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Berlin ist groß, riesig groß. Kein Mensch wird jemals fertig mit dieser Stadt. Aber es lohnt sich, sie immer wieder neu zu entdecken! Dieses Buch zeigt den Weg zu 111 unbekannten, skurrilen und spannenden Orten: Wie kommt man auf den Geisterbahnhof in Siemensstadt? Welchen Whiskey hat David Bowie in seiner Stammkneipe getrunken? Was kostet eine Übernachtung im Prinzessinnenzimmer in einer Marzahner Platte? Und wo konnte man in West-Berlin Bauern bei der Ernte zugucken? In diesen 111 Fundstücken wohnen Bilder, Geschichten und ganz eigene Stimmungen. So zeigt sich Berlin dem neugierigen Entdecker – abseits der bekannten Pfade.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/opac.htm.htm.
© Emons Verlag GmbHAlle Rechte vorbehaltenTexte: Lucia Jay von SeldeneckFotografien: Verena EidelRedaktion: Carolin HuderGestaltung: Eva Kraskes, nach einem Konzeptvon Lübbeke | Naumann | ThobenKartografie: Regine SpohnerE-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt LtdPrinted in Germany 2024Erstausgabe 2011ISBN 978-3-98707-279-6Aktualisierte Neuauflage August 2024
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Berlin ist schief und krumm, nicht glatt und glänzend und schon gar nicht aus einem Guss. Das wird schnell klar auf der Suche nach den Orten, die Berlin ausmachen. Wo anfangen, in einer Stadt, in der es keinen Anfang und kein Ende gibt? Was ist das Berlinerische an Berlin?
Angefangen haben wir bei den eigenen Lieblingsplätzen – immer zu dritt, immer mit Stadtplan, Kamera und Notizblock. Wir ließen uns treiben bis in die entlegensten Winkel dieser riesigen, spröden und widersprüchlichen Stadt. Und erreichten im Zickzackkurs immer neue Ziele: Wo ist die Bar, in der David Bowie seinen Whiskey bestellte, wie lässt sich der 11. Himmel im Marzahner Plattenbau finden, und wo treffen sich die Flipper-Könige von Berlin?
Bei unseren zahllosen Exkursionen entwickelten wir ein Gespür für lebendige, berlintypische und unerwartete Fundorte. Mit jedem neuen Platz, jeder neuen Straße erlebten wir, dass es auch und vor allem die Menschen sind, die all diese Orte lebendig machen – und ihre Art, die alten und neuen Geschichten zu erzählen. Berlin ist nicht ein Ganzes, sondern ein Vielfaches. In den 111 Fundstücken wohnen Bilder, Geschichten und ganz eigene Stimmungen. In ihnen verrät sich Berlin dem Entdecker.
Am Ende reicht ein einziger Notizblock nicht aus: Jeder neue Ort gibt mindestens zwei nächste Anstöße. Das lässt einen nicht mehr los. Hunger! Wir wollen mehr und immer mehr von diesen Funken. Denn diese Funken sollen ja überspringen! Es gibt keine Regeln und Anleitungen, um Berlin kennenzulernen, man muss einfach nur anfangen. Und dranbleiben. Berlin macht schließlich auch immer weiter – also: Lasst Euch nicht abhängen! Ran an die Buletten!
1__ Der 11. Himmel | Berlin-MarzahnDas Prinzessinnenzimmer im Plattenbau
2__ Alt-Lübars | Berlin-ReinickendorfEntschleunigung erhalten
3__ Das AVUS-Motel | Berlin-CharlottenburgWo die Rekorde gehalten werden
4__ Die Barbrücke in der Nacht | Berlin-WilmersdorfMutprobe unter Sternen
5__ Die Berberitze an der Panke | Berlin-WeddingHeilende Kräfte früher und heute
6__ Der Berliner Balkon | Berlin-HellersdorfUnd davor der Sommer
7__ Das Berliner Zimmer | Berlin-PankowEin eroberter Freiraum
8__ Der Bieberbau | Berlin-WilmersdorfZu Gast bei einem Meister
9__ Der Bierpinsel | Berlin-SteglitzEin Zeit-Zeichen
10__ Das Boulodrome Kreuzberg | Berlin-KreuzbergNeulinge ins Katzenklo
11__ Der Boxclub | Berlin-SchönebergIntegrationstraining
12__ Der Bücherwald | Berlin-Prenzlauer BergEine Leseempfehlung
13__ Die Cafeteria im Bürgeramt | Berlin-KreuzbergFrische Buletten und Rundumblick
14__ Das Capitol | Berlin-ZehlendorfDas Kino im Wohnzimmer
15__ Der Comenius-Garten | Berlin-NeuköllnEin Refugium mit philosophischer Ambition
16__ Die Currywurst-Gedenktafel | Berlin-CharlottenburgEine gut versteckte Erinnerung an die Soßenerfinderin Herta Heuwer
17__ Das Dong-Xuan-Center | Berlin-LichtenbergFalsche Blumen und frischer Fisch
18__ Die ehemalige Haftanstalt | Berlin-LichtenbergEin Ort mit Geschichte – und Zukunft
19__ Die Eiermann-Kapelle | Berlin-CharlottenburgDas verborgene Kleinod
20__ Das Ernst-Thälmann-Denkmal | Berlin-Prenzlauer BergEin Koloss aus der Vergangenheit
21__ Der Fledermauskeller | Berlin-SpandauWelt über Kopf
22__ Die Flipperhalle | Teltow bei BerlinBelieve it or not
23__ Der Fundort der »entarteten Kunst« | Berlin-MitteDas Rätsel um die Skulpturen
24__ Die Gedenkkirche Regina Martyrum | Berlin-CharlottenburgBeklemmung überwinden
25__ Die Graphothek | Berlin-ReinickendorfKunst für alle
26__ Die Greenwich-Promenade | Berlin-ReinickendorfWo die Zeit stehen geblieben ist
27__ Gutes Wedding, schlechtes Wedding | Berlin-Wedding»Mitte is schitte«
28__ Der Hannah-Höch-Garten | Berlin-ReinickendorfEin bedeutsames Erbe
29__ Das Hansaviertel | Berlin-TiergartenDem Geist des Aufschwungs auf der Spur
30__ Die Hasenschänke | Berlin-NeuköllnNaherholung verbindet
31__ Die Hastings TG 503 | Berlin-ZehlendorfSchokolade an Fallschirmen
32__ Das Haus, in dem David Bowie lebte | Berlin-SchönebergHeroes in einer Zwei-Zimmer-Wohnung
33__ Der Heimathafen Neukölln | Berlin-NeuköllnWillkommen im Weltkulturkiez
34__ Der Hüttenpalast | Berlin-NeuköllnEin Ort für alles
35__ Die Hüttenstadt | Berlin-PankowWie in der echten Stadt auch…
36__ Die Insel im Karpfenteich | Berlin-TreptowAnleitung für eine Eroberung
37__ Das Jagdschloss Grunewald | Berlin-ZehlendorfZügellos hinter dicken Mauern
38__ Der jüdische Friedhof | Berlin-WeißenseeEin Andenken in Ewigkeit
39__ Die Jukebox | Berlin-KreuzbergEine treue Weggefährtin
40__ Die Karl-Marx-Allee | Berlin-FriedrichshainSchwerfälliger Wandel
41__ Der Kaulsdorfer Kirchturm | Berlin-HellersdorfDenkmäler der Liebe
42__ Das Kleine Grosz Museum | Berlin-SchönebergEine Stelle zum Auftanken |
43__ Kleists Grab | Berlin-ZehlendorfUnd fand Unsterblichkeit…
44__ Der Kletterbaum | Berlin-PankowEin Capri für die Seele
45__ Der koreanische Garten | Berlin-MarzahnBöse Geister müssen draußen bleiben
46__ Der Krausnickpark | Berlin-MitteEin schützenswerter Schlupfwinkel
47__ Der Landhausgarten | Berlin-SpandauDr. Fränkels Sommerfrische
48__ Die letzte Platte | Berlin-HellersdorfDDR zum Anfassen
49__ Der Lichthof | Berlin-CharlottenburgGebaut für den Berliner Äther
50__ Die Lilienthal-Burg | Berlin-SteglitzKeine Festung
51__ Die Lohmühle | Berlin-TreptowUnabhängiges urbanes Leben
52__ Der Madenautomat | Berlin-WeddingLarven nach Ladenschluss
53__ Das Mahnmal Levetzowstraße | Berlin-TiergartenMit unerwarteter Wucht
54__ Der Majakowskiring | Berlin-PankowWo die Herren aus Pankow lebten
55__ Die Malzfabrik | Berlin-TempelhofBehutsame Erneuerung
56__ Der Märchenbrunnen | Berlin-FriedrichshainEine Begegnung mit alten Vertrauten
57__ Die Massageliegen | Berlin-SteglitzFür eine bessere Verfassung
58__ Das Mausoleum | Berlin-CharlottenburgEin Ort für das Leben
59__ Die Meisterbäckerei | Berlin-MoabitVon Knüppeln und Knoten
60__ Der Meistersaal | Berlin-KreuzbergThe big hall by the wall
61__ Die Mensa der Kunsthochschule | Berlin-WeißenseeSachlichkeit gegen Pathos
62__ Das Mies-van-der-Rohe-Haus | Berlin-HohenschönhausenEinfach klar
63__ Das Mittelmeerhaus | Berlin-SteglitzEine Kathedrale für Farne
64__ Die Modersohnbrücke | Berlin-FriedrichshainWarten auf die Sonnenfinsternisnbrücke
65__ Die MS Lichterfelde | Berlin-SpandauAusflugsdampfer mit Kartenentwerter
66__ Die Mulackritze | Berlin-HellersdorfDie letzte Zille-Kneipe von Berlintze
67__ Das Museum der Dinge | Berlin-KreuzbergVon Schmuck, Zweck und Entfremdung
68__ Der Naturpark Südgelände | Berlin-SchönebergSiegreiche Rückeroberung
69__ Neu-Venedig | Berlin-KöpenickKleingartenglück zwischen Kanälen
70__ Der Nordhafen | Berlin-WeddingUngeheuerliches im Hafenbecken
71__ Das Notaufnahmelager in Marienfelde | Berlin-TempelhofDie erste Station im neuen Leben
72__ Der Olympia-Sprungturm | Berlin-Charlottenburg»Schrei, schrei – du musst schreien!«
73__ Das ORWO-Haus | Berlin-MarzahnBerlins lauteste Platte
74__ Der Palast | Berlin-MittePlatte meets Las Vegas
75__ Das Pallasseum | Berlin-SchönebergEin sozialer Wohnungsbau besiegt seinen schlechten Ruf
76__ Das Parkdeck der Neukölln Arcaden | Berlin-Neukölln… sind wir auf dem Sonnendeck!
77__ Die Parkeisenbahn | Berlin-KöpenickMit der Dampflok durch die Wuhlheide
78__ Das Parlament der Bäume | Berlin-MitteEin wilder Appell
79__ Der Paternoster | Berlin-SchönebergEin Aufzug mit Westberliner Geschichte
80__ Der Platz des 4. Juli | Berlin-Steglitz700 Meter von Hitlers Autobahntraum
81__ Das Polizeimuseum | Berlin-TempelhofVon kleinen und großen Coups
82__ Der Preußenpark | Berlin-WilmersdorfAsiatischer Gusto unter freiem Himmel
83__ Die Prinzessinnengärten | Berlin-NeuköllnMitmachen!
84__ Die Reichenberger Straße | Berlin-KreuzbergArchäologie des Alltags
85__ Der Ring an der Potsdamer Brücke | Berlin-TiergartenEin Denk-Mal mit Ausrufezeichen
86__ Die Robinie und die Tonne | Berlin-KreuzbergKampf der Giganten
87__ Der S-Bahnhof Siemensstadt | Berlin-SpandauSpuren der Zeit
88__ Die Schaukeln im Mauerpark | Berlin-Prenzlauer BergVoll aus dem Leben
89__ Der Schwarz-Weiß-Fotoautomat | Berlin-MitteEin ganz besonderer Streifen
90__ Der Schwerbelastungskörper | Berlin-TempelhofGrößenwahn zum Anfassen
91__ Die Sehitlik-Moschee | Berlin-NeuköllnOffen für Begegnung
92__ Die offene Siebdruckwerkstatt | Berlin-MitteNeuköllns neue Kleideri
93__ Die Spinner-Brücke | Berlin-ZehlendorfHüttenstimmung beim AVUS-Treff
94__ Der Spreetunnel | Berlin-KöpenickAbgetaucht
95__ Die Stadt der Tiere | Berlin-HohenschönhausenAuf Augenhöhe
96__ Die Stadt der Wissenschaft | Berlin-TreptowZu Besuch bei den Spitzenreitern
97__ Das Stasimuseum | Berlin-LichtenbergDer Schreibtisch der Macht
98__ Die St.-Michael-Kirche | Berlin-MitteEine Kirche macht als Ruine weiter
99__ Der Südwestkirchhof | Stahnsdorf bei BerlinDer Promi-Friedhof vor der Stadt
100__ Die Tadshikische Teestube | Berlin-MitteMärchenhaftes in Mitte
101__ Die Tartanbahn | Berlin-Prenzlauer Berg»Can’t keep running away«
102__ Das Tempelhofer Flugfeld | Berlin-TempelhofEin Open-Source-Projekt
103__ Die Terrasse am Weißen See | Berlin-WeißenseeWochenend und Sonnenschein…
104__ Der Teufelsberg | Berlin-CharlottenburgWinterspaß auf Trümmern
105__ Die Tuschkastensiedlung | Berlin-TreptowDie heile Welt am Falkenberg
106__ Die verlassene irakische Botschaft | Berlin-PankowEin nicht abgeschlossenes Stück Vergangenheit
107__ Das Wandbild | Berlin-SchönebergAnti-Atom mit Klofenster
108__ Die Weide zwischen den Platten | Berlin-MarzahneDie Marzahner Win-win-Strategi
109__ Der Weltacker | Berlin-PankowDie Welt verstehen
110__ Das Wikingerufer | Berlin-TiergartenUrlaubsgrüße von zu Hause
111__ Die Wohnung der Kommune 1 | Berlin-TiergartenWo die Revolution vorgelebt wurde
BERLIN-MARZAHN
Das Prinzessinnenzimmer im Plattenbau
Es war die Idee von den Kindern aus dem Wohnblock. Sie wollten der ganzen Welt zeigen, dass Marzahn mehr zu bieten hat als einen schlechten Ruf. Und das ist ihnen gelungen: 2004 richteten die Kinder und Jugendlichen, unterstützt durch den Kinderring Berlin e.V., ganz oben in dem Plattenbau mit der schmucklosen braunen Kieselsteinfassade die »Pension 11. Himmel« ein. Seitdem empfangen sie hier die Gäste, putzen Zimmer und Bäder, bereiten das Frühstück – und zeigen den Besuchern ihren Bezirk.
Den 11. Himmel erreicht man nur zu Fuß, der Fahrstuhl endet im zehnten Stock. Und mit den letzten Treppenstufen betritt man ein Marzahn, das seine Besucher überrascht. Jedes Zimmer in der Pension ist eine Welt für sich – und erzählt eine Geschichte über und aus dem Bezirk. Da gibt es zum Beispiel das »Bett im Kornfeld«. Ringsum an der Wand wiegen sich goldgelb die gepinselten Ähren, dazwischen leuchten Mohnblumen und gegenüber dem Bett steht eine Mühle. Und wenn man aus dem Fenster über die Wohnblöcke hinwegblickt, sieht man wirklich auf Felder, Hügel und Wälder. Marzahn, für viele das Sinnbild für Plattenbau-Tristesse schlechthin, liegt direkt am Stadtrand und ist viel grüner und näher zur Natur als die meisten Bezirke in Berlin. Das weiß kaum jemand.
Die anderen Zimmer in der Pension heißen »Auf-Wolken-gebettet« oder »Prinzessinnenzimmer«. Aber nicht nur Schlafplätze findet man hinter den Türen im Flur: Das »Kaminzimmer« wurde zu Ehren von Prinz Charles eingerichtet, der einmal in Marzahn zu Besuch war. Und in dem »Betonzimmer« haben die Kinder alle Wände freigelegt, sodass man auf der rohen Platte das Datum lesen kann, an dem sie gegossen wurde: 1984.
In dem kleinen Speisezimmer liegt das aufgeschlagene Gästebuch auf der rot-weiß karierten Tischdecke. Ein Eintrag lautet: »Marzahn hat uns überrascht, auf allen Ebenen. Wir kommen wieder!«
Adresse Wittenberger Straße 85, 12689 Berlin-Marzahn | ÖPNV S 7, Haltestelle Ahrensfelde; Tram 16, 18, Haltestelle Niemegker Straße | Öffnungszeiten Hochhauscafé Mo – Fr 10 – 18 Uhr, Tel. 030/93772052 | Tipp Das Marzahner Matterhorn: Der Kletterfelsen aus recycelten Abriss-Platten an der Kemberger Straße bringt es immerhin auf 17,5 Höhenmeter (Kletterausrüstung mitbringen!).
BERLIN-REINICKENDORF
Entschleunigung erhalten
Stadtauswärts ziehen in Sekundenschnelle Tankstellen, Baumärkte und Fast-Food-Läden an der großen Straße vorbei. Doch mit einem Mal wird die Geschwindigkeit jäh ausgebremst: buckeliges Kopfsteinpflaster, lang gezogene einstöckige Häuser, Pferdegeruch. Man ist darauf nicht vorbereitet: In Alt-Lübars steht man plötzlich, umgeben von Feldern und Wiesen, mitten auf einem alten Dorfanger.
Alte Dorfkerne hat diese Stadt wie sonst keine. Berlin schaffte es schließlich erst spät zur Metropole – und das vor allem durch einen Trick: Mit der Gründung von Groß-Berlin verleibte es sich 1920 mit einem Schlag 59 Landgemeinden, 27 Gutsbezirke und sieben Städte ein. Damit war es von einem Tag auf den nächsten 14-mal so groß wie vorher und nach New York und London die drittgrößte Stadt der Welt – bestand aber nach wie vor größtenteils aus Dörfern und Land. Und heute sind diese alten Ortskerne immer noch Mittelpunkt des Geschehens. Die Dorfstraßen sind zu den Haupteinkaufsstraßen in den Bezirken geworden, man bekommt alles vor Ort – und muss nicht »nach Berlin« fahren, wie es dann heißt.
Nur in Alt-Lübars hat sich das Bild nicht verändert. Dank einer Initiative im Dorf gibt es keinen Supermarkt am Kirchplatz und keinen Drogeriemarkt neben dem Alten Dorfkrug. Bis heute ist das Leben hier von der Landwirtschaft geprägt. Zu Westberliner Zeiten galt Alt-Lübars als etwas nahezu Exotisches – in der ummauerten Großstadt kamen die Berliner hierher, um den Bauern bei der Arbeit zuzusehen. Als das Dorf dann zum Denkmal erklärt wurde und die Umgebung unter Landschaftsschutz gestellt war, bedeutete dies das Ende für die Höfe. Doch in Alt-Lübars hat man eine Lösung gefunden, um das Dorf und die Idylle zu retten: Die alten Bauernhöfe wurden in Reitställe umfunktioniert, und heute leben rund um die alte Kirche 150 Menschen – und gut 300 Stuten, Hengste und Wallache.
Adresse Alt-Lübars, 13469 Berlin-Reinickendorf | ÖPNV Bus 222, Haltestelle Alt-Lübars | Tipp Der Kräuterhof Lübars: Am Dorfanger werden Kräuter, Obst und Gemüse direkt von den umliegenden Feldern verkauft.
BERLIN-CHARLOTTENBURG
Wo die Rekorde gehalten werden
Wie eine tosende Brandung rauscht der Verkehr um die stillgelegte Nordkurve der »Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße«, besser bekannt als: die AVUS. Die Insel inmitten der Stadtautobahn ist nur über eine eigene Ausfahrt oder durch einen Tunnel vom nächstgelegenen S-Bahnhof zu erreichen. Hat man den Durchschlupf gefunden, kann man bequem auf der breiten, leicht schrägen Asphaltkurve entlangspazieren, auf der früher einmal Rekorde gemacht wurden. Im Inneren der Kurve, wo heute die Lkws dicht an dicht parken, ließen sich damals bei den Autorennen bis zu 50.000 Zuschauer vom Rausch der Geschwindigkeit mitreißen.
Am Rand der Nordschleife steht der frühere Mercedes-Aussichtsturm, heute das AVUS-Motel. Der Ausblick von den vier umlaufenden Galerien ist der gleiche geblieben: Die Autos brausen vorbei und verschwinden am Ende der schnurgeraden Straße als kleine Punkte in der Ferne. Auf der anderen Seite der Autobahn steht die Tribüne, allerdings heute mit verlassenen Bankreihen und leeren Fahnenmasten.
Wehmütig erinnert man sich im Motel an die Zeit, als hier an der Nordkurve Motorrennsport-Fans aus der ganzen Welt zusammenkamen. Noch in den 1990er Jahren wurden auf der geraden Strecke Rennen gefahren. Heute sitzen Trucker und Messearbeiter im Gastraum. Durch die gekippten Fenster hört man die Autos vorbeizischen. Aber es ist kein trostloser Ort – denn er erzählt von Höchstleistungen und Triumphen: Auf den Tischen sind Zeitungsausschnitte und Fotos unter Glasplatten liebevoll zu Collagen angeordnet. Tisch für Tisch kann man hier die Höhepunkte aus der Geschichte der AVUS nachlesen. Einer der größten Momente für viele Berliner war es sicherlich, als 1921 die 19 Kilometer lange Rennstrecke für alle freigegeben wurde. Eine Fahrt über die glatte Strecke ließen sich die Leute was kosten: zehn Mark für eine einfache Fahrt – oder ein Abo für ein Vierteljahr für 1.000 Mark.
Adresse A 115, Ausfahrt Messedamm, 14057 Berlin-Charlottenburg | ÖPNV S 9, S 75, Haltestelle Westkreuz; Bus 219, Haltestelle Messegelände | Tipp Das versteckte AVUSDenkmal: Hinter dem Parkplatz, ein Stück weiter an der Autobahn entlang, erreicht man den Gedenkstein an der Rennstrecke.
BERLIN-WILMERSDORF
Mutprobe unter Sternen
Folgt man der bescheidenen Barstraße vom Fehrbelliner Platz aus nach Süden, geht es vorbei an Siedlungsbauten der Vor- und Nachkriegszeit bis zum Wilmersdorfer Friedhof.
Am Ende der Friedhofsmauer kann man sie schon sehen: die Barbrücke.
Hören kann man sie auch: Die Brücke hilft nämlich nicht nur dem Straßenverkehr über den tief liegenden, schmalen Fennsee, sondern auch der U-Bahn. Die Straßenbrücke trägt also unter ihrem Bauch die U-Bahn-Trasse, die hier für einen kurzen Moment oberirdisch verläuft und den Wasserspiegel des Fennsees in regelmäßigen Abständen ein klein wenig zittern lässt.
Nachts liegt die Brücke völlig im Dunkeln. Ans Geländer gelehnt, kann man deswegen hier, was sonst mitten in der Stadt eigentlich nicht möglich ist: in die Nacht eintauchen. Und zwar in eine Nacht, wie man sie nur aus Märchenbüchern kennt: schwarz, schwarz, schwarz. Plötzlich ist sie da, die Urangst vor dem unberechenbaren Dunkel. Den Mutigen sei empfohlen: Das mächtige Brückengeländer ist mindestens handtuchbreit, also breit genug, um sich dort auf den Rücken zu legen und in den Nachthimmel einzutauchen. Unten glänzt still das Wasser in den Überbleibseln der Eiszeit, die hier vor soundso viel Millionen Jahren den Fennsee gegraben hat. Oben erinnert das Licht der Sterne an noch viel mehr Millionen.
Im Frühjahr bis Anfang Juni ist die Stille der Nacht nicht nur durch die unten vorbeifahrende U-Bahn unterbrochen. Der Ort ist nämlich auch seit jeher der Lieblingsplatz für die Nachtigallen der Umgebung, die hier ihre Liebeslieder schmettern und schluchzen. Für die empfohlene Übung der Entrückung sollte man sich also unbedingt die Zeit des Frühlings vormerken. Das ist ja auch die Zeit des Tatendrangs, und den braucht man unbedingt, um sich von dem Ausflug ins Unendliche wieder loszureißen.
Adresse Barstraße, 10713 Berlin-Wilmersdorf | ÖPNV S 41, S 42, S 46, U 3, Haltestelle Heidelberger Platz; Bus 101, 249, Haltestelle Am Volkspark | Tipp Nachtwandern: Am Ende des Parks liegt hinter dem großen Ententeich der beleuchtete U-Bahnhof »Rathaus Schöneberg« – er ist einer der schönsten in der Stadt.
BERLIN-WEDDING
Heilende Kräfte früher und heute
Wedding ist nicht bekannt als ein Ort der Idylle. Es ist der Stadtteil Berlins, in dem das Proletariat Geschichte machte – doch dem Arbeiterbezirk fehlt die Arbeit. Das Weddinger Straßenbild ist geprägt von türkischen Großfamilien, Eckkneipen mit 24-Stunden-Betrieb und Nagelstudios. Aber es gibt einen idyllischen Fleck im sonst eher rauen Nordwesten der Stadt: die Panke. An ihrem Ufer, dort, wo im 18. Jahrhundert eine Heilquelle die Berliner in das Luisenbad vor den Toren der Stadt zog, lässt sich heute ein zu Unrecht kaum bekanntes Heilmittel finden: die Berberitze.
Die Panke fließt auf der Höhe Travemünder Straße unter der Badstraße hindurch. Zuerst muss man sie regelrecht suchen, denn in den Dimensionen der Großstadt mit fünfstöckigen Mietshäusern, vierspurigen Straßen und Doppeldeckerbussen hat das Flüsschen mit seinen geschwungenen Brücken fast keine Berechtigung, ein Fluss zu sein. Läuft man den Uferweg von der Badstraße Richtung Norden, überrascht ein verstecktes Prunkgebäude auf der rechten Seite: KAFÈ KÜCHE steht auf der alten Fassade einer ehemaligen Vergnügungsstätte. Heute ist es die Stadtbücherei, und es lohnt sich, im Inneren die Bilder von dem früheren Luisenbad anzusehen.
Weiter dem Bächlein folgend, rücken Stadt und Lärm immer mehr in die Ferne – und andere Dinge werden wichtig. Hinter der Osloer Straße findet sich auf der linken Uferseite nach ungefähr 100 Metern linker Hand die Entdeckung an der Panke: eine Berberitze von ungefähr drei Metern Durchmesser. Die säuerlichen roten Beeren an dem üblicherweise als Hecke zurechtgestutzten Strauch wurden in Notzeiten oft als Zitronenersatz verwendet. Marmeladen gibt die Berberitze eine säuerliche Note. Nicht nur viel Vitamin C, sondern auch heilende Wirkung werden Beere und Wurzelrinde zugesprochen. Aber Achtung: Blüten und Blätter sind giftig! Erntezeit: ab Ende September.
Adresse Travemünder Straße / Badstraße, 13357 Berlin-Wedding | ÖPNV U 8, Haltestelle Pankstraße oder Osloer Straße; Bus 125, 128, 150, 255, Haltestelle U-Bahn Osloer Straße | Tipp Mundraub: Wer auf den Geschmack gekommen ist, findet unter www.mundraub.org noch mehr wilde Obstbäume in Berlin.
BERLIN-HELLERSDORF
Und davor der Sommer
Wie aufgefädelt auf einer Schnur bewegen sich die Autos gleichmäßig aus der Stadt hinaus. Hier ist Berlin zu Ende. Die Bundesstraße ist gesäumt von Baumarkthallen und Neubausiedlungen. Und dazwischen wie eingerahmt von all den Stadtrandscheußlichkeiten ein Blick über Felder, Wälder und Seen bis hin zu den Müggelbergen ganz im Süden. Der Berliner Balkon hat seinen Namen für diesen Ausblick verdient: Auf dem Plateau der Barnimer Hochebene leuchten unzählige Tupfer von blauen Kornblumen und rotem Mohn am Feldrand, dahinter erstreckt sich das Berliner Urstromtal in sattem Grün.
Den Berlinern ist ihr Balkon ganz allgemein heilig. Der Balkon – das ist das Stück Freiheit, das jedem zusteht. Es gibt keine Vorschriften für die Gestaltung oder Nutzung. Deshalb gilt: entweder ganz oder gar nicht! Aber alle verbindet eine gemeinsame Philosophie, die auch mit einer neuen Wortschöpfung einhergeht: Balkonien. Es beschreibt dieses Gefühl, hinaustreten zu können, durchzuatmen und die Füße aufs Geländer hochzulegen.
Auch in dieser Hinsicht wird der mächtige Balkon am Stadtrand seinem Namen gerecht. Er strahlt vor allem Ruhe aus. Schließlich entstand er vor Millionen Jahren. Und seitdem ist er, was Balkone eben hauptsächlich sind: ein Übergang zwischen drinnen und draußen, zwischen privat und öffentlich oder eben wie hier: zwischen Stadt und Land. Und der Blick über diesen sanften Abhang, Berlins steilstes Gefälle, macht jedem einmal mehr bewusst: Was wäre ein Sommer in Berlin ohne all das? Die grünen Flächen, der endlose Himmel und vor allem die vielen kleinen und großen Seen. Tief in den Wäldern oder Wiesen gelegen, sind sie der wahre Quell für die Berliner. Kein Bergwandern, kein Strandurlaub bringt dem gestressten Städter eine tiefere Entspannung als das Schwimmen inmitten eines ruhigen, einsamen Sees. Man spürt den Sommer mit allen Sinnen – bis man selbst zum Teil davon wird.
Adresse Alt-Mahlsdorf, Höhe Hotel »An der Weide«, 12623 Berlin-Hellersdorf | ÖPNV S 5 Haltestelle Mahlsdorf (10 Minuten Fußweg) | Tipp Panoramaweg: Die Wanderroute am Barnimhang entlang führt durch drei historische Ortskerne: Alt-Biesdorf, Alt-Kaulsdorf und Mahlsdorf.
BERLIN-PANKOW
Ein eroberter Freiraum
Ganz am Ende des Flures liegt diese Berliner Besonderheit. Es ist eine Art Übergangsort, ein undefinierter Zwischenbereich, ein Freiraum mitten in dem rationellen Gründerzeithaus. Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Berlin die Wohnungen häufig nachträglich mit einem Durchbruch in den Seitenflügel vergrößert. Es geht hier um dieses Stück Flurverlängerung, über das man damals Küche und Mädchenkammer erreichte. Die Berliner Zimmer verbanden die repräsentativen Räume der Wohnung mit dem profanen hinteren Bereich, also dem Teil, den die Herrschaften eigentlich nicht betraten. Und das machte es auch so schwer, eine Funktion für dieses lang gestreckte Durchgangszimmer zu finden, das zu allem Überfluss auch noch dunkel war, da das einzige Fenster ganz hinten in der Ecke zum Hof hinausging.
So ähnlich muss es auch Familie Heyn gegangen sein. Stuhlrohrfabrikant Fritz Heyn ließ dieses Haus 1893 bauen und zog mit seiner Frau und den 16 Kindern in die vornehme Beletage ein. Heute geht man durch die Räume in der Pankower Museumswohnung und staunt: Barocker Goldstuck, prächtige Deckenmalereien, Kachelöfen mit golden verzierten Fliesen, Kronleuchter – alles schlummert zum eigenen Schutz hinter vorgezogenen Vorhängen. Und wenn man am Ende um die Ecke kommt, erschließt sich einem auch die Bedeutung des Berliner Zimmers für die Bewohner.
Nach und nach wurde dieser Raum im Hause Heyn, wie in so vielen Berliner Wohnungen, zum Mittelpunkt des Geschehens. Schließlich speiste man nicht täglich im Salon oder saß im Herrenzimmer zusammen. Das blieb besonderen Anlässen vorbehalten. Das Berliner Zimmer mit dem kunstvoll bemalten Linoleumboden wurde zum Ess- und Wohnzimmer. Und sogar noch mehr: Das erst so vernachlässigte Flurmittelstück lief den Vorzeigeräumen den Rang ab: Die Stimmung hinten war einfach gemütlicher, das Licht schummriger – man fühlte sich freier.
Adresse Museumswohnung Pankow, Heynstraße 8, 13187 Berlin-Pankow | ÖPNV S 1, S 25, S 85, Haltestelle Wollankstraße; S 2, S 8, S 9, U 2, Haltestelle Pankow; Bus M 27, 250, Haltestelle Görschstraße | Öffnungszeiten Di, Do, So 10 – 18 Uhr, Tel. 030/4814047 | Tipp Der ehemalige Güterbahnhof Pankow-Heinersdorf: Frei zugänglich für Flora, Fauna und Entdecker sind das alte Rundhaus, der große Lokschuppen und das Verwaltungsgebäude am S-Bahnhof Pankow.
BERLIN-WILMERSDORF
Zu Gast bei einem Meister
Wer er ist, weiß man nicht. Mit sich und der Welt zufrieden, feixt er einen an, sein Blick ist vom glücklichen Rausch erfüllt. Über ihm turnen zwei Affen auf einem Holzbalken. Sie schielen auf die Tische, als würden sie im nächsten Augenblick neben die Teller springen und sich über das Essen hermachen.
Doch sie verharren mit gierigem Blick – denn sie sind aus Gips. Genau wie so viele andere hier im Raum: wie die Kuh, die zwischen den Fachwerkbalken herausguckt, und wie die griechischen Götter, die sich auf der Wand gegenüber zwischen Zypressen und Säulen tummeln. Nicht einmal die schwarz bemalten Holzbalken des Fachwerks auf der Mauer sind echt. Es gibt einen Grund, warum hier in dem Wilmersdorfer Restaurant jede Wand bis unter die Decke hin geschmückt ist. Hier befanden sich einst Werkstatt und Ausstellungsraum des Hofstuckateurmeisters Richard Bieber. Mit seinen Gesellen schuf dieser Ende des 19. Jahrhunderts in den Innenräumen und an der Fassade des Hauses diese beeindruckenden Welten mit Profil. Gleich zweimal hat sich Bieber auch selbst in den Fabelwelten verewigt.