18/4/4 - Hocke / Kühne / Labussek / Schleich - E-Book
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Beschreibung

Achtzehn Texte, vier Jahreszeiten, drei Autorinnen und ein Autor: Diese Geschichtensammlung ist ein abwechslungsreicher Reisebegleiter durch das Jahr. Ob fliegende Weihnachtsmänner in Berlin, Abschied und Neubeginn auf einem Reiterhof im Frühling, ein Sommernachtsmord in Finnland oder eine Menschenjagd durch die Herbstwälder in den USA: Die Geschichten spielen in aller Welt und jede davon hat ihr eigenes jahreszeitliches Flair – mal humorvoll, mal besinnlich, mal spannend serviert. Kurz: Das Jahr hat viele Facetten und die Mitglieder der Autorengruppe "Wortwechsel 15" haben sie alle eingefangen, für ein unterhaltsames Lesevergnügen von Weihnachten bis Weihnachten.

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Seitenzahl: 216

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Hocke / Kühne / Labussek / Schleich

18/4/4

18 Geschichten - 4 ErzählerInnen - 4 Jahreszeiten

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

18/4/4

Liebe Leserinnen und Leser,

Winter – Geschichten für kurze Tage und lange Nächte

Frühling – Mit und ohne Musik

Sommer – Sonnenflimmern, Sternenfunkeln

Herbst – Von bunt bis stürmisch

Winter II – Ja, ist denn schon wieder Weihnachten?

Winter

Weihnachtsmänner wie wir

Diesmal fällt Weihnachten aus

Polarfieber

Valentins-Menü mit und ohne Rosen*

Frühling

Singender Osterfisch*

Als Hummel schlief*

Klarböcks Mai-Violine*

Sommer

Keine Zeit ohne Quirin

Sommernachtsmord

Heidesommer

Der letzte Flug*

Stefanies Rettung*

Herbst

Die Gazelle

Träume wie Herbstlaub

Narzissenstraße 7

Teufelswerk

Winter II

Das Weihnachtsproblem

Begleittexte – Ein Blick hinter die Kulissen

Impressum neobooks

18/4/4

Elke Schleich

Anja Labussek

Armena Kühne

Thomas Hocke (Hrsg.)

18 Geschichten

4 ErzählerInnen

4 Jahreszeiten

Umschlaggestaltung: Thomas Hocke

Lektorat: Thomas Hocke, Anja Labussek, Elke Schleich

Korrektorat: Anja Labussek

Weitere Mitarbeit: Armena Kühne

Alle Rechte vorbehalten.

Für unseren Freund und Autorenkollegen

Olaf Trint

Liebe Leserinnen und Leser,

welche Regeln gelten für eine gute Kurzgeschichte?

Du sollst nicht langweilen,

du sollst nicht langweilen und

du sollst nicht langweilen.

Gibt es weitere Regeln? Muss es weitere geben, wo diese doch alles umschließen? Ich habe meinen Lieblings-Filmregisseur Billy Wilder zitiert. Wilder hatte als Schriftsteller, als Journalist und Drehbuchautor begonnen und dann als Autorenfilmer auch die Drehbücher für seine Zelluloid-Klassiker mitverfasst. Was für den Film gilt, das trifft aufs Schreiben von Kurzgeschichten ebenso zu.

Wir, die vier Autorinnen und Autoren von »Wortwechsel 15«, wollen, dass das Jahr 2018 für Sie ein gutes wird. Lektüremäßig. Dafür haben wir uns ins Zeug gelegt. Textmäßig. Jede Jahreszeit mal mehr, mal weniger in unsere Geschichten einfließen lassen, viele Themen angesprochen, ganz unterschiedliche Sichtweisen eingenommen. Wir hoffen, dass uns spannende, heitere, traurige, aufregende oder besinnliche, realistische oder skurrile Beiträge gelungen sind.

Vielleicht interessieren Sie sich auch für die »Geschichten hinter den Geschichten« und möchten einen Blick in unsere Schreibwerkstatt werfen? Hinter dem Titel des einen oder anderen Beitrags werden Sie ein Sternchen bemerken, es weist auf einen Begleittext hin, in dem die Autorin oder der Autor etwas zur Entstehung des Textes erzählt. Sie finden unsere Begleittexte gebündelt am Ende des Buches.

Ob wir Sie am Ende des Jahres oder des Buches nicht gelangweilt haben, müssen Sie aber selbst entscheiden.

Für uns war bereits dieses Projekt, das erste der »Edition Wortwechsel«, ganz und gar unlangweilig. Obwohl wir alle erfahren im Publizieren von Kurzgeschichten sind, teilweise auch als Herausgeberinnen und Herausgeber, gab es dieses Mal viele Verzögerungen durch immer neue Aspekte, die wir haben einfließen lassen. Das mussten wir, weil sonst die Qualität des Buches nicht gepasst hätte. Ob Sie sich langweilen oder beim Lesen Spaß in den Backen haben, das ist auch von Ihrem Geschmack abhängig, aber die Formalia sollen stimmen, daran haben wir hart gearbeitet.

Da wir uns alle vier stark in dieses Projekt eingebracht haben, wird es hier keine Danksagungen geben. Mit einer Ausnahme: Herzlichen Dank an Anja Labussek für die Erstellung der Druckversion, die noch einmal viel Aufwand war. Aber wir haben ja das Glück, mit Anja einen Profi, eine Verlagsredakteurin, unter uns zu haben. Da musste sie durch diese Aufgabe durch.

Wenn Sie mit dem Buch durch sind – wenn’s Ihnen gefallen hat, Sie die Geschichten schön fanden oder Sie Kritik anbringen möchten, schreiben Sie uns das gerne, bitte an meine Mailadresse [email protected]. Und wenn Sie mehr über uns, unsere Schreibprojekte und unsere Gruppe »Wortwechsel 15« erfahren möchten, dann besuchen Sie doch unser Weblog unter .https://wortwechsel15.wordpress.com

Thomas Hocke

Berlin, im Dezember 2017

Winter – Geschichten für kurze Tage und lange Nächte

Weihnachtsmänner wie wir

Thomas Hocke

Diesmal fällt Weihnachten aus

Elke Schleich

Polarfieber

Armena Kühne und Thomas Hocke

Valentins-Menü mit und ohne Rosen

Anja Labussek und Thomas Hocke

nach einer Idee von Olaf Trint

Frühling – Mit und ohne Musik

Frühlingssonate

Anja Labussek

Singender Osterfisch

Thomas Hocke und Anja Labussek

Als Hummel schlief

Elke Schleich

Klarböcks Mai-Violine

Thomas Hocke

Sommer – Sonnenflimmern, Sternenfunkeln

Keine Zeit ohne Quirin

Armena Kühne

Sommernachtsmord

Anja Labussek

Heidesommer

Elke Schleich

Der letzte Flug

Armena Kühne

Stefanies Rettung

Thomas Hocke und Anja Labussek

Herbst – Von bunt bis stürmisch

Die Gazelle

Armena Kühne

Träume wie Herbstlaub

Elke Schleich

Narzissenstraße 7

Thomas Hocke

Teufelswerk

Armena Kühne

Winter II – Ja, ist denn schon wieder Weihnachten?

Das Weihnachtsproblem

Anja Labussek

Begleittexte – Ein Blick hinter die Kulissen (bei mit* gekennzeichneten Geschichten)

Autorinnen und Autor

Winter

Geschichten für kurze Tage und lange Nächte

Weihnachtsmänner wie wir

Thomas Hocke

1

»Dass wir uns hier treffen! Ist ja wie Weihnachten und Ostern zusammen!«

»Und das kurz vor Weihnachten!«

Mein Blick ruht beinahe zärtlich auf Hans, dem alten Tunichtgut, wandert durch die Scheibe des Cafés nach draußen, wo es dicke, schwere Flocken schneit und die Leute durch tiefen Matsch stiefeln.

Damals war Sommer, ich weiß es noch gut. Sieben Jahre? Acht? Ein Drama war’s für Hans, als er aus dieser hippen Firma für intelligentes Neuleben flog. Wunderbare Objekte hatte er mir zum Testen anvertraut. Die immerblühenden Üppigblumen, die irgendwann doch verblühten. Oder diesen Phager, der aussah wie ein verdammt schöner Schmetterling. Er sollte Insekten aller Art vernichten, spezialisierte sich jedoch in nicht vorgesehener Weise auf den Werkstoff Gummi.

»Drei Sommer und drei Winter lang waren sie der bunte Mittelpunkt meiner Wohnung, die Blumen von dir«, sage ich, um einen netten Gesprächseinstieg bemüht. Seine traurigen Augen werden noch trauriger.

»So kurz nur? Und dann die Sache mit …«

»Geschenkt. Er ist weg, der Phager.«

Meine damalige Freundin ebenfalls. Ich denke an Katja mit den Sommersprossen und an den Eklat anlässlich ihrer ungewollten Schwangerschaft. Ich hatte mindestens eines der kleinen Löcher nicht bemerkt, die der Phager in meine Kondome zu fressen beliebte. Katja beendete die Schwangerschaft und ich die Beziehung mit ihr.

In der Scheibe des Cafés spiegeln sich unsere Gesichter, die mir nun sehr abgekämpft erscheinen. Meine Augen richten sich in die Ferne. Die Scheibengesichter verschwimmen und ich beobachte das aufdringliche Kudamm-Gewusel.

»Tut mir so leid, das mit Katja.«

»Hans, wir machen uns gegenseitig ein Weihnachtsgeschenk und erneuern unsere Freundschaft, hm?«

»Oh ja, bitte. Dann hab ich sogar schon eines für dich, das heißt, wenn du es überhaupt annimmst.«

Freundschaft, Hans, ist das Geschenk der Geschenke. Doch du, mein Lieber, du bist Wissenschaftler, ihr seid anders als alle anderen, so unterschiedlich die anderen untereinander auch sein mögen.

»Magst du … Weihnachtsmänner?«, bringt Hans etwas mühsam heraus.

»Seit ich nicht mehr an den Weihnachtsmann glaube, bin ich diesbezüglich neutral.«

»Weißt du, ich hab mich selbstständig gemacht … und mich … ähm … auf neuartige Weihnachtsartikel spezialisiert.«

So schauen die Gründer von heute aus. Yuppie war Hans nicht einmal, als er jung war.

»Ich hab da etwas entwickelt, weißt du … Ganz ungefährlich.«

»Wenn du’s sagst. Und ich darf es wieder testen?«

»Ich möchte dich sehr darum bitten. Es wird dir viel Spaß machen.«

Der beschwörende Ton rührt und warnt mich gleichermaßen. Ich sehe vor mir einen daumengroßen Weihnachtsmann, der Gedichte aufsagen und auf Christbäume klettern kann.

»Na, herzlichen Glückwunsch«, sage ich und lausche dem Grundrauschen der Zivilisation in diesem gut besuchten Café, das wichtige Gespräche wie unseres unterlegt wie den Dialog in einem Film mit nichtssagender Begleitmusik.

»Hast du jetzt mich oder dich gemeint?«, fragt Hans vorsichtig nach.

»Uns beide. Du machst endlich dein eigenes Ding. Ich werde Weihnachtsmannbesitzer.«

»Ja, ich arbeite an robotronischen Haushaltserleichterungen.«

»Saugroboter, die aussehen wie Frisbee-Scheiben, die zu viel Fastfood gemampft haben, gibt’s im Media Markt ab 299,99. Saugen aber nur maximal 30 Prozent Dreck auf. Lenk deine Energie nicht auf Sachen, die gestern die Gegenwart von heute waren!«, ende ich mit ein wenig Pathos in der Stimme.

»Äh … ich hab einen voll funktionsfähigen Weihnachtsmann-Roboter entwickelt.«

»Das ist eine andere Größenordnung. Ist er auch richtig groß?«

»So groß wie du etwa.«

»Ein Gigant!«

Hans schaut mit gefurchter Stirn durchs Fenster. Ein Mensch in Moll als Entrepreneur. Die Leute im Weihnachtslichterglanz stapfen durch dicke, nasse Flocken, die sich auf dem Matsch niedergelassen haben. Am linken Rand des Fensterausschnitts kann ich den größten Weihnachtsbaum der Stadt sehen, wie er das Baugerüst vor der Gedächtniskirche vorfestlich anstrahlt. Ein Baum wie ein Baum, kann man ohne Übertreibung feststellen.

»Santatronics GmbH i. G. – in Gründung –, so heißt meine Firma. Hörst du mir zu, Tom?«

»Ich weiß, was i. G. heißt. Und ich hab lange niemandem mehr so aufmerksam gelauscht, der nicht aus dem Fernseher zu mir gesprochen hat, wie jetzt dir. Wer haftet eigentlich, wenn deinem Weihnachtsmann die Sicherungen durchbrennen?«

Draußen stolpert ein Dreijähriger durch die dünne Flockendecke und landet im Matsch. Seine Mutter setzt sich solidarisch neben ihn und fordert den Vater auf, das Gleiche zu tun. Der steckt die behandschuhten Hände in die Manteltasche und schaut in die Luft, als habe er nichts mitbekommen. Ich seufze und Hans antwortet nicht.

»Ich versuch gerade wieder, eine Beziehung aufzubauen, Hans. Falls es klappt, gibt’s Kids obenauf«, versuche ich ein anderes Thema.

Nina kann mit ihren großen braunen Augen beinahe so ernst und forschend gucken wie Hans. Noch hat sie nicht ausgeforscht, ob ich es wert bin, ihre beiden Racker kennenzulernen.

»Normalerweise werden die Weihnachtsmänner von den Vätern gespielt«, doziere ich. »Und die beiden haben je einen Vater.«

»Vielleicht sind die unabkömmlich oder nicht erwünscht. Dann könntest du meinen Weihnachtsmann einsetzen.«

»Im Ernstfall wollte ich den Typ geben. Ich hab mir das berühmte Ratgeberbuch 1000 beste Weihnachtsmann-Ideen gekauft.«

»Stell dir die Überraschung vor, wenn du rausgehst, um dein Kostüm anzuziehen, eine Zeit später kommt ein Weihnachtsmann ins Wohnzimmer und fängt an, Geschenke zu verteilen und »ho ho ho!« zu rufen und dann du hinterher, als ob’s die normalste Sache der Welt sei.«

Hans versteht es nach wie vor, Erfindungen zu Erinnerungen und damit zu Gefühlen werden zu lassen. Zum Beispiel solche an meine Kindheit, als mein Vater den Weihnachtsmann machte, drohend die Reisig-Rute schwang und eine Liste mit all meinen Sünden vorlas, welche er unter Zuarbeit meiner Mutter und meiner Großeltern während eines langen Jahres aufgeschrieben hatte. Irgendwann spätabends gab es jedoch die unverdienten Gaben.

Ob man Hansens Weihnachtsmann auch so programmieren könnte? Durch den Türspalt zuzugucken, wie die Gesichter von Ninas kleinen Biestern länger und grauer werden, dann reinzukommen, als sei nichts gewesen, und alle fallen in Ohnmacht, das könnte aus Weihnachten eine recht zünftige Angelegenheit werden lassen. Der Preis wäre vermutlich die erneute Partnersuche. Ich berichte Hans meine Idee. Seine Augen werden groß. Jetzt fall du mir nicht in Ohnmacht, mein durch vierzig Jahre Sozialpädagogik weichgeklopfter Freund. Gott sei Dank kratzt er sich nur heftig am Kopf und nickt ergeben.

»Meine Vorschläge machen dein Produkt eindeutig besser«, muntere ich ihn auf und Weihnachtsmänner konstruieren ist halt nicht wie Ponys aufziehen, was sie bei hinreichend Weidegras selbst erledigen.

»Apropos Weidegras – ich hoffe, der Weihnachtsmann hat einen guten Akku. Nicht, dass der mitten im Vortrag kindlicher Verfehlungen den Geist aufgibt. Ich mache mich mit deinen Produkten nicht gerne lächerlich … Also nicht direkt am Anfang.«

»Der Akku von meinem W-2015-FLW hält länger als der von einem iPhone. Und das Sündenregister von zwei kleinen Kindern kann doch nicht einen ganzen Tag dauern!«

Hans, weißt du noch, wie es war, als das Kind Kind war?

»Nun aber zu etwas Wichtigem.«

»Oh!«, ruft Hans. »Du sprichst von Vergütung! Dankeschön!«

»Äh … Vergütung für mich, Hans. Risikoprämie. Oder sagen wir: Kaution. Du kriegst sie zurück, wenn es keine Toten einerseits und keine ungewollten Kinder andererseits aufgrund des Einsatzes deines Weihnachtsmannes gegeben hat.«

»Oh je.«

2

In der Nacht, die meinem Treffen mit Hans folgte, hatte der Schnee sich gegenüber dem Matsch durchgesetzt und heute Morgen, vier Tage vor Weihnachten, begann das Tauwetter.

Alle stapfen wieder durch den Matsch oder knirschen über Granulat. Vor meiner Tür eine Überraschung in Form einer Box, die gar nicht durch die Tür passt. Meine Nachbarin von gegenüber hat sie offensichtlich empfangsquittiert und auf meine »Welcome, wenn’s kein Gerichtsvollzieher ist«-Fußmatte geschoben. Mit dem Riesending komme ich nicht in die Wohnung. Ich muss das Paket tatsächlich an seinem Standort öffnen und die Teile des Weihnachtsmann-Bausatzes Stück für Stück ins Wohnzimmer tragen.

Ich breite meine türkisgrüne Gymnastikmatte aus, damit der Boden nicht durch Mechanik-Teile verschrammt wird. Die Zeit beim Reintragen vertreibe ich mir, indem ich Teile zähle. Bei etwa 2001 komme ich durcheinander. Der Tag vergeht.

Welch eine Vorweihnachtszeit. Bei allem, was doof ist: Lieber als hier sitzen und ohne vernünftige Bauanleitung nen Weihnachtsmann bauen würd ich doch Plätzchen backen und nen Punsch brauen.

Ein weiterer Tag vergeht ereignislos. Am dritten Tag jedoch sehe ich, dass es gut geworden ist. Was im Wohnzimmer steht, ähnelt durchaus einem Weihnachtsmann. Ich klebe den weißen Rauschebart mit den vorgesehenen Klett-Haftflächen an das Gesicht mit der roten Knollennase und den blauen Strahleaugen, die vermutlich im Takt von Weihnachtsliedern blinken können.

Ein weiteres Paket trifft ein, darin ein Weihnachtsmann-Outfit aus der allerneuesten Kollektion des führenden Couturiers All Saints. Wie Hans sich diese Luxuslatzhosenmode leisten konnte, ist mir schleierhaft. Vorsichtig schließe ich den letzten der hübschen dicken Knöpfe der Überjacke. Alles sitzt wie maßgefertigt. Und erst der Klappschlitten mit den elektrischen Rollkufen, der schicke Geschenksack mit dem Aufdruck Fair Trade Biobambusfaser.

»Ach, Menno«, murmele ich und schiebe Verpackungsmaterial vom Sofa auf den Boden. »Du kannst nichts dafür«, sage ich zu dem W-2015-FLW. Nachdem ich mich eingekriegt habe, widme ich mich ausführlich seinem Sprachmodul.

»Fertig!«, rufe ich nach drei Stunden aus. »Sag mal was!«

»Redest du mit mir? Mit mir?!«, schnarrt W-2015-FLW.

»Oh, mein Gott. Setz dich mal!«, fordere ich den Typ auf, der klingt wie Robert De Niro in seiner wilden Zeit als Taxifahrer, und klopfe aufmunternd auf den freien Sofaplatz neben mir.

Ich bastele weiter an der Sprachsteuerung. So lange, bis die deutsche Stimme von Frodo Beutlin aus W-2015-FLW dringt und probiere unzählige Satzkombinationen durch, die zu Weihnachten besser passen als das, was dieser Sonderling von einem Roboter soeben von sich gegeben hat. Ich habe sogar das Gefühl, er hat dabei die Augenbrauen zusammengezogen. Aber jetzt ist es gewiss viel kindgerechter. Und nun zu dem, was in der Programmieranleitung »Customizing« genannt wird. Es ist mühsam.

Am spannendsten finde ich die Eigenschaft, die dem neuen Weihnachtsmann-Modell die Zusatzbezeichnung »FLW« eingebracht hat. Es bedeutet nicht weniger als »Fly by wire«. Wer sich auskennt im Flugzeugbau, der weiß, was es für einen Weihnachtsmann bedeuten muss, nicht mehr mit all diesen Kabeln befrachtet zu sein, die ihn im Grunde zu schwer und reaktionslahm fürs Fliegen durch enge Treppenhäuser in Altbau-Seitenflügeln und -hinterhäusern machen. Ah, jetzt Einrichtung der GPS-und-Google-basierten Ansteuerung der Haushalte mit zielgenauer Landung im Kamin, wahlweise auf einem Dach, Balkon oder dergleichen …

Meine Augen öffnen sich. Ich war eingeschlafen und hatte mir einen Märchen-Weihnachtsmann erdichtet, wie ihn alle Kinder sich erträumen. Ich hatte einen Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft geworfen. Golden Memories and Things to come.

»So, das hätten wir«, sage ich, drücke den Enter-Button und lächele W-2015-FLW an.

»Redest du mit mir?«

»Sitzt hier sonst ein Weihnachtsmann auf der Couch? Also, wie ist die Stimmung?«

»Danke vielmals. Ich freue mich mächtig auf das Fest der Liebe!«

»Hast du auch viele schöne Geschenke mitgebracht?«

»Danke vielmals. Ich freue mich mächtig auf das Fest der Liebe!«

»Bist du einverstanden damit, dass ich hier das Sagen habe und im Bett oben sitze?«

»Danke vielmals. Ich freue mich mächtig auf das Fest der Liebe!«

Er wird sich mit Nina gut verstehen. Und fliegen mag sie allemal. Mit oder ohne FLW-Steuerung.

3

»Was machst du denn im Schloss-Center?«, frage ich Hans, als ich ihn endlich an die Strippe bzw. an den Mobilfunk kriege. »Ideen für die Weiterentwicklung deiner Weihnachtsmänner testen?«

»Du hast es erraten. Ehrlich? Ich muss den Einsfuffzig-Euro-Job als centereigener Outdoor-Weihnachtsmann machen, um mich über Wasser zu halten.«

»So schlimm taut’s doch nun auch wieder nicht.«

»Mein Geschäft, das ist ja noch Zukunft.«

»Ach, Menno«, entfährt es mir.

Aber im selben Moment habe ich eine Idee, was selten vorkommt.

»Sag mal, Alter, bist du fit für einen Einkaufsbummel?«, rede ich W-2015-FLW an.

»Danke vielmals. Ich freue mich mächtig …«

»Dann isses ja gut.«

So treffe ich Hans also vor dieser Shopping Mall, verkleidet als das, was er künftig in Serie produzieren will. Er ist nicht wenig überrascht, als ich sein Produkt aus dem Metrobus M48 zerre. Dabei nehme ich just in dem Moment seine Patschhand, als es in den Matsch fallen will.

»Du kleiner Schelm, denkst wohl, ich würd mich neben dich setzen?«, sage ich und zwinkere W-2015-FLW zu. Dessen Strahleaugen strahlen.

Die in dem M48 verbliebenen Fahrgäste haben sich kreisrunde Sichtfenster in die beschlagenen Scheiben gewischt und gucken uns nach, wie wir Richtung Eingang tapern. Der Bus müsste längst weg sein, aber der Fahrer tut desgleichen. Ich winke Hans, der rechts neben der Drehtür steht und von einem Fuß auf den anderen tritt.

»Kennst du den Mann in Rot?«, frage ich W-2015-FLW vergnügt. »Das ist dein Daddy.«

Vielleicht denke ich das nur, aber es wirkt, als glänzten Sohnemanns Augen noch mehr als ohnehin. Hans hingegen staunt nicht schlecht, wie groß geworden und wohlauf sein Sprössling unter meiner Betreuung ist.

»Hi, Hans! Pass auf. Wir gehen erst mal da drin was essen und lassen ihn hier den Job machen.«

Der Ablösung in Person von W-2015-FLW hänge ich eine Tafel um, da steht Hans’ Mobilfunknummer drauf. Und dass man Vorbestellungen aufgeben kann.

»Aber ich bin doch noch gar nicht in der Serienfertigungsphase angelangt«, wendet der Hersteller ein.

»Papperlapapp!«

Nach einer halben Pizza und einem warmen Kaffee gehen wir raus und sehen, wie unser Weihnachtsmann freundlich grüßt, die Glocke läutet, die ich ihm in die Hand gedrückt habe, und überhaupt eine Menge Spaß an seinem Job zu haben scheint. Eine kleine Menschentraube hat sich bereits um ihn versammelt. Prächtig. Nun kann ich mit dem zweiten Teil meiner Idee herausrücken. Hans starrt mich an und wirkt, als wolle er in Tränen ausbrechen. Ich klopfe ihm auf die Schulter, ziehe ihn mit zur Haltestelle und nehme ihn dabei an der Hand, ebenso wie vorhin seinen Roboter. Come Christmas!

Während der Fahrt zu meiner Wohnung rede ich gleichermaßen eindringlich wie aufdringlich auf meinen Freund ein. Er schüttelt ein ums andere Mal den Kopf, dann nickt er wieder und umgekehrt. Endlich der Anruf, auf den ich gehofft und vor dem ich mich gefürchtet habe. Ohne ihn wäre Hans’ Instruktion, wären die Plagen der letzten Tage, wäre dies Weihnachten sinnlos gewesen. So ist das Leben. Voller Höhen und Tiefen.

4

»I’m dreaming of a white Christmas!«

»Just like the ones I used to know.«

»Where the treetops glisten …«

»… and children listen to hear sleigh bells in the snow.«

Ist es nicht herrlich, eine Freundin zu haben, die Bing Crosbys Hit noch eine Oktave höher singen kann als er selbst, und Kinder, die schon im Vorschulalter nahezu perfekt Englisch können, dank ihrer Verortung in einer hippen Fasttrack-Kita? Ich brumme gerade den Satz von den klingelnden Schlittenglocken, da klingelt es an der Tür.

»Wer mag das sein!«, kreischt die dreieinhalbjährige Ann-Sophie.

»Vati oder Daddy?«, rätselt Konstantin, Ninas Großer, der am nächsten ersten April sechs Jahre alt werden wird.

»Viel schöner.«

»Vati und Daddy?«, murmelt Nina beunruhigt.

»Schöner.«

»Der Weihnachtsmann?!!«

Hans macht das so toll, das hätte ich ihm nie zugetraut. Als ob er selbst Kinder hätte oder sich doch wieder daran erinnern konnte, wie’s damals war. Ja, doch, mittlerweile ist es mir klar. Wenn einer von uns das Kind in sich bewahrt hat, dann Hans. Würde er sonst nicht Altenpflege-Roboter bauen? Hoffentlich geht’s W-2015-FLW gut und er findet so hierher, wie wir’s ihm einprogrammiert haben. Das wird ein Spaß, wenn der auch noch erscheint. Ann-Sophie und Konstantin erhalten von mir neue Aufgaben für die Lernprogramme, die in ihren Tablets gespeichert sind, und freuen sich ganz unverfroren, wie Eiskönigin und Schneekönig. Doch bei Tisch beginnt Hans in einem Anfall von innerer Auflösung, von seinem Leben als Erfinder zu erzählen und die Kleinen vergessen das Essen. Nina schaut mich ungläubig an. Entweder, weil sie nicht fassen kann, dass ihre Racker die tolle Tropenfruchteis-Nachspeise vernachlässigen, oder weil sie Hans’ Geschichten nicht glaubt, oder weil sie nicht glaubt, dass jemand wie ich jemanden kennen kann, der solche Sachen erlebt hat und so kreativ ist. Wieder läutet es. Aber dieses Mal ist es die Glocke der Kirche von nebenan.

»Wir müssen los!«, rufe ich.

Zu fünft stampfen wir durch den Matsch. Vor der Kirchentür aus geschnitzter Moor-Eiche bleiben wir stehen. Orgelmusik und ein mindestens fünfunddreißigstimmiger Chor hinter der Tür. Hans und ich blicken einander an. Ich ziehe am Griff und Hans hält inne. Ein Leuchten in seinen müden Augen. So warm wie in diesem winterlichen Moment war ihm gewiss seit vielen Jahren nicht.

»Komm, Onkel Hansi!«, kräht Ann-Sophie, zerrt ihn am Ärmel und wir sind drin, bevor die Mutter das Kind geduldig darauf hinweisen kann, dass man selbst einen echten Onkel heute nicht mehr Onkel nennt, sondern den Vornamen ohne Zusätze sowie unter Ausschluss von Verniedlichungsformen verwendet.

5

Ich stehe in der Küche und mache Frühstück. Alles ist wunderbar. Es könnte um einiges wunderbarer sein, wenn Hans nicht doch gegen Mitternacht raus in die Kälte gestiefelt wäre, um nach W-2015-FLW zu suchen, der nicht bei uns eingetroffen ist. Da nur ich von der Sache gewusst habe, konnte ich Nina und ihren Kids nichts davon erzählen. Mit einem halben Ohr höre ich dem Radio zu, wie es Weihnachtslieder spielt, dann kommen die ausführlichen Nachrichten aus dem Kiez und dem Bezirk.

»Vor einem bekannten Einkaufscenter im Südwesten kam es am gestrigen Tag zu einer spektakulären Darbietung, als ein Weihnachtsmann das Innere betrat, mit der Rolltreppe in die zweite Etage fuhr und sich auf der Brüstung der Galerie niedersetzte. Herbeigeeilte Passanten versuchten, ihn vom vermeintlich geplanten Sturz in die Tiefe abzuhalten. Jedoch breitete der Weihnachtsmann die Arme aus und durchflog das Shoppingcenter. Er landete ohne Sachschaden im Erdgeschoss. Bis zu diesem Zeitpunkt erfolgte keine Aufklärung darüber, wie und warum ein Weihnachtsmann fliegen kann. Die Centerleitung äußerte sich jedoch zufrieden über den Werbeeffekt der Show-Einlage.«

In diesem Moment höre ich ein Geräusch, das vom Balkon kommt. Ich öffne die Tür und mit freundlichem Gesichtsausdruck und mit strahlenden Augen schaut mich ein Typ an, der stark auf W-2015-FLW herauskommt.

»Wie hast du das nur gemacht?«, frage ich ihn.

»Danke vielmals. Ich freue mich mächtig auf das Fest der Liebe.«

»Komm erst mal rein.«

Bis zur Weihnachtsente, die um halb acht serviert wird, habe ich Hans telefonisch ausfindig gemacht und dazu überredet, mit uns zu Abend zu essen. Mit vollem Mund erklärt er mir, dass zwar bei der Sprachprogrammierung einiges danebengegangen ist, aber wohl unabsichtlich das volle FLW-Programm aktiviert wurde, das in dieser Testphase gar nicht verwendet werden sollte.

»Onkel Hans, was heißt Eff-el-weh?«, fragt Klein-Konstantin ungeduldig.

»Ja, was heißt das, was heißt das?!«, fällt Ann-Sophie ein und beide gucken fasziniert zwischen Hans und dem Weihnachtsmann hin und her, der gemütlich neben dem Weihnachtsbaum steht und seine rote Nase leuchten und seine blauen Augen strahlen lässt.

»Fly by wire – das ist ein …«

»Ich weiß«, sage ich. »Ein drahtloses Steuerungssystem für Flugzeuge.«

»Wow, bist du schlau«, lässt sich Nina in einem Ton vernehmen, der Bewunderung und Verwunderung gleichermaßen ausdrückt.

»Ach, neulich hab ich mal davon geträumt«, sage ich bescheiden und schlage die Augen nieder, ohne mich von hochgezogenen Augenbrauen irritieren zu lassen. Ich zwinkere dem Weihnachtsmann zu. Wir zwei freuen uns mächtig auf das nächste Fest der Liebe, was?

Diesmal fällt Weihnachten aus

Elke Schleich

Diesmal fällt Weihnachten aus, hatte sich Anne geschworen. Sie würde die Tür hinter sich abschließen und erst am 27. wieder öffnen. Das Telefon würde sie lautlos stellen, ihre E-Mails nicht abrufen, am besten gar nicht erst den Computer starten.

»Du bleibst wirklich allein zu Hause?«, fragte Melanie sie noch einmal, als sie sich verabschiedete.

»Hundertprozentig.«

»Falls du’s dir doch anders überlegst oder nur mal quatschen willst, ruf mich an.«

»Ja«, sagte Anne und lächelte kurz, »danke fürs Angebot.« Sie war froh, als Melanie das Büro verließ.

Eine Stunde lang versuchte sie, sich auf die Statistik für die Produktserie ,Glückliches neues Jahr‘ zu konzentrieren. Aber heute war nicht der Tag für Glückskleesortimente und rosafarbene Schweinchen. Also würde sie Schluss machen und ihre Einkäufe erledigen.

Im Supermarkt dudelte das Lied vom rotnasigen Rentier Rudolph. Hinter der Käsetheke bediente eine Frau mit Weihnachtsmann-Mütze und an der Kasse gab es »schöne Feiertage!« mit auf den Weg. Bloß raus hier, dachte Anne.

Endlich hatte sie alles im Kofferraum. Als sie den Motor startete, meldete sich ihr Handy. Sie nahm es aus der Handtasche und schaute aufs Display: Sebastian. Anne drückte ihn weg.

Mit ihm war sie fertig. Neben einer angeschrammten Seele hatte er ihr einen Berg Schulden hinterlassen. »Was willst du eigentlich? Es waren gemeinsame Anschaffungen für unsere gemeinsame Zukunft.« Was nichts an der Tatsache änderte, dass Anne allein den Kredit für das Auto abzahlte, das er zu Schrott gefahren hatte. Nie wieder würde sie eine Bürgschaft unterschreiben. Anne schluckte die aufkommende Bitterkeit hinunter.

Während sie nach Hause fuhr, fielen die ersten Regentropfen und Anne empfand einen Hauch von Genugtuung. Wenigstens der Wetterbericht schien zu halten, was er versprochen hatte.

Gegen Mittag des 24. Dezember war sie mit ihren Vorbereitungen fertig. Ein Turm aus DVDs mit Filmen, die sie immer schon hatte anschauen wollen, wetteiferte mit dem Bücherstapel aus der Stadtbibliothek um die Gunst, für Ablenkung sorgen zu dürfen. Den Platz im Gefrierfach teilten sich Tiefkühlpizzas mit verschiedenen Baguettesorten – das ideale Anti-Weihnachtsessen.

Anne hatte vom Hängeboden die prall gefüllten Schachteln heruntergeholt, die aus der Zeit stammten, als Fotografieren untrennbar mit dem Entstehen von Papierbildern verbunden war, und sie neben die drei frisch gekauften Alben auf ihren Schreibtisch gestellt. Sämtliche Kleidungsstücke, an denen ein Knopf fehlte, sich ein Stück Naht löste oder sonst etwas zu richten war, hingen außen am Schrank. Anne warf ihnen jedes Mal, wenn sie vorbeikam, einen finsteren Blick zu. Sie hasste Näharbeiten. Genauso wie Schuhe putzen. Trotzdem standen ihre 27 Paar in der Diele aufgereiht und warteten darauf, von fünf Sorten Pflegecremes und ihren fleißigen Händen auf Hochglanz poliert zu werden.

»Aber nicht jetzt«, murmelte Anne, als sie in ihren Filzpantoffeln durch die Diele zum Bad schlurfte.