15½ Regeln für die Zukunft - Matthias Horx - E-Book

15½ Regeln für die Zukunft E-Book

Matthias Horx

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Beschreibung

Matthias Horx beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit der Zukunft und seit 10 Jahren mit den psychologischen Dimensionen der Zukunftsforschung. Daraus ist die Disziplin des "Neurofuturismus" entstanden. Horx zeigt, wie innere Projektionsprozesse und Zukunftsbilder unser Handeln und damit – rekursiv – die Zukunft verändern. Dieses Buch fasst seine darauf basierenden wichtigsten, praxisrelevanten Erkenntnisse in 15 konkreten Regeln zusammen. Das ist genau das, was sich viele Leser von Matthias Horx lange gewünscht haben.

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Das Buch

Menschen sind Zukunftswesen. Wir können gar nicht anders, als uns unentwegt das Kommende vorzustellen. Etwa 40 Prozent des Tages beschäftigen wir uns mit dem, was passieren wird oder geschehen könnte. Diese Eigenschaft ist von der Evolution geprägt: Mit unserem übergroßen Hirn sind wir homo prospectus, der vorausschauende Mensch. Wir sind auch der schöpferische Mensch, weil aus Bildern und Imaginationen beständig Wandel und Veränderung entstehen. Durch das Imaginieren der Zukunft stellen wir sie selbst her – in einer endlosen Rückkoppelungsschleife.

Um die Zukunft zu begreifen, müssen wir verstehen, wie wir als Zukunftswesen ticken. Denn die Zukunft findet nicht getrennt von uns statt. Sie kommt nicht »über uns« wie eine Lokomotive, die aus dem Tunnel rast. Sie ist kein unveränderlicher, »utopischer« Zustand, sondern ein Prozess. Work in Progress. Graduelle Evolution. Zukunft entsteht in unserem eigenen Wirken. In unserem Werden. In unserem »Mind«.

In diesem Buch finden Sie alles, was Matthias Horx über die seltsame Schleife, die unsere innere und die äußere Zukunft verbindet, gelernt hat – über die Potentialität des Zukünftigen, die sich in jedem von uns zeigt. Die WAHRE Zukunft entsteht aus jener Verwandlung, in der wir uns durch Beziehung zur Welt selbst verwandeln.

Der Autor

Matthias Horx, geboren 1955, ist einer der einflußreichsten Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum. Er war Journalist bei namhaften Medien und beschrieb schon vor 40 Jahren den Wandel des Zeitgeists in modernen Gesellschaften. Seine publizistische Arbeit umfasst Bestseller wie »Wie wir leben werden« und »Das Megatrend-Prinzip«. Im Jahr 2000 gründete er das ZUKUNFTSINSTITUT, einen Think-Tank zur Visionsberatung von Unternehmen (www.zukunftsinstitut.de). Mit seinen Söhnen Tristan und Julian und seiner Frau Oona, die sich ebenfalls der Zukunftsforschung verschrieben haben, wohnt er heute am Stadtrand von Wien im Future Evolution House, einem »Raumschiff für Gegenwartsveränderung«.

Matthias Horx

15 ½ Regeln für die Zukunft

Anleitung zum visionären Leben

Econ

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ISBN: 978-3-8437-2121-9

© der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019

Zeichnungen: Julian Horx

Bildrecherche: Bettina Lambrecht

Umschlaggestaltung: Brian Barth

Repro: LVD GmbH, Berlin

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt
Über das Buch/ Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
EINLEITUNG
Die Zukunft in uns
ZUKUNFTSREGEL 1
Hüte Dich vor Future Bullshit!
ZUKUNFTSREGEL 2
Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend
ZUKUNFTSREGEL 3
Das Alte kommt immer wieder – und erneuert sich dabei selbst
ZUKUNFTSREGEL 4
Vertraue auf natürliche Intelligenz (NI), anstatt Dich vor künstlicher Intelligenz (KI) zu fürchten
ZUKUNFTSREGEL 5
Begreife die wahre Co-Evolution von Technik und Mensch
ZUKUNFTSREGEL 6
Erkenne den wahren Sinn von Visionen
ZUKUNFTSREGEL 7
Verwechsele Dich nicht mit Deiner Angst
ZUKUNFTSREGEL 8
Lerne, aus der Zukunft heraus zu denken
ZUKUNFTSREGEL 9
Stelle bessere Fragen, statt die richtigen Antworten zu verlangen
ZUKUNFTSREGEL 10
Befreie Dich von Zukunfts-Schuld
ZUKUNFTSREGEL 11
Versöhne Dich mit der neuen Welt-(Un)Ordnung
ZUKUNFTSREGEL 12
Schließe Frieden mit der -Ungleichheit in der Welt
ZUKUNFTSREGEL 13
Ertrage, dass die Welt langsam besser wird – aber niemals »gut« sein kann
ZUKUNFTSREGEL 14
Überwinde Pessimismus und -Optimismus – werde Possibilist!
ZUKUNFTSREGEL 15
Zukunft entsteht durch gelungene Beziehung(en)
ZUKUNFTSREGEL 15 ½
Zukunft ist eine Entscheidung
LITERATUREMPFEHLUNGEN
ANMERKUNGEN
BILDNACHWEIS
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für Julian und Tristan,

meine Zukunftspiloten

EINLEITUNG

Die Zukunft in uns

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert beschäftige ich mich nun mit der Zukunft. Es wird Zeit für eine Zwischenbilanz: Was habe ich in den langen Jahren prognostischer Arbeit gelernt? Wo lagen die Irrtümer? Und was, zum Teufel, IST eigentlich ein »Zukunftsforscher«?

Ein Prophet, der die Richtung vorgibt, im Sinne von »Folgt mir nach – ich kenne den Weg!«?

Ein kühler Analytiker, der ausschließlich in Wahrscheinlichkeiten rechnet und verschiedene Szenarien durchspielt?

Ein Motivationstrainer, der wie ein Schlangendompteur »Visionen« beschwört und die Leute zum »immer schnelleren Wandel« anpeitscht?

Ein Geschichtenerzähler, der möglichst spektakuläre Storys zum Besten gibt?

Oder ein diskreter Berater, der große Firmen bei der Beantwortung der Frage »Wie erzielt man in den Märkten der Zukunft höhere Profite« unterstützt?

Alle diese Rollen habe ich im Laufe der Jahre in der einen oder anderen Weise besetzt. Ich habe sie alle wieder verlassen, weil etwas nicht stimmte. Eine innere Not entstand, eine Unzufriedenheit. Mit Zukunftsbildern kann man unglaublich leicht manipulieren; nicht nur die anderen, sondern vor allem sich selbst.

Es ist jetzt rund 25 Jahre her, dass im Econ Verlag zwei meiner Bücher erschienen, die erheblichen Wirbel verursachten: Trendbuch 1 und Trendbuch 2. Sie kamen 1993 und 1996 in den Buchhandel, wurden Bestseller und markierten den Startschuss für eine damals noch junge und skandalumwitterte Disziplin: die Trendforschung.

Es ist lustig, heute durch diese Fibeln der frühen Trendanalyse zu blättern, aber auch ein wenig schockierend. In Trendbuch 1+2 ging es um den Aufstand der Alten. Um die Neue Netzwerk-Kultur. Ein Kapitel darin lautete »Postemanzipation« und vertrat die These, dass der Feminismus seine Blütezeit schon hinter sich habe und eine Renaissance der Familie bevorstehe. »Ökolozismus« antizipierte eine eher frömmelnde Ökologiebewegung, die von Schuldritualen und Ablasshandlungen lebte. Ein anderes Kapitel hieß »Die Rückkehr der Spießer«. Und in »Das Große Heimweh« beschrieb ich die Sehnsucht nach dem unverdorbenen Gestern, den Trend zur Nostalgie.

Kommt einem das nicht furchtbar bekannt vor? Alles war schon mal da. Alles kommt offenbar immer wieder. Dreht sich also alles nur im Kreis?

Erst viel später erkannten wir (damit meine ich das Zukunftsinstitut, den von mir 2000 gegründeten Thinktank), dass unsere Zukunftsannahmen an Linearität litten – an einem verengten Denken, das die wahrgenommenen Trends einfach starr in die Zukunft projizierte. In Wirklichkeit aber erzeugt jeder Trend einen Gegentrend, jede Veränderung einen Widerstand. Daraus entsteht eine Turbulenz, der die eigentliche Zukunft entspringt. Von nun an beschäftigten wir uns mit Komplexitätsforschung, Systemtheorie, Spieltheorie und Formtheorie. Wir lernten, zwischen Voraussagbarem und Nicht-Voraussagbarem zu unterscheiden, Modell und Wirklichkeit, Trends und Gegentrends in Beziehung zu setzen. Daraus entstanden komplexere Modelle. Aber auch das brachte uns hinsichtlich der Frage, welchen tieferen Sinn Prognosen eigentlich haben, nicht wirklich weiter.

Wenn wir eines Tages in der Lage wären, die Zukunft exakt zu prognostizieren – Molekül für Molekül sozusagen –, würden wir dann nicht in einem kalten, toten, mechanischen Universum aufwachen? Ist das nicht eigentlich das, was künstliche Intelligenz beabsichtigt: Ein deterministisches Universum zu schaffen, in dem alles voraussagbar ist?

Wir erkannten, dass etwas Fundamentales fehlte: der Mensch.

Menschen sind Zukunftswesen. Wir können gar nicht anders, als uns unentwegt das Kommende vorzustellen. Mit unserem übergroßen Hirn sind wir homo prospectus, der vorausschauende Mensch. Wir sind auch der schöpferische Mensch, weil aus Bildern und Imaginationen unentwegt Wandel und Veränderung entstehen. Durch das Imaginieren der Zukunft stellen wir sie sozusagen selbst her – in einer endlosen Rückkoppelungsschleife.

In den meisten der herkömmlichen Zukunftsvisionen kommt der Mensch aber nur am Rande vor. Als kleine Silhouette in mächtigen Städten, in denen die Autos alle fliegen. Ökonomie und Technologie sind die Leitplanken, an denen entlang der Zukunftszug dahinrast. In dieser kalten Zukunft sind wir allenfalls Konsumenten immer raffinierterer Produkte. Bewohner hyper­smarter Umwelten, in denen auf Knopfdruck alles zu haben ist. Endloser Komfort – wollen wir wirklich dorthin?

Um die Zukunft zu begreifen, müssen wir verstehen, wie wir als Zukunftswesen ticken. Die Zukunft findet nicht getrennt von uns statt. Sie kommt nicht »über uns« wie eine Lokomotive, die aus dem Tunnel rast. Sie ist kein unveränderlicher Zustand, sondern ein Prozess. Work in Progress. Sie entsteht in unserem Wirken. In unserem Werden. In unserem »Mind«. Nicht morgen, sondern jetzt.

Das Fünfte Element

Kennen Sie den verrückten Science-Fiction-Kultfilm Das fünfte Element von Luc Besson aus dem Jahr 1997, mit Bruce Willis und der wunderbaren Milla Jovovich in den Hauptrollen? In diesem irren Streifen geht es darum, den Triumph des endgültig Bösen zu verhindern (was auch sonst?). Wenn man die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Licht zusammenfügt, kann man die Welt vor der finalen Finsternis retten, die als der böse Zorg daherkommt. Nun ja, ganz so ernst ist der Plot nicht zu nehmen. Es wimmelt von schrägen Gestalten aus allen Ecken der Galaxis. Bruce Willis spielt einen abgehalfterten Taxifahrer (Flugtaxis, na klar). Ganze Raumschiffe werden mit durchgeknallten Alien-Transvestiten gefüllt. Man fragt sich unwillkürlich, was Besson wohl geraucht hat, es muss speziell gewesen sein.

Doch um die Welt zu retten, braucht es das fünfte Element. Das Element, das alle anderen Elemente integriert. In Bessons Film wird dieses Element durch Leeloo repräsentiert, eine zähe und gleichzeitig engelsgleiche Frau, die die Welt retten kann, wenn sie zu ihrer eigenen inneren Stärke findet. Um dieses geheimnisvolle Phänomen geht es in diesem Buch.

In den folgenden fünfzehneinhalb Regeln finden Sie alles, was ich über die seltsame Schleife, die unsere innere und die äußere Zukunft verbindet, gelernt habe – über die Potenzialität des Zukünftigen, das in uns allen ist. Zukunft ist in Wahrheit Selbst-Verwandlung. Der Psychologe Stephen Grosz bringt diesen Gedanken auf den Punkt:

Die Zukunft ist kein Ort, zu dem wir gehen,

sondern eine Idee in unserem heutigen Bewusstsein.

Etwas, das wir erschaffen

und das uns dabei verwandelt.

ZUKUNFTSREGEL 1

Hüte Dich vor Future Bullshit!

Für jedes Problem gibt es eine Lösung, die einfach, klar und falsch ist.

HENRY LOUIS MENCKEN

Sie sitzen erwartungsvoll in einer Zukunftskonferenz. Eine große Firma hat zu einem Mega-Event unter dem Motto »Visionen von morgen« eingeladen. Der Saal ist proppenvoll, um Sie herum herrscht geschäftiges Treiben und Murmeln. Immer-noch-analoge Visitenkarten werden ausgetauscht. Der Männeranteil beträgt 85 Prozent, sie sind überwiegend im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, vom Typ »Entschlossenheit und Fitnessstudio«. Es geht um Digitalisierung, künstliche Intelligenz, kommende Super-Technologien, Industrie 5.0 (oder war es schon 6.0?), »Smart Living«, »smarte Mobilität« – überhaupt um alles, was smart ist. Also »um die atemberaubende Welt, die auf uns zukommt, ja ZURAST!!!«

Wenn der 50 Quadratmeter große Videobildschirm aufleuchtet, in einem irritierend grellen Licht, zu dröhnender Powermusik und einem Video, auf dem blaue Nullen und Einsen gemeinsam mit superschlanken Frauen in silbernen Raumanzügen durch die Luft wirbeln, betritt erst der Gastgeber, CEO eines großen Technikkonzerns, dann die Moderatorin (blond, Stöckelschuhe, immer noch und immer wieder) die Bühne. Beifall!

• In einer Zeit des sich immer weiter beschleunigenden Wandels …

• Nie lebten wir in einer Ära mit so großen Umbrüchen …

• Der rasend schnelle Wandel, der auf uns zukommt …

Das sind die Eröffnungsmantras jedes Zukunftskongresses. Das ist Zukunft. Sie »beginnt jetzt«. Sie ist voller atemberaubender Chancen. Wir müssen uns beeilen, weil sich ja alles »immer mehr beschleunigt«.

Nun spricht der CEO von »Challenges, die auf uns zukommen«, und von »Commitments, die wir eingehen werden«. Als Nächstes wird eine berühmte Influencerin auf die Bühne gerufen, die Zehn-Millionen-Klicks-Frau. Sie präsentiert mit übertrieben hoher Stimme einige Aussagen über ihren Lifestyle, der viel mit »Smart Gadgets« zu tun hat und natürlich mit »Commitment«. Dann kommt ein bärtiger junger Mann, oft auch eine ganze Gruppe von bärtigen und etwas blassen jungen Männern: die »Digital Champions« des Unternehmens, denen nun ein Preis verliehen wird, der »Future Award«. Dabei flitzen zwei Fotograf/inn/en um die schüchterne Männergruppe herum, während eine Kameradrohne mit wespenähnlichem Surren über ihren Köpfen umherschwirrt.

Die wummernde Musik steigert sich. Auf der Leinwand erscheinen wieder rasende Bilder von Tunnels aus blauen Nullen und Einsen, durch die fröhliche Menschen fliegen.

Während die nächsten PowerPoint-Vorträge über die Bühne gehen, dösen Sie ein bisschen weg. Ihr Körper widerlegt sozusagen die These, dass alles immer schneller wird. Er bewegt sich in Richtung bleierne Schwere, eine tiefe Müdigkeit überfällt Sie … Vielleicht ist die verdammte Schwerkraft daran schuld oder der besonders grün leuchtende »Future Energy Drink«, der Ihnen am Eingang gereicht wurde – von einem niedlichen Neo-Roboter. Sie träumen von Tunnels, durch die Lokomotiven wirbeln. In Ihrem Traum stehen Sie auf, wandeln den Mittelgang entlang, gehen die vier Stufen hinauf auf die Bühne, ignorieren die Moderatorin in ihrem engen roten Kleid und stellen sich ans Mikrofon. Sie sagen:

Woher wissen Sie das überhaupt? Wird nicht alles im Gegenteil immer langsamer? Warum warte ich neuerdings drei Stunden auf den Abflug meines Flugzeuges? Warum verbringe ich Wochen im Stau? Geht nicht alles eher immerzu RÜCKWÄRTS?

Sie wachen auf, und das reale Programm umfängt Sie wieder. Jetzt kommt, mit dem üblichen Gedröhne, der weltbekannte Zukunftsforscher auf die Bühne. Es sieht ein bisschen blass und zerknittert aus, seine Cordhosen schlackern ungelenk an seinem Körper. Er entschuldigt sich umständlich, dass er auf dem Weg von L. A. leider Verspätung gehabt habe, macht den üblichen Witz über das Beamen, das leider immer noch nicht genügend ausgereift sei, um einen schweren Mann wie ihn über den Atlantik zu befördern. Man arbeite aber daran. Und er setzt gleich zu Beginn seiner Rede einen starken Akzent, indem er sagt:

»Ab einem gewissen Punkt kann man Technologie nicht von einem Wunder unterscheiden!«

Jetzt müssen Sie eine Entscheidung treffen. Entweder Sie ergeben sich in Ihr Schicksal.

Oder Sie spielen Future Bullshit Bingo.

Das geht ein bisschen wie Business Bullshit Bingo, einem inzwischen auf vielen Business-Seminaren beliebten Gag zur Entspannung zwischendurch. Immer wenn einer der Kollegen »nachhaltige Geschäftsentwicklung« sagt oder »durchgreifende Marktpenetration« oder »sozialverträgliche Freisetzungen« oder einen Satz wie »Was ist das next big thing im Feld der Customer Experience? Customer Total Experience!«, stehen alle auf und schreien:

BULLSHIT!

Das macht echt Spaß.

Die Future-Bullshit-Variante besteht darin, dass man bei Worten wie diesen aufsteht:

• Künstliche Intelligenz

• Industrie 5.0

• Smart Applications

• Internet der Dinge

• CYBERirgendwas

• Digitale Disruption

Oder bei Sätzen wie:

• Der beste Weg, die Zukunft zu prognostizieren, ist, sie zu schaffen.

• Die Zukunft beginnt heute, nicht morgen!

• Wir haben mehr Chancen als Risiken!

Und laut und deutlich brüllt:

FUTURE BULLSHIT!

Aber richtig. Aus voller Kehle! Sonst funktioniert es nicht.

Trauen Sie sich!

Zugegeben, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Sie sich trauen (als Zukunftsforscher bin ich ja auch Wahrscheinlichkeitsforscher). Wir üben es vielleicht noch ein bisschen gemeinsam.

Jenseits der Lüge

Harry G. Frankfurt, ein US-amerikanischer Philosophieprofessor, brachte um die Jahrtausendwende ein kleines 70-seitiges Büchlein mit dem wundersamen Titel Bullshit heraus. Ein Traktat, das von unserer Sehnsucht handelt, sinnfreie Klischees zu generieren und uns mental in ihnen einzurichten.

Was Bullshit eigentlich ausmacht, kann man nicht so genau definieren. Das ist gewissermaßen das Wesen des Bullshits. Denn es geht um – nichts. Bullshit ist reine Redundanz. Es ist das, was man sagt, wenn man nichts zu sagen hat als das, was fast jeder schon hundertmal gesagt hat. Es sind die Leerstellen, die Lücken in unserem Wahrnehmungssystem, die wir mit Bullshit füllen. Bullshit ist wie das weiße Rauschen im Kosmos, das die leeren Räume zwischen den Galaxien ausfüllt.

Frankfurt definiert Bullshit in klarer Abgrenzung zu einer anderen Kategorie: dem Lügen. Beim Lügen handelt es sich um eine echte kommunikative Anstrengung, bei der es im Kern um Wahrheit geht, die es zu verbergen gilt. Donald Trump ist kein Bullshitter. Er will tatsächlich etwas. Und dafür lügt er wie ge­twittert. Harry G. Frankfurt:

»Bullshit ist jene Erzählung, in der es nicht im Geringsten mehr darum geht, eine Wahrheit durch bewusste Verfälschung zu kaschieren. Das Verhältnis des Bullshitters zu der ihn umgebenden Realität ist pure Gleichgültigkeit. Er verbreitet einfach nur ›irgendetwas‹, bei dem jeder nur nicken und zustimmen kann. Seine Erzählung gilt nur einem einzigen Zweck: der Bestätigung dessen, was längst bekannt zu sein scheint.«

Hier einige Textbausteine aus der Welt der Zukunftsdiskurse, die ich in den letzten Jahren als Beispiel für hochgradigen Future Bullshit gesammelt habe:

»Wir nehmen … Sie mit auf die Reise in eine Zukunftswelt des Jahres 2020: Food-Konzerne entwickeln Margarine mit Neuropushern, Musikmajors bieten Halsbänder, mit denen jeder die Stimme seines Stars erhält, Pharmakonzerne bieten Doping für Gehör und Geruchssinn, immer mehr greift auch der Inbody-Chip um sich. Kommende Generationen werden den menschlichen Körper weniger als naturgegeben, sondern mehr als optimierungsbedürftige Hülle empfinden … die Lebenswelten und die Bedürfnisse Ihrer Kunden werden sich in den kommenden Jahren komplett verändern!!« (aus dem Prospekt eines Seminaranbieters)

»Viele Trends zeichnen sich deutlich im Heute ab. Die vorgestellten 30 Trends zeigen die neue Einstellung der Konsumenten. Letztlich bietet die große Verunsicherung, der wir ausgesetzt sind, uns allen große Chancen des Aufbruchs. Wir können uns von alten Regeln und Gewissheiten verabschieden, denn sie existieren nicht mehr! Es gibt die Chance zu neuen, revolutionären Entwicklungen in vielen Bereichen unseres Lebens! Es gilt, diese Veränderungen rechtzeitig zu erkennen, vorbereitet zu sein und die Chancen auch zu ergreifen …« (SPIEGEL online, 2015)

»Zukunftsforscher erwarten, dass ab dem Jahr 2025 Sensoren in unserer Kleidung, auf unserer Haut und in den Gegenständen, die wir benutzen, unsere Vitalparameter registrieren. Intelligente Systeme wie Ben werden sie erheben, analysieren und Diagnosen stellen. All das wird unsere Lebenserwartung radikal steigern.« (aus einer Berater-Studie)

»Alexa wird ohnehin nicht lange alleine bleiben. Kaffeeautomaten, Zahnbürsten, Antriebsaggregate, Heizungssysteme, Röntgengeräte, sie alle werden ihren Zustand weitermelden und uns beraten und begleiten.« ­(Gabor Steingart, Alles was wichtig wird, Bertelsmann Referentenagentur)

Manchmal ist Future Bullshit so absurd, dass er schon wieder interessant wird:

»Ein romantisches Wochenende im Jahr 2020, Tim und Linda haben sich zu einem Rendezvous verabredet. Dass beide jenseits der 60 sind, sieht man ihnen nicht an – ­regelmäßigen Antifalten-Behandlungen sei Dank. Beide schlucken außerdem einen Cocktail von 250 Vitaminen, Enzymen und Hormonen. Der Abend verläuft dank Life­style-Medikamenten wild wie bei Twens. Kurz bevor Linda an der Tür klingelt, verteilt Tom ein paar Spritzer Oxytoxin im Raum – für eine vertrauensvolle Atmosphäre. Danach schluckt er eine Kombination aus Viagra und Dapoxetine, ein Stoff, der vorzeitigen Samenerguss verhindert …«

Man muss diesen Text zweimal lesen, um den gnadenlosen Bullshit, den der beinhaltet, zu würdigen. Es ist purer »Ageismus« – eine Denunziation des Älterwerdens und eine peinliche Verherrlichung des Jungseins. Die Vorstellung, dass Menschen, die etwas älter sind, keinen Sex mehr haben und an beliebigen Formen erotischer Behinderung leiden, die man mit allen möglichen Hilfsmittelchen bekämpfen muss, ist hoch­gradig beschränkt. Und alt! Der Text leiert bizarre Marketing-­Monstrositäten an der Grenze zur Menschenverachtung herunter.

Aber vielleicht wurde er auch von einem Textautomaten verfasst …

Eine andere sehr verbreitete Form des Future Bullshit ist das Gefahrenraunen. Dabei reiht man eine größtmögliche Menge an geheimnisvollen technologischen Begriffen aneinander und kombiniert sie mit vagen bösen Absichten irgendwelcher Schattenmächte. Zum Beispiel so:

»Aktuell arbeiten etwa dreißig Unternehmen weltweit an der neurotechnischen Eroberung des Gehirns. Sie wollen mithilfe neuer Technologien an der Erweiterung des Denkens durch Neurostimulation, Neuromodulation, Hirn-Apps und der Entwicklung von Hirn-Computer-­Schnittstellen mitwirken … Wer kontrolliert zuerst das Nervensystem und bietet eine für den Massenmarkt taugliche Technologie an, die Gedankenlesen oder den Brainchat, das Plaudern von Hirn zu Hirn, ermöglicht? Früher haben wir Mofas frisiert – heute sind unsere grauen Zellen dran … Die Autocomplete-Funktion, die uns zum Beispiel Google anbietet, um uns zu helfen, die richtige Suche zu starten, würde ins Gehirn wandern …« (aus der Wirtschaftswoche)

Ein solcher Text ist reiner Technopopulismus. Wie der politische Populismus verwendet er unklare Vermutungen, die aber absolut gesetzt werden. Er lässt sich nicht widerlegen und löst damit unbestimmte Ängste aus. Es geht um Aufmerksamkeit. Um den Kitzel. Um eine bestimmte Sichtweise, der die Welt und ihr Wandel in Wahrheit völlig egal ist. Das Raunen übertönt alle Wahrhaftigkeit, es wirkt wie ein eigener hypnotischer Sound. Im Kern sind alle diese Aussagen nicht zukunftsgewandt, sondern schlichtweg reaktionär.

Der immer gleiche Zukunfts-Sound

Geben Sie das Wort Zukunft in die Suchzeile Ihres Browsers ein und drücken Sie auf »Bilder«. Was sehen Sie?

• Fliegende Autos

• Roboter

• Noch mehr Roboter

• Schwimmende Städte

• Männer in Anzügen und Schlips, die mit dem Fernrohr in die Ferne schauen

• Roboterhände, die Männerhände schütteln oder Finger berühren

• Städte mit in den Himmel ragenden Wolkenkratzern

• Wegweiser, auf denen »ZUKUNFT« steht

• Verpixelte Landschaften

• Gesichter mit Brillen, durch die man nichts sehen kann (Cyberbrillen)

• Stationen auf dem Mars

• und so weiter

Ich habe diese Bilder und Motive mit meinem Zukunftsarchiv verglichen. Etwa mit den Zukunftsbildern und -bänden, die ich in den Sechzigerjahren als technikbegeisterter Junge des Wirtschaftswunders zu Weihnachten und zum Geburtstag geschenkt bekam. Darin fanden sich mit großer Regelmäßigkeit:

• Fliegende Autos

• Abenteuer von Jungengruppen in geheimnisvollen Höhlen

• Roboter – in allen Varianten, vom starken Blech­kameraden bis zum Putzroboter

• Städte mit in den Himmel ragenden Wolkenkratzern

• Fremde Intelligenzen, die auf der Erde landen

• Raketen, in denen man wohnen konnte

• Stromlinienförmige Züge auf Hochbahnen

• Roboter, mit denen man Freundschaft oder Feindschaft schloss

• Superwaffen, um im Weltraum zu kämpfen

• Stationen auf dem Mars

Hinzugekommen sind unlängst solche futuristischen Dinge wie:

• Sprünge mit Jumpsuits von gigantischen Hochhäusern

• Unter die Haut implantierte Chips, mit denen man sein Haus steuern kann

Wirklich neu und verblüffend allerdings ist hinzugekommen:

• Hochhäuser in Städten zum hocheffektiven Marihuana-Anbau …

Das Kindchenschema des Fortschritts

Was verbindet alle diese Texte und Bilder zur Zukunft? Vielleicht das, was der Publizist Holm Friebe einmal das »Kindchenschema des Fortschritts« nannte. Zukunft ist ein Mem – ein kultureller Code, der sich in einer bestimmten Kultur oder Epoche herausbildet und sich dann über lange Zeit selbst erhält, sich in immer gleichen Schleifen und Ausprägungen sozusagen in die Kultur hineinfrisst.

Unsere heutigen Zukunftsbilder sind geprägt von der Idee des linearen technischen Fortschritts, die aus der Expansionsphase der Industriegesellschaft stammen. Es sind, um es drastisch zu formulieren, Fantasien von 12- bis 16-jährigen Jungen, die die Welt aus einem bestimmten Blickwinkel heraus betrachten, der um Eroberung, Abenteuer und technische Dominanz kreist. Es geht um »Faszination und Gruseln«, kombiniert mit einer Extradosis von Kontrollsehnsucht – so, wie man als 12- bis 16-Jähriger eben in die Welt schaut.

Diese Zukunftsbilder sind in ihrem Kern infantil – oder ­pubertär. Aber natürlich wird das nicht sichtbar. Über die Mechanismen von Interessen und wirtschaftlichen Diskursen übersetzt sich dieser Blickwinkel immer wieder aufs Neue in Behauptungen, die dann ein Eigenleben im kollektiven Diskurs entwickeln.

»Die Automobilbranche erlebt derzeit die größte Transformation ihrer 130-jährigen Geschichte. Die aktuellen Trends sind allgegenwärtig: Autonomes Fahren, Elektromobilität, Connectivity und Shared Mobility erobern den Markt in rasantem Tempo.«

Dieses Zitat stammt von Dieter Zetsche, dem Ex-Boss von Daimler. Es klingt harmlos, optimistisch, lösungsorientiert. Aber es ist in seiner völlig affirmativen Diktion Future Bullshit. Die Automobilbranche, einer der mächtigsten Wirtschaftssektoren des industriellen Zeitalters, ist längst an einem Scheideweg angekommen. Erfolgstrunken rast sie in eine Krise – und dagegen hilft (scheinbar) nur die Flucht in die nächste Technikdimension, die dann alle Probleme lösen wird.

Wenn man allerdings ein wenig genauer hinschaut, ergibt sich ein etwas anderes Bild:

• Elektromobilität wurde von der Autobranche über viele Jahre massiv be- und verhindert – bis schließlich eine gesellschaftliche Debatte ausbrach, die die Märkte im Kern zu bedrohen schien. Seitdem schwenkt die Automobilindustrie mit fliegenden Fahnen zu einer Technologie über, die sie nie wollte.

• Autonomes Fahren gilt als Allheilmittel der Mobilität. Aber es wird erstens viel länger auf sich warten lassen, als die euphorischen Prognosen seiner Protagonisten versprechen – die Komplexität ist einfach zu hoch. Und es wird zweitens das Verkehrschaos nicht lösen, sondern womöglich verstärken – weil nun Passagiere vom öffentlichen Nahverkehr auf wunderbar selbstfahrende Autos umsteigen …

• Shared Mobility ist ein herrlicher Euphemismus. Beschworen wird ein Geschäftsmodell, an dem die Autoindustrie auch dann noch Geld verdienen kann, wenn Menschen sich auf neue Weise »mobilisieren«. Man möchte einen Fuß in der Tür behalten. Aber man kann den Begriff sehr unterschiedlich definieren: als neues Fahrzeugvermietungsmonopol oder als tatsächliche Auflösung von Autobesitz. Was so ziemlich das größte Schreckensbild für die Autohersteller ist, denen es einfach nicht gelingt, ihre Wertschöpfungsmodelle jenseits von Stückzahlen zu denken.

Evgeny Morozov, einer der großen humanistischen Kritiker des Digitalen, hat für die ausschließliche Betrachtung der Zukunft aus dem Blickwinkel der technischen Möglichkeiten und ökonomischen Expansionszwänge heraus den Begriff Solutionismus geprägt – Lösungswahn. Technologen, so Morozow, suchen verzweifelt nach Problemen, die sie lösen können, finden aber immer weniger praktische Problemlösungen, die tatsächlich einen realen Nutzen erbringen. Deshalb werden diese Lösungen ständig moralisch und utopisch überhöht. Morozov schreibt:

»Würde Silicon Valley einen offiziellen Futuristen er­nennen, wäre es ein Leichtes, seine leuchtende Vision der nahen Zukunft, etwa des Jahres 2020, zu prognostizieren. Ausgerüstet mit leistungsfähigen Self-Tracking-Geräten würde die Menschheit endlich Fettleibigkeit, Schlaflosigkeit und der Erderwärmung den Garaus machen, da alle nun weniger essen, besser schlafen und ihre Emissionen optimieren. Auch die Fehlbarkeit des menschlichen Gedächtnisses würde besiegt, denn schließlich zeichnen ebenjene Tracking-Geräte alle unsere Aktivitäten auf und speichern sie ab. Autoschlüssel, Gesichter oder unnützes Wissen – nie wieder werden wir etwas davon vergessen.«1

Neil Postman, die große grantige warnende Stimme der Pionierjahre des digitalen Zeitalters, sprach von »technopolistischen Utopien« und meinte damit »eine Utopie oder Gesellschaft, in der die Kultur sich durch Technologie zu legitimieren sucht, ihre Befriedigung in Technologie findet und ihre Befehle von der Technologie entgegennimmt«.2

Und der Philosoph Alain de Botton bemerkte dazu:

»Natürlich, Technologie ist etwas Großartiges. Aber es ist schon erstaunlich – wenn man einmal darüber nachdenkt –, dass sie eigentlich nur einen kleinen Teil unserer Bedürfnisse stillt. Kommunikation bringt so viele Pro­bleme mit sich, die einem iPhone egal sind. Ein Telefon kann dich nicht beruhigen, wenn du wütend bist. Es bewahrt dich nicht davor, deinem Partner schlimme, verletzende Dinge zu sagen, die dir schon fünf Minuten später schrecklich unangenehm sind. Es hilft dir nicht dabei, tröstende Worte für einen trauernden Freund zu finden, ein Kind zu beruhigen oder eine heikle Situation im Büro zu entschärfen.«

Dass unsere Zukunftsbilder technopolistisch (die Technik hat das Monopol über das Leben) oder techno-populistisch sind, fällt uns gar nicht mehr auf. Zu sehr ist diese Denkweise längst zum Standard des Zukunftsdiskurses geworden. Was soll Zukunft anderes sein als Technik (oder, negativ gewendet, der Untergang, ein großes Scheitern, amoklaufende Roboter)? Aber wie das bei geschlossenen Weltbildern so ist: Wenn man sich in ihnen bewegt, fällt es gar nicht auf. Dann fühlt sich normal an, was im Grunde nur normativ ist.

Die »Müsseritis«

Vermutlich kennen Sie bereits die alte Geschichte mit den Reiskörnern. Sie ist ebenfalls ein Kongress-Dauerbrenner, beliebt als Narrativ auf allen Zukunftskonferenzen und -seminaren:

Der indische Brahmane Sissa, der als Erfinder des Schachspiels gilt, kommt zu seinem von diesem Spiel begeisterten Herrscher und sagt: »Oh Herrscher, als Lohn für meine Erfindung erbitte ich, dass du mir ein Schachbrett mit Reiskörnern füllst. In das erste Feld sollst du nur ein Korn legen, in das zweite zwei, und dann sollst du die Menge auf jedem weiteren Feld verdoppeln!«

Natürlich willigt der dämliche Herrscher ein – nur um sich zu ruinieren. Wenn das Schachbrett voll ist, liegen dort 10 hoch 64 oder 18.446.744.073.709.551.616 (18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend und 616) Reiskörner.

Wofür wird dieses Bild benutzt? Nun, dafür, das Publikum ein wenig auf den Arm zu nehmen. Wir – das Publikum – sind einfach zu blöd, um zu verstehen, welche gewaltigen Herausforderungen in einer exponentiell wachsenden Welt auf uns zukommen. Wir sind der einfältige Herrscher, der sich ruiniert, weil er die simpelste Mathematik nicht beherrscht.

Eine weitere Variante ist die Fabel mit dem Frosch im heißen Wasser, der den Hitzetod stirbt, weil er zu träge ist, herauszuhüpfen. Auf unzähligen Konferenzen wird sie als Mahnung erzählt, als Parabel unseres Unwillens zur Wandlung, der tödlich enden muss. Fazit: Wir müssen uns ändern! SOFORT!

Das Problem mit dieser hübschen Geschichte ist nur: Sie stimmt nicht. Jeder Biologe wird bestätigen, dass Frösche selbstverständlich aus zu heißem Wasser heraushüpfen. Frösche hüpfen überhaupt ziemlich viel herum. Alle Lebewesen, vor allem Kaltblütler, haben Temperatursensoren, die sie in die Lage versetzen, auf ihre Umwelt zu reagieren.

Aber egal – Hauptsache, die Story erzeugt einen Drang. ­Einen Zukunftszwang. Ein Müssen-Müssen.

Wir müssen endlich zur Innovationsmetropole werden!

Wir müssen gegenüber China und Amerika endlich konsequent auf künstliche Intelligenz setzen!

Wir müssen gewappnet sein, wenn alle Arbeitsplätze von Robotern übernommen werden!

Wir müssen die Effizienz deutlich steigern!

»Weite Teile der Wirtschaft haben noch nicht realisiert, dass der beschleunigte Wandel die Spielregeln, wie Wertschöpfung generiert wird, grundlegend verändern wird! Im Grunde genommen handelt es sich dabei um die von Schumpeter eingeführte ›schöpferische Zerstörung …‹ Wir werden uns anpassen müssen, oder …« (aus einer x-beliebigen deutschen Tageszeitung)

Der amerikanische Psychologe Albert Ellis hat diese Diktion einmal listig als Must-urbation bezeichnet. Muss-Formulierungen haben immer den Zweck, das Publikum in Trance zu ver­setzen – oder zu beschämen. Sie sind Manipulationsversuche. Muss-Formulierungen suggerieren: Alle anderen Möglichkeiten werden ausgeschlossen. Wie nennt sich das so schön? Alternativlos.

Und was wir alles schon müssen mussten! In den Neunzigerjahren mussten »wir«, also die westlichen Länder, wie die Japaner produzieren, ja wie Japan werden – diszipliniert, fleißig, hypertayloristisch –, um nicht »am Weltmarkt unterzugehen«. Dann mussten wir ganz schnell Steuern abschaffen, die Märkte befreien. Nach der Bankenkrise übernahm die große Digitalisierung die Rolle des großen Must-urbators: Alles muss nun ganz schnell rundum digitalisiert werden, um den Preis des Untergangs, des Abgehängtwerdens, des Triumphs des Giganten China!

Wer würde es wagen, dem zu widersprechen?

Allerdings erzeugt das Müssen-Müssen auch einen Gegendruck. Das ständige Müssen löst in unserem Inneren einen starken Widerstand aus, eine Renitenz. Wenn man Menschen ständig »vermusst«, werden sie entweder stumm – sie hören auf, sich zu beteiligen, was ja andererseits unentwegt gefordert wird. Oder sie werden zynisch. Das erklärt die seltsame Störrischkeit, den verbreiteten Widerstand gegen den Wandel. Irgendwann geht alles über in eine gedämpfte Gleichgültigkeit, eine generelle Erschöpfung, bei der sich der Einzelne nur noch zurücklehnt und seufzt.

Ich glaube, hier liegt auch eine Quelle für den Populismus unserer Tage.

Wenn uns unentwegt Chancen, die wir ergreifen müssen, um die Ohren gehauen werden, werden wir innerlich chancenlos. Wir verlieren den Kontakt zum Möglichen. Zum Besseren. Zu jenem Wandel, der uns selbst einschließt – als Subjekte, die die Welt, in der wir leben, formen und gestalten möchte. Manchmal werden wir auch reaktionär. Dann halten wie die Vergangenheit doch für die bessere Veranstaltung. In der Vergangenheit kennen wir uns aus.

Glauben wir zumindest.

Muss Futurismus immer Menschen entweder erschrecken oder blenden – im Sinne eines unlösbaren Versprechens?

THEODORE ZELDIN

Zukunftsübung 1:Überwinden Sie den Infantilismus der Zukunft

Der Publizist Wolf Lotter hat einmal das Bonmot »Zukunft für Erwachsene« geprägt. Was könnte das sein? Wie erkennen wir es?

Im ersten Schritt sollten wir verstehen – und in gewisser Weise auch akzeptieren –, dass »Zukunft« vor allem ein Narrativ-Markt ist. Ein Markt der Aufregungen, der Interessen, der Eitelkeiten, der geldwerten Sensationen und natürlich der Ängste. Hinter dem Future Bullshit steht die Tatsache, dass uns jemand etwas verkaufen will. Ein bestimmtes Produkt, das »im Trend« liegt. Eine Ideologie. Oder seine eigenen Ängste, Aggressionen oder Erlösungswünsche. Wer den Markt des Futur beherrscht, hat enorme Deutungsmacht. Denn wir sind als Menschen immer auch Zukunftswesen, die ängstlich und fasziniert in die Zukunft schauen. Und dabei enorm lenkbar und beeinflussbar sind.

Gibt es eine Methode, um herauszufinden, ob die Zukunft, von der wir gerade erfahren, echt ist? Ich habe dafür einen im Grunde ganz einfachen Vorschlag: Nutzen Sie eine alte Regel der Liebe und ihrer Anbahnung. Etwas, das besonders Frauen schon beim ersten Flirt als verlässlicher Indikator dafür dient, ob jemand »infrage kommt«: Erzählt der Typ immer nur von sich selbst und inszeniert sich dabei als toller Zampano? Oder interessiert er sich auch ehrlich für mich? Stellt er mir Fragen, die wirklich auf mich eingehen?

Beurteilen Sie also die Zukunft danach, ob sie nach Ihnen fragt!

Der narzisstische Mensch berichtet immer nur von sich selbst. Ähnlich ist es mit der autistischen Zukunft, die nur um sich selbst kreist. Sie will immer alles behaupten, aber nie etwas von uns wissen. Sie fragt uns nicht danach, wie es uns mit ihr geht.

Achten Sie einfach in jedem Vortrag, Diskurs oder Pamphlet über die Zukunft auf die Art und Weise, wie gesprochen oder geschrieben wird. Eine Zukunft, die brüllt, droht, angibt, breitbeinig daherkommt, ist so tot wie der falsche Frosch im heißen Wasser. Misstrauen Sie den menschenleeren, aber hypertechnischen futuristischen Landschaften, in denen sich kein Mensch mehr darstellen lässt, weil er dort gar nicht hinpasst.

Eine lebendige Zukunft zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit uns in Verhandlung tritt. Sie berührt uns genau da, wo wir die größten Nöte verspüren, aber auch das größte Potenzial von Selbst-Veränderung.

So sehe ich die wirkliche Aufgabe eines Zukunftsforschers – den Kern echter Zukunftsarbeit. Sie besteht nicht darin, die Zukunft zu verkünden oder trompetenhaft zu prophezeien. Sondern Verbindungen herzustellen zwischen dem Heute und dem möglichen Morgen. Zwischen dem Menschen und der Technik. Der Gesellschaft und der Ökonomie. Dem Individuum und dem großen Ganzen. Und daraus eine Perspektive, eine Geschichte zu entwickeln, die uns zum Staunen bringen kann.

Staunen ist immer eine Selbstverwandlung.

Eine erwachsene Zukunft kommt nicht »einfach so« über uns (das ist eine unterschwellige Vergewaltigungsfantasie). Sie rast auch nicht auf uns zu. Achten Sie einfach auf den Sound, in dem Zukunft erzählt wird, um die Bull­shit-Zukunft von der wahren Zukunft zu unterscheiden. Erweitern Sie Ihr Gespür für Windbeutel, Aufschneider, Technikfetischisten und postpubertäre Hype-Verkünder. Üben Sie eine gutmütige Skepsis. Und buhen Sie einen Aufschneider, der Ihnen die Zukunft als infantile Fantasie verkaufen will, ab und zu auch mal von der Bühne. Das genügt schon, für den Anfang.

ZUKUNFTSREGEL 2

Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend

Trends sind trügerisch, sie erzeugen Widerstände

Wenn wir an die Zukunft der Welt denken, so meinen wir immer den Ort, wo sie sein wird, wenn sie so weiterläuft, wie wir sie jetzt laufen sehen, und denken nicht, daß sie nicht gerade läuft, sondern in einer Kurve, und ihre Richtung sich konstant ändert.

LUDWIG WITTGENSTEIN, PHILOSOPHISCHE BETRACHTUNGEN

Wenn wir nicht die Richtung ändern, könnte es sein, dass wir dort enden, wo wir hinwollten.

CHINESISCHES SPRICHWORT

Wie können wir jenseits von Zukunfts-Bullshit überhaupt etwas über »die Zukunft« aussagen – diesen unfassbar großen, dunklen, leeren Raum, der vor uns liegt?

Das einfachste und probateste Mittel, die Zukunft zu beschreiben, ist ihre Vermittlung durch Trends. Dabei erschließen wir den Möglichkeitsraum, der vor uns liegt, durch bekannte Entwicklungen der Gegenwart. Das, was wir heute in Ansätzen erkennen, projizieren wir »nach vorne«. »Dieser Trend wird sich durchsetzen …« ist die beliebteste Zukunftsbehauptung.

Die Schwierigkeit dieser Behauptung offenbart sich anhand einer doppelten Frage: Was definieren wir überhaupt als »Trend«? Und wie dimensionieren wir einen Trend – und im Vergleich zu was? Darüber, wie wichtig, solide und wirkmächtig ein Trend ist, entsteht oft eine heillose Verwirrung. Das Spek­trum dessen, was sich »Trend« nennt, reicht ja von Vermutungen über die Rückkehr von Küchenschürzen über die Aussterbetendenz der Insekten bis zur Annahme, dass »wir alle« in wenigen Jahren vollkommen geschlechtsneutral sein werden, also weder Mann noch Frau, sondern irgendetwas dazwischen. Auf dem weiten Markt der Trends – denn es ist ein Markt, in dem Aufmerksamkeiten und Marketinginteressen eine große Rolle spielen – kann jeder alles behaupten. Er wird immer einen »Abnehmer« finden. Jemanden, der’s glaubt. Oder glauben will. Oder beides.

Orientierung in dieser Konfusion bieten die Megatrends. Sie spielen in der Zukunftsbetrachtung seit vielen Jahren eine Schlüsselrolle. Ich erlebe immer wieder, wie schon das reine Aussprechen des Wortes »Megatrend« das Publikum in eine regelrecht euphorische Stimmung versetzt. Megatrends vereinfachen die Zukunft, weil ebendiese Zukunft als Resultat von Urkräften definiert wird, gegen die kein Einspruch möglich ist.

Megatrends haben allerdings ein Handicap: Sie suggerieren ein falsches Alles. Alles wird global! Alles wird vernetzt! Alles wird individualistisch! Alles wird urban! Alles wird hypermobil! Alles wird radikal digital!

Damit eignen sich Megatrends perfekt für Selbstbetrug. Für »wishful thinking«. Und für gnadenlose Verkürzungen der Wirklichkeit.

Um zu erkennen, dass das Wörtchen »alles« nicht so ganz ernst zu nehmen ist, lassen Sie uns ein kleines Gedankenspiel unternehmen:

Stellen wir uns vor, der Megatrend »Globalisierung« würde sich radikal durchsetzen. Alle kulturellen Differenzen und Unterschiede würden zu einer einzigen homogenen Globalkultur ­verschmelzen. Alle Einkaufs- und Stadtzentren wären von den immer gleichen Filialen riesiger amerikanisch-europäisch-chinesischer Konglomerate beherrscht. Alle Autos sähen gleich aus, in verschiedenen Kategorien zwar, aber eben Welt-Autos, gebaut vom NMCBV-Konzern (NissanMercedesChryslerBMWVolkswagen). Der multinationale Konzern Alibalphabet würde alle Datenflüsse der Welt gerecht regulieren. Es gäbe gar keine verschiedenen Sprachen mehr, oder wenn, dann nur noch als nostalgisches Hobby. Ein einziges globales Idiom, Globaesperanto oder AngloMandarin, würde von Kap Hoorn bis Sibirien, von Japan bis Costa Rica gesprochen. Statt Euro, Dollar oder ­Renmimbi gäbe es nur noch den Terra, eine vollständige Blockchain-Währung.

In zehn oder zwanzig Jahren würden die ersten Länder ihre Grenzen auflösen und sich dem Freien Weltländer-Staatenbund (FWS) anschließen, der überall gleiche demokratische Rechte garantiert. In fünfzig Jahren wären nur noch ein paar Schurkenstaaten mit mafiösen Strukturen und bizarren Anführern, die nichts als Ärger machen, außerhalb der USE, der United States of the Earth. Der ganze nationalistische Unsinn, Ursache für endlose Kriege und schreckliches Leiden, wäre endgültig überwunden. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen würden alle Länder nach Best-Practice-Methoden zusammenarbeiten und mithilfe von Mediatoren etwaige Konflikte lösen. So, wie es in der Präambel steht.

Vor jeder Sitzung gäbe es Yoga und Meditation.

Stellen wir uns vor, alle Menschen würden konsequent dem Megatrend »Urbanisierung« folgen. Alle zögen in gigantische Metropolen, die von künstlicher Intelligenz gesteuert werden, mit automatischen Fahrsystemen, blühenden Gartenstädten und vernetzter urbaner Nahrungsproduktion. Alle Städte mit weniger als 100 000 Einwohnern würden aufgelöst, außer einigen Schau-Bauerndörfern (so etwas gibt es heute schon im hyperurbanisierten China) würden alle Dörfer verlassen. Das flache Land würde den Pflanz-, Mäh- und Ernterobotern oder der freien, ökologischen Wildnis überlassen. Bären, Luchse und Wölfe kehrten zurück, und endlich wäre der Verlust der Biodiversität gestoppt. All das wäre sehr vernünftig. Endlich hätten das Elend des Landlebens, die medizinische Unterversorgung, die Nichterreichbarkeit, die ländliche Isolation, in der immer noch viele Menschen leben, ein Ende. Die neuen großen Städte – je größer, desto besser – sind aus vielen Gründen der bessere Lebensraum für die Menschen. Man lebt in ihnen gesünder, länger und diverser. Nur in der intelligenten Metropole lässt sich der Fußabdruck des Menschen nachhaltig verringern, lassen sich geschlossene Recycling-Kreisläufe errichten, sodass elf Milliarden Menschen auf der Erde Platz haben. Die Menschheit rückt zusammen und macht Platz für das Comeback der Natur.

Ist das nicht großartig? Muss es nicht so kommen?

Stellen wir uns vor, wie würden immer mobiler, ja geradezu hypermobil! Wir würden unsere Wohnungen und Häuser, diese steingewordenen Klötze am Bein, einfach abschütteln. Alle Autobahnen würden zehnspurig ausgebaut, wobei drei Spuren als temporärer Parkplatz dienten. Auf Flüssen, Seen und Meeren entstünden riesige Hausboot-Städte. So gut wie alle Menschen wären in Wohnmobilen unterwegs, die sich mit geschickter Technik metamorphisch erweitern oder verkleinern lassen. Niemand bliebe dauerhaft an einem Ort, jeder würde ständig umziehen. Für eine monatliche Flightrate von 2000 Euro könnte man unentwegt in der Luft bleiben, rund um den Planeten, das ist billiger als das Leben auf der schnöden Erdoberfläche. Auch in der Erdumlaufbahn gäbe es Wohn­kapseln, aufblasbar, für jedermann. Die ganze Menschheit würde wie die Nomaden vor zehntausend Jahren leben, nur viel schneller, man würde mal hier sein Lager aufschlagen, mal dort, hätte kein Eigentum mehr, sondern nur noch Gebrauchsgegenstände, Sharing allerorten. Man würde in virtuellen Höhlen, kybernetischen Hütten, provisorischen Lagern und pneumatischen Hotels leben … Wir wären rund um die Uhr unterwegs, als kosmische Nomaden, die von Ort zu Ort, von Task zu Task ziehen, in der Liebe, in der Arbeit, in der großen weiten Welt …

Stellen wir uns vor, alles würde radikal digital. Wir würden unser Smartphone als Kontaktlinse tragen. Oder in die Schläfe implantiert. Auch beim Schlafen und Lieben blieben wir online. Beim Sex sowieso, das verstärkt die Variablen und die Sinneseindrücke. Wir könnten auf diese Weise mit einem Elefanten schlafen oder einem Faun. In unserem KI-Gerät würden unentwegt neue Wahrheiten projiziert: Hochrechnungen, Prognosen, Wahrscheinlichkeiten über das, was uns am meisten in­teressiert. Die billigsten Flüge, die besten Vergnügungen, die tollsten Restaurants stünden uns ständig zur Verfügung. Das System würde alle Männer oder Frauen in unserer Umgebung daraufhin scannen, ob sie zu unserem eigenen Score passen, und ständig passende Strategien zur Annäherung und Eroberung vorschlagen. Aber selten würden wir direkt mit Menschen kommunizieren, das ist anstrengend und missverständlich. Siri (oder Alexa) wäre überall. Im Türrahmen. Im Kühlschrank. In der Armbanduhr. Auf dem Klo.

Irgendwann wären auch die Gespräche mit Siri & Co. überflüssig. Quantencomputer umhüllen uns dann mit einer Echtzeit, die alle unsere Wünsche im Moment ihres Entstehens erfüllt.

Haben Sie eine solche feuchte Vision womöglich auf der letzten Digitalkonferenz gehört?

Stellen wir uns vor, dass alles immer individueller würde – ­radikal individuell. Jeder hätte seine eigene hochspezifische Meinung, seine eigenen Medien, seine eigene Lebensblase, seinen äußerst eigensinnigen Kleidungs-, Ess-, Gender-, Reise-, Liebes- und Lebensstil. Keiner wäre mehr vergleichbar mit dem anderen, Marketingagenturen gingen pleite, weil es keine »Zielgruppen« mehr gibt, »Influencer« würden aussterben, weil sie nur noch sich selbst als Publikum hätten. Jeder wäre ein Dandy, ein Snob, ein Lebenskünstler, ein Ästhet mit höchstentwickeltem Geschmack im Sinne einer kompletten Distinktion. Alle wären also wie Karl Lagerfeld. Alle wären aber auch unentwegt allergisch, würden immer empfindlicher, sensibler: so empfindlich, dass sie sich selbst nur noch schwer ertragen könnten. Alle würden in elektronisch erweiterten Single-Wohnungen leben, und niemand könnte auf Dauer mit einem anderen zusammenbleiben. Schon gar nicht mit Kindern, denn Kinder machen unglaubliche Mühe und schränken die Selbstverwirklichung unerträglich ein. Alle würden, weil sie so eigen sind, unentwegt aneinander verzweifeln, aneinander vorbeireden, sich missverstehen, sich unentwegt verlieben und trennen, aber jeder würde auch ein intensives, schöpferisches, selbst bestimmtes, enorm kreatives, tragisches, großartiges Leben leben …

Ungefähr so sähe »die Zukunft« aus, wenn sich die bekanntesten Megatrends – Globalisierung, Urbanisierung, Mobilität, Individualisierung, Konnektivität – einfach linear immer weiterentwickeln würden. Manches kommt einem ein wenig bekannt vor – weil es dem Zustand entspricht, der uns schon heute überfordert. Etwa hinsichtlich der medialen Übervernetzung, in der wir derzeit herumirren. Oder wenn wir an die Exzesse eines radikalen Individualismus denken: Da ist das im letzten Absatz beschriebene Szenario gar nicht mehr so weit von der Wirklichkeit entfernt.

Doch natürlich sind alle diese Szenarien unglaubwürdig. Sie sind falsch, auch wenn manches überzeugend klingen mag. Sie stimmen nicht, denn eine solche Zukunft wäre einfach instabil. Sie wäre, wie man so schön sagt, »nicht nachhaltig«. Eine Zukunft, in der sich die Megatrends radikal durchsetzen würden, wäre eine seltsam flache, eindimensionale Welt. Was verrät uns das über das Wesen der Zukunft – und der Prozesse, die sie formen? Und damit über das Wesen der Welt »an sich«?

Das nichtlineare Weltprinzip

Megatrends sind komplexe dynamische Prozesse, die ihre Kraft aus ökonomischen, technischen oder sozialen Triebkräften beziehen. Aber Megatrends funktionieren nicht im luftleeren Raum. Sie benötigen ein Fluidum, ein »Trägermedium«, um sich ausbreiten zu können, so wie der Schall die Luft braucht. Dieses Trägermedium ist das, was wir Systeme nennen: Ge­sellschaft. Wirtschaft. Technische Systeme. Soziale Systeme. Menschliche Systeme.

Megatrends sind nichts anderes als Störungen in etablierten, evolutionär gewachsenen Systemen, die von ihnen langfristig »umcodiert« werden:

• Globalisierung greift das Gewachsene, Lokale, Spezifische des ökonomischen und sozialen Gefüges an – das, was im Laufe der Zeit aus der Beziehung von Menschen entstanden ist. Sie erweitert den lokalen Horizont, in dem wir gebunden sind – durch Clan, Familie, Gruppe, Dorf, Kultur – um einen globalen Raum. Dieser Prozess kann kulturell zunächst als Befreiung und Erweiterung empfunden werden. Man stelle sich vor, es gäbe nur deutsche Küche in Deutschland, keine Italiener, Franzosen, Thailänder – grauenhaft! Ökonomisch gesehen führt Globalisierung jedoch zu einer Zerstörung lokaler Märkte. Das sieht man nicht nur in Afrika, wo beispielsweise europäische oder chinesische Billig­klamotten die lokalen Textilmärkte zerstören. Man erkennt es in jeder Innenstadt, in jedem Einkaufszentrum: Die lokale Ökonomie wird durch Ketten und Konzepte ersetzt, die von außen kommen. In der Arbeitswelt führt Globalisierung zu einem ständigen Outsourcing, einer großräumigen Arbeitsteilung, in der es Gewinner und Verlierer geben muss. Dies alles bedroht auf vielschichtige Weise Identitäten und Bindungen zwischen Menschen. Und deshalb kommt »Heimat« als große Sehnsucht, aber auch als politischer Kampfbegriff zurück.

• Auch die Individualisierung zerstört alte Kultur- und Bindungsnormen, attackiert etablierte Formen des »Wir«. Gemeinschaften, die sich über Generationen herausgebildet haben, zerfallen in ihre Bestandteile. Das muss nicht unbedingt mit Zerstörung einher­gehen, es birgt aber erheblichen Adaptionsdruck. Familien leben heute weitaus öfter als früher in Fernbeziehungen, räumlich voneinander getrennt. Das geht mit einem viel höheren Reise- und Kommunikationsaufwand einher, um die Familie zusammenzuhalten. Individualisierung erodiert Institutionen wie Familie, Vereine, Verbände und Parteien. Aber Menschen sind in ihrem Kern eben auch Gemeinschaftswesen. Deshalb kommt es bei steigender Individualisierung zu einer starken Sehnsucht nach dem »Wir«. So lassen sich auch die Internetblasen, die Rudelbildungen im Netz, Verengungsphänomene wie die »Identitären« und das Comeback totalitärer Sehnsüchte verstehen.

• Mobilität greift auf vielfältige Weise in unsere Kontinuitätsbedürfnisse ein. Sie »mobilisiert« das Alltagsverhalten der Menschen – und führt auf diese Weise zu immer mehr Komplexität und Stress-Erleben. Mobilität ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie ein Megatrend seine eigenen Grundlagen zerstören kann. Wenn alle unentwegt unterwegs sind, stehen alle nur noch im Stau (oder übernachten auf Campingbetten im Flughafen).

• Urbanisierung verändert unsere Beziehungen zur Natur, zu den Nahrungsgrundlagen und zu räumlichen Bindungen. Wer in die Stadt zieht, ist durch sein Idiom ein Fremder unter Fremden. Urbanisierung ist natürlich auch eine Freiheits-Bewegung: Menschen fliehen aus Natur-Abhängigkeiten, Monotonie und als eng empfundenen Sozial-Bindungen. Sie erleben sich in der Stadt in neuen Möglichkeiten und Selbst-Verwirklichungen. Gleichzeitig kann man erleben, wie die Anonymisierung der Stadt rasch wieder dörfliche Strukturen hervorbringt: Kieze, Communities, Nachbarschaften. Co-Living, Co-Gardening und Co-Working sind massive Trends der Wiedervergesellschaftung in der urbanen Umwelt.

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