1000 Höllen bis zur Gegenwart VII - Claus Bisle - E-Book

1000 Höllen bis zur Gegenwart VII E-Book

Claus Bisle

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Beschreibung

Das dramatische Abenteuer wälzt sich weiter. Manuel Jebich wird in das Hochmittelalter geworfen und muss sich den Gefahren der Zeit stellen. Kreuzzüge, öffentliche Verbrennungen, die Pest, sind nur einige Gefahren, die er zu meistern hat. Geschichte hautnah auf spannende Art zu erleben, war niemals eindringlicher.

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Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Kreuzkümmel (1097 n. Chr.)

Schlehen (1122 n. Chr.)

Ginster (1147 n. Chr.)

Ackerlöwenmaul (1192 n. Chr.)

Grünes Heiligenkraut (1208 n. Chr.)

Philyra (1261 n. Chr.)

Teufelsabbiss (1273 n. Chr.)

Faulbaum (1282 n. Chr.)

Dreilappige Jungfernrebe (1291 n. Chr.)

Tempelbaum (1314 n. Chr.)

Pestwurz (1349 n. Chr.)

Schismatoglottis (1378 n. Chr.)

Glossar

Zum Autor

Kreuzkümmel

(1097 n. Chr.)

Wohin rannte ich, besessen, mehr und mehr kraftlos? Während ich eben gefrorenen Ästen ausgewichen war, traf mich jählings ein begrünter Zweig ins Gesicht. Wirr griff ich danach. Die Kälte war bezwungen. Wie in einer neuen Seligkeit angekommen, ließ ich mich auf den weichen bemoosten Untergrund fallen.

Die Augen verschlossen. Wärme. Hätte ich einen Wunsch aus dem Unermesslichen greifen dürfen, sie wäre es gewesen. Ich bewegte Zehen, Finger, streckte alle Glieder weit von mir. Aus den ausgekühlten Gelenken wich die Erstarrung.

Zeitsprung. Wie er mir zugutekam! Vor Stunden war ich aus der Festung Canossa geflohen. Die Gesichter Heinrichs VI. und von Papst Gregor VII. waren nach wie vor gegenwärtig.

Wohin es mich verschlagen hatte, war mir gleich. Behaglichkeit, sie zählte. Ich schlief ein.

Rascheln schreckte mich auf.

Fahles Licht mahnte die anbrechende Dämmerung an. Blasse Schatten von abgestorbenen Baumstümpfen streckten sich in die Weite. In ihren derben Rinden bildeten sich grauenvolle Grimassen ab. Lebensgefahr war allgegenwärtig, nicht allein hier zwischen dem chaotischen Wurzelwerk, das mein weiches Lager umschloss - überall. Unbarmherzig waren die Natur, die Unbeherrschtheit von Grobianen, denen ich begegnete, aber ebenso die ohnmächtigen Rechtssysteme des frühen Mittelalters. Gewalt, Brutalität und Stärke waren mitunter Ausdruck des Willen Gottes und rechtfertigten Erbarmungslosigkeit. Wälder waren Stätten des Verbrechens, der Willkür. Der Tod war Alltag, ständiger Begleiter. Die Menschen kannten ihn, sahen ihn als Weggefährten. Sie begegneten ihm auf Schritt und Tritt.

Sollte ich mich aufraffen? Eine Felsenwand in meinem Rücken war mir nicht entgangen. Auf allen Seiten waren Felsabstürze zu fürchten. Ich entschied, den Morgen abzuwarten.

Jedes Knacken und Wispern schreckte mich auf. „Barak“, flüsterte ich von Mal zu Mal, in der Hoffnung, den lieben Freund, mein Füchschen, anlocken zu können. Ein Käuzchen lenkte die Erinnerung zu Enetha. Der Warnruf eines Eichelhähers trieb mir Schweißperlen auf die Stirn. Hatte ich Menschen zu befürchten? War ich in meiner Kuhle, weitab von Wegen und Pfaden, nicht gut behütet?

Nochmals fand ich ins Reich der Träume zurück. An manche Bilder weiß ich mich genau zu erinnern. Ning, der alte Freund, dem ich seit langem nicht mehr begegnet war, lockte mich in einen Wald. Gleichmütig folgte ich ihm durch ein Gräsermeer, bis wir in einem Garten standen. Einst wunderschön in fernasiatischer Manier gepflegt, litt er unter Jahren der Vergessenheit. Der Freund breitete seine Arme wie Schwingen aus und flog auf einen Ast. Zusammengekauert setzte er sich dort nieder. Er ähnelte in der Position einem Reiher. Gekicher.

Ich versuchte, ihm nachzueifern und spannte meine Gliedmaße zu einem kräftigen Klafter aus.

„Lass es bleiben!“, fuhr er mich an. „Überhaupt will ich wissen, wo du steckst. Kannst dich nicht mehr an China erinnern? Treibst dich in der Welt herum und hier, wo man den Honig mit Löffeln frisst, da lässt du dich nicht blicken.“

„China? Bewahre mich davor“, wehrte ich ab.

„Hast du den Überblick verloren? Vorbei sind die Zeiten der Hans, der Tans und der fünf Dynastien. Den Sungs ist es gelungen, in allen Teilen die Periode des vollständigen Zerfalls zu stoppen. Die Einheit Chinas war stärker als die blinden Kräfte, die das mächtigste Reich in Fetzen gerissen hatten.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Sieh selbst!“ Ning warf ein geheftetes Bündel Papier vor meine Beine.

„Deine Memoiren?“

„Was redest du für dummes Zeug? Willst du in deiner mittelalterlichen Welt verdummen?“

Vorsichtig hob ich das Werk auf. „Shen Kuo – Pinselunterhaltungen am Traumbach“.

„Er hat es hier geschrieben. Es ist sein Grund, sein Haus.“

„Ein Poet?“

„Quatsch. Wissenschaftler, Dichter, alles. Einer der gebildetsten Gebildeten. Diese hohen Beamten werden zum Wohle des Landes gezüchtet. MantiBerater oder Mandarine, wenn du so willst.“

„Ein gedrucktes Buch?“, wunderte ich mich.

„Holzdruck. Es wurde mit einer geschnitzten Schablone gestempelt. Einzelne Lettern zusammensetzen gelingt nicht, soweit ich das verstanden habe. Nach wenigen Pressungen brechen die Formen.“

Instinktiv blätterte ich in den Seiten, glücklich, Papier in den Händen zu haben. Eine Textpassage fiel mir in die Augen. „Der Mond wird von der Sonne beschienen? Hat selbst keine Leuchtkraft?“

„Es wird so sein“, nickte der alte Freund. „Sehe dir das über den Nordpol an. Das scheint wichtig zu sein.“ Aufgeregt flatterte er von seinem Sitz an meine Seite und stocherte mit seinem spitzen Schnabel zwischen den Zeilen herum. „Hier!“

„Der magnetische Nordpol entspricht nicht dem realen Erdpol? Das hat dieser Shen Kuo festgestellt?“, wunderte ich mich.

„Dieses und vieles mehr. Schau her, dieses Geschenk will ich dir machen. Die Nadel ist von ihm.“

„Von Shen Kuo? Wo ist er?“

„Du wirst ihn nicht finden. Er hat uns vor zwei Jahren verlassen. Für immer.“

Eine Kompassnadel? Das säuberlich aufgehängte Metallteil wies gegen Norden.

„Die Seefahrer lieben diese Entdeckung“, bekräftigte Ning.

„Du wirst sie benötigen“, gedachte ich abzuwehren, doch just in dem Augenblick erwachte ich. Eine Spitzmaus huschte an mir vorbei.

Was war das für eine Vision? Traum? Wirklichkeit? Der Apparat in meinen Fingern ließ mich erbeben.

Die Morgensonne strahlte durch die Äste. Die nächtliche Vision hatte mich weiterhin im Griff. In weitem Umfeld suchte ich meinen Lagerplatz ab. Nichts erinnerte im Entferntesten an die Illusion. Doch nur eine solche konnte es gewesen sein.

Nun gut. Ich gab mich geschlagen, China erlebte scheinbar zur Stunde eine blühende Glanzzeit. Atid …Warum fragte ich den alten Ning nicht, ob sie bei ihm wäre. Wie innig wünschte ich mir meine Tochter auf sicherem Terrain.

Das zerrissene Wahnbild zwischen Fiktion und Wahrheit beschäftigte mich weitere Stunden. Nützlich war mir der sonderbare Kompass - ein kleiner Holzblock, in dem die unruhige, beweglich eingearbeitete Seele zitterte - allemal, obwohl es grundsätzlich einerlei war, wohin ich mich bewegte.

Gelassen steckte ich ihn ein und suchte den bequemsten Weg durch das Unterholz.

Dichtes Buschwerk bremste mich ab, dahinter schlossen sich Felder an. Bäuerliches Volk bemühte sich um die Ernte. Rasch entschlossen suchte ich auf direktem Weg die Gesellschaft. Auch ich war den Landleuten aufgefallen. Ein jüngerer Knecht zeigte auf mich, die anderen ließen die Sicheln sinken und warteten ab.

„Ich wünsche einen gesegneten Morgen“, rief ich ihnen entgegen. „Falls ihr eine Schneide entbehren könnt, gehe ich euch zur Hand – und würde mich im Gegenzug über ein kerniges Stück Brot und ein Nachtlager freuen.“

Durch den unbekümmerten Auftritt erreichte ich unversehens mein Ziel.

„Wirf die Garben auf den Wagen. Klärle wird sie oben richten. Balduin, bindest du sie? Ich bleibe mit Schorsch beim Schnitt.“

Die Rollen waren verteilt, die Arbeiter vorgestellt, und ich war zufrieden. Eifrig griff ich zu den Getreidebündeln und hob sie hoch in Klärles Hand. Die Sicheln flitzten durch die Halme und legten sie fast geordnet flach. Im Handumdrehen war das Getreide zu Garben gebunden. Schorsch trieb regelmäßig den Ochsen einige Meter weiter. Dieser steckte im Joch und zog den Getreidewagen und somit Klärle. Sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten, lachte herzhaft, als sie doch in die Frucht flog. Den stämmigen Bauer, sie riefen ihn Brichlin, kümmerte das wenig.

Was das Gelände betraf, so stieß das flache Land unmittelbar vor uns auf eine steile karge Erhebung, die in einem Höhenunterschied von geschätzt 300 Metern in weißstrahlenden Felsen endete und den Trauf für ein weites hochliegendes Plateau bildete. Vorgelagert Vulkankegel. Auf einem davon thronte eine stattliche Burg.

„Wohnt dort ein Ritter?“, rief ich Klärle zu.

„Markgraf von Lintburg.“

„Sagt mir nichts.“

„Bin gespannt, wie lange er die Festung hält“, warf Brichlin ein. „Da ist manches im Gange, und es wird viel geschwätzt.“

„Den Vater plagt die Sorge, wo wir bleiben“, ergänzte Kläre, womit die Abhängigkeit von dem Herrschergeschlecht kurz umrissen war.

Bereits während der Arbeit waren Begriffe gefallen, die mich hatten aufhorchen lassen. Aus dem Kontext der Bemerkungen und der Stimmung erfasste ich eine sich ändernde Welt. Die nachrömische Zeit, die ich zuletzt von Machtkämpfen in Blut getaucht, statisch, steif und ziellos erlebt hatte, war in Bewegung geraten. Das in Zusammenhang mit dem zu bringen, was sich um mich abspielte, gelang mir erst nach und nach. Zunächst waren es nur Hinweise, die aufblitzten, beispielsweise der Markgraf, der weiterhin Markgraf bleiben sollte oder doch nicht, dann eine Diskussion über eine neue Form der Felderbewirtschaftung, einer Dreiteilung, anstatt der bisherigen Zweiteilung. Ein Drittel des Ackers ruhte, zwei Drittel wurden bebaut. Das allein bedeutete einen Mehrertrag, der den Bedarf einer größeren Bevölkerungsstärke decken konnte.

Weitere Veränderungen registrierte ich, als wir nach getaner Arbeit ins bäuerliche Anwesen zurückkehrten, Schorsch voraus, den Ochsen am Zügel, wir dem Wagen folgend, die Arbeitsgeräte in der Hand. Noch will ich nicht von einem „Dorf“ sprechen, das wir erreichten, doch die Strukturen bildeten sich klar ab: Ein Anger, Häuser in weitem Abstand, ein Teich, der allen Lebensquelle sein musste und ein Etter, ein Zaun, der sich um die gesamten Anwesen zog, um das Vieh vor einem Ausbrechen zu hintern und der ebenso der Sicherheit diente.

Ein Verbund, der nicht mehr der Sippenstruktur entsprach, sondern gemeinsames Interesse zeigte – ein Merkmal, das bald Maßstäbe setzen sollte. Dass dieses Interesse mit den Ansprüchen des adligen Markgrafen gemein ging, darf nicht über das sich gegenseitige „Finden“ hinwegtäuschen. Ungern wollte ich der trügerischen Idylle den Charme stehlen. Hinter einem „sich finden“, steckte nichts anderes, als ein „sich schützen.“ Nach wie vor war das Leben ein einziger Hexenkessel, in dem ein geschützter Raum aufatmen ließ, wie klein er auch sein mochte. Nicht anders verhielt es sich bei den Herren, Grafen, Rittern. Sie schöpften den erheblichen Teil der Gewinne aus den als Lehen zur Verfügung gestellten Ländereien und verkapselten sich in trostlosen Burgen auf unzugänglichen Höhen. Derartige Festungen entstanden in diesen und den folgenden Jahrzehnten zu tausenden. Allein diese Tatsache zeigte den Ernst der Lage.

Trotz vielem Unausgegorenem funktionierte das Dorfleben. Mein Erscheinen wurde kurzerhand zu einer Attraktion. Blitzschnell sprach sich die Anwesenheit eines Fremden herum, und schon wurde ich zum Anger gezerrt, mit tausenden Fragen überhäuft, die ersten begannen Musik auf naturverbunden Instrumenten anzustimmen und überhaupt wurde sehr viel gesungen. Diesem Vorspiel folgte der Tanz, und Klärle ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, mich zu einem Reigen einzuladen, der mehr gesprungen, als in Tanzbewegungen ausgeführt wurde.

Ungeschickt wie ich war, hatte ich meine Not, dem Ritual zu folgen. „Ich bin dir ein stümperhafter Begleiter“, entschuldigte ich mich, nachdem wir bei einer Drehung in verkehrter Reihenfolge standen.

„Bist du nicht von hier?“ Sie zog mich zur Seite, obwohl auch alle anderen die Antwort wissen wollten.

„So ist es recht“, warf ein benachbarter Bauer ein. „Wenn er nicht von hier ist, muss er erzählen. Wir wollen wissen, was sich in der Welt tut. Woher kommst du? Womöglich aus der Stadt? Willkommen sind uns die, die weit gereist sind.“

„Willst wohl am liebsten den Teck am Feuer haben“, warf Brichlin ein, wobei der Einwurf höhnisch klang.

„Der soll sich im Krieg beweisen“, blockte mein Gegenüber ab.

Wir wurden unterbrochen. Klärle schrie erschrocken auf. Unbemerkt hatte sich in einem dunklen Winkel eine weitere Person eingefunden. Zweifellos war er ein Geistlicher, ein Mönch oder Pater. Beschwichtigend eilte er zwischen die Menge.

„Gott segne euch. Ich bin vom Weg abgekommen und habe Not, ein passendes Nachtlager zu finden. Der Herr wird es euch vergelten, wenn ihr mir ein Mahl zur Verfügung stellt und mich für die Nacht aushaltet.“

„Wo kommst du her?“, ergriff Brichlin das Wort.

„Beuren an der Blau.“

„Vom Weg abgekommen? Du willst damit nicht sagen, dass du eine satte Tageswanderung in die Irrnis gingst.“

„Keinesfalls. Der Graf von Tübingen erwartet mich, und darauf führt mich ein Auftrag in unser Stammkloster nach Hirsau.“

„Benediktiner? Dann sei uns willkommen. Man erfreut sich an Reisenden. Manuel wollte gerade von seinen Erlebnissen berichten.“

„Ist es so?“, wandte sich der Bruder an mich.

„Gern lasse ich dir den Vortritt“. Ich sortierte mich in die zweite Reihe ein, hatte Angst vor einer Blamage. Ungern hätte ich vor Klärle dummes Zeugs erzählt, das mich am Ende als Dummkopf entlarvte. Ich las an ihren hübschen Lippen einen Anflug von Enttäuschung ab.

„Später“, beeilte ich mich zu sagen und schickte ihr ein Lächeln, das sie mit einem leichten Nicken erwiderte.

Eine weitere Unterbrechung ließ ebenso wenig den Bericht des Paters zu. Eine Rauchwolke zeichnete sich in der Ferne ab.

„Reiter?“, riet ich.

„Der Lindburg wird Gäste erwarten“, vermutete einer der Umstehenden. „Sieht nach einer feurigen Delegation aus. Man wird sehen, was daraus wird.“

Im Nu war die einzige Gasse geräumt. Aus sicheren Winkeln verfolgten die sensationssüchtigen Augen den Ablauf. Ich hielt mich an Klärles Seite.

„Beinahe 20 Reiter“, schätzte sie.

„Dein Vater sagte, auf der Burg würde sich manches tun. Meinst du, das hängt mit diesem Besuch zusammen?“

„Kann sein. Kennst du Friedrich, den Waiblinger, den Herzog von Schwaben?“

„Nicht persönlich“, wich ich aus.

Klärle lachte herzhaft. „Wenn du den persönlich kennen würdest, wärst nicht hier. Streng genommen entkommt er dem Wasserschlössle oder dem Hohenstaufen, nennt sich aber Waiblinger.“

„Das wird geschwätzt?“, wählte ich lachend ihre Worte.

„Wird es.“

Währenddessen trabten sechs Vorreiter an uns vorbei, gefolgt von Edelmännern in bunten, von Brokat besetzten Gewändern. Die Attraktion war eine Sänfte, die zwischen zwei Pferden befestigt war. In ihr war eine Dame zu erkennen.

„Oh“, entglitt es Klärle.

Weitere Berittene schlossen den Zug ab.

Der Staub hatte sich noch nicht gelegt, als die Bauern aus ihren Winkeln zurückeilten.

„War sie es?“, rief eine der Frauen.

„Denke schon.“

„Von wem sprechen sie?“ Ich erhoffte, von Klärle aufgeklärt zu werden.

„Von Herzogin Agnes. Du weißt doch: Sie ist die Tochter Kaiser Heinrichs IV. und die Ehefrau Friedrichs.“

Mit einem „Puh“ drückte ich mein Erstaunen aus. „Der Lindburg muss ordentlichen Einfluss haben.“

„Der Name ist streng genommen nicht mehr rechtens. Wir nennen ihn Lindburg, da ihn so unsere Eltern, Großeltern und deren Großeltern kannten. Die Jungen sprechen vom Zähringer. Irgendwie ist das kompliziert. Da wird von einer reichen Erbschaft geschwätzt. Berthold, also der Lindburg oder Zähringer – wie du willst – ist von einem Rudolf von Rheinfelden bedacht worden. Es muss ein Gwambader g‘wesen sein.“

„Ein Gwambader?“

„Ein Mächtiger halt. Dann wird g‘schwätzt, der Kaiser hätt‘ dem Berthold Versprechungen g‘macht, damit er wegzieht.“

„Er wohnt doch aber auf dieser Lindburg?“

„Nicht immer. In einem Svarzwaldtal, nicht weit vom Ry - eben in Zähringen - hat er sich ein Friburch erbaut. So habe ich es verstanden. Er ist meist dort.“

„Gott soll diese verfluchten Hunde in die Hölle werfen“, munterte der Pater die Anwesenden auf. Zustimmung und Gegenwehr hielten sich in Grenzen.

„Lass es gut sein!“ Brichlin signalisierte Neutralität und schritt langsam zu seinem Wohnhaus. Wir folgten ihm.

Dort bemühte sich Erna, die Bäuerin, eine Mahlzeit herzurichten. Der Rauch, der frei durch die Hure, ein enges Loch, das im Strohdach ausgespart blieb, abzog, verursachte einen Gestank, den jeder in den Kleidern mit sich trug. Wir setzten uns an die lange Holzbank, die an der Wand angebracht war. Brichlin kam auf die fehlenden Berichte zurück.

„Jetzt will ich von meinen Gästen doch wissen, was sich in der Welt tut.“

„Weit weniger als in diesem verlassenen Weiler“, wehrte der Geistliche ab, was mir gar nicht passte. Klärle richtete bereits wieder einen erwartungsvollen Blick auf mich.

Von all dem, was ich bis zu diesem Zeitpunkt aufgeschnappt hatte, war mir der Name Heinrichs IV. bekannt. Eine Erzählung, ich sei in Canossa aus einem Schweinestall gefischt und eben von König Heinrich gewaschen worden, hätte sicher für ergötzliches Gelächter gesorgt, mir aber gleichzeitig jeden Verstand abgesprochen. Es wurde von Kaiser Heinrich gesprochen. Damals war er König gewesen. Nun hatte ich vor wenigen Minuten seine Tochter gesehen.

Der Pater hatte sich doch recht impulsiv gezeigt. Wie konnte ich ihn provozieren, um von mir abzulenken?

„Kaiser Heinrich IV., ein mächtiger Herrscher!“, betonte ich voller Bewunderung und selbstsicher.

„Von Gott verlassen!“ Der fromme Gast sprang auf. „Verbannt, entwürdigt, auf Geheiß von Gottvater den Hunden zum Fraß feilgeboten.“

Was war das? Ich schaute auf Brichlin. Der schnappte sich die Schüssel Bohnen, die ihm die Bäuerin in die Hand drückte und zelebrierte Gelassenheit.

Ward die Verbannung denn nicht in Canossa gelöst worden?

Eiskalt lief es mir über den Rücken. Kein Zeitsprung in die Zukunft? Dieses Mal in die Vergangenheit? Mir graute davor. Ich musste Näheres erfahren.

„Canossa …“, begann ich zögernd, „ich war an diesem Ort.“

„So weit bist du in der Welt herum‘kommen?“, brach es aus Klärle bewundernd heraus.

„Diese Reinigung hat dem Verlorenen nichts genützt“, nahm der Pater meinen Faden auf. „Eine verderbte Seele bleibt eine verderbte Seele. Der Heilige Vater, Gott hab ihn selig, hat seinen Fehler erkannt und den Fluch erneuert.“

Ich atmete auf: Nicht in die Vergangenheit zurück, sondern weiter in Richtung Gegenwart wurde ich getragen. Einen Toren durfte ich mich nennen, hatte ich nicht eben seine Tochter gesehen?

„Frommer Bruder, du kannst sagen, was du willst“, meldete sich nun Brichlin zu Wort, „mir leuchtet das nicht ein. Da wird Heinrich vom Papst verbannt und gleichzeitig zum Kaiser erhoben. Wie soll das passen?“ Er sah den Pfarrer streng an. „Gäste sind uns willkommen, wenn sie wahr und treu berichten. Sie sind unerwünscht, und wir verachten sie, falls sie uns irreleiten.“

„Bauer, sei ohne Sorge. Der Herr ist mit mir und soll mit dir sein. Bei seinem heiligen Kreuz, nichts ist mir näher als die Wahrheit. Was sich auf dieser Festung in Canossa zugetragen hatte, konnte niemand befriedigen. Wir wissen, Heinrich hat sich dem Papst unterworfen. Von dieser Beugung hatten beide Parteien unterschiedliche Vorstellungen. Der König wollte damit den Bann vom Halse bekommen! Das war es. Die Eigenwilligkeit, die blieb ihm, und die Fürsten beklagten zurecht, wie er aus eigenem Interesse die Landeshoheit durch massiven Burgenbau festigte. Unser Heiliger Vater wehrte der Wahl eines Gegenkönigs, Rudolf von Rheinfelden, durch die Fürsten nicht.“

Der erste Lichtstrahl fiel ins Dunkel. Nachdem der Lindberg der Erbe dieses Rheinfelden war, begann ich zu ahnen, in welcher Liga sich das Geschehen um uns abspielte.

„Zwei Herrscher? Das hätte Papst Gregor doch verurteilen müssen?“, wunderte ich mich.

„In der Fastensynode vor nunmehr 17 Jahren unterstützte er Rudolf, indem er Heinrich erneut mit dem Bann versah und dessen Tod auf den August voraussagte.“

„Wie reagierte der Kaiser?“

„Wie verabscheuungswürdige, verkommene Kreaturen reagieren. Zum Trotz ließ er einen Gegenpapst, Clemens III., wählen. Und zum Trotz starb er nicht.“

„Freiwillig machen das wenige.“

„Es war der Wille Gottvaters, dass er zu sterben hat“, fuhr der Würdenträger empor.

„Das will ich bezweifeln“, brachte sich Brichlin wieder ein. „Man erinnert sich an die Schlacht an der Elster, bei der Rudolf die Hand verlor, mit der er Heinrich die Treue geschworen hatte. Dieses Gottesurteil steht gegen deine Ausführung.“

„Das mag ich so nicht hören. Papst Gregor VII. war ein Mann der Kirche, und nur er allein kennt den Willen des Herrn.“

„Wollte dieser Mann der Kirche nicht wider Clemens III. in den Krieg ziehen, wider einen Mann, der Auseinandersetzungen zwischen Christen ablehnte?“

„Er wollte es nicht, er hat es getan! Zurecht! Jener Clemens war ein Lügner vor dem Herrn.“

„Und wieder legst du dir ein Ei. Der Streit ging verloren. Das Gottesurteil spricht bedingungslos gegen Gregor!“

„Erkläre du einem Geistlichen nicht, wie ein Gottesurteil zu verstehen sei! Zugegeben, zu Volta zog Gregor den Kürzeren. Die Kardinäle waren nicht glücklich damit, zumal die Kosten der Kirche schadeten. Es ist ebenso eine Schande, dass der Heilige Vater den einst heidnischen Normannen Robert Guiskard zu Hilfe rufen musste.“

Ich schluckte zweimal. Meine ganzen vergangenen Erlebnisse formten sich zu einem neuen Bild. Damals hatte Guiskard Papst Leo inhaftiert - eine Maßnahme, die indirekt zur Kirchenspaltung zwischen Ost und West geführt hatte.

„Es sollte nicht sein“, fuhr unser Benediktiner fort, „der Normanne kämpfte in jenen Jahren gegen Konstantinopel. Wie vermessen dieser salische König ist, ist schon darin zu sehen, wie er diese Schwäche schamlos auskostete und kriegerisch gegen Rom zog. Stellt euch vor: gegen seine Heiligkeit, den Papst in Rom. Es ist den Stadtverantwortlichen nicht zu verdenken, dass sie die Reiß-leine zogen und in Panik die Tore öffneten. Dass die Kardinäle jedoch Clemens unter diesem Druck als Papst bestätigten, ist unverantwortlich.“

„Unter diesem Druck? Waren sie nicht in Not wegen der Finanzen der Kirche?“ Brichlin hakte konsequent nach.

„Wir wollen es nicht hinterfragen. Heinrich errang in dieser Situation den Kaisertitel. Vom Bann befreit hat Clemens den Widerling nicht. Das muss ich betonen! Papst Gregor, der sich einige Zeit in der Engelsburg verschanzt hatte, starb letztlich vergrämt in Salerno. Clemens ist nicht rechtmäßiger Papst. Das will ich nochmals vehement bekräftigen. Die fromme Gemeinschaft hat ihm Viktor III. entgegengestellt.“

„Davon hörte ich. Jener ist ebenfalls unmittelbar nach der Wahl gestorben. Ich sehe darin ein Gottesurteil. Lehne dich nicht dagegen auf, Pfaffe. Du riskierst dein Nachtlager.“

„Es ist nicht ausgestanden.“

„Mir ist Heinrich lieb“, betonte Brichlin. „Der Gottesfrieden, den er verhängt hatte, brachte Ordnung über Land und Leute. Dem Morden und der Gewalt stellte er weltliche Strafen gegenüber. Er hat einen guten Willen.“

„Nur Gott und die Kirche haben über Sünder zu urteilen! Nie und nimmer ein weltlicher Herr! Aber nur Ruhe. Einen Schad‘ fügte er sich selbst zu, dieser Kaiser“, ergänzte der Pater zynisch, „seinen Sohn Konrad hätte er als König aussparen sollen.“

„Habe davon gehört“, gab Brichlin missmutig bei. „Er hat das Lager gewechselt. Es schmerzt, wenn Söhne untreu werden. Die Adlige aus Canossa, Mathilde von Tuskien hat ihn abspenstig gemacht. War es so?“

„Wahrlich. Jedenfalls ist Urban II. in der Papstfolge ein Glücksfall. Er ist ein würdiger Erbe Gregors, ist gewandter, diplomatischer und allein dadurch erfolgreich.“

„Er hasst Heinrich. Jeder weiß es.“

„Hassen? Ein Heiliger Vater kennt keinen Hass. Er muss Gerechtigkeit walten lassen. Selbst, wenn es gegen den eigenen Willen geschähe.“ Der Pfarrer machte eine kurze Pause und brachte dann ein neues Thema auf. „Der Schachzug, die Ehe zwischen dem jungen Welf und jener Mathilde von Tuskien, von der du sprachst, zu arrangieren, war bedacht.“

„… ein Jüngling mit dieser alten Schachtel.“

Und wieder hörte ich auf. Mathilde. Sie war auch meine Gastgeberin auf Canossa gewesen. Hatte ich mich nicht ein wenig in sie verliebt? Etwas errötet, schaute ich aufs Klärle. Mathildens milde Züge sah ich vor mir, die hübschen rötlichen Haarsträhnen, die ihr Gesicht umrahmten…

Der Pfarrer redete unterdessen weiter. „Bayern, das Reich der Welfen, vereint mit den Gebieten Italiens - das entzog dem Kaiser den Boden. Ihr wisst, er zog erneut nach Oberitalien. Sein Aufbegehren misslang. Heinrichs Ritter versagten bei einer Auseinandersetzung und das wiederum unter den Toren Canossas. Nachdem sich sein Sohn Konrad zu Papst Urban bekannte, irrte der Kaiser am südlichen Alpenrand umher. Die Pässe in sein Reich waren ihm verwehrt!“

„Du sagtest ,waren‘. Erzähl er weiter. Was daraus ward, ist mir nicht bekannt. Oder willst du mir etwas vorenthalten?“

„Der Herr wird seine Blitze senden und alles zu einem frommen Ende bringen.“

„…heraus mit der Sprache!“

„Es ist eine unsägliche Fügung. Die Ehe Welfs V. und Mathildens brach.“

„Mit welcher Folge?“

„Die Welfen, die dem Heiligen Vater zugetan waren, schwenkten dem Teuflischen zu.“

„Der Bayernherzog Welf IV.?“

„Er soll für alle Zeit verdammt sein. Drei Fürsten verständigten sich für die Öffnung der Alpenpässe. Heinrich fand daher nach vier Jahren in die Heimat zurück.“

„Welche drei?“

„Welf IV, Friedrich von Schwaben, Berthold von Zähringen.“

„Sprich weiter.“

„Heinrich ist ihnen zum Dank verpflichtet.“

„Bedeutet?“

„Sieh doch selbst! Friedrich von Schwabens Lehen wurde erweitert. Dieses Land, auf dem du lebst, fällt in seine Machtbefugnis, während Berthold, der Zähringer, als Ausgleich die Reichsvogtei Zürich zufällt.“

„Sonst noch etwas?“ Brichlin erhob sich provokant.

„Es hat sich damit.“

„Das Licht geht dem Ende zu. Zeit für den Schlaf“, entschied unser Gastgeber.

So war das zu dieser Zeit: Das Ende des Tageslichtes bedeutete üblicherweise das Ende des Tages. Künstliches Licht wie Kienspäne oder Öllämpchen zu nutzen war unüblich, vermutlich zu kostspielig. Allenfalls wurde das Feuer im Herd am Leben gehalten.

Gewisse Dinge spare ich in meiner Erzählung gewöhnlich aus, da die Vorkommnisse unbedeutend oder weniger appetitlich sind. An dieser Stelle werde ich zu einer Ausnahme gezwungen, da die Nacht nicht spurlos an mir vorbeigehen sollte …

Eine Privatsphäre ließ diese Zeit nicht zu. Genächtigt wurde gemeinsam in einem Raum, auf Stroh gebettet: Bauer, Bäuerin, Kinder, Knecht, Magd und Gäste.

Bald schlief ich ein, wurde aber durch ein Geräusch geweckt, das eindeutig auf einen Geschlechtsverkehr schließen ließ. Das allein war nichts. Grundsätzlich wurde mit dem Thema Sexualität ohne großes Aufheben verfahren. Der Geistliche, dem dieser Akt ebenfalls nicht entgangen war, drehte sich mit der Bemerkung: „So ist es recht, die Kinder sterben ohnehin in Scharen dahin“, zur Seite und verabschiedete sich mit einem vehementen Furz in den weiteren Schlummer.

Mein Schlaf war dahin. Vieles bewegte mich, ging mir nahe, erweckte Sehnsüchte und trug zu einer Niedergeschlagenheit bei, der ich zunehmend erlag. War ich in einer Sackgasse angekommen? Atid, meine Tochter hatte ich längst aus den Augen verloren, unerreichbar die Freunde. Das Amulett, das uns einst band, zerstört, die Bande zerrissen. Berechtigt musste ich um alle bangen. Im Inneren fixierte ich mich auf Seraphin. Sie, eine der Töchter des mir feindlichen Dämonen, stand zwischen den Fronten. Einerseits mir zugetan, hatte sie die Gewalt des eigenen Vaters zu fürchten. Dessen Hass ausgeliefert, befand sie sich im Niemandsland. Hatte ich ihrer immensen Hilflosigkeit das Leben meiner Tochter zu verdanken? Fragen über Fragen ...

Was erwartete mich in dieser Zeitspanne? Von Hanf schneiden war die Rede gewesen. Ob ich morgen den Frauen zur Hand gehen könnte?

Friedrich, der Name in Verbindung mit dem Hohenstaufen, wies in eine Richtung. Das Staufergeschlecht würde die Salier ablösen, soweit war ich Bilde. War ich, um dies zu erkennen, am Fuß des schwäbischen Mittelgebirges, der Alb, gelandet?

Bellen eines Hundes.

„Der Luchs wird wieder ums Dorf streichen“, bemerkte Brichlin da und warf sich auf die andere Seite. Das arme Tier gab keine Ruhe.

„Ich schau nach ihm“, entschied ich und erhob mich, froh dem Gestank des verrauchten Zimmers wenigstens kurzfristig zu entkommen.

Ich trat in eine dunkle Nacht. Wolkenmeere trieben vor den Sternenhimmel. Die Frische befreite mich. Ein kurzer Blitz, Donnerschlag. Wieder winselte der Hund. Ob ihn das Wetter aufschreckte? Ich nahm ihn, Caro, in die Arme, er leckte mir die Wange. Aufhorchen, ein intensives Fiepen, dem ein heftiges Knurren folgte. Blitz. Donnerschlag. Fast gleichzeitig. Wir waren nicht allein.

In dem kurzen Lichtkegel beobachtete ich eine Gestalt, die aus einem benachbarten Gebäude getreten war und den Weg zum Brunnen suchte, der sich am Rande des Dorfangers befand.

„Still“, wisperte ich Caro ins Ohr. „Da ist nichts. Nur eine Frau.“

Ein weiterer Blitz, Regen prasselte jetzt in einer Wucht auf uns herab, dass sich das Tier kleinlaut zurückzog. Die Fremde hatte sich unbeeindruckt am Brunnenrand niedergelassen. Sie musste irr sein, bei dem Braus Wasser zu schöpfen. Ich reimte mir Gründe dafür zusammen. Vielleicht bedurfte ein Familienmitglied, das in Fieber lag, der Umschläge?

Ich scheute mich davor, derart patschnass zurück ins Haus zu gehen. Auf direktem Weg ging ich der Frau entgegen. „Kann ich helfen?“

„Na endlich!“ Sie wandte sich um und blickte mich voller Hohn an.

Wie gelähmt war ich keiner Entgegnung mächtig.

„Erkennst du mich? Ich bin es, Kastraventas Tochter. Eine der dreien.“ Selbstherrlich erhob sie sich.

„Hast du einen Namen?“

„Willst meinen Namen wissen?“ Lauthals lachte sie heraus. „Was willst du mit ihm? Verstümmeln? Hassen? Ihn beschmutzen?“

„Auf Rosen werde ich ihn nicht betten, es sei denn …“

„Lass den Mist!“, unterbrach sie mich. Aus dem Nichts zog sie einen Tonbecher hervor und füllte ihn mit Wasser. „Trink!“, befahl sie streng.

„Du willst mich töten.“

„Es hätte längst sein sollen. Trink!“

„Du spinnst! Stunde um Stunde kämpfe ich ums Überleben, warum sollte ich jetzt, weil es dir passt, dieses Gift schlucken?“

„Willst du deine Tochter wiedersehen?“

„Was für eine Frage! Du weißt, wo sie ist?“

„Dreimal darfst du raten.“

„Ich würde mein Leben für sie geben.“

„Hoffentlich nicht nur das. Ihr alle sollt verrecken!“, rief sie voller Verachtung. „Du hast zwei Möglichkeiten: Sie nie wieder zu sehen oder dieses Zeug zu trinken.“

„Sie ist in deiner Gewalt?“

„So in etwa.“

Die vage Antwort ließ mich aufhorchen. „So in etwa“ bedeutete nein. Womöglich versteckte sich in ihrer Forderung eine Chance.

„Was bewirkt der Trank?“

„Er wirft dich an einen anderen Ort.“

„Gleiche Zeit?“

„Dieselbe Minute.“

„In die Fänge Kastraventas?“

„Auf fremde Erde. Du kannst mit der Freiheit machen, was du willst.“

„…und dort werde ich meine Tochter finden?“

„Versprochen ist nichts. Aber niemand kann es ausschließen.“

„…und der Trank tötet mich nicht?“

„Läge nicht ein Bann auf dem Saft, hätte ich ihn so gewürzt. Durch den Zauber aber verliert Tollkirsche, Schlangengeifer und Panterpilz seine Kraft.“

Entschlossen riss ich ihr den Becker aus der Hand und schüttete die Flüssigkeit in mich hinein. Ein Blitz … Den Donnerschlag hörte ich schon nicht mehr.

Nacht. Weicher Sand unter mir. Absolute Dunkelheit. Regungslos lag ich auf der Erde. Totenstille. Leichengestank. Mir wurde zum Erbrechen. Wie konnte ich so verrückt sein, mich auf den Höllentrank einer Furie einzulassen. Dass ich nicht in ein Gewirr von Schlangen gegriffen hatte, war mir ein schwacher Trost. Durfte ich mein Leben so leichtfertig aufs Spiel setzen?

Es war geschehen. Ich hatte mich den Umständen zu ergeben.

Kühle Luft, ein sanfter Wind. Ich musste im Freien liegen, kein Gefängnis, kein Verlies, kein Grab. Waren Sterne zu finden? Weiterhin regungslos erkundete ich das, was über mir war.

Da, ein erster funkelnder Freund. Stur fixierte ich ihn. Er verschwand, tauchte wieder auf, und bald entschlüpften der Finsternis weitere Lichtpunkte, so, als würde sie ein Himmelsmann Stück für Stück säen.

Sand, kein Wasserrauschen. Wüste. Damit verband ich Lebensgefahr. Verwesende, die ich roch, beschrieben die Dramatik mit deutlichen Lettern.

Warten.

Die Morgendämmerung sollte das Grauen enthüllen, und sie tat es. Ein frischgeborener Säugling verrottete an meiner Seite. Näher will ich das Bild nicht ausmalen. Bestürzt betrachtete ich Spuren, nicht eine oder zwei - hunderte. Ein ganzes Heer war an dieser Stelle vorbeigekommen.

Nein, in einer Wüste stand ich nicht, ich studierte die versteinerte Hochebene, einzelne Kuhlen waren mit Sand gefüllt. Ausgedörrte Büsche, hexengleich verkrüppelte, ausgebleichte Stämme, der Sonne trotzende Dornengewächse.

Ein Skelett in naher Entfernung weckte mein Interesse. Die robusten Knochen zeugten von einem kraftvollen Zugtier. Dem Fleisch waren sie beraubt.

Von woher kam der Zug, wohin trieb es ihn? Abwechselnd studierte ich beide Richtungen. Ein weiterer Tote lag etwas entfernt. Entgegen einem drängenden Widerstreben entschied ich mich, den Körper zu untersuchen.

Er war ein Mann, eine Wunde nicht erkennbar. Da ich eine Seuche, eine Krankheit nicht ausschließen konnte, wendete ich ihn vorsichtig mit dem Bein. Wie ein Hammer traf mich der Anblick des weißen Tuchs mit rotem Kreuz, das er trug: Er war ein Kreuzritter.

Nach Osten musste der Zug gezogen sein. Zweifel gab es keine.

Sollte ich ihm folgen? Was war die Alternative? Alles deutete darauf hin, dass der Alte einer Erschöpfung erlegen war. Somit war die Strecke, die hinter ihnen lag, eine mörderische, unheilvolle Sache. Die Ritter waren im günstigsten Fall kurz vor einer Oase. Sie mussten ein Ziel haben, das sie ansteuerten. Allein ihnen zu folgen, machte Sinn. Ich wusste Menschen aus meiner Heimat vor mir, und das in dieser unwirtlichen Gegend.

Der Entschluss war gefasst.

In der morgendlichen Kühle brachte ich im Eiltempo eine beachtliche Wegstrecke hinter mich. Den Vorteil verspielte ich in der Mittagssonne. Schutzlos quälte ich mich vorwärts. Verendete Menschen, gebrochene Wagenteile waren mir Wegweiser.

Als ich gegen Abend einen schroffen Felsen umrundet hatte, stand unweit vor mir eine Gestalt. Voller Erleichterung rief ich sie an. Der Fremde blieb erschrocken stehen, zog in der Not sein Schwert.

„Lass das bleiben!“, versuchte ich die Gewalt abzuwehren. Zu spät. Hinterrücks traf mich ein Gegenstand. Ich stürzte auf die Erde. Zwei Ritter durchwühlten meine Taschen und brachten als Ergebnis den Kompass hervor.

„Er ist einer von ihnen.“

„Ein Seldschuke?“

„Denen traue ich solche Dinge zu.“

„Was ist das?“

„Was weiß ich. Kein Mensch braucht so einen Klotz.“

„Was machen wir mit ihm? Schicken wir ihn gleich zu seinem Allah?“

„Fragen wir die anderen. Wir sollten ihn braten. Den Fleischhappen können wir uns nicht entgehen lassen. Ist besser als dieses Graszeugs, das die Mägen aufbläht.“

„Mir kommt er nicht wie ein Araber vor.“

„Lasst es gut sein.“ Ich setzte mich auf und wischte mir das Blut aus dem Gesicht. „Ich bin aus dem Frankenland.“

Ich erntete nur Hohn und Spott.

„Wenn ich nicht wüsste, dass die Lumpenarmee gemetzelt wurde, würde ich behaupten, er ist einer von ihnen.“

„Holla. Kennst du Peter, den Einsiedler?“

„Ach, lasst mich in Ruhe. Ich kenne niemanden. Ihr habt mir das Gehirn aus dem Kopf geschlagen“, brach ich das Gelabere ab. „Wo ist euer Lager?“

Die drei Ritter, oder was sie sein wollten, hoben mich hoch. Ich hatte mein Ziel erreicht.

Die Heerschar der Kreuzritter gab ein erbärmliches Bild ab. In dem maroden Lager, auf das wir trafen, fanden sich neben den Rittern, die teils ihre Ehefrauen und Kinder mitführten, Geistliche, Frauen, die hofften ihr Seelenheil zu finden, sowie Kurtisanen. Beim Aufbruch am darauffolgenden Morgen wurde das Elend überdeutlich. Ausgelaugt und ausgehungert erhoben sich die Leidenden, kaum fähig das Wenige, das sie besaßen, zusammenzuraffen.

Wir folgten einer alten römischen Heerstraße. Vor Brunnen wurde gewarnt. Im weiten Umkreis waren sie vergiftet worden. Zisternen trafen wir verschmutzt und unbrauchbar an. Die Wege selbst waren gerade an problematischen Stellen zerstört worden und nicht mehr passierbar. Die Aschereste von Holzbrücken etwa forderten Aktionen, denen die entnervten Krieger kaum gewachsen waren, Steinwerke waren in Schutt gelegt, Dörfer niedergebrannt. Soweit wir auf Menschen trafen, war diesen nicht zu trauen. Es kursierte der Spruch der „lebenden Wegverweisern“.

Der Proviant war längst zur Neige gegangen. Wehrhafte Ritter sammelten Zweige und Blätter von Dornsträuchern, um aus ihnen Safttropfen zu quetschen. Tiere, die zusammenbrachen, wurden geschlachtet und das Fleisch mitgeführt. In der Gluthitze stank es in kürzester Zeit, was jedoch niemanden davon abhielt, es zu verschlingen. Dass schwangere Frauen in offenem Feld niederkamen, und sie die Kinder unberührt der Natur überließen, war Alltag. Täglich krepierten hunderte Pilger auf der Strecke. Wegen Halluzinationen durch Wassermangel kam es zu traurigen Szenen. Ritter, unter deren Schenkeln Pferde erschöpft zusammenbrachen und verendeten, stiegen auf Ochsen und Rinder um. Hammeln, Ziegen und Hunden wurden die schweren Waffen und Proviant an den Leib gebunden.

Die Region Phrygien wurde für uns alle zur Hölle. Wir träumten von einem Ende der Qual, erkennbar war es nicht. Geistliche betonten immerfort, Sterben würde den direkten Weg ins himmlische Reich ebnen. Der Glaube daran bestand durchaus. Petrus Bartholomäus war einer der Priester, die unbeirrt durch die Reihen gingen, Mut zusprachen und in Inbrunst die Hoffnung erfrischten. Ihm war ich aufgefallen.

„Welcher Gruppe gehörst du an?“, wollte er wissen.

Ich sei wegen meiner selbst und zum Wohle aller hier, antwortete ich. Die Antwort gefiel und so wandte er sich zufrieden ab.

„Gibt es denn verschiedene Gruppen?“, fragte ich eine der Marketenderinnen, die die kurze Unterhaltung verfolgt hatte.

Sie verlachte mich zynisch. „Wo bist du her, um das nicht zu wissen? Mir entging nicht, wie du urplötzlich hier warst.“

„Auf eigene Faust habe ich den Weg gefunden“, antwortete ich gelassen.

„Wie ist so etwas möglich?“

„Seh‘ mich an. Was gibt es da noch zu erklären?“

„Wohl war, ein saftiger Kerl. Wäre ich nicht so ausgelutscht, könntest du mich haben.“

„…und du? Gehörst du zu einer Gruppe?“

„Wie der Pater bin ich aus der Provence und habe mich Graf Raimund von Toulouse angeschlossen. Wir haben manches durchgemacht, bis wir hier im Morgenland angekommen sind. Ich will behaupten, wir sind die Edelgruppe, da der Bischof Adhemar von Puy unter uns ist. Aber selbst der wurde vor Konstantinopel von den Petschengen ausgeraubt und verwundet. Das war für Alexios blamabel.“

„Wer ist Alexios?“

„Alexios? Der Kaiser in Konstantinopel natürlich. Die Frage hast du doch nicht ernst gemeint?“

„Dann seid ihr durch den ganzen Balkan in den Osten gezogen?“

„Was denkst du, wie viele Streitereien wir mit den Slawenstämmen ausstehen mussten? Ach … lassen wir es. Nichts war so dramatisch wie diese Hölle hier.“

„Welche Gruppen sind ansonsten unterwegs?“

„Graf Hugo von Vermandois schiffte sich über Bari ein und traf wie alle anderen in Konstantinopel auf uns. Er ist mit knapper Not der Wut des Ozeans entkommen. Dann findest du die Einheit Gottfrieds von Bouillon, dem Herzog von Niederlothringen, der die Strecke über Ungarn vorzog. Und die Normannen will ich nicht vergessen: Bohemund, ein eiserner Kerl, angeblich ein Fürst von Tarent. Sein Vater, Robert Guiskard, wird hier geächtet. Er hatte mit dem Ostkaiser Krieg geführt. Bohemund wird von seinem Neffen Tankred begleitet. Willst du mehr Namen hören? Herzog Robert von der Normandie. Diese Gruppe, so wird gespottet, hat bis zur letzten Stunde den Süden Italiens genossen und wurde mit Lastenseglern von Brindisi übergesetzt.“

„So ist auch der ein Normanne?“

„Mir soll es recht sein. Was wären wir ohne sie? Das sind Ritter, die was hergeben. Roberts Vater hat einst Britannien in Besitz genommen.“

„Wilhelm, den sie `den Eroberer‘ nennen?“

„Wie sie ihn nennen, weiß ich nicht, aber Wilhelm stimmt schon.“

Ihre kurze Aufzählung ließ mich aufhorchen: Die Erben der gesamten Normannen-Elite waren hier versammelt.

Mit den weiteren Namen konnte ich wenig anfangen, das sollte sich aber ändern.

„Es gab einen sechsten Zug“, kam es von einem älteren Geistlichen, der sich zu uns gestellte. „Der des Peters.“

„Ah, ja“, erwiderte ich, ohne dem große Beachtung schenken zu wollen.

„Dem gehörte ich an.“

Nachdem es der aufdringliche Kerl verstand, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen, lenkte ich auf seine Worte ein.

„Ging dein Verbund dann in den anderen auf?“, riet ich, stockte jedoch. War der Name Peter nicht in abfälliger Weise gefallen?

„Wäre es doch so gewesen.“

„Die Geschichte des kleinen Peters ist mistig“, warf meine erste Gesprächspartnerin ein.

„Peter von Amien, der Einsiedler, ist der bessere Name“, erklärte der Geistliche. „Du wirst ihn kennenlernen. Er ist mit von der Partie.“

„... aber kleinlaut geworden“, warf die Frau wiederum ein. „Es wird viel über ihn gesprochen …“

„Langsam“, bremste ich die beiden. „Welche Rolle spielt er?“

Der Geistliche begann: „Zunächst will ich eines klarstellen: Als der Papst zum Kreuzzug aufrief, war Peter der Dominanteste, der sich für einen Strafzug gegen den Aberglauben einsetzte, durch die Lande reiste, predigte und eine Armee auf die Beine stellte, die sich dann als erste daranmachte in den Osten zu ziehen.“

„Eine Lumpengruppe“, warf sie wiederum ein.

„Von wegen! Tapfere Ritter waren dabei, Graf Hugo von Tübingen, Walter von Teck, Emicho von Leiningen …“

„Stopp!“, unterbrach ich ihn. „Walter von Teck?“ „Ja. Und?“

Ich resümierte. Der Name war bei dem Bauern unter der Burg Lindberg gefallen. Klärles Worte, er würde weit reisen, hatte ich noch im Ohr. Natürlich hatten die Bauern gewusst, dass er sich dem Kreuzzug angeschlossen hatte.

„Ich habe von ihm an anderer Stelle gehört“, entschuldigte ich mich.

„Du kennst ihn? Gott habe ihn selig.“

„Er lebt nicht mehr?“

„Kaum möglich.“

„Bruder, so will ich dich nicht nochmals unterbrechen. Was hat es mit der Armee von Peter, dem Einsiedler, auf sich? Ich sehe es dir an, das Erlebnis brennt dir auf der Zunge.“

„Von vornherein lief bei dem Vorhaben etwas schief. Peter kenne ich von jung auf. Meine Anwesenheit lag ihm stets am Herzen. So erzürnte er sich über Entwicklungen, die ihm aus den Fingern geglitten waren. Häufig diskutierten wir, wie alles zum Guten zu führen wäre. Man mag die Gläubigen, die er sammelte, als Lumpengruppe abtun. Viele waren unerfahrene fromme Menschen, die es als ihre Pflicht ansahen, gegen die Heiden zu ziehen. Wo sollten sie das Geschick zum kriegerischen Handwerk gewonnen haben? Einzelne erhoben alsbald die Stimme, man müsse nicht durch die ganze Welt wandern, um Ungläubige zu finden. Die gäbe es ebenso in der Nachbarschaft. Diese Kreaturen, ich will sie so nennen, zogen einige Hundert Hebräer aus den Häusern und schlugen sie tot.“

„Im eigenen Land?“

„In Rouen, Speyer, Worms, Mainz, Metz. Der Ritter von Leiningen war zum Beispiel einer der schwarzen Brüder, über die sich Peter maßlos ärgerte. Wie vermochte er diese wild gewordene Meute zu zähmen?“ Der Geistliche sah mich an. „Entschuldige, das war nur die Vorgeschichte. An der Stelle will ich sie abbrechen. Letztlich zog Peter mit einem Heer voller Gläubiger in die Ferne, unter ihnen Alte, Krüppel, selbst Kranke, die ihr Heil suchten sowie Weiber in Männerkleidung, die vom Blut der Ungläubigen träumten. Alles in allem eine bunte Gesellschaft. In Ochsenkarren lärmten die Kinder vor jedem Ort, den wir anliefen. Sie wollten wissen, ob man nun in Jerusalem sei.“

„Ich leide mit den Kleinen?“, warf ich ein, da mich allein das Bild schmerzte.

„Es war Gottes Wille!“, fuhr er mich an. „Alle haben recht gehandelt, und wenn der eine oder andere körperlich nicht in der Verfassung sein wollte, die bevorstehende Strapaze zu meistern, so konnte ihm der Tod nicht schädlich sein.“

„Du bist irr!“, fuhr ich den frommen Erzähler unbedacht an.

„Beherrsche dich!“, besänftigte die Marketenderin. „Ralph ist ein Mann Gottes, und er weiß, wovon er spricht.“

Ich gab mich geschlagen. „Ihr mögt recht haben. Mir ist vieles fremd.“.

„So darf ich weitererzählen?“

„Ich bitte dich.“ Ich bemühte mich, versöhnlich zu klingen.

„Peter hatte stets die Heilige Stadt, Jerusalem, im Auge. Zu ihr wollte er, und auf dieses Ziel schnitt er jede Handlung zu. Viele dachten nicht so wie er und töteten, wann immer es die Möglichkeit gab, ungläubiges Gesindel. Selbst in den Mauern Konstantinopels plünderten sie Märkte, verwüsteten Paläste, steckten gar öffentliche Gebäude in Brand. Kaiser Alexios verwies uns nach überhörten Mahnungen aus der Stadt und zeigte uns den Weg nach Nikomedia auf. Es war das Niemandsland zwischen Türken und Griechen.“

„Ein gefährliches Stück Erde?“

„Wenn Peter erhört worden wäre, der bis zur Ankunft der anderen Heere ausharren wollte, hätten wir bestehen können. Doch das Gefühl, siegreicher Heidentöter zu sein, beflügelte die Schar, und so griffen Verwegene erfolgreich die Residenz des Sultans Kilidsch Arslan in Nicäe an. Sie verrichteten dort gesegnete Massaker und besetzten die Burg Xerigordon. Ob Heidenkinder wahrhaftig an Spießen gebraten wurden, habe ich selbst nicht gesehen, will es aber nicht ausschließen. Es wird so erzählt.“

„Du kannst deine Saga an dieser Stelle beenden“, schnürte ich ihm die Worte ab. „Wenn dieser Kilidsch Arslan Seldschukenführer war, so kann ich mir den Rest der Erzählung zusammenreimen. Du und dieser Peter habt offenbar überlebt.“

„Gott wollte es so. Er braucht uns weiterhin auf Erden. Diese verfluchten Türken fielen über uns her, verlangten von Gefangenen die Hinwendung zu ihrem Allah und schlugen jedem, der sich weigerte, den Kopf ab. Wer gibt ihnen das Recht dazu?“

„Du, dieser Peter und dieser Papst, der zu dem blutigen Zug ausrief – ihr alle legitimiert sie!“

Hasserfüllte Fratzen starrten mich an. Der Fromme spie mir ins Gesicht und wandte sich ab.

„Was bist du für ein fürchterlicher Mensch“, fügte die Frau hinzu und ließ mich stehen.

Ich hatte mich gegen die Gesellschaftsordnung gestellt und wurde aussortiert. Misstrauische Blicke beäugten mich. Dass in den folgenden Stunden keiner sein Messer zwischen meine Rippen pflanzte, war der Abgeschlagenheit des Heers zuzuschreiben. Lethargisch plagte sich der Zug weiter, zäh, Meter um Meter. Menschen brachen zusammen, keiner kümmerte sich darum. Sie verschieden und wurden Beute der Wölfe. Fragen nach Erwartungen, nach Plänen konnte ich mir sparen. Mit gesenktem Kopf trottete ich in der Menge mit.

Ein entsetzliches Ereignis sollte meine Situation ändern. Der Biss einer Levanteotter brachte der Mutter eines Elfjährigen den Tod, der Vater war nicht aufzufinden. Stimmen vermuteten, er habe bei einem Kampf sein Leben gelassen. Ich zog den weinenden Jean an meine Seite, er krallte sich an mir fest. Durch diese Fürsorge reparierte sich mein negativer Ruf von alleine. Die Sorge und Liebe zu dem Kind wurden letztendlich höher bewertet als der bedingungslose Glaube an den Willen einer Geistlichkeit, die aus egoistischen Gründen ewiges Heil versprach.

Beide Themen, Jean und die Intentionen der Kirche sollten mich die nächsten Tage vorwiegend beschäftigen. Gregor VII. war der letzte Papst, mit dem ich in Berührung gekommen war. Den Eindruck, den ich von ihm gewonnen hatte, frischte ich nochmals auf: ein Mann von Härte, Bildung, gesunder Sturheit. Bereits während meiner Anwesenheit in Canossa, wurde von einer Befreiung Jerusalems gesprochen.

Die Befreiung Jerusalems … Wie war damit umzugehen? Dass Ungläubige nicht dem Geschmack der Kirche entsprechen, ist nachvollziehbar, sie darum massenweise abzuschlachten, bringe ich mit dem Intellekt der Heiligen Väter nur bedingt überein. Deren Mehrheit lernte ich als hochpolitische Akteure kennen, die eine untrennbare Verschmelzung von Glauben und Egoismus zelebrierten. Das blinde Töten von Bevölkerungsgruppen passte nicht in das Bild, das ich von Gregor gewonnen hatte.

Gregor lebte allerdings nicht mehr. Seine Erben wurden mir nachsichtiger geschildert. Der Name Urban II. war gefallen. Zweifellos verkörperte er die aktuelle Heiligkeit. Hatte er diesen Wahnsinn ausgerufen?

Ein Hoffnungsschimmer überflutete gleich den morgendlichen Sonnenstrahlen die dahinvegetierende Gemeinschaft: Iconion lag unmittelbar vor uns. Mit letzter Kraft erreichten wir die Stadt. Der Aufenthalt dort wurde im Nachhinein von vielen als paradiesisches Erlebnis gepriesen. Manch einer stürzte sich, dem Wahnsinn nahe, in einen der wasserreichen Bäche.

Raimund von Toulouse war derart erkrankt, dass man um sein Leben bangen musste. Ein weiterer Führer, Gottfried, hatte sich bei einer Bärenjagd erhebliche Verletzungen zugezogen. Das Heer wäre beim Ausfall dieser beiden Häupter auf die Normannen-Elite angewiesen gewesen, dachte ich mir, musste aber bald erfahren, dass ein Ableben einer der Angeschlagenen zu dramatischen Entwicklungen geführt hätte. Noch lief ich unbedarft in der Menge mit.

Es war sinnlos für mich, in Iconion zurückzubleiben. Ich sah mich Jean verpflichtet. Seine Heimat war die wandernde Gesellschaft. Ohne sie wäre er verloren gewesen.

In Tyana, dem nächsten Etappenschritt, erfuhr ich, wie es um die Gemeinschaft bestellt war.

„Wem schließt du dich an?“, fragte mich Gerard, ein Pilger aus der Normandie, der sich zuvor mit einigen Freunden verständigt hatte.

„Trennen wir uns denn?“.

„Das Heer ist kein Ganzes.“ Gerard nahm mich ins Visier.

„Ich sah es immer als Einheit, wenn auch Teile ein Eigenleben führen und streng im Abstand wandern.“

Zynisch lachte Gerard. „Dann will ich dich belehren: Diese Herren aus den unterschiedlichsten Ecken Europas, hassen sich wie die Pest, und ihre Treffen sind ein einziges Gezerre. Jeder hat seine Vorstellungen von einem Kreuzzug, und jeder hat eigene, egoistische Ziele ins Auge gefasst. Der Heilige Vater hat zwar Bischof Adhemar von Puy zum Kreuzfahrerbeauftragten berufen …“

„Von Weitem habe ich ihn gesehen.“

„… aber keine strikte Heeresleitung organisiert. Die Führer entscheiden nach Gutdünken und spielen sich gegenseitig aus.“

„Das funktioniert?“

„Das Endergebnis wird zählen.“

„Hat Papst Urban diesen Kreuzzug befohlen?“

„Er wurde in Clermont ausgerufen. Ich war anwesend und von der Veranstaltung so geblendet, dass ich mich willenlos und blind anschloss.“

„Bereust du es?“

„Hin und wieder.“

„Welchen Eindruck hattest du vom Heiligen Vater?“

„Urban? Man sagt, er liebt den Wein mehr als manch anderes. Ein Sohn des Klosters Cluny.“

„Das erinnert mich an Gregor VII.“

„Die Strenge mag den beiden gemein sein, doch sind sie nicht vergleichbar. Damals in Clermont trat Urban zornig auf, beklagte, wie Ungläubige Gotteshäuser im fernen Land in Ställe und Moscheen verwandelten. Er rief zu einer Pilgerfahrt auf, die ausnahmsweise mit Waffen gestattet wäre und die, selbst wenn man töten würde, zur Vergebung aller Sünden führte. Zu Tausenden sind wir auf die Knie gefallen und haben Gebete angestimmt. Es war mystisch. Wie von Zauberhand erschienen überall Tücher mit roten Kreuzen. Die Menschen haben sich damit bekleidet und gejubelt. Und seine Heiligkeit wiederholte: ,Deus lo volt – Gott will es, dass sein Grab wieder glorreich werde‘.“

„Hört sich nach einer Massenbewegung an“, bemerkte ich.

„Es wurde zu einer solchen. Die Begeisterung verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch alle Reiche. Viele haben ihre Güter verkauft oder verpfändet, um die Kosten der Reise für die gesamte Familie, Frau und Kinder, zu decken. Du wirst doch ebenfalls dein Seelenheil suchen?“

„Vordergründig ist mir nach dem ungefährlichsten Weg für Jean. Wem würdest du dich anvertrauen?“

„Das ist eine Sache der Zuversicht.“

„Dieser Maßstab ist mir zu vage. Wer kennt die Routen?“

„Wir haben oströmische Berater. Es wird gesagt, sie wüssten Bescheid.“

Für den Hinweis war ich dankbar. Ich entschloss, einen dieser Vertrauten zu befragen.

Am Abend überraschte mich Jean mit einer Frage. „Werden wir in Jerusalem einen Hof haben und einen großen Fluss mit Fischen?“

„Hast du an so einem gewohnt?“

„Mit meinen Freunden ließ ich Steine hüpfen. Meinst du, sie werden uns besuchen?“

Nicht die Worte Jeans hörte ich, vor dem Tonfall erbebte ich. Unfassbare Wehmut und der Wunsch zu Hause zu sein, klang aus ihm. Wie würde er mit Jerusalem zurechtkommen? Diese steinerne Stadt auf kargem Felsen, gezeichnet von Moscheen, Bruchstücken des jüdischen Tempels und christlichen Kirchen. Den Kreuzfahrer traute ich zu, den wundersamsten aller Orte in einen brodelnden Brandherd zu verwandeln. Die Tränen des einen Gottes würden den Hass, das Leiden und die Brutalität, die an der geweihten Stelle Tagesordnung bleiben sollten, nie auch nur annähernd löschen können. Jean würde in einer Enklave, umgarnt von Lebensgefahr, heranreifen.

„Es gibt Brunnen in Jerusalem. Sie sind tausendmal schöner als jeder Fluss“, beschrieb ich. „Menschen holen sich dort Wasser und erzählen sich dabei manche wunderbare Geschichte. Bestimmt wirst du auch vieles zu berichten haben.“

„Oh ja, mir fällt immer etwas ein.“

Es wurde von Tatikios, dem Feldherrn des Kaisers Alexios, gesprochen. Er unterstützte die Kreuzfahrer mit einem Kontingent oströmischer Söldner. Argwöhnisch traten ihm unsere Verantwortlichen gegenüber. Tatikios war in diesem Weltenreich zu Hause. Um Genaues über die Tücken der Strecke zu erfahren, musste ich mit ihm reden. Tatikios war in einem Palast einquartiert, der diese Bezeichnung kaum verdiente. Adjutanten hielten Wacht und wiesen unliebsame Besucher ab.

Ein Händler kam mir zugute. Beherzt sprach ich ihn an: „Du lieferst an?“

„Melonen, Feigen, Bananen. Weißt du, wo das Lager ist?“

„Warum sollte ich sonst auf dich zukommen?“, behauptete ich frech.

„Dann greife zu!“

Rasch packte ich zwei Körbe und stolzierte selbstbewusst ins Gebäude. „Mir ist der Weg bekannt“, würgte ich die Frage eines Wachhabenden ab. Bemüht folgte der Händler.

„Links?“, vermutete er, als wir in eine weite Halle eintraten.

„Links. Links ist immer richtig.“

„Muss ich mir merken.“

Durch eine kleine Tür traten wir in einen zweiten Flur. Willkürlich entschied ich mich für ein Zimmer.

„Wir können alles dort in der Ecke abladen. Du bist dann entlassen. Der Küchenchef ist informiert.“

„… und wie steht es mit meinen Trachy?“

„Du wirst immer sofort bezahlt?“

„Wer nicht?“

„Ich lasse nach einem Zahlsklaven rufen.“

„Von solchen habe ich noch nie gehört.“

„Bin schon am Organisieren.“ Ich drückte mich aus der Tür und entkam zügig über eine Treppe in den ersten Stock.

Einem vornehmen Herrn, der mich überrascht inspizierte, kam ich mit meiner Frage zuvor. „Entschuldigen sie, wo finde ich einen Ortskundigen?“

„Tyana ist überschaubar.“

„Ich spreche nicht von Tyana“, präzisierte ich. „Es geht um den Weg nach Antiochia.“

„Die Heerführer wissen Bescheid. Stimme dich mit denen ab und verschwinde!“

Ich blieb stur. „Denen trau, wer will.“

„Wer bist du, dass du es dir anmaßt, hier derart aufzutreten?“

„Ich trage große Verantwortung und muss daher die Worte eines Kundigen hören, keinen Abguss einer dickköpfigen Rechthaberriege.“

„Die findest du unter den Heerführern wohl.“

„Kannst du mir einen Rat geben?“

„Schließe dich der Gruppe an, die sich für das kappadokische Caesarea entscheidet. Diese Strecke wird am Ende zwar beschwerlich, führt aber in weiten Teilen durch Siedlungsgebiete armenischer Christen. Tatikios wird ebenfalls diesen Weg wählen. Gottfrieds Bruder, Balduin, und Tankred wollen Syria über die Kilikische Pforte erreichen.“

„Und dieser Weg ist gefährlicher?“

„Traust du mir nicht?“

„Deinen Rat will ich gern befolgen.“

Wir wurden durch einen eiligen Boten unterbrochen, der mein Gegenüber aus einigen Metern Entfernung rief. Er lief zu ihm, und sie gingen durch Tür.

Ich war gezwungen, in dieselbe Richtung zu gehen. Entgegenkommenden Legionären wich ich aus und presste mich zu dem Zweck an den Eingang jenes Zimmers, in das sich die beiden zuvor zurückgezogen hatten. Ihre Stimmen hörte ich deutlich. Es lag mir keineswegs daran, irgendetwas auszuspionieren, doch deren Aufwallung ließ mich frieren.

„Müssen wir uns dem ganzen Wahnsinn unterwerfen? Was kommt dem Germanenvolk noch alles in den Sinn?“

„Unser Kaiser, Alexios, hat es so befohlen.“

„Tatikios, Herr“, warf sich ein weiterer Anwesender dazwischen, „vieles kann ich nicht fassen. Was tun die ganzen Fremden hier? Sie zerstören unsere Häuser, töten Menschen, und unser Kaiser schützt sie. Wie ist das alles zu verstehen? Sind wir diesen Menschen nicht Feind?“

„Es gibt Gründe, darüber hinwegzusehen“, würgte der Feldherr den Einwurf ab. „Du erinnerst dich an Guiskard, den Normannen? Es war schmerzvoll, wie er unsere Besitztümer in Süditalien und zudem Sizilien unterwarf und unter seinen Einfluss brachte.“

„Von dem spreche ich! Und ebenso schmerzvoll waren seine Angriffe gegen uns, gegen Konstantinopel.“

„Da gebe ich dir vollkommen recht – das hätte düster enden können. Doch wir hatten ja Glück, und es kam nicht so weit. Guiskard fühlte sich seinem Vasalleneid verpflichtet und sprang an die Seite Papst Gregor VII., der sich in der Engelsburg gegen König Heinrich verschanzt hatte. Als er dann wieder gegen uns ins Gefecht zog, erlag er einer der Seuchen.“

„Bohemund, sein Sohn, lenke damals das Schwert wider dich. Er ist jetzt unter den Heerführern, und du akzeptierst ihn an deiner Seite!“

„Bewusst! Bedenke, was sich in diesen Jahrzehnten weiterhin ereignete.“

„Erkläre es mir bitte! Hat es mit der Schlacht von Manzikert zu tun?“

„Unser damaliger Kaiser Romanos IV. Diogenes war in dieser Schlacht dem Seldschuken Alp Arslan nicht gewachsen. Dieser eroberte den Löwenteil Kleinasiens und führte es in die Gebote der Steppe zurück.“

„Kaiser Romanos wurde ob seines Misserfolgs geblendet!“

„So trug es sich zu, und sein Nachfolger, Kaiser Michael VII. Dukas, erbte die teuflische Situation.“

„War er es, der die Konfrontation mit Guiskard auszustehen hatte?“

„Nicht allein das. Die Normannen überströmten das griechische Land, die Seldschuken standen im Osten kurz vor Konstantinopel, gründeten gar das Sultanat Rum – oder Ikonion – mit Nicäa als Hauptstadt - direkt vor unserer Haustür -, und zu all dem begehrten im Norden die Bulgaren auf. Michael VII. war diesem Druck nicht gewachsen. Es wurde Zeit für einen Militäradel, und der fand sich in dem Geschlecht der Komnenen.“

„Alexios ist der zweite Kaiser dieser Familie.“

„Er stärkte das Militär, erhöhte dadurch Ostroms Ausstrahlung enorm und gewann Dyrrhachion, das Guiskard erobert hatte, zurück. Schließlich schlug er die Petschenegen vernichtend. Allein der Osten, der blieb ihm weiterhin brandgefährlich. Gefährlicher als alle anderen Feinde. Er dachte strategisch und bat Papst Urban II. um Hilfe, wohl wissend, dass dieser mit einem Kreuzzug sympathisierte. Die Botschaft erreichte den Alten zu Piacenza, und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn unmittelbar darauf rief er in Clermont zum Kriegszug gegen die Moslems auf. Du kannst eins und eins zusammenzählen?“

„Herr, diese ganzen Heere kommen, um unserem Kaiser im Krieg gegen die Seldschuken beizustehen?“

„So war es beabsichtigt. Einen Kaiser konnte Urban nicht darum bitten. Auf Heinrich IV. liegt weiterhin der Kirchenbann, ebenfalls auf Frankreichs König Philipp, da ihm seine Frauengeschichten zum Verhängnis wurden. Urban musste die Heere selbst aktivieren, und dazu nützte er seine Macht als Vertreter Gottes auf Erden mit dem Auftrag, Ungläubige zu vernichten.“

„Es sind keine Heere, die bei uns aufschlugen, es sind verheerende Sauhaufen.“

„Kann man so sagen. Sie alle haben die politische Bedeutung der gewaltigen Aktion nicht erkannt, und das kommt uns zugute. Selbst mache ich gute Miene zum bösen Spiel, lasse mich gar von den Herren schikanieren.“

„Das eben verstehe ich nicht.“

„Die Situation ist verflixt, und wir brauchen viel Fingerspitzengefühl. Papst Urban II. ist ein weitblickender und kluger Kopf. Zur Stunde beschäftigen seine Heere die Seldschuken. Damit ist unser Ziel erreicht, wir sind außer Gefahr. Diese Heiligkeit führt allerdings Weiteres im Sinn.“

„Du wirst es mir sagen.“

„Er will die Kirchenspaltung aufheben, will selbst wieder geistlicher Vater des Ost- und Westreichs werden! Mit der Gewalt dieser Heere hofft er, die Herrschaft über unsere Länder zu gewinnen und Kaiser Alexios in die Knie zu zwingen. Diesem ist das sehr wohl bewusst, und so sind die freundschaftlichen Bande, die wir derzeit hegen und pflegen müssen, brandgefährliche, vergiftete Fesseln. Die Uneinigkeit dieser Heerführer ist es, die dem Heiligen Vater zuwiderlaufen und uns nützen. Vorsorglich verpflichtete Alexios jeden der Herren zu einem Eid, bevor er sie Konstantinopel passieren ließ. Sie mussten schwören, dass eroberte Erde oströmisches Eigentum würde, also nicht dem Westen zufiele. Was der Schwur taugt, wird sich zeigen.“

Ich hatte genug gehört. Geschickt stahl ich mich aus dem Palast. Mein Weltbild war wieder hergestellt. Urban II. ging es nur in der Nebensache darum, Nichtchristen aus den Kirchen zu prügeln und abzuschlachten. Der fromme Vater nutzte den Vorwand, um die Möglichkeit einer religiösen Oberherrschaft über Ostrom zu erzielen.

Die weitere Reise entsprach den Voraussagen Tatikios‘. Nach der ersten langen gesicherten Strecke folgte ein abschließender Gebirgskamm, der zu bestehen war. Er hatte es in sich. Herbstliche Regengüsse hatten die dürftigen Pfade verschlammt. Die steilen Hänge wurden dadurch lebensgefährlich, und manches Pferd rutschte samt Reiter oder Proviant in die Tiefe.

Ich beobachtete Ritter, die auf Grund der Anstrengungen Waffen von sich warfen, um die Strapazen bewältigen zu können. Als wir vor der eisernen Orontesbrücke standen, brach Feierlaune aus. Drei Stunden bis Antiochia, der Hauptstadt Syrias. Da war für alle ein erlösender Gedanke.

Als wir uns schließlich dem massiven Mauerwerk näherten, das die Stadt umschloss, wurden wir einer grauenvollen Stille gewahr. Verunsicherung.

„Meint ihr, die Mauern sind ausgestorben?“, fragte einer der Ritter vorsichtig.

„Nie und nimmer“, meinte ein oströmischer Recke. „Die Seldschuken sind wie Schlangen. Sie lauern hinter jeder Nische.“

„Wie vermag man diese Festung erzwingen?“

„Es kommt Erschwerendes dazu: Im Mauerring sind Felder und Wiesen eingebettet.“

„Du kennst die Stadt?“

„Sie ist erst seit zwölf Sommern in den Händen der Türken. Ich habe meine Kindheit dort verbracht. Die Herzöge müssen reife Pläne haben, um diese Bastion zu kassieren. Der Mauerring geht auf Kaiser Iustinianus zurück. Er war sein Anliegen. Es macht keinen Sinn, gegen ihn anzurennen. Auf den Hunderten von Türmen - du siehst, jeder ist bis zu 15 Mann hoch - haben die Verteidiger alles im Blick. Außerdem ist der Turkmene YaghiSivan ein erfahrener Kommandeur.“

Ein Kriegsrat wurde einberufen. Praktikable Beschlüsse blieben aus. Angeblich schlug Tatikios vor, die Dörfer und Gehöfte im weiten Umfeld zu plündern und sie zu Nahrungsdepots umzumünzen. Dem widersetzten sich die Feldherren. Sie verwiesen auf genug vorhandenen Proviant und beschlossen eine lockere Belagerung, eingebettet in Vergnügungen, die die Feinde zermürben sollten. Ein Manko offenbarte sich schnell: Die Stadt konnte nicht restlos umstellt werden. Weiterhin erfuhren wir, dass Yaghi-Sivan, der Statthalter der Seldschulken, die Mehrzahl der griechisch-armenischen Christen lange vor unserer Ankunft aus der Stadt ausgewiesen hatte, um keine Kollaborateure im Innern zu haben. Nur wenige hatte er dabehalten. Sie waren für die harte Arbeit an den Wurfmaschinen vorgesehen.

Die Erwartungen unserer Feldherren liefen ins Leere. Der drohende Winter in der Orontes-Ebene zeigte seine Vorboten. Grimmige Stürme und eisiger Regen ließen die Gemüter verstummen. Lebensmittel gingen zur Neige.

Der anfangs gelassenen Stimmung setzten die Seldschuken ein Zeichen entgegen. Den Patriarchen, der in der Stadt geduldet wurde, steckten sie wie einen Affen in einen Käfig und positionierten ihn in regelmäßigen Abständen auf der Mauer.

Nach und nach rafften Krankheiten jeden siebten der Kreuzfahrer dahin. Es sollten die Stunden Bohemunds folgen. Guiskards Sohn drängte zu Taten. Mitte Dezember gelang es ihm, eine Gruppe Turkmenen in einen Hinterhalt zu locken. Die Gefangenen wurden vor den Mauern Antiochias demonstrativ getötet. Ende des Monats schlugen Raimunds Ritter ein Ausfallkommando zurück, wobei die eigenen Verluste allerdings dramatisch waren. Zwei Tage später zersprengte Bohemund ein Heer, das der Emir von Damaskus zur Hilfe gesandt hatte.