111 Gründe, London zu lieben - Gerhard Elfers - E-Book

111 Gründe, London zu lieben E-Book

Gerhard Elfers

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Beschreibung

In 111 Gründe, London zu lieben zeigt Gerhard Elfers in kleinen Geschichten, wo London wirklich London ist, jenseits von Prunk, Palästen und Wachsfigurenkabinetten. 111 Stichproben des Lebens in der pulsierenden Hauptstadt sind hier zusammengetragen, Lippenbekenntnisse, Lügen und Liebesschwüre, Zeugenaussagen zum Lebensgefühl, Protokolle des täglichen Irrsinns - es ist die subjektive Liebeserklärung eines skeptischen Romantikers an seine Stadt, mit Gespür für ihre Seele, viel Ironie und genauso viel Herzblut. Genau beobachtete Mikroreportagen von der Front des Großstadtlebens wechseln sich ab mit persönlichen Geschichten über die Menschen, die diesen Ort erst zu dem gewaltigen, faszinierenden, liebenswerten und großartigen Pandämonium machen, das die Römer vor 2000 Jahren 'Londinium' tauften. Das Buch gibt dem Besucher mit seinen vielen Insidertipps nicht nur einen Begleiter an die Hand, es ist vielmehr ein aufregendes Date mit London, an dessen Ende hoffentlich ein erster Kuss steht, eventuell folgen sogar ein paar leidenschaftliche Tage und Nächte. Und der eine oder die andere findet vielleicht. eine richtig große Liebe.

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Gerhard Elfers

111 GRÜNDE, LONDON ZU LIEBEN

Eine Liebeserklärung an die großartigste Stadt der Welt

Für Anne, meinen allerersten Grund

»›London kommt!‹ Und unruhig, erwartungsvoll schweifen unsere Blicke die Themse hinauf. Des Dampfers Kiel durchschneidet pfeilschnell die Flut, aber wir verwünschen den saumseligen Kapitän: unsere Sehnsucht fliegt schneller als sein Schiff.«

THEODOR FONTANE, 1852

VORWORT

»We apologize for any inconvenience caused«

Unter dieser Überschrift, so hat mal ein kluger Londoner gesagt, lasse sich London am besten zusammenfassen. Denn sie hängen überall, diese Schilder, auf denen London seine Bewohner und Besucher um Nachsicht bittet. Sie kleben an kaputten Geldautomaten und an den Gittern geschlossener U-Bahn-Stationen: »Wir bitten, die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen.«

Es geht nicht immer alles glatt hier. Wie denn auch? London, das sind 1500 Quadratkilometer voller Leben in allen denkbaren Facetten, schillernd und schwierig, bunt und bösartig, furchteinflößend und schön – Moloch und Majestät zugleich. Ein modernes Babylon, dessen knapp acht Millionen Bewohner dreihundert verschiedene Sprachen sprechen, aber beileibe nicht alle die englische beherrschen. Trotzdem verstehen sich alle, irgendwie. Eine echte Metropole mit stark erhöhter Erlebnisdichte, in der sich Arm und Reich überall auf Spuckweite nahe kommen, die keinen Balanceakt scheut, die sich alle 24 Stunden neu erfindet, regeneriert und renoviert, ohne ihre Geschichte zu vergessen. Es ist die wilde Dynamik dieses ständigen Wandels, die das Leben in London so aufregend macht – und eben auch anstrengend. Doch wer die Herausforderungen nicht scheut, sich über sie hinwegsetzt oder, in echter Londoner Manier, alle Widrigkeiten schlicht und einfach ignoriert, der ist auf dem besten Weg, London wirklich lieben zu lernen.

In diesem Buch will ich Ihnen zeigen, wo London wirklich London ist. 111 Geschichten sind hier zusammengetragen, Stichproben des Lebens in meiner Wahlheimat, Lippenbekenntnisse, Lügen und Liebesschwüre, Zeugenaussagen zum Lebensgefühl, Protokolle des täglichen Irrsinns. Es ist eine sehr subjektive Liebeserklärung eines skeptischen Romantikers an seine Stadt und ihre Menschen, die diesen Ort erst zu dem gewaltigen, faszinierenden, liebenswerten und großartigen Pandämonium machen, das die Römer vor zweitausend Jahren »Londinium« tauften. Es ist ein aufregendes Date mit London, an dessen Ende hoffentlich ein erster Kuss steht, eventuell ein paar leidenschaftliche Nächte. Und der eine oder die andere findet vielleicht … eine große Liebe.

Und hier ist wohl ein Wort der Warnung angebracht: Wer sein Herz an London verliert, tut dies auf eigenes Risiko. Eine Affäre mit London ist eine gefährliche Liebschaft, tragisch und voller kleiner und großer Dramen. London ist wie eine berühmte Diva, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Sie trägt ihr glitzerndes Paillettenkleid mit Stolz, will unablässig bewundert werden und hat für Kuschelsex nichts übrig. Ihre zahlreichen Liebhaber bekommen von ihr selten mehr als ein spöttisches Lächeln; sie sagt dir vielmehr bei jeder Gelegenheit, dass du beileibe nicht ihr einziger Verehrer bist. Man muss Geduld haben mit ihr. Und gut zu Fuß sein. Denn es gibt Momente, da nimmt diese Stadt deine Hand und stürmt los, sie reißt dich mit, Widerstand zwecklos, und du schlägst dir den Kopf an und verlierst einen Schuh, aber du hast keine Wahl, sie lässt dich jetzt nicht mehr los, stürmt einfach weiter, durch graue Tage und schillernde Nächte, und irgendwo siehst du aus dem Augenwinkel plötzlich eine riesige Leuchtschrift blinken: »This will be the ride of your life!« Und darunter, etwas kleiner: »We apologize for any inconvenience caused.«

Gerhard Elfers

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1.

MAKE YOURSELF COMFORTABLE!

London Mal ganz allgemein

»When a man is tired of London, he is tired of life; for there is in London all that life can afford.«

Samuel Johnson, 1777

GRUND NR. 1

Weil London nicht zu fassen ist

Wo liegt London? Diese Frage lässt sich sehr einfach beantworten, jedenfalls für Geografen: rund um einen Punkt mit den Koordinaten 51° 30’ 26’’ N 0° 7’ 39’’ W. Einfacher gesagt: London, das ist die bebaute Fläche rund um den Bahnhof Charing Cross, der von den Londoner Taxifahrern – der einzig vertrauenswürdigen Instanz auf diesem Gebiet – als der Mittelpunkt von London anerkannt wird. Zwei Minuten zu Fuß vom Trafalgar Square. Um die Ecke vom Savoy. Aber wer an Feinheiten interessiert ist, stellt sich vielleicht weit interessantere Fragen: Wo beginnt London? Oder: Wo hört London auf? Und da wirds schon schwieriger, da bekommt man auch vom Taxifahrer seines Vertrauens höchstens ein »Sorry, guv, no idea!«.

Wenn man auf die Landkarte schaut, sticht im Südosten Englands ein großer grauer Fleck ins Auge, umgeben von einer unregelmäßigen ovalen Linie. Dabei handelt es sich nicht um die Stadtgrenze, sondern um die Ringautobahn M25, die London umgibt wie ein Schutzwall. Eine richtige Grenze aber, eine Linie, an der London aufhört und der Rest der Welt beginnt, gibt es nicht. Seit Jahrhunderten widersetzt sich die Stadt einer endgültigen Festlegung. Sie ist in fast zweitausend Jahren beständig gewachsen, wie ein lebender Organismus. Sie hat gierig kleine Nachbarorte verschlungen und wieder ausgespuckt und sich das alte County Middlesex einverleibt. Ihre Straßen und Gassen wuchern wie Blutgefäße, ständig ändern sie ihren Verlauf und ihre Fahrtrichtung, führen seit Jahrhunderten Bürger und Besucher gleichermaßen in die Irre. Selbst die Anzahl der Londoner ist Anlass für Dispute, sie schwankt zwischen sieben und mehr als zwölf Millionen, je nachdem, welches London man betrachtet: Greater London, Inner London, Inner und Outer London, Central London, The Metropolitan Area – ja, was denn nun?

Juristisch gesehen ist London der als »Greater London« festgelegte Verwaltungsbezirk, der von der »Greater London Authority« (GLA) unter dem »Mayor« gemeinsam mit den 32 Bezirksverwaltungen und der unabhängigen »City of London Corporation« regiert wird. Aber hier gehen die Meinungen schon auseinander. Denn der »Lord Mayor« der »City of London« würde wohl jeden mit seiner Amtskette erwürgen, der öffentlich die Auffassung vertritt, die GLA würde »seine« City regieren. Londons historischer Kern wacht nämlich seit dem Mittelalter eifersüchtig über seine politische Unabhängigkeit vom Rest der Stadt. Sogar die Queen muss, von Rechts wegen, hochoffiziell um Erlaubnis bitten, wenn sie einen Fuß in die City setzen will, ja, die City leistet sich sogar eine eigene Polizeitruppe. Jack the Ripper, der geheimnisumwitterte Prostituiertenmörder des viktorianischen London, hat sich die traditionellen Revierstreitigkeiten der beiden Londoner Polizeibehörden geschickt zunutze gemacht, indem er stets nahe der Grenze zwischen den Zuständigkeitsbereichen meuchelte.

Die City ist zwar die Keimzelle des modernen London, sie markiert aber schon seit Jahrhunderten nicht mehr das Stadtzentrum. Besucher folgen oft ahnungslos der Ausschilderung in der Hoffnung, mit »The City« sei eine Innenstadt gemeint. Einige werfen sich irgendwann aus Verzweiflung unter einen großen roten Bus, andere sind einfach nur enttäuscht, dass sie keine Fußgängerzonen, Cafés, Theater und Einkaufsmöglichkeiten finden. Denn die nur eine Quadratmeile große City beherbergt lediglich den berühmten Finanzdistrikt der Stadt, und damit immerhin knapp ein Drittel der Wirtschaftskraft des gesamten Königreichs (sowie die größte Ansammlung von dunklen Anzügen in Westeuropa).

Manche nähern sich dem Problem auf praktische Weise: London ist für Pragmatiker des öffentlichen Nahverkehrs überall dort, wo man mit der »Tube«, also der Londoner U-Bahn, hinkommt. Das geht vielen schon wieder zu weit, sie beschränken London auf die U-Bahn-Tarifzonen eins und zwei. Die Nordlondoner wiederum haben traditionell Schwierigkeiten damit, jemanden von der Südseite der Themse – »wrong side of the river« – überhaupt als Londoner anzuerkennen, und für viele alteingesessene Cockneys beginnt das echte London erst östlich der Chancery Lane – wer die »Bow Bells«, also das Glockenläuten der Kirche St Mary-le-Bow an der Cheapside, bei seiner Geburt nicht hören konnte, wird niemals ein echter Londoner sein.

Wo also ist London? Wie kann man es definieren, fassen, bändigen? Wer London finden will, wirft seinen Stadtplan besser in einen der vielen nicht vorhandenen Papierkörbe. Es ist zwecklos, nach Londons Grenzen zu suchen oder nach seinem Zentrum. Wer London nicht nur betrachten, sondern begreifen will, muss versuchen, das Herz der Stadt zu finden. Und dieses Herz schlägt in den noblen Boutiquen der Bond Street genauso wie an den bunten Ständen des Brick Lane Market. Wer London den Puls fühlt, spürt ihn in den bebenden Clubs in Waterloo oder zwischen den spiegelnden Bankentürmen in Canary Wharf, man kann ihn im Victoria Park ertasten und am Flughafen Heathrow, er schlägt an den Ufern der Themse und vor den Theken der Pubs, sogar unten in den Tunneln der Tube kann man ihn ahnen – man muss nur genau hinhören.

GRUND NR. 2

Weil hier kein Mensch Fußgängerampeln braucht

»Deutschland«, so schrieb der »Guardian« kürzlich, sei bekannt »für verlässliche Autos, pünktliche Züge und eine nationale Abneigung gegen das Überqueren roter Fußgängerampeln«. Das ist fein beobachtet. Uns Deutsche erkennt man in London zuallererst daran, dass wir an roten Fußgängerampeln, unabhängig vom Verkehrsaufkommen, rituell stehen bleiben. Und hier kommt ein 1-a-Grund, London zu lieben: Kein erwachsener Londoner mit einem Funken Selbstachtung im Leib lässt sich von einem Ampelmännchen vorschreiben, wann er eine Straße überqueren darf und wann nicht.

Ich habe eine Theorie, warum es trotzdem so viele Fußgängerampeln in London gibt: damit die vielen Touristen vom rechtsdrehenden Kontinent nicht familienweise unter den großen roten Bussen zu liegen kommen. Zugegeben: Es hat was für sich, als Besucher und Neu-Londoner die Ampelphasen zu respektieren – Fußgängerampeln retten hier wahrscheinlich jeden Tag Tausenden von Touristen das Leben. Zu Anfang ist mir das auch häufig passiert: wieder mal zu spät aufgestanden, Frühstück im Gehen, ein schneller Blick nach links, zügig auf die Straße, und dann erstarren: unter dem hässlichen Quietschen von Gummi auf Asphalt. Ein zaghafter Blick nach rechts, und die Frontscheibe des Busses ist nur eine Handbreit von der Nasenspitze entfernt. Dahinter ein wild gestikulierender Busfahrer, man kann ihm von den Lippen ablesen, was er sagt: »Where the f*** do you think you’re f***ing going, man!« Von der älteren Dame, deren Gesicht grotesk verzerrt hinter der Windschutzscheibe klebt, weil sie das Bremsmanöver des Busses in eine sanft ansteigende Flugbahn katapultiert hat, mal ganz abgesehen.

Trotzdem: Fußgängerampeln werden von Einheimischen völlig zu Recht ignoriert. Sie stören den Rhythmus der Stadt. Und sie sind nicht nur bevormundend, was kein Londoner leiden kann, sondern auch irritierend. Da ist zunächst mal die Grünphase. Die ist oft so kurz, dass olympische Leichtathleten berechtigte Sorge haben, ob sie es ohne Doping auf die andere Seite schaffen. Kurz bevor die Grünphase beendet ist, also nach zwei bis drei Sekunden, fängt das Männchen an zu blinken. Was so viel heißt wie: »Get a bloody move on, Grandma!« Und wenns blinkt, sollte man tatsächlich sehen, dass man rüberkommt, denn die Ampel für die Autofahrer blinkt jetzt gelb, und das bedeutet: Vollgas! Jetzt trennen uns nur noch Augenblicke von der Dunkelphase: Weder das grüne noch das rote Männchen geben nun eine Handlungsempfehlung, viele Touristen fallen vor Schreck darüber in eine Art Schockstarre und bleiben mitten auf der Straße stehen, ein weiterer Anlass für hässliche Auseinandersetzungen mit den »White van men«, den berüchtigten Fahrern der weißen Lieferwagen. Die Ampelphasen sind hier oft so beknackt, dass die Verkehrsbehörde neuerdings sogar Zehn-Sekunden-Countdowns testet, die die verbleibende Zeit bis zur nächsten Grünphase anzeigen – an sage und schreibe acht Ampeln in London.

Das alles trägt wenig bei zu einem gedeihlichen Miteinander im Straßenverkehr. Kein Wunder also, dass die Londoner ihre Fußgängerampeln eher als freundliche Anregung des Straßenverkehrsamtes betrachten, und nicht als in Stein gemeißelten Befehl zum Stehenbleiben. Die Polizei sieht das übrigens ganz genauso, man kann unter den Augen eines Polizisten seelenruhig bei Rot die Straße überqueren, ohne damit rechnen zu müssen, die nächsten Monate bei Wasser und Brot im Tower zu verbringen. Nicht mal eine hochgezogene Augenbraue ist der Polizei das wert, probieren Sie es ruhig mal aus: als kleines urbanes Abenteuer beim nächsten London-Besuch. Es hat einen sehr befreienden Effekt.

GRUND NR. 3

Weil Achselzucken hier Volkssport ist

Ein kalter Januarmorgen, kurz nach acht. Vereiste Reste einer millimeterdünnen Schneeschicht verheißen nichts Gutes. Am Geldautomaten hängt heute ein Zettel, ich muss ihn gar nicht lesen, ich weiß auch so, was draufsteht: »… we apologize for any inconvenience caused …« Aber ich brauche auch gar kein Geld, denn das Café, in dem ich mein Frühstücksbrötchen kaufen will, hat noch geschlossen. Genau wie der Kiosk an der Ecke, wo ich mir normalerweise die Zeitung für die Bahnfahrt besorge. Aber die findet heute ohnehin nicht statt, wie ich resigniert feststelle, als ich an der U-Bahn-Station »Angel« die heruntergelassenen Gitter sehe, an denen ebenfalls Zettel hängen. »We apologize …« Kein Bus weit und breit, oder nur immer der falsche, was aufs Gleiche rauskommt. Der Taxifahrer, dem ich als Fahrtziel King’s Cross nenne, winkt müde ab, murmelt etwas von Schichtende und falscher Richtung, sagt »Sorry, guv, apologies!« und lässt mich stehen. Ich mache mich missmutig auf den Zwei-Kilometer-Marsch nach King’s Cross, in halbherzigem Schneeregen, ohne Schirm. Nass bis auf die Knochen erreiche ich die überfüllte Schalterhalle des Bahnhofs, wo die Durchsagen schon »severe delays« für alle Linien ankündigen, nicht ohne Entschuldigung für die »inconvenience caused«. Ah, denke ich nur, wieder mal die falsche Sorte Schnee, und will schnell im Büro anrufen. Ich komme aber nicht durch, weil Millionen anderer Pendler gerade aus demselben Grund das Netz blockieren. Die Stadt steht still.

Es ist jeden Winter das Gleiche: Ein Hauch Puderzuckerschnee auf den Schienen reicht aus, um weite Teile des zweitgrößten U-Bahn-Netzes der Welt – das übrigens vorwiegend überirdisch verläuft – lahmzulegen. Ein mittleres Erdbeben könnte keinen schlimmeren Effekt haben. Der Mann, der den Geldautomaten nachfüllt, die Verkäuferin der Bäckerei, der Kioskbesitzer und der Busfahrer der Linie 214, sie alle stehen jetzt, so wie ich, frierend an irgendeinem Bahnhof und – zucken mit den Achseln. Genau wie die Verantwortlichen von »London Underground«, die immer eine Ausrede parat haben, warum sie die Stadt regelmäßig aus denselben Gründen ins Chaos fallen lassen, die schönste und berühmteste unter ihnen: Man hätte, trotz eindeutiger Wettervorhersage, nichts tun können, denn es habe sich um »die falsche Sorte Schnee« gehandelt. Die falsche Sorte Schnee! Darauf muss man erst mal kommen, wenn man nicht zufällig Eskimo ist.

Sie alle zucken mit den Schultern, weil sie Londoner sind. Mit anderen Worten: Sie sind Kummer gewohnt. Eine Stadt wie diese, mit einem prähistorischen U-Bahn-System, streikfreudigen Gewerkschaften und oft gleichgültigen Beamten kann einfach nicht immer funktionieren. Irgendwas läuft immer schief, es muss nur eines der Millionen kleinen Rädchen im Getriebe stehen bleiben: Ein defektes Signal, ein Selbstmörder (»We have one under« heißt das im Jargon der U-Bahn-Fahrer) oder nur der Staub von einer Baustelle reichen aus, um London zu lähmen. Aber sich darüber aufzuregen hieße, Energie zu verschwenden, die man besser für die Überwindung der nachfolgenden Kette von Widrigkeiten aufspart, das ist auch ohne erhöhten Blutdruck anstrengend genug. Man ist, als Besucher wie als Bewohner, gut beraten, sich lockerzumachen. Von London lernen, heißt Gleichmut lernen. Beschwerden, so freundlich man sie auch vorträgt, bringen nicht nur wenig, sie werden auch als unhöflich empfunden: Es hängen doch überall Entschuldigungszettel! Es dauert ein paar Jahre, bis einem das Londoner Achselzucken in Fleisch und Blut übergeht, vor allem als Deutschem. Aber irgendwann lernt man: Die Aussetzer bei Bahn, Bäcker oder Bank gehören einfach dazu. Man akzeptiert, dass unter Londons Oberfläche stets das Chaos lauert – und dass man besser immer einen Schirm dabeihaben sollte.

GRUND NR. 4

Weil hier jeder irgendwie Ausländer ist

Es hat keine vier Wochen gedauert, bis ich mich als echter Londoner fühlte. Man merkt das an Kleinigkeiten. Wenn man den Wert des Münzgeldes langsam an der Form erkennt. Wenn »Please« und »Thank you« in der Alltagssprache an Bedeutung gewinnen oder: wenn man beginnt, beim Überqueren der Straße zuerst nach rechts zu schauen. Diese Stadt macht es Einwanderern leicht. Aber sie hat auch keine andere Wahl. London ist und war immer eine fleischfressende Pflanze. Jedes Jahr verdaut sie im Schnitt mehr als 50.000 Zuzügler netto, das entspricht etwa der Einwohnerzahl von Passau. Ein gutes Drittel von uns ist nicht hier geboren: In mehr als dreihundert Sprachen wird in London übers Wetter geredet, von Arabisch bis Zulu. Und das ist kein Phänomen unserer Zeit, die Geschichte Londons ist, bis zurück zur römischen Besatzung, eine Erfolgsgeschichte der Immigration. Wie sähe London aus, wäre es nicht, über Generationen, von Millionen Menschen aus aller Welt so nachhaltig geprägt worden? Vermutlich ähnlich wie Münster – hübsch, aber etwas flau. Zum Glück aber spülte die Themse jahrhundertweise die Verfolgten und Vertriebenen, die Hungrigen und Geschäftstüchtigen dieser Welt in die Stadt, in mächtigen Wellen. Und die Spuren dieser Menschen sind bis heute sichtbar.

Das große muslimische Gebetshaus in der Brick Lane zum Beispiel diente zunächst den aus Frankreich vor religiöser Verfolgung geflohenen Hugenotten als Kirche. Ende des 19. Jahrhunderts dann ließen sich Tausende Juden aus Osteuropa in dem Viertel nieder, die vor den Pogromen in ihrer Heimat Zuflucht suchten – aus der Kirche der Hugenotten wurde eine Synagoge. (Die beiden Beigel-Shops am oberen Ende der Brick Lane sind die Relikte aus dieser Zeit des jüdischen Spitalfield.) Nach dem Zweiten Weltkrieg dann kamen die Einwanderer vom indischen Subkontinent und nahmen den Platz der längst integrierten und in bessere Viertel abgewanderten Juden ein: Aus der Synagoge wurde die »Brick Lane Jamme Masjid«. Sie bietet als eine der großen Moscheen der Stadt heute viertausend Gläubigen Platz.

London war oft Refugium für politisch Verfolgte; berühmte Exilanten wie der italienische Revolutionär Giuseppe Garibaldi kamen, Karl Marx schrieb hier sein »Kapital«, und auch Friedrich Engels und Lenin schärften hier ihren kritischen Blick auf die herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse. Einwanderung in London war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, die Einwanderer brauchten London, aber London brauchte auch die Bluttransfusion der Neubürger. Sie waren das einzige Mittel, um der hohen Sterberate in der Stadt etwas entgegenzusetzen. Hinzu kam der ständig wachsende Bedarf der Metropole an billigen Arbeitskräften. Doch nicht immer herrschte Friede, Freude, Eierkuchen zwischen Einheimischen und Neubürgern. 1576 notierte ein Beobachter, dass mit einem Aufstand gegen die Hugenotten zu rechnen sei, die »die schönsten Häuser der Stadt besetzen«, und besonders die jüdische Bevölkerung sah sich immer wieder mit Hass und Misstrauen konfrontiert. Schon 1215 gab es ein erstes Pogrom. Viele reiche Londoner standen bei jüdischen Kaufleuten und Geldverleihern in der Kreide, sie nutzten ihren politischen Einfluss und zwangen die Londoner Juden, ein Zeichen auf ihrer Kleidung zu tragen, das sie als Juden kenntlich machte – ein düsterer Vorgeschmack auf Ereignisse in ferner Zukunft.

Aber die Londoner haben sich Pogromen auch widersetzt: Als britische Faschisten 1936 durch das jüdische East End marschieren wollten, stellte sich ihnen ein wütender Mob von 300.000 Gegendemonstranten in den Weg – London lässt sich nicht alles gefallen. Aus dieser Geschichte kommend pflegt London heute einen entspannten Umgang mit uns Immigranten. Niemand muss sich hier heimatlos fühlen. Ganz im Gegenteil, London bietet jedem eine Alternative zur eigenen Nationalität – und man muss dafür nicht mal den Pass abgeben. Die neue Staatsbürgerschaft kommt ganz automatisch und kostenlos, man kann sich kaum dagegen wehren. Irgendwann, auf einer Dinnerparty oder am Bankschalter, gibt man nämlich auf die Frage »Where are you from?« ohne lange nachzudenken eine neue Antwort: »I’m a Londoner.«

Und das ist kein schlechter Moment.

GRUND NR. 5

Weil London ein eigenes Wörterbuch hat

Wer in London klarkommen will, braucht natürlich gute Englischkenntnisse. Aber die wirklich wichtigen Vokabeln stehen leider nicht in Lehrbüchern, und auch Kurse für gehobenes Business English vermitteln nur lückenhafte Kenntnisse über Wörter und Wendungen, die für das tägliche Überleben in London unerlässlich sind. Besonders im Pub, wo ja das eigentliche Leben stattfindet und die wirklich wichtigen Dinge besprochen werden, wird man oft mit Begriffen konfrontiert, die selbst Anglistik-Studenten verblüffen – und sich meist einer direkten Übersetzung ins Deutsche entziehen. Im Folgenden ein sprachliches Erste-Hilfe-Paket für London, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

»MATE« – Essenzielle Vokabel, allgegenwärtig (oft mit stummem »t«). Diese Universalfloskel zur ungezwungenen Kontaktaufnahme ist mit »Kumpel« oder »Alter« nur unzureichend übersetzt: Wer sich zum Beispiel im Pub an einem anderen männlichen Gast vorbeidrängelt, wird niemals »Excuse me, sir!« sagen, sondern stets »Sorry, mate!«, und zwar unabhängig von Bekanntschaftgrad oder Lebensalter des Gegenübers. Begrüßungen beschränken sich oft auf ein knappes »Awright, mate?«. Doch Vorsicht beim Bier mit Kollegen: Dem Abteilungsleiter jovial mit »Here you are, mate!« sein Getränk zu reichen, wäre schon ein Fauxpas. Das weibliche Äquivalent zum »Mate« ist »Luv« oder »Darling«, aber Achtung: Gelegentlich werten Frauen ein flockiges »’allo, darlin’!« als plump-vertrauliche Anmache, und man kann sich schon mal ein ungehaltenes »Don’t you darlin’ me!« einfangen.

»GUV’NOR« ODER »GUV« – Eine Stufe höher auf der formellen Höflichkeitsskala treffen wir auf den »Guv«. Besonders Taxifahrer und ältere Wirte benutzen oft die Kurzform von »Governor« als ironisch-ehrerbietige Anrede für ihre Kunden im Sinne von »Boss« oder »Chef«. Auch hier gilt: für den Büroalltag ungeeignet.

»BLOKE« – »Kerl« trifft die Sache schon ziemlich genau. »He’s a decent bloke« ist eine schlichte, aber aufrichtige Sympathiebekundung von Leuten, die meistens Dave oder Rob heißen und wahrscheinlich gerade dem Papst oder Rod Stewart positive Charaktereigenschaften bescheinigen.

»BOLLOCKS« – Eigentlich die umgangssprachliche Bezeichnung für den, sagen wir, hinteren Teil der primären männlichen Geschlechtsorgane, eignet sich »Bollocks« aber darüber hinaus als Ausruf, wenn etwas so richtig schiefgeht. Auch bestens verwendbar für die Bewertung einer Äußerung des Gegenübers, die nicht vollständig den Kern der Sache zu treffen scheint – etwa in: »Chelseas’ best midfielder ever was Ballack.« – »Bollocks!« (Achtung: ebenfalls nur begrenzt bürotauglich!)

»BUGGER« – Ähnlich wie ◊ Bollocks als Ausruf des Erstaunens über das Misslingen eines Vorhabens geeignet, bezeichnet »to bugger« aber eigentlich eine Sexualpraktik, die bis vor wenigen Jahren als »Buggery« noch unter Strafe stand. Zusammengesetzte Varianten sind »Bugger off!« (freundschaftliche Bitte, möglichst zeitnah das Weite zu suchen) oder »I was utterly buggered!« (etwa: »Ich hatte gestern Abend einen kleinen Schwips.«).

»COPPER« – Das geläufigste Wort für Polizist. Kein Einheimischer würde einen Polizisten als »Bobby« bezeichnen.

»Taking THE MICKEY« – (out of someone, auch: »taking the piss«) Jemanden aufziehen, sich über jemanden lustig machen.

»Quid« – Britische Pfundmünze, etwa in: »Five quid for a pint? Are you taking the piss?«

»INNIT« – Kurzform von »Isn’t it?«. Weit verbreitet bei Adoleszenten aus Gegenden mit erhöhter Dichte von sozialem Wohnungsbau. Deutsches Äquivalent: »Weißwassischmein?«

»Billy-no-mates« – Ein Mensch ohne ◊ Mates (soziale Endstation für jeden, der die hier aufgeführten Vokabeln nicht im aktiven Wortschatz führt.)

GRUND NR. 6

Weil London im Regen am schönsten ist

Um mal schnell mit einem Wetterklischee aufzuräumen: Regenwetter ist für London nicht typisch. Leider. Hier fällt im Jahr etwa so viel Niederschlag wie in Berlin, und viel weniger als zum Beispiel in Hamburg. Aber wenn es mal regnet, dann ist das ein sehr spezieller Regen. Aus meteorologischer Sicht ist es bestimmt völliger Blödsinn, aber ich bin davon überzeugt: Es gibt einen typischen Londoner Regen. Er ist eine Art Sonderanfertigung der Natur, so unglaublich fein und dicht, dass auf jeden Quadratmillimeter ein Tropfen zu fallen scheint. Er kann einen in Sekunden vollständig benetzen und in Minuten durch dickste Schutzkleidung dringen. Dieser Regen kommt von allen Seiten, ein Windhauch genügt, und die kleinen Tropfen ändern die Richtung – »horizontal drizzle« nennt sich das dann.

Aber London im Regen, das hat einen ganz eigenen Reiz, besonders abends. Die bunten Leuchtreklamen der Theater spiegeln sich dann geheimnisvoll im schwarz-glänzenden Asphalt der Shaftesbury Avenue, sie blinken, als stünden sie im Wettbewerb mit den Scheinwerfern der Busse und Taxis. Das Premierenpublikum huscht in Smokings und zu kurzen Kleidchen über die Straße, und die Männer bekommen unerwartet Gelegenheit, den Gentleman zu geben, der seiner Begleitung galant den Schirm überlässt. Im Regen wird die Straße selbst zur Bühne. Die Menschen vollführen gewagte Sprünge über Pfützen und Sturzbäche oder schrecken mehr oder weniger elegant vor den Fontänen zurück, die unter den Reifen der Autos emporspritzen.

Die Stadt kommt sich näher im Regen. Die Londoner, die sonst mit gesenktem Blick aneinander vorbeilaufen, begegnen sich plötzlich auf unerwartete Weise. Sie drücken sich in Hauseingänge und unter jeden noch so kleinen Dachfirst, springen sogar zu Fremden unter den Schirm. Vielleicht ist das der Grund, warum viele Londoner Liebesgeschichten im Regen beginnen. Man sieht die Leute lachen, wenn sie einen Unterschlupf gefunden haben und sich die Tropfen von der Jacke schütteln. Elegante Damen stehen barfuß in Bushäuschen, ihre kostbaren Schuhe in der Hand, und Mütter breiten hastig Plastikfolien über Kinderwagen aus. In der City verschwinden die Spitzen der Bankentürme in tiefhängenden Wolken wie Gipfel im Gebirge, und oft sorgt ein verstopfter Gulli dafür, dass kleine Pfützen zu Seen anschwellen – die Stadt wird zur Landschaft. Sogar den unansehnlichen Vierteln verleiht der Regen vorübergehend Glanz: Er wäscht den Schmutz von Häusern und Straßen.

Wer ein Taxi braucht, besorgt sich besser schnell eines, denn schon wenige Minuten, nachdem die ersten Tropfen gefallen sind, sieht man kaum noch eines der heimeligen gelben Lichter die Straße heraufkommen. Dann bleibt nur der Bus, er verwandelt sich vom Transportmittel in ein Refugium. Erwischt man endlich den richtigen, verschwimmt die Stadt mit dem Zischen der sich schließenden Türen in unwirklicher Schönheit. Der Regen dämpft, London wird leiser. Die abertausend Botschaften der Plakate, Schilder und Leuchtreklamen werden schwerer verständlich, das Tourette-Syndrom der Stadt scheint vorübergehend geheilt. Die riesigen Leuchttafeln am Piccadilly Circus schimmern nur noch durch die Tropfen, die über die Busfenster perlen. Für uns hier drinnen sieht die Stadt plötzlich aus wie ein impressionistisches Gemälde. Und wenn dann die Fenster beschlagen sind, vom Dampf, der aus den Mänteln und Jacken steigt, dann ist es, als fahre man durch einen der legendären Londoner Nebel. Alles wird Umriss, nur Licht und Schatten, die Mitreisenden sind das einzig Wirkliche. Die Touristen wollen sich immer wieder vergewissern, dass da draußen die Stadt noch steht, mit den Jackenärmeln wischen sie sich Gucklöcher in die beschlagenen Scheiben, die aber schnell wieder verschwinden. Nur die Kinder begreifen, worum es geht: Sie malen lachende Gesichter an die Fenster.

Erst im Regen, denke ich manchmal, beginnt die Stadt richtig zu leben. Erst im Regen wird London wirklich London.

GRUND NR. 7

Weil man hier die Kunst der Plauderei beherrscht

Wie’s mir geht? »Nicht so gut«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe gerade eine heftige Erkältung hinter mir und fühle mich immer noch ganz schlapp. Außerdem macht mir ein eingewachsener Zehennagel zu schaffen. Auf dem Weg zu dieser Party bin ich dann zu allem Überfluss in eine Pfütze getreten, deren Tiefe ich zu optimistisch eingeschätzt hatte, und jetzt habe ich nasse Füße. Was wohl meine Erkältung wieder zurückbringen wird.«

Die Blonde, die mir vom Gastgeber als Rachel vorgestellt worden war, sieht mich entgeistert an, entdeckt urplötzlich einen Bekannten und entfernt sich auffallend rasch. Jetzt lässt sie einem glatzköpfigen Zwerg ihr strahlendes Lächeln angedeihen, nicht ohne mich gelegentlich von Weitem ängstlich zu mustern. Ich hätte Rachel auch direkt in den Po kneifen können, der Effekt hätte verheerender nicht sein können. Sie wollte nicht wissen, wie es mir geht. Sie wollte nur ein Gespräch in Gang bringen, das ihr unser Gastgeber aufgenötigt hat. Small Talk eben. Aber ich bin Deutscher! Dichter und Denker und all das! Germans don’t do small talk!

Aber hier in London geht es nicht ohne. In Deutschland als oberflächlich, verlogen und bestenfalls banal verrufen, ist diese Kommunikationsdisziplin das Leichtlauföl im Sozialgetriebe der Stadt. Wer in London lebt oder gelegentlich beruflich zu tun hat, ist gut beraten, sich die Grundlagen des Small Talk anzueignen. Rachel zum Beispiel wollte nicht wirklich wissen, wie es mir geht. Sie wollte einfach nur nett sein, und wäre ich ein gewiefter Small Talker, hätte ich geantwortet: »Sehr gut, danke, aber ich bin ziemlich erschöpft, weil die Bakerloo Line wieder mal nur bis Edgeware Road gefahren ist und ich den Rest des Weges zu Fuß gehen musste.« Und schon ist man beim ersten Thema: dem Lamento über den öffentlichen Personennahverkehr, dem sich absolut jeder Londoner nur zu gern anschließt. Über Strecken und Stationen landet man sehr schnell beim Wohnviertel und den überzogenen Immobilienpreisen, ein weiteres todsicheres Small-Talk-Thema, mit dem man mühelos zwei Gin Tonics überbrücken kann.

Dieser Kleinschnack kann, wenn er gut läuft, in aller Unverbindlichkeit wunderbar unterhaltsam sein, leicht und fluffig wie Milchschaum auf einem Cappuccino. Und was ist verkehrt an amüsant? Muss man bei einer Dinnerparty Welträtsel lösen? Will man bei einem Stehempfang mit Menschen, die man wahrscheinlich nie wieder sehen wird, über ansteckende Krankheiten reden? Oder über das Frauenbild in Shakespeares Frühwerk? Also: Beim Small Talk geht es darum, die flachen Stellen zu finden in einem reißenden Fluss möglicher Blamagen. Man merkt dabei sehr schnell, ob man »klickt«, also ob es gemeinsame Themen gibt, oder ob man sich besser rasch einen anderen Gesprächspartner suchen sollte, bevor man aus Langeweile jeden Lebenswillen verliert. Aber Vorsicht: Small Talk ist auch ein Austausch sozialer Visitenkarten. In diesem ersten Geplauder finden die Londoner sehr schnell heraus, auf welcher Sprosse der gesellschaftlichen Leiter der Gesprächspartner steht. Im immer noch sehr klassenbewussten Königreich wird beim Small Talk subtil die soziale Satisfaktionsfähigkeit des Gegenübers abgeklopft. Als erfolgreich abgeschlossen kann man einen Small Talk betrachten, wenn man vom Gegenüber zum Dinner eingeladen wird. Aber wer nach einem enthusiastischen »You must come for dinner!« den Kalender zückt, um einen Termin zu vereinbaren, blamiert sich – und sein Gegenüber. Denn natürlich will der freundliche ältere Geschichtsprofessor Sie nicht zum Abendessen nach Hause bitten. Es handelt sich, analog zum »How are you?«, lediglich um eine Sympathiebekundung, die man am besten mit einem »Sure!« auf sich beruhen lässt.

Und noch etwas: Detailliertes Fachwissen ist tabu, es sei denn, man redet mit Berufskollegen. Ich saß einmal einer bezaubernden Brasilianerin gegenüber, die sich als am University College beschäftigte Statistikerin entpuppte. Leider nahm sie mein geheucheltes Interesse am Bestäubungsverhalten der britischen Honigbiene für bare Münze. Nach zwanzig Minuten begannen meine Ohren zu bluten und mir wurde klar, dass wir Deutschen nicht die Einzigen sind, die ein gestörtes Verhältnis zum Small Talk haben.

GRUND NR. 8

Weil hier das Wetter per Gesetz geregelt wird

Mystisch wabert er durch unzählige Filme und Romane, Alfred Hitchcocks frühe Killer lösten sich spurlos in ihm auf, Sherlock Holmes kombinierte sich durch seine Schwaden, und Edgar Wallace’ »tote Augen von London« hätten das deutsche Kinopublikum der 1960er Jahre auch nicht bis in die letzten Albträume hinein verfolgt, wenn es Klaus Kinski und ihn nicht gegeben hätte: den Londoner Nebel.

Erbarmungslos hat er sich festgesetzt im kollektiven Unterbewusstsein der Welt. Jeder glaubt, genau zu wissen, wie zu jeder Jahreszeit, ob tagsüber oder nachts, das Wetter in London ist: neblig-trüb. Die Tower Bridge im Sonnenschein kann sich kaum jemand vorstellen. Das hatte auch seine Berechtigung. Über Jahrhunderte war der Nebel ein »London particular«, eine Londoner Spezialität, er gehörte zur Stadt wie Tower oder Themse. Zu Zeiten Königin Victorias war London das Zentrum der industriellen Revolution; die Kohle, die in den Öfen der Privathäuser, in den entstehenden Fabriken und den kleinen Betrieben der Brauer, Seifensieder, Schmiede und Gerber verfeuert wurde, sorgte ohnehin für eine giftige, schwefelige Rauchwolke, die London einhüllte und seine Häuser schwärzte. Wenn dann eine – im Winter typische – stabile Hochdruckwetterlage hinzukam, war das Szenario perfekt für die »großen Nebel«.

Jedes Jahr forderten diese menschengemachten Naturkatastrophen, die mehrere Tage, ja sogar Wochen andauern konnten, viele Todesopfer, vor allem durch Erstickung. Im Jahre 1873 starben im Winternebel siebenhundert Menschen, für 19 von ihnen, so vermerkt penibel der Polizeibericht, ist es besonders dumm gelaufen: Sie fielen, mangels Sicht, schlicht in die Themse. Der Nebel kroch in das Röhrensystem der Tube und drang sogar in Gebäude ein, noch in den frühen 1950er Jahren wurden Theatervorstellungen abgebrochen, weil das Publikum die Schauspieler auf der Bühne nur noch als Schatten wahrnahm. 1952 starben mehrere Tausend Menschen (kein Druckfehler!) im letzten großen »Pea soup fog« – Nebel so dick wie Erbsensuppe.

Doch der Nebel hatte auch positive Seiten: Schriftsteller wie Charles Dickens, Robert Louis Stevenson oder Heinrich Heine haben ihm literarische Denkmäler gesetzt, und mal ehrlich: Sherlock Holmes ohne Nebel, das wäre wie Derrick ohne Tränensäcke. Der französische Impressionist Claude Monet verbrachte zwei Jahre in London, nur um den Nebel in all seinen vielfältigen Farben und Erscheinungsformen zu malen. Aber nicht nur Künstler wussten den Nebel für ihr berufliches Fortkommen zu nutzen. Vor allem in den unbeleuchteten Straßen der Elendsviertel des East End nahmen, wen wunderts, Diebstähle, Morde und andere Unfreundlichkeiten im gleichen Maße zu, wie die Sicht abnahm.

So war das früher mit dem Nebel. Und jetzt ist es an der Zeit, ein für alle Mal klarzustellen: Es gibt ihn nicht mehr, den Londoner Nebel. Ja, wirklich. In London herrscht meist überraschend klare Sicht. Es gibt hier heutzutage ungefähr so oft Nebel wie in Köln. Und zwar ziemlich genau seit 1956. Da hat die Regierung den Nebel endgültig abgeschafft. Sie hat einfach den »Clean Air Act« erlassen, ein Gesetz, das das Heizen mit stark rauchender Kohle oder Holz verbot. Zehn Jahre später bekamen die Kraftwerke höhere Schornsteine verordnet. Und seitdem wars das mit dem Londoner Nebel. Und im Ernst, die Einzigen, die den Nebel vermissen, sind norwegische Touristen mit Suizidabsichten und ambitionierte Hobbyfotografen. Wenn also jetzt noch einer sagt: »Huch, London, da ist es doch immer so neblig!« – sofort den Mund mit Seife auswaschen.

GRUND NR. 9

Weil in der Tube ungeschriebene Gesetze gelten

Mein Kollege Steve ist ein sogenannter »Commuter«, ein Pendler. Das heißt, er fährt jeden Morgen mit der Tube zur Arbeit und abends wieder heim. Steve ist kein grundsätzlich unangenehmer Zeitgenossse, nur manchmal etwas ungeduldig. Er verbringt, wie viele Londoner, rund sechzig Minuten pro Tag in vollen Zügen, Zügen der Piccadilly und Central Line, und hat sich deshalb Grundlagen in mehreren fernöstlichen Kampfsportarten angeeignet. Zu seinem Leidwesen sind Piccadilly und Central (die blaue und die rote) zwei Linien, die über die Maßen von Touristen frequentiert werden. Und jeden Morgen, wirklich jeden Morgen, beschwert sich Steve über die »bloody tourists«. Meist meint er deutsche Touristen. Die ihn verfolgen, wie er behauptet. Er geht davon aus, dass Deutschland 95 Prozent aller Touristen in London stellt, und befürchtet, dass Deutschland jetzt durch Tourismus zu vollenden sucht, was der Luftwaffe 1941 nicht gelungen ist: die Londoner komplett zu demoralisieren. Sie in die Knie zu zwingen. Er schaut mich immer an, wenn er das sagt, ist aber so taktvoll, mich nicht direkt dafür verantwortlich zu machen. Trotzdem habe ich dann irgendwie ein schlechtes Gewissen. Also habe ich ihn gebeten, mir einen Verhaltenskodex für meine deutschen Freunde zu erstellen, die mich hier besuchen kommen. Zehn Minuten später bekam ich folgende E-Mail, die ich im Folgenden übersetzt – und leicht zensiert – wiedergebe:

»Also, erstens: Es gibt keinen Grund, in der Tube zu sprechen. Es ist Montagmorgen. Niemand spricht. Die meisten lesen die Tageszeitung oder ein Buch. Alle wollen ihre Ruhe haben. Passt mal auf: Die wohnen hier! Die Frau auf dem Nebensitz, die versucht, den Schminkspiegel gerade zu halten, und euch großzügig mit ihrem Puder bestäubt? Wundert euch nicht, ihr sitzt in ihrem Badezimmer! Viele um euch herum haben auch einen massiven Kater vom Wochenende. Was ist so dringend, dass es jetzt und hier lauthals diskutiert werden müsste? Eure sexuellen Eskapaden im Hostel letzte Nacht? Achtung: Es verstehen hier mehr Leute Deutsch, als ihr denkt! Aber ihr müsst das quer durch den Waggon blöken. Weil ihr ja so gern in Gruppen reist, die sich natürlich durch verschiedene Eingänge quetschen und so im ganzen Waggon verteilen. Also: In der Tube die Klappe halten! Dann ist schon viel gewonnen.

Zweitens: Nicht starren! Augenkontakt ist ›verboten‹, wie wir Briten sagen. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir uns in der Tube anschauen, hätte er den ›Evening Standard‹ nicht erschaffen. Oder die Werbetafeln an der Decke. Darauf lässt man seine Augen ruhen. Mit der Zeit lernt man auch den Tube-Blick: ins Leere starren, ohne jemanden zu belästigen. Bis ihr den draufhabt, einfach die Augen schließen. So wie der Typ im Sitz gegenüber. Der macht das, um niemanden anzustarren. Was, ihr dachtet, der schläft? Bei dem Gequatsche?

Drittens: Nehmt den verdammten Rucksack ab! Wer seinen Rucksack in einer überfüllten Tube nicht zwischen seine Beine stellt, nimmt einem zahlenden Passagier den Platz weg. Der passt dann nicht mehr rein. Und kommt zu spät zur Arbeit. Und bekommt die Kündigung, weil es das dritte Mal ist, dass er – wegen Touristen wie euch! – zu spät kommt. Er muss also sein Haus verkaufen und seine Kinder im Winter barfuß auf die Straße schicken, um Streichhölzer zu verkaufen. Wollt ihr das? Also. Apropos: Was ist da überhaupt drin, in diesen prall gefüllten Daypacks? Proviant für eine Woche in der Wildnis? Wasservorräte für einen Sahara-Trip? Ihr seid in einer westeuropäischen Großstadt! Man kann hier an jeder Ecke Wasser und Essen kaufen! Man benötigt auch keine expeditionstaugliche Regenjacke. Ein Taschenschirm reicht völlig aus. Man kann sich hier doch überall unterstellen!

Viertens: Auf den vierhundertzweiundzwanzig Rolltreppen der Tube steht man rechts, um Menschen, die es eilig haben, weil sie zur Arbeit müssen, das Überholen zu ermöglichen. Noch mal: rechts stehen. Man steht niemals nebeneinander. Sondern hintereinander. Auf der rechten Seite. Ihr findet, das widerspricht dem generellen Linksverkehr im Land? Hey, wir sind Engländer. Wir sind exzentrisch, voller Widersprüche. Deshalb kommt ihr doch alle her!

Fünftens: Ein Versuch an der Ausgangs-Barriere reicht aus. Wenn der Automat eure Travelcard wieder ausspuckt oder die Oyster Card nicht beim ersten Versuch akzeptiert, wird er es auch beim zweiten und dritten Versuch nicht tun. Tretet also einfach zur Seite und gebt die Barriere frei. Auf dem Display steht nicht umsonst ›Seek assistance!‹. Schaut euch einfach hilfesuchend um. Dann kommt sehr schnell ein Mann mit Mütze und hilft euch weiter.«

So weit also Steve. Hier noch ein Tipp von mir: Wenn Sie in der U-Bahn einem schlecht rasierten, blassen Mann gegenübersitzen, der Sie mit dem Gesichtsausdruck anstarrt, der Robert De Niro als »Taxi Driver« berühmt gemacht hat, verlassen Sie besser an der nächsten Station zügig die Bahn.

Es handelt sich vermutlich um Steve.

GRUND NR. 10

Weil London sich nicht unterkriegen lässt

Ich habe heute Mittag mein Testament gemacht«, sagt Adrian und wedelt mit einem handgeschriebenen Zettel. Sein letzter Wille, ein paar schiefe Kugelschreiberzeilen. Es wird viel improvisiert heute. »Ich hab alles meinen Kindern hinterlassen, obwohl ich schon seit drei Jahren mit meiner Freundin zusammen bin. Meinen Sie, die ist jetzt sauer?«, fragt er und lacht. Die Engländer nennen das »Stiff upper lip«, Haltung. Heute ist Donnerstag, der 7. Juli 2005. Gestern hat London die Olympischen Spiele zugesprochen bekommen, oben in Schottland begrüßt Tony Blair gerade die Regierungschefs der G8, aber das interessiert heute niemanden, denn an diesem Tag, der bald »7/7« heißen wird, sind Terror und Tod zurückgekommen nach London, in Gestalt von vier jungen Männern mit Rucksäcken.

Ich sitze seit einer Stunde im Taxi, Adrian ist mein Fahrer und neuer Freund. Katastrophen verbinden. Wir versuchen, vom City Airport ins West End zu gelangen. Zwecklos. Das Taxameter zeigt 27,80 Pfund und wir sind erst einen knappen Kilometer vom Flughafen entfernt. Die U-Bahn fährt nicht mehr, Hunderttausende Flüchtlinge verstopfen die Straßen. Wir fahren vorbei an Canary Wharf, Adrian zieht alle Abkürzungsregister, zwecklos. Anwälte und Banker in teuren Anzügen zwängen sich zu fünft in Kleinwagen. Komischerweise schimpft niemand. London trägt einen gespannten, aber entschlossenen Gesichtsausdruck zur Schau.

Adrian ist 45 und lebt in Essex, südwestlich der Hauptstadt, aber eigentlich ist er ein echter Cockney, geboren in Bow. Angst hat er nicht. »Wenn ich Angst habe, dann haben die doch schon gewonnen, oder? Außerdem werden die wohl kaum mein Taxi in die Luft sprengen.« Wer auch immer »die« sind. Die Anschläge hätten ihn daran erinnert, dass alles verdammt schnell vorbei sein kann, sagt er. Deshalb das Testament. Was die Attentäter sich wohl gedacht hätten, fragt Adrian, und ich sage, dass sie vermutlich eine Botschaft senden wollten. »Botschaft?« Adrian dreht sich zu mir um. Ich zucke mit den Schultern. Wer weiß schon, was in diesen Leuten vorgeht.

Ich solle mir keine Sorgen machen, sagt Adrian, London sei Bomben gewohnt. Er erinnert sich noch an die letzte große Aktion der IRA. Gut zehn Jahre ist das her, damals legte die irische Untergrundorganisation mit einer mächtigen Autobombe ein riesiges Bürohaus in Schutt und Asche. Der vorerst letzte in einer langen Reihe von Anschlägen, zwei Tote. Und? »Nichts und. Wenn es knallt, rückt London zusammen, das ist alles.« Schon im Ersten Weltkrieg wurden die Londoner Opfer des gerade neu erfundenen Luftkriegs, ob ich das gewusst hätte. Habe ich nicht, nein. Von Zeppelinen aus warfen deutsche Soldaten Bomben auf die Stadt, »Can you believe that? Fucking Zeppelins!«.

Und dann kam der »Blitz«, wie sie das hier nennen, das Terrorbombardement der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Er zerstörte eine Million Häuser und tötete 20.000 Londoner. Die U-Bahn, die heute morgen um zehn vor neun zur Falle wurde, war damals der Luftschutzkeller der Stadt. Hunderttausende verbrachten die Bombennächte in den Tunneln und Gängen tief unter der Erde, schliefen in Feldbetten, das knappe Essen wurde geteilt und Lieder haben sie gesungen, gegen das dumpfe Dröhnen der Einschläge. Nach der Entwarnung stieg man wieder empor und machte sich ans Aufräumen. Dann wurde einfach weitergelebt. Wir lassen uns nicht unterkriegen, Herr Hitler! Seitdem ist es London egal, von wem oder von wo es bombardiert wird: von oben, von unten, von der Luftwaffe oder von Extremisten – die Bedrohung hat sich eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Stadt. Vom »Spirit of the Blitz« wird man noch häufig hören in diesen Tagen, während die Suche nach Namen beginnt, nach Hintermännern und Motiven.

Neben uns im Stau steht jetzt ein Cabrio. Vorn zwei junge Männer in blauen und weißen Businesshemden, hinten eingequetscht zwei Frauen in Nadelstreifenkostümen. Gut gelaunt winken sie mir zu. Haben die kein Radio?

»Thank you for not smoking.« Der Aufkleber der britischen Lungengesellschaft an der Trennscheibe ist nicht zu übersehen, Adrian läßt mich trotzdem rauchen. One of those days. Das Taxameter zeigt 39 Pfund. Die Anwälte im Cabrio lassen den Motor aufheulen und zischen zehn Meter vorwärts. Auf der Gegenfahrbahn quält sich eine Kolonne Polizeiwagen vorbei, mit nervös zuckenden Blaulichtern, die Sirenen heulen im Dauerbetrieb. Je näher wir der City kommen, desto mehr Menschen sind unterwegs. Im Radio jetzt erste Details, umrisshaft ergibt sich ein Bild. Drei Bomben sind es gewesen, dann sieben, schließlich vier. Wahrscheinlich Selbstmordattentäter. Experten wissen wieder und wieder, dass es absolute Sicherheit nicht geben kann, Klischees haben Konjunktur und die U-Bahn hat den Betrieb eingestellt. Viele Verletzte, die Bahnhofshalle von King’s Cross ist ein provisorisches Lazarett. Ziemliches Chaos. Mich überläuft ein Schauer.

Die Menschen in den Autos und auf der Straße haben fast alle ein Handy am Ohr, obwohl die Netze hoffnungslos überlastet sind. Im Radio heißt es, die Behörden hätten die Handynetze abgeschaltet, um Fernzündungen weiterer Bomben zu verhindern, was sich später als falsch herausstellt, wie so viele der als Nachrichten verkleideten atemlosen Spekulationen des Tages. Ich bekomme trotzdem eine SMS, eine besorgte Nachfrage aus Deutschland, wie es mir gehe, man komme telefonisch nicht durch. Ich antworte, dass es mir gut geht. Meine Schwester in München wird diese SMS erst drei Tage später bekommen. Überall auf der Welt versuchen jetzt Schwestern, Mütter und Ehepartner, ihre Angehörigen in London zu erreichen. Bei einigen von ihnen wird ein Fremder den Hörer abnehmen. 52 Namen werden vier Jahre später in den Gedenkstein im Hyde Park eingemeißelt werden. Die siebenhundert knapp Davongekommenen bekommen kein Denkmal, einige von ihnen haben Arme oder Beine verloren in den zermalmten Waggons der Piccadilly und Circle Line.

Aber London, das merkt man schnell, ist nur angezählt, nicht geschlagen. Niemals geschlagen. Die alten Reflexe aus dem »Blitz« funktionieren noch. »Carry on regardless« – einfach weitermachen. Viele nutzen die Boote auf der Themse, um nach Hause zu kommen. Den Bussen trauen nur wenige. In der ganzen Stadt sind Fahrräder schnell ausverkauft. Aber schon am Tag danach fährt die Tube wieder. Der Bürgermeister, den alle beim Vornamen nennen, ruft die Leute grimmig auf, Zutrauen zu haben. Sich nicht unterkriegen zu lassen. Es funktioniert, wie es immer funktioniert hat. Schon 24 Stunden nach dem schlimmsten Terroranschlag in seiner Geschichte kehrt London zu nervöser Normalität zurück. Viele Londoner Muslime werden später berichten, sie seien in der Tube noch wochenlang angestarrt worden.

Es ist 17.30 Uhr, als Adrian mich an der Old Street absetzt. Gute drei Stunden hat die Fahrt gedauert, knapp hundert Pfund habe ich auf der Uhr, die teuerste Taxifahrt meines Lebens. Ich schiebe fünf Zwanziger durch den Schlitz. »Nein«, sagt Adrian. Er will kein Geld von mir. »Nicht heute«, sagt er, und schüttelt energisch den Kopf. »Listen, mate, you call your sweetheart and make sure she’s safe, alright?«, sagt er zum Abschied. »Sicher«, sage ich, und: »Take care.« Ich mache mich zu Fuß auf den Weg, es ist nicht mehr weit. Und ich wähle, mit der Hand in der Hosentasche, zum hundertsten Mal die Nummer, die auf meinem Handy unter der »1« gespeichert ist.

2.

FANCY A PINT?

London geht aus

»Oh you look so beautiful tonight In the city of blinding lights«

U2, 2004

GRUND NR. 11

Weil das Feiern hier eine eigene Saison hat