien hochfahren. Meine Tochter fährt ebenso hoch. Entrüstet.

»Hey. Was soll das?« Ihre Haare sind verwuschelt und den Pullover hatte sie gestern Abend auch schon an. Offensichtlich hat sie darin geschlafen.

»Guten Morgen, mein Schatz.« Man soll sich als Elternteil ja nicht von der dauerschlechten Laune seiner pubertierenden Sprösslinge anstecken lassen. »Unten wartet Besuch auf dich.«

Ich hebe ein zerknülltes Handtuch vom Boden auf, das noch von gestern hier herumliegt. Inzwischen habe ich es aufgegeben, meiner klugen Tochter die Wirkung von feuchten Gegenständen auf Holzböden zu erklären. Das ist zu schwierig für das Fräulein. In zwei Jahren werde ich einen neuerlichen Vorstoß wagen.

Sie richtet sich auf. Ihre Augen funkeln. »Echt? Wer?« Man merkt, dass sie die Zeit überschlägt, die sie brauchen würde, sich zu duschen, ihre Haare zu waschen und sich ein cooles Outfit herauszusuchen.

»Stefan. Ilzdorfer.«

Susa fällt auf ihr Bett zurück. »Nee, Mama, nee. Nicht dein Ernst.«

Ich höre, dass im Gang eine Tür zuknallt und jemand die Stufen nach unten hüpft. Eindeutig Vicky, mein zwölfjähriger, noch nicht wirklich in der Pubertät angekommener Schatz.

»Doch.« Ich nicke. »Er steht unten mit einem Skatebord und freundet sich mit Runa an.« Ich ziehe ihr die Decke weg. »Los, steh auf. Es wird dir gut tun, ein bisschen raus zu gehen.« Ich öffne ihre Balkontür.

»Hey! Mach die Tür wieder zu!« Wütend reißt Susa mir den Bettzipfel aus der Hand und zieht sich die Decke bis unters Kinn. »Ich gehe bestimmt nicht zu dem Loser runter. Das kannst du vergessen. Nur weil ich gestern im Sapperlot mit ihm geredet hab, braucht er sich nicht einbilden, dass ich was mit ihm mache.«

Ich verschränke meine Arme. »Und warum nicht? Es sind Ferien. Du hast nichts anderes vor. Er scheint nett zu sein.« Dass er hinsichtlich seines Entwicklungsstandes noch etwas gegenüber meiner Tochter aufzuholen hat, muss ich ja nicht zugeben.

»Vergiss es.« Sie zerrt sich die Bettdecke über den Kopf. »Er ist ein Loser und dabei bleibt's.«

»Na dann.« Sanft schließe ich die Tür von außen.

Bin ich jetzt ein erziehungstechnisches Weichei? Kann schon sein. Aber ich kann doch meine Tochter nicht zwingen, einen ungebetenen Gast freudig zu empfangen. Sollte ich? Nein, ich nicht. Tut mir leid.

Gerade möchte sich bei mir dennoch eine Spur schlechten Gewissens bezüglich des verschmähten Jungen einschleichen - ganz umsonst. Denn von unten kommt angeregtes Geplapper. Vicky hat sich Stefans angenommen, und er scheint einstweilen ganz zufrieden zu sein, dass sich die jüngere Schwester von Susa um ihn kümmert. Er sitzt auf unserer Garderobenbank, streichelt Runa und hört Vicky bei einer ihrer unzähligen Pferdegeschichten zu. Anscheinend habe ich gerade die Pointe verpasst, denn die beiden lachen. Dann öffnet Vicky die Haustür, Stefan nimmt sein Skatebord und draußen sind sie. Ohne Mittagessen. Aber man kann als Mutter nicht alles haben.

Die Zeit bis zu meinem Aufbruch Richtung Festwiese verbringe ich mit Haushaltskram. Bei dreieinhalb Kindern – Lilli ist in den Ferien quasi zu Besuch hier – fällt jede Menge Wäsche und Unordnung an. Um fünf begebe ich mich ins Bad und beginne mit meiner Verschönerung. Viel erwarte ich nicht davon, denn auch mit Make-up wird aus einer Fünfundvierzigjährigen keine junge Göttin. Trotzdem bin ich mit dem Ergebnis zufrieden. Dann schlüpfe ich in mein neues Münchhamer-Dirndl, ein dunkelgraues Kleid mit verwaschenen Rosen. Der Vorteil an diesen Dirndln ist, dass sie für Frauen mit Figur gemacht wurden. Das Mieder hält etwaige Ausuferungen in Zaum und das Dekolleté lenkt den Blick des Gegenübers auf ansprechendere Polsterungen. Ideal für mich.

Nach einem Rundgang durchs Haus – alle bis auf Susa sind ausgeflogen, sie telefoniert – schnappe ich mir meine Handtasche, hänge sie probeweise an meinen Arm und mustere mich im Garderobenspiegel. So ganz zufrieden bin ich nicht. Die Tasche ist ein einfaches schwarzes Ding und passt nur suboptimal zu meinem G'wand. Ich sollte morgen einen Abstecher zu den Münchhamer-Schwestern machen und mir ein passenderes Exemplar gönnen. Mal schaun.

 

***

 

An sich ist Karpfham ein kleiner, unscheinbarer Ort mit einer spitztürmigen Kirche, einem Weinkontor und einem Reiterbedarfsgeschäft. Der Lebensmittelladen hat vor ein paar Jahren dichtgemacht, auch die Raiffeisenbank hat ihre Filiale hier geschlossen. Es existiert jedoch noch ein Bäcker, und der Bad Griesbacher Metzger schickt einmal in der Woche einen Verkaufswagen.

Aber jedes Jahr Ende August zur Volksfestzeit schwappt Leben in das Dorf. Die Wiesen der Bauern verwandeln sich in Parkplätze und auf dem Festgrund drängen sich Fahrgeschäfte neben Essensbuden und Zelten. Gleich angrenzend finden die Bauern alles, was für sie von Interesse ist. Die Rottalschau ist die größte landwirtschaftliche Ausstellungsmesse in Süddeutschland.

Als Linus klein war, waren die Traktoren und Schlepperfahrzeuge die wahre Attraktion für ihn. Stundenlang konnte er vor den riesigen Ungetümen stehen, und wenn er gar in einem sitzen durfte, war er tagelang glücklich.

Die Landwirtschaftsmesse war auch der eigentliche Ursprung des Festes. Es ist überliefert, dass dort schon Anfang des neunzehnten Jahrhunderts landwirtschaftliche Preisverleihungen abgehalten wurden, und da das Rottal Pferdeland ist, wahrscheinlich für Pferdezucht und Pferdesport.

Man kann den Niederbayern nicht vorwerfen, dass sie nicht gerne feiern. Denn die anfänglichen drei Tage Volksfest wurden peu à peu zu sechs Tagen ausgeweitet. Von Donnerstag bis Dienstag kann man sich heutzutage vergnügen, informieren und ein paar Mass heben. Und damit Letzteres klappt, gibt's an diesem Abend den Anstich.

Nachdem ich mein Auto auf einer der Parkplatzwiesen losgeworden bin, reihe ich mich in den Besucherstrom zur Festwiese ein. Schon an der Straße dorthin bieten Standl Lebkuchenherzen mit Aufschrift, Socken oder Staubsaugerzubehör an. Die meisten Leute halten sich hier jedoch nicht auf, sondern gehen schnurstracks zum eigentlichen Fest.

Allerdings müssen alle am Hof der Reitmeier Rosi vorbei. Das alte Rottaler Holzhaus mit dem beachtlichen Grund drumherum steht als einziges direkt neben dem Festplatz. Mit seinen kleinen Fenstern und den dunklen Holzschindeln trotzt es dem vergnügten Leben um ihn herum. Und Rosi trotzt mit. Allerdings nicht so stumm wie ihr Haus. Recht lautstark ist sie schon von Weitem zu hören. Ihr Schimpfen übertönt die Geräusche des nahen Festes und schwillt, wenn etwas oder jemand sie besonders aufregt, zu einem hohen Gekeife an. Ich spaziere näher.

Rosi trägt eine grüngemusterte Kittelschürze über T-Shirt und Jeans und wirkt dadurch älter als Mitte fünfzig. Ihre Haltung ist gebeugt, ihre mageren Schultern fallen nach vorne. Sie hält sich am Zaun fest, mustert mit festem Blick die Vorbeigehenden und stößt ihre Verwünschungen aus. Nicht jeder traut sich, sie anzusehen, sondern beeilt sich vorbeizukommen. Wie man auch um einen geifernden Schäferhund einen großen Bogen machen würde.

»Ja, geht's nur, geht's nur und schmeißt eure sauer verdienten Lutscherl zum Fenster raus! Ha, Sepp, meinst nicht, dass dei Frau und deine Kinder das Geld besser brauchen täten als der Wirt?«

Der Angesprochene macht nur eine wegwerfende Handbewegung und schreitet rasch weiter.

»Sepp, lauf zua, sonst wern die Schweinswürschtl kalt.« Rosi lacht auf und hört sich an wie die Hexe aus dem Märchenwald.

»De schaug o!« Sie zeigt mit dem Finger auf zwei junge Mädchen, die sich mit Glitzertops und Hotpants herausgeputzt haben. »Schamt’s ihr euch gar ned? Wenn ich eure Mutter wär, würd ich euch einsperren, in den Hühnerstall, da gehört’s hin. Goah goah goah!« Die Mädchen flüchten.

Ich bin beinahe bei ihr angelangt und lege mir schon zurecht, was ich ihr sagen will. Irgendwie hoffe ich, die richtigen Worte zu finden, um sie zu beruhigen. Wenigstens für kurze Zeit. Damit sie sich und ihren Mitmenschen eine Pause gönnen kann. Ich sehe ihr an, dass sie sich nur noch mit Mühe aufrecht hält. Gewiss steht sie hier schon seit Stunden.

Als ich quer über die Zufahrt zu ihrem Gartentor gehen will, fährt mir ein Auto vor die Füße und zwingt mich, zur Seite zu springen. Zum zweiten Mal an diesem Tag.

»Hey!«, schreie ich auf, aber der Fahrer dieses hässlichen rot-orangenen Monstrums kümmert sich nicht um mich. Er entsteigt mit Mühe seiner tiefgelegten Sardinenbüchse und hastet auf Rosi zu. Das überrascht mich. Was will der Kerl von ihr? Sie herunterputzen, weil sie alle Leute anpöbelt? Ich bleibe hinter seinem Gefährt stehen – »Corvette C4«, entziffere ich den Schriftzug am Heck – und beobachte erst einmal.

Der Mann ist groß, mindestens eins neunzig, und wirkt auf den ersten Blick imposant. Bis man feststellt, dass er keine Muskeln, sondern Fettpolster mit sich herumschleppt. Das zerstört den ersten Eindruck. Obwohl er wie Mitte dreißig aussieht, lichten sich bereits seine Haare. Trotzdem hat er sie mit Gel in die Höhe gestylt. Mich erinnert er ein bisschen an Meat Loaf in jungen Jahren. Allerdings hätte Meat Loaf nie ein giftgrün kariertes Hemd angezogen! Für den Moppel wäre eine dezentere Farbe auch kleidsamer gewesen.

Er wirft mir einen kurzen Blick zu. Seine Augenbrauen strecken sich gen Himmel und geben seinem Gesicht einen erstaunt-besorgten Ausdruck. Wie ich später noch feststellen werde, ist das seine normale Mimik.

»Rosi, meinst nicht, dass für heute genug ist?« Seine Stimme passt zu seiner Figur. Sie ist weich, fast ein bisschen schmalzig.

»Das sagt der Richtige«, fährt sie ihn an. »Der Gruber Hansi, noch so ein Volksfest-Gewinnler. Dass du um diese Zeit überhaupt schon aus dem Bett g'fallen bist?« Rosi sieht demonstrativ zur Kirchturmuhr hinüber, entdeckt dabei mich und wendet sich wieder ab. Offenkundig ist sie mir wegen heute Morgen beleidigt. Na ja.

Der Mann legt seine große Pranke auf Rosis schmächtige Schulter. »Sei doch g'scheit, gib doch einmal einen Frieden. Davon wird's doch nicht besser.«

Rosi reißt seine Hand herunter. »Rühr mich nicht an, Hundskrippi. Was weiß ich, wo du heut Nacht wieder deine Händ gehabt hast.«

»Tante!«, schreit er empört und weicht einen Schritt zurück.

Tante? Der Riesenteddybär ist Rosis Neffe? Ich wusste gar nicht, dass sie Verwandtschaft hat.

»Du willst dir nicht helfen lassen, bittschön, dann lass ich dich.« Er hebt seine Hände in einer resignierenden Geste, stapft zu seiner Corvette zurück und fährt davon.

Ich mache die paar Schritte auf sie zu. »Du bist heute aber liebenswürdig«, sage ich und habe gleich darauf meine Zweifel, ob das der richtige Beginn für eine konstruktive Unterhaltung war.

Anscheinend nicht, denn sie dreht hocherhobenen Hauptes ihre Nase auf die andere Seite und schweigt.

Ich stelle mich mit dem Rücken zum Zaun neben sie, lege meine Ellbogen auf die Holzlatten und blicke auf den Besucherstrom, der an uns vorüberzieht. »Was stört dich denn an den Leuten, Rosi? Die tun dir doch nichts.«

Sie stößt ein Zischen aus.

Mit einer ausholenden Bewegung weise ich auf Fußgänger, Fahrradfahrer und Autos. Mofas knattern vorbei. Von hinten trägt der Schall das Hupen und Klingeln der Fahrgeschäfte zu uns, die Mikrofonstimmen der Schausteller. Es ist wirklich mächtig was los, das muss man zugeben. Aber vielleicht könnte man das alles auch positiv sehen?

»Nimm es doch als Übung, Rosi, als Übung, bei dir zu bleiben.« Ich lege meine Hand auf meinen Bauch. »Atme in deinen Solarplexus und entspanne. Eventuell -«

»Schmeiß deine verdammte Zigaretten nicht in meinen Hof, du Saubär!« Rosi reißt das Gartentor auf, dessen Klinke sicherlich nur aus Versehen in meinen Solarplexus schlägt, und stürmt wie ein losgelassener Kettenhund auf einen jungen Burschen zu. Der ist gemütlich auf dem Bürgersteig entlanggeradelt, den Fußgängern ausgewichen und hat seinen Zigarettenstummel weggeschnipst. Das hätte er nicht machen sollen. Rosi packt ihn am Schlawittl und zieht ihn von seinem Rad herunter. Er stolpert, sein Fahrrad schlingert.

»Hey!« Der Schlacks versucht sich zur Wehr zu setzen, doch Rosi verpasst ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Was willst! Wenn i di noch einmal erwisch!« Sie hebt drohend die Hand. »Schau, dass'd weiterkommst, sonst setzt's was!«

Der junge Kerl beeilt sich, auf seinen Sattel zu steigen, und sucht das Weite.

»Frau Reitmeier«, brüllt es von hinten. Wir drehen uns gleichzeitig um.

Ein jüngerer Polizist kommt auf uns zugestürmt. »Nicht gar so gach!«, fordert er. »Sonst kriegen S' auch noch eine Anzeige wegen Körperverletzung. Langt Ihnen die wegen übler Nachrede noch nicht?«

»Der Herr Oberhauptkommissar Riedl«, ruft Rosi und verzieht verächtlich ihren Mund.

»Polizeimeister, wenn ich bitten darf«, sagt der Beamte.

Sie ignoriert seinen Einwurf. »Machen S' lieber was dagegen, dass die alle nicht immer ihren Dreck auf meinen Grund und Boden schmeißen.«

»Ach geh, keiner tut was«, wiegelt der Polizist ab.

»Und das grad war nichts? Und der Zauner? Der vergiftet meine Katzen!«

»Reitmeierin«, beginnt der Beamte, doch Rosi ist noch nicht fertig.

»Aber mir glaubt ja keiner. Immer nur ›Reitmeierin, Reitmeierin‹. Ich kann's nimmer hören.« Für eine Sekunde hält sie sich die Ohren zu, dann fuchtelt sie mit ihrem Finger heftig vor unseren Nasen herum. »Irgendwann ertrag ich's nimmer und dann bring ich mich um. Dann werd's schon sehen, was ihr von eurem Wegschaun habt's.«

Rosi wirft uns einen waidwunden Blick zu, rennt in ihr Haus und schlägt die Tür hinter sich zu.

»Rosi!«, rufe ich ihr hinterher, erschrocken über ihren Ausbruch.

Der Polizist ist keineswegs beunruhigt. »Lassen Sie's«, meint er. »Die kriegt sich schon wieder ein.« Damit tippt er an seine Schirmmütze und strebt dem Volksfest zu.

Ich blicke zur Haustür, die fest verschlossen bleibt. Das hab ich ja noch nie von ihr gehört. Der Polizist offenkundig schon.

Verhalten folge ich ihm. Aller Voraussicht nach ist es tatsächlich das Beste, Rosi jetzt allein zu lassen. Wenigstens steht sie nicht mehr am Zaun.

Mit jedem Schritt in Richtung Volksfest kehrt meine Vorfreude zurück. Und als ich die bunten Bänder sehe, die am grünen Kranz über dem »Grüß Gott«-Schild des Eingangs flattern, geht mir das Herz auf. Dahinter ragt das Riesenrad aus der Zeltstadt des Volksfestes empor. Diese einfache Stahlkonstruktion finde ich anrührend, denn sie erinnert mich an meine Kindheit.

In München bin ich als kleines Kind mit meiner Mutter oft auf die Wiesn gegangen. Natürlich gab es dort auch ein Riesenrad. Staunend stand ich davor und dachte, es müsse wie fliegen sein. Wunderbar hoch oben über der Stadt zu schweben und den Vögeln ins Gesicht zu sehen.

Irgendwann konnte ich meine Mutter überreden, eine Eintrittskarte zu kaufen und mit mir in solch eine glitzernde Gondel zu steigen. Aber damit war der Zauber vorbei. Wimmernd kauerte ich am Boden der Kabine und heulte. Ich hatte eine Heidenangst dort oben. Das war das letzte Mal, dass ich in so ein Gefährt eingestiegen bin.

Trotzdem bewahre ich in einer kleinen Kammer meines Herzens das Riesenrad als wertvolle Erinnerung an meine Mutter auf. Und dieses Gefühl steigt sacht in mir auf, wenn ich aufs Karpfhamer zugehe und die Gondeln im Wind schaukeln sehe.

Noch weiter hinten spießen die Türme von neuen Fahrgeschäften die weißen Wolken im bayrisch-blauen Himmel auf. Aber damit verbinde ich nichts Positives. Nie im Leben würde ich mit so etwas fahren!

Gleich nach dem Eingang lockt ein Stand mit gebrannten Mandeln, und es ist Tradition, dort eine Tüte zu kaufen. Früher bettelten meine Kinder auch um Zuckerwatte, aber die gab es später. Hier und heute gönne ich mir meine Mandeln und stecke eine in den Mund. Die erste schmeckt immer am besten. Dieser Zimt, der sich um die Geschmacksknospen schmiegt! Diese Zuckerhülle, die einem mit ihrer Knackigkeit vorspiegelt, gesund zu sein.

Ich genieße meine tausend Kalorien und bummle dem Zaunerzelt zu. Dort ist heuer der Anstich. Dieses Privileg wird gerecht zwischen den einzelnen Festwirten verteilt. In jedem Jahr hat ein anderer die Ehre, das erste Fass anzustechen. Und danach die Freibier-G'sichter auszuhalten. Ja, Anstich bedeutet Freibier.

In den Budengassen geht es geschäftig zu. Die Leute schieben sich aneinander vorbei. Aber das Nette am Karpfhamer Fest ist, dass man immer und überall jemanden trifft, den man kennt. Und so laufe ich quasi in den Herrn Biedersteiner hinein. Er wohnt seit ein paar Jahren in Bad Griesbach und hat mich schon öfter mit wichtigen Informationen versorgt. Kennengelernt habe ich ihn im Wald. Er drehte mit seinem Jack-Russell-Terrier Hasso zur gleichen Zeit seine Runden wie ich mit Runa. Und wenn sich die Hunde verstehen, kommen auch die Menschen zusammen.

Herr Biedersteiner ist ein hochgewachsener Mann mit klaren Gesichtszügen. Er hat glatt nach hinten gekämmte weiße Haare und hält sich betont gerade. Das gibt ihm ein vornehmes Aussehen. Obwohl er schon gut über siebzig Jahre alt sein müsste, ist er sehr agil und immer unterwegs. Im Moment amüsiert er sich vor einem Wettstand. Blecherne Kamelreiter kämpfen um den ersten Platz.

»Ah, Frau Schneider, Sie auch hier. Und so fesch im Dirndl. Alle Achtung!« Er hebt anerkennend seine Augenbrauen und wendet sich wieder dem Rennen zu. »Ist das nicht köstlich? Diese Vorrichtung kenne ich noch aus meiner Jugend!« Die Nummer drei geht gerade knapp vor der blauen Vier ins Ziel. »Sind Sie auch auf dem Weg zum Anstich?«

»Ja, wollen Sie mich begleiten? Oder sind Sie mit Frau Lindner verabredet?« Ich will keinen Unfrieden zwischen ihn und seine Freundin bringen.

»Ich begleite Sie gerne.« Er bietet mir seinen Arm und ich hake mich unter. »Trude wird später zu uns stoßen. Ich konnte nicht absehen, bis wann ich es schaffen würde. Ich war gestern in Frankfurt auf einem Treffen des Anwaltsvereins, und dann besuchte ich noch einen früheren Kollegen. Er ist auf Insolvenzrecht spezialisiert und hat von Jahr zu Jahr mehr zu tun. Das können Sie sich sicherlich vorstellen. Bei der heutigen Wirtschaftslage.« Er schüttelt den Kopf. »Immer, wenn ich wieder Einblick in die momentane Arbeitssituation bekomme, verspüre ich doch Erleichterung, dass ich mich damit nicht mehr auseinandersetzen muss. Aber lassen wir diese schweren Themen. Wir haben uns ja schon länger nicht mehr auf einem Spaziergang getroffen. Wie geht es denn Runa?«

Hundehalter können immer über ihre Lieblinge sprechen, und so bummeln wir in angeregter Unterhaltung durch die Gassen. Nebenbei lasse ich meinen Blick über die anderen Festbesucher gleiten. Irgendwo hier muss sich auch Franz, der Mann meiner besorgten Bekannten Claudia, herumtreiben. Ich bezweifele, dass er mir tatsächlich über den Weg laufen wird, aber ich will mir zumindest Mühe geben. Damit ich ihr morgen guten Gewissens erzählen kann, dass es leider nicht geklappt hat.

»Da sind wir ja schon.« Herr Biedersteiner weist auf das Bierzelt vor uns. Tannengrün und Girlanden mit weißblauen Rauten schmücken den Eingang. Darüber steht in großen, geschwungenen Buchstaben der Name des Wirts: »Zauner«. Aus dem Inneren schwillt uns Blasmusik entgegen. Je näher wir kommen, desto enger wird es. Es scheinen alle Besucher des Volksfestes einen Platz im Zelt bekommen zu wollen. Wir drücken und werden gedrückt. Schräg vor uns nutzt ein Mann das Gedränge dazu, seiner Freundin in den Hintern zu kneifen. Sie macht einen kleinen Hupferer und quietscht: »Aber Franzi!«

Franzi? Da horche ich auf. Sollte der allzu kecke Typ der Franz sein? Leider sehe ich ihn nur von der Seite. Die Größe könnte allerdings stimmen. Er ist ungefähr zehn Zentimeter größer als ich, und wenn ich mich richtig erinnere, ist Claudias Franz auch kein Riese. Haarfarbe und -fülle passen ebenfalls. Aber die Figur? Soweit ich es in der Enge beurteilen kann, ist der Körper dieses Franzis durchtrainiert, sein Gesicht braungebrannt und kantig. Er sieht nicht im Mindesten nach Schreibtischhengst aus.

Ein Hengst ist er möglicherweise schon, zumindest hält er sich für einen. Er presst seine Begleiterin an sich und flüstert ihr etwas ins Ohr, das ihr wieder ein Aufquietschen entlockt. Das lässt ihn zufrieden grinsen. Aus dem Augenwinkel hat er wohl mitbekommen, dass ich ihn mustere, denn er dreht seinen Kopf zu mir nach hinten und zwinkert mir zu.

Mein Gott, der hält sich ja für unwiderstehlich. Vielleicht ist er es ja doch? Es kann nichts schaden, in seiner Nähe zu bleiben. Auch wenn ich die Rasierwasserwolke, die ihn umgibt, widerlich finde. Nicht mein Duft. Und schon gar nicht in der Menge.

Ich dirigiere Herrn Biedersteiner unauffällig zu dem Biertisch, an dem sich Franzi mit seiner Eroberung niedergelassen hat. Kaum dass er sich breitbeinig auf die Holzbank gesetzt hat, schreit er schon nach der Bedienung.

Wir bekommen am Tisch hinter ihnen noch einen Platz. So kann ich ihn problemlos im Auge behalten. Auch wir bestellen etwas zu essen. Ich entscheide mich für einen Rottaler Käse. Das ist die richtige Grundlage für das Bier, das später verteilt wird.

Gleich geht es los. Der Bürgermeister steht gerade von seinem Tisch auf, an dem die üblichen Honoratioren sitzen. Natürlich der Landrat, der hier ansässige MdL, ein Staatssekretär und der Vorsitzende des Festvereins. Unser Stadtoberhaupt bekommt eine grüne Schürze umgebunden und steigt auf die Bühne. Die Musiker hören zu spielen auf. Nach ein paar launigen Worten stellt er sich vor das große Holzfass und haut mit einem großen hölzernen Stößel den Hahn hinein. Die Leute zählen mit und werden von Schlag zu Schlag lauter. Nach vier Schlägen ist das Werk vollbracht. Das Bier spritzt, es erklingt das traditionelle »O'zapft is« und man spendet begeistert Beifall. Das Fest kann beginnen.

Ein Blick zu Franz hinüber informiert mich, dass er währenddessen nicht untätig geblieben ist. Er sitzt fast auf seiner Bekanntschaft und hat nicht nur seine Augen in ihrem Ausschnitt, sondern auch seine Finger.

Noch versucht sie, ihn scherzhaft davon abzubringen, ihren Busen zu begrapschen, aber ich merke es ihr an, dass ihre Geduld bald vorüber sein wird. Wahrscheinlich überlegt sie, wie es sich entwickeln wird, wenn der Casanova erst eine Mass intus hat.

Scheibenkleister! Er hat schon wieder spitzgekriegt, dass ich ihn beobachte. Und was macht er? Er zwinkert keck. Ganz klar. Seine Einheitswaffe, um Frauen zu erlegen. Gütiger Himmel!

Dann werde ich abgelenkt, denn mit den ersten überschäumenden Bierkrügen kommt auch Frau Lindner, die Freundin von Herrn Biedersteiner. Wir rücken und sie setzt sich zu uns. Nach der Begrüßung entspannt sich sofort ein Gespräch zwischen uns. Ich mag sie und habe sie schon länger nicht mehr gesehen.

Plötzlich höre ich ein Klatschen. So laut, dass es sogar den Lärm im Bierzelt übertönt.

Gleich darauf: »Jetzt langt's! Ich geh! Lass mich durch!«, und die Bekanntschaft vom Franz will ihn nicht länger kennen.

Da sitzt er nun mit seiner roten Backe und ist sich bewusst, dass alle im näheren Umkreis seine Niederlage mitbekommen haben und so tun, als ob sie ihn nicht anstarren würden.

Er macht das einzig Richtige in dieser Situation. Er hebt seinen Bierkrug und nimmt einen langen Schluck. So lange, bis die Leute sich wieder von ihm abwenden und mit etwas anderem beschäftigen.

Nur ich schaue ihn immer noch an und überlege, wie ich ihn weiter beschatten soll, wenn er jetzt aufsteht und weggeht. Ich habe keine Lust, die Unterhaltung mit meinen beiden Begleitern zu beenden, nur um einem Schürzenjäger hinterherzujagen.

Aber was passiert? Genau. Franz bemerkt natürlich, dass ich ihn schon wieder nicht aus den Augen lasse, und nimmt das als Einladung. Er prostet mir mit seinem leeren Bierkrug zu, grinst, steht auf und kommt an unseren Tisch.

»Na, schöne Frau, so alleine hier?« Von oben herab bedenkt er mich mit einem gönnerhaften – ja, was? – Zwinkern. Ich könnte schreien. Aber dann sage ich mir: Wenn er mit dir zusammen ist, kann er keine andere Frau anbaggern und ich muss ihm nicht hinterherlaufen. Einfacher geht's nicht. Ein Lächeln erscheint auf meinem Gesicht und unter dem Tisch streife ich heimlich meinen Ehering ab. Wenn schon undercover, dann richtig.

Meine freundliche Miene ist ihm Antwort genug. Er nötigt mein Gegenüber zu rutschen und lässt sich nieder. Zwar spüre ich, dass sich Herr Biedersteiner und Frau Lindner darüber wundern, aber ich ignoriere es. Bei Gelegenheit werde ich sie über meinen Inkognito-Auftrag aufklären. Aber das hat Zeit.

Ich stelle Herrn Biedersteiner, den ehemaligen Rechtsanwalt, als Staatsanwalt a. D. vor, was meinen Bekannten erneut überraschte Blicke entlockt. Aber ich denke, dass sich Franz in Gesellschaft eines Staatsanwaltes bestimmt besser benehmen wird. Darüber hinaus wähle ich als Abwehrtaktik das intensive Ausfragen. Das fällt mir zugegebenermaßen nicht schwer.

Schnell bekomme ich heraus, dass es sich tatsächlich um »meinen« Franz handelt. Der Name Schlagl ist nicht so geläufig hier in der Gegend, außerdem arbeitet er in einem Büro. Er ist »der wichtige Mann«, wie er sich ausdrückt, bei der Ilzdorf-Brauerei. Über ihn laufen alle Aufträge und Bestellungen. Damit sieht es im Moment allerdings nicht so rosig aus, verrät er mir gleich im Vertrauen und beugt sich dabei näher zu mir herüber. Dass sein Blick in meinen Ausschnitt wandert, ist wahrscheinlich nur Zufall.

»Das ist ja interessant«, hauche ich und klimpere mit den Wimpern. Langsam macht mir dieses Spiel Spaß.

Franz zieht seine Brieftasche heraus und sucht etwas. »Jetzt hab ich nur die Visitenkarten von der Brauerei dabei, so ein Mist«, meint er. »Aber das geht auch.« Er zückt einen Kugelschreiber. »Wenn'st mal eine spezielle Bestellung hast, Karin, für ein Festerl oder so, ruf mich an.« Er kritzelt seine Handynummer auf eine freie Fläche und schiebt mir die Karte mit einem Augenzwinkern rüber. »Oder wenn ich sonst was für dich tun kann.«

Der hält sich für ein Geschenk an die Frauen. Meine Herren! Ich mag solche Typen ja gar nicht, aber ich will unserer kurzen Bekanntschaft nicht gleich am Anfang den Todesstoß versetzen. Also bedanke ich mich sparsam, stecke die Karte in mein Portemonnaie und stelle die Handtasche wieder neben mich auf die Bank.

Und weiter geht es mit der Selbstdarstellung. »Ja, und seit Neuestem laufen Chinesen in unserem Betrieb herum. Das macht natürlich alle nervös. Wer weiß, ob die uns nicht übernehmen wollen.« Er schiebt die aufgekrempelten Ärmel seines Hemdes tatkräftig nach oben. »Aber selbst die Chinesen werden einen guten Mann erkennen, wenn sie ihn vor sich haben.« Er verzieht den Mund. »Ich hab da gar keine Bedenken. Mir passiert nichts.«

In diesem Augenblick legt sich eine Hand auf seine Schulter. Eine sehr gepflegte, aber dennoch männlich wirkende Hand. Schlanke, kräftige Finger mit perfekten Nägeln.

Ich lasse meinen Blick nach oben gleiten. Dabei muss ich meinen Kopf in den Nacken legen. Dieser Mensch ist stattlich zu nennen. Keine Frage.

Überrascht stelle ich fest, dass es der gutaussehende Mann ist, der mir heute Vormittag am Kirchplatz den erhobenen Daumen gezeigt hat. Und von der Nähe aus betrachtet sieht er noch besser aus. Die lederne Kniebundhose sitzt wie angegossen an seinem Körper, das weiße Trachtenhemd unterstreicht seine dezente Bräune, die dunklen Haare mit den aparten grauen Strähnen sind perfekt geschnitten. Als er lächelt, spinnen sich feine Falten um seine dunkelbraunen Augen.

»Grüß Sie Gott, Schlagl. Auch beim Anstich? Freilich, Sie sind ja immer an vorderster Front. Wie im Betrieb.« Er schlägt ihm auf die Schulter. »Und noch dazu in so charmanter Begleitung.« Er streckt mir seine Hand hin. Sie ist trocken und kühl. »Darf ich mich vorstellen: Georg Ilzdorfer.«

Oh, der George Clooney. Da hätte ich aber auch von allein draufkommen können.

»Angenehm. Karin Schneider.« Unter seinem Blick kriecht eine wohlige Wärme aus meinem Dekolleté und schleicht den Hals hinauf.

»Sie haben sich heute gut geschlagen, Frau Schneider. Die Reitmeier Rosi kann manchmal schon recht anstrengend sein.« Er hat meine Hand immer noch nicht losgelassen. Meine Handflächen pulsieren. Nun legt er auch noch seine zweite darauf. Ich bemühe mich um Gelassenheit.

»Sagen Sie, sind Sie etwa die Karin Schneider, die die Morde aufgedeckt hat?« Er neigt seinen Kopf zur Seite, und es sieht nicht im Geringsten affig aus. Wirklich!

Nun hat sich die Röte bis in meine Wangen vorgearbeitet. Ich spüre es ganz deutlich. Was soll ich darauf sagen? Ich nicke und schweige.

»Meine Hochachtung, Frau Schneider. Wirklich bewundernswert.« Er sieht mir tief in die Augen. Seine schimmern golden. Fast kann ich mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Aber das wäre sehr schade. Denn: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, aber so ein Zeitungsfoto kann Ihrer wahren Schönheit nicht gerecht werden.«

Und das hört sich überhaupt nicht schmalzig an. Überhaupt nicht. Ich schwöre!

»Bei ihrer kriminalistischen Ader müssten Sie auch Waffen interessieren. Ich habe einen Revolver aus den Vierzigern bei mir zu Hause. Bei einer Versteigerung in den USA habe ich ihn vor Jahren«, er lacht auf, »nein, eher Jahrzehnten erworben. Angeblich soll er Al Capone gehört haben. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie doch mal vorbei. Ich zeige ihn Ihnen gerne.«

Nach diesen Worten entlässt er meine Hand in die Freiheit und ich beginne wieder zu atmen. Nur am Rande bekomme ich mit, dass sich Georg Ilzdorfer verabschiedet, dem Mann hinter mir zur Begrüßung auf den Rücken klopft, sich zu ihm hinabbeugt und ein paar Worte spricht. Dann kehrt er zu seinem Tisch drei Reihen von uns entfernt zurück. Ich bin mit Abkühlen beschäftigt.

Franz richtet seinen Kragen und meint: »Das war der Chef.«

Ja, das war ein Chef. Eindeutig. Ich spähe zu ihm hinüber. Er sitzt neben seiner Frau, deren Bekanntschaft ich ja heute bei den Münchhamers aufs Herzlichste erneuert habe. Diese Bissgurk´n hat so einen Mann! Wie hat die denn das geschafft? Umgeben sind die beiden tatsächlich von Chinesen. Fünf Stück, die für mich alle ziemlich ähnlich ausschauen.

Ilzdorfer ist ein guter Gastgeber, denn seine chinesischen Gäste lächeln unentwegt und manchmal lachen sie sogar laut. Unter Umständen trägt das Festbier auch das Seine dazu bei.

Eben stellt eine sehr blonde Bedienung eine frische Runde auf dem Tisch ab. Dabei wackelt sie mit ihrem schmalen Hintern, den nur die Falten des Dirndls etwas aufpolstern, und schäkert mit Ilzdorfer. Kein Wunder, so wie der Mann aussieht. Sie legt sogar ihre Hand auf seinen Oberarm und beugt sich so weit nach vorne, dass er sicherlich einen guten Einblick in ihr Dekolleté hat. Seine Frau beachtet dieses Spielchen gar nicht, sondern sieht demonstrativ in die andere Richtung. Die beste Vorgehensweise in solch einer Situation. Die aufdringliche Bedienung bleibt lange am Tisch stehen, kichert über etwas, was Ilzdorfer zu ihr sagt, und wiegt ihre Hüften hin und her. Als dann aber die Rufe nach Bier an den Nebentischen immer lauter werden, verabschiedet sie sich unwillig.

»I kimm ja scho!«, schreit sie und eilt davon. Ilzdorfer wendet sich wieder seinen Begleitern zu.

Am Rand der Gruppe sitzt eine junge, hübsche Frau. Kurze hennagefärbte Strubbelhaare und ein zartes Elfengesicht. Ob das die Haushälterin ist? Mit der Ilzdorfer ein Verhältnis hat? Eifersucht flammt in mir auf. So schnell geht das bei mir. Karin, komm runter!, denke ich mir. Bis heute wusstest du überhaupt nichts von seiner Existenz. Es ist nicht dein Problem, wenn er seine Frau mit dieser Elfe betrügt.