19. open mike -  - E-Book

19. open mike E-Book

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Beschreibung

Sechs Lektorinnen und Lektoren aus renommierten Verlagen - Thorsten Ahrend (Wallstein), Petra Gropp (S. Fischer), Annette Kühn (luxbooks), Manfred Metzner (Wunderhorn), Lina Muzur (Hanser), Sara Schindler (Kein & Aber) - haben riesige anonymisierte Textberge abgetragen, sich durch 700 in die Wertung gekommene Einsendungen gelesen und die 22 interessantesten Texte herausgesucht. Die ausgewählten Autoren lasen im Finale im November 2011 in Berlin.

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Seitenzahl: 240

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Sie sind alle am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere, nicht älter als 35 Jahre. Die meisten suchen nach einer ernsthaften Herausforderung in der Literaturszene. Dazu haben sie die Chance – als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des open mike der Literaturwerkstatt Berlin.

Der open mike ist ein internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. Schon längst ist er über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt.

Viele Autoren, deren Namen heute im Literaturbetrieb bekannt sind, haben ihre Karriere beim open mike in der Literaturwerkstatt Berlin gestartet. Dazu gehören zum Beispiel Zsuzsa Bánk, Nico Bleutge, Karen Duve, Rabea Edel, Julia Franck, Björn Kuhligk, Terézia Mora, Tilman Rammstedt, Kathrin Röggla und Jochen Schmidt.

Sechs Lektorinnen und Lektoren aus renommierten Verlagen – Thorsten Ahrend (Wallstein), Petra Gropp (S. Fischer), Annette Kühn (luxbooks), Manfred Metzner (Das Wunderhorn), Lina Muzur (Carl Hanser), Sara Schindler (Kein & Aber) – haben riesige anonymisierte Textberge abgetragen, sich durch 700 in die Wertung gekommene Einsendungen gelesen und die 22 interessantesten Texte herausgesucht. Die ausgewählten Autoren lasen im Finale im November 2011 in Berlin.

Der 19. open mike ist eine Gemeinschaftsveranstaltung der Literaturwerkstatt Berlin und der Crespo Foundation.

In Zusammenarbeit mit der WABE und dem Allitera Verlag.

19. open mike

Internationaler Wettbewerb

junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de
November 2011
Allitera Verlag
Ein Verlag der Buch&media GmbH, München
© 2011 Anthologie: Buch&media GmbH, München
© 2011 Texte: bei den Autoren Umschlagbild: allstars design
Umschlaggestaltung: Alexander Strathern, München
Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany · ISBN 978-3-86906-224-2

Inhalt

Kathrin Schmidt Vorwort

Christina Böhm Platzanweisung

Nadine d’Arachart & Sarah Wedler Wenn du es kommen siehst …

Roman Ehrlich Ein Gesuch

Daniel Erning halb oder gar nicht

Joseph Felix Ernst Dora Diamant

Philipp Günzel Gedichte

Johanna Hemkentokrax Ausschüttung

Stefan Köglberger Lichter

Anja Kootz Im Rauschen des Wassers

Lisa Kreißler Muttertier

Isabelle Lehn Anderswo

Tristan Marquardt Gedichte

Meter Mütze Schorf

Peter Parczewski Die Ameise

Ann-Kathrin Roth Bierpferdchen und Cowboys

Michael Sieben Der Pansen

Jan Skudlarek regenpanoramen : elektrometeore

Manuel Stallbaumer Gedichte

Janna Steenfatt Somebody in Texas loves me

Sebastian Unger Gedichte

Charlotte Warsen Gedichte

Janin Wölke Gedichte

Die Autoren

Die Jury

Die Lektoren

Preisträger und Jury 1993–2011

Kathrin Schmidt

Vorwort

Ach, sie lesen um die Wette?

Das ist ja interessant. Unterliegt doch dem Rennwett- und Lotteriegesetz der Bundesrepublik Deutschland, wenn es in Berlin stattfindet. Oder?

Zwar schließt der Fluss Oder den Geltungsbereich des Gesetzes nach Osten hin ab, aber um ihn soll es hier nicht gehen. Vielmehr zielt das Frage-Oder auf den Begriff der Lotterie, des Glücksspiels, dem jeder, der noch keine Erfahrung mit dem Wettlesen sammeln durfte, erst einmal aufsitzt. Und das nicht ganz zu Unrecht, denn es wird schon so sein, dass die Aufmerksamkeit von Juroren durch ein misslungenes Frühstück, ein Leseerlebnis am Vortag oder den Ärger über die Liebe im Allgemeinen wie im Besonderen beeinflusst wird. Immer spielen sehr persönliche Momente und Gschmäckle bei Entscheidungen für oder gegen Texte mit, das gebe ich, wenn auch nicht gern, zu. Trotzdem hat das openmike-Wettlesen in den Jahren seines Bestehens ernst zu nehmenden Autoren ein Entdecktwerden erleichtert. Da muss also weitab von den Zügeln des Glücksspiels ein verlässliches Ross stehen, das darauf wartet, gesattelt zu werden von den Jungen. Nicht älter als fünfunddreißig zu sein, ist kein Kunststück, sondern eine Bedingung für die Teilnahme am Wettbewerb. Nun gibt es Autoren, die mit fünfunddreißig den Zenit ihrer literarischen Laufbahn längst überschritten haben, man muss nicht Rimbaud heißen, um das Schreiben mit einundzwanzig Jahren aufzugeben. Man muss aber auch nicht mit siebenunddreißig sterben, wenn man leer ausgeht beim open mike. Unter dieser Voraussetzung kann man sich dem Wettbewerb durchaus stellen, finde ich. Wenn man so gestrickt ist, dass es einem nicht die innersten Maschen auftrennt, wenn man begutachtet wird von vermeintlichen Größen der Literatur wie des Geschäfts. Dabei ist zu bedenken, dass sowohl der Mangel als auch der Überschuss an Selbstbewusstsein zyklischen Krisen unterworfen ist. Was in dem einen Jahr gut ist, kann sich im nächsten als hinderlich erweisen. Der Laissez-faire der 68er focht gegen den autoritär vermieften, piefigen Erziehungsstil der Fünfzigerjahre und wurde später von den so Erzogenen selbst abgelehnt, die sich nach Ruhe, Ordnung und überschaubaren Regeln zu sehnen begannen. Zwar nicht den Vorgängerstil wiederhaben wollten, aber, folgt man zum Beispiel den Entwicklungsgesetzen der materialistischen Dialektik, auf höherer Stufe den Stil ihrer Eltern aufzuheben gedachten. So ähnlich geht es dem Selbstbewusstsein: In diesem Jahr hat der geniale Stotterer alle Sympathien, im kommenden dann der performer, der seine Literatur zelebriert wie ein Göttlein. Es sollte klar sein: Die Qualität eines Textes hängt von der nach außen vermittelten Selbstsicherheit des Autors in keinem Fall ab. Lassen wir also die Texte sprechen. Das tun sie aber beim open mike, wie der Name verheißt, durch den Mund des Autors, und auch das macht ein Wettlesen zumindest anfällig für Lotterie und ihre Gesetze.

Lassen wir das. Konzentrieren wir uns auf das verlässliche Ross, das bereitsteht. Von den Juroren gestriegelt mit den Bürsten jahrelanger Leseerfahrung, vom Literaturbetrieb gefüttert mit dem von der Spreu getrennten Hafer der Möglichkeiten, von der Öffentlichkeit hin und wieder mit einem Zuckerchen bedacht, steht es und wartet auf seinen Einsatz. Vielleicht ist es ein bisschen viel verlangt, wenn ich sage, die Autoren sollten einander Steigbügelhalter sein? Einer die anderen stützen, sie schützen beim Ritt auf dem Ross? (Es kommt ja, wie gesagt, nicht darauf an, die beste Figur zu machen da oben.) Das Wort »Steigbügelhalter« ist im Deutschen pejorativ besetzt, dabei könnte es in der relativen Aufgeregtheit des Wettbewerbes, wenn man sicher nicht auf seine Füße achtet, sondern mit dem Kopf jedes Wort vor dem Aussprechen noch einmal auskostet, durchaus hilfreich sein, jemand hielte den Bügel zum Aufsitzen. Stellte das Glas Wasser bereit, drückte den Lesenden vor seinem Auftritt. Schriftsteller sind Individualisten, hört man immer wieder, aber gerade in der Generation der Jüngeren kann ich solch eigenartige Abgrenzung voneinander, auch über Altersgrenzen hinweg, nicht recht ausmachen. Das ist schön zu beobachten, wenn auch die zyklische Krise in diesem Bereich sicher nicht auf sich warten lassen wird …

Über siebenhundert Einsendungen hat es gegeben zum diesjährigen open mike. Haben es nun zweiundzwanzig Stücke Literatur oder zweiundzwanzig Autoren geschafft und die erste Auswahlhürde über die kompetent besetzte Vorjury genommen? Übrigens ohne hohes Ross. Ich entscheide mich salomonisch: Diese zweiundzwanzig Stücke Literatur erscheinen hiermit zum ersten Mal, waren beim Antritt noch ganz an den Autor gebunden und hatten den Höhenflug in die Publizität erst vor sich. Mit diesem Buch lösen sich Texte und Verfasser voneinander. Während Letztere in jedem Fall bleiben, ist das Schicksal Ersterer nicht ganz gewiss. Vielleicht werden sie verglühen beim Eintritt in die irdische Atmosphäre – oder sollte ich besser sagen: in den Geschäftskosmos? –, vielleicht aber auch ganz, stückweise oder in neuen, ungeahnten Erweiterungen das beleben, was das Verständnis von Literatur gegenwärtig ausmacht.

Christina Böhm

Platzanweisung

Als ich aus dem Büro der Dramaturgin kam und mir die Dramaturgin gesagt hatte, dass sie mein Stück nicht wolle, einfach nicht wolle, da hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich in eine Schleife gerate, so eine Möbius-Schleife, eine Unendlichkeitsschleife, wie dieser U-Bahn-Waggon in Argentinien, der für alle Ewigkeit unter Buenos Aires im Kreis fährt, weil die U-Bahn-Gleise die Form einer Schleife haben.

Da kam so ein Ticken in meinen Kopf, und als ich wieder in der Bahn saß Richtung München, wusste ich, dass ich für alle Zeiten auf diese Art ticken würde, pendelnd zwischen München und Wien, wenn nicht sofort etwas passierte. Es klingt wie silberne Taschenuhren, es klingt wie leere Patronenhülsen. Man muss das durchbrechen, irgendwie durchbrechen, und zwar sofort. Man muss raus, auch wenn hier die Fenster aus Sicherheitsglas sind, das man nur am roten Punkt einschlagen kann.

Benutzen Sie das rote Hämmerchen.

Luft zum Atmen, Platz zum Manövrieren. Man muss sich die Gleise neu verlegen, damit sie nicht im Kreis laufen oder in Schleifen. Es wird Zeit, dass wir uns den Platz schaffen, der uns zusteht, aber wahrscheinlich steht er uns gar nicht zu, es steht hier niemandem gar nichts zu, aber das wird sich ändern.

Ich denke, ich gehe dem Dicken nach, wir sind schon fast in Attnang-Puchheim. Ich sage jetzt, dass das ein Oberösterreicher ist, er klingt wie ein Oberösterreicher, und ich hoffte die ganze Fahrt, er würde in Linz aussteigen. Er steigt aber nicht aus in Linz, er stinkt, schiebt seinen Ellbogen auf meine Seite und streckt seine feisten Beine von sich, bis ich keinen Platz mehr habe für meine Knie. Er sitzt neben mir, in einem leeren Waggon, und beweist mir, dass sein dicker Körper wichtiger ist als meiner. Aber das beweist mir nur, dass er zu viel ist, dieser eine ist heute einer zu viel, und das wird sich ändern.

Das ändert sich jetzt.

Zu seinem Unglück ist er breit, aber nicht hoch, sein Nacken ist in günstiger Höhe, und bevor seine Arme nach hinten rudern können und mich erreichen, ist mein Knie in seinem Kreuz. Die Klotür ist hilfreich, die Klotür klemmt ihn ein und schirmt uns ab. Er ist fast nicht totzukriegen mit meinem bisschen Kraft, ich denke, ich mache das wie Mr Ripley, aber es ist schwierig, jemanden zu strangulieren. Es gibt auch Geräusche, aber das Kinderkino überdeckt das schon. Es ist ja auch niemand da, der sich über die Geräusche hätte wundern können. Trotzdem bekomme ich eine Heidenangst, ich könnte ihn nicht ins Klo hineinbringen, es rumpelt zwischen den Waggons, und ich denke, dass er sich noch aufrappeln wird, er rappelt aber gar nicht mehr.

Und das Ticken, dieses verhängnisvolle Ticken, das ist erst einmal weg.

Ich denke, ich hake den Riemen wieder an meiner Laptoptasche fest, es sind Hautschüppchen dran von seinem Hals, aber ich blase alles weg von meinem Laptoptaschenriemen und ich ekle mich noch immer nicht. Stattdessen stelle ich mir vor, der Dicke sitzt im Speisewagen.

»Wir haben uns das anders vorgestellt«, sagt die Dramaturgin, »das ist jetzt so ein well-made-play, Ihr Text, der ist so plotdriven. Das ist« – ich denke, sie wird etwas von Establishment sagen, so eine Achtundsechzigerphrase, aber dazu ist sie zu jung, sie ist maximal so alt wie ich, und es liegt an meiner geistigen Vergreisung, dass ich an solche Begriffe überhaupt denke. Ich bin zu alt, deshalb ist für mich auch kein Platz an dieser – »Es heißt ja lab, wir experimentieren hier doch, was soll diese Kausalität auf einmal in Ihrem Text? Dekonstruktion, wissen Sie, Nonlinearität. Motivation ist wunderbar, man darf es nur nicht so aneinanderreihen, so psychologisch, nur damit es am Ende eine Bedeutung erzwingt. Das Fragmentarische fehlt mir bei Ihnen, ich sehe das nicht bei Ihnen. Haben Sie einmal mit Textflächen gearbeitet?«

Sie schaut mich an und sagt: »Das Kleist-Jahr ist durch. Das ist als Thema durch. Das ist durch, das Thema.«

Hat dich jemand hier willkommen geheißen?

Hat dich jemand im Leben begrüßt?

Diese Ich-Aussparung, dieses körperförmige Loch in der Welt, wie in den Comics, das gibt es nicht für dich. Glaubst du wirklich, wir haben auf dich gewartet? Wenn du nicht wärst, hätten die anderen mehr Platz. So einfach ist das, du stehst uns im Weg. Dir steht nichts zu, und freiwillig geben wir dir nichts ab. Wir geben dir, was wir wollen. Aber gibt dir jemand, was du willst, Sex oder Geld oder einen Käsecracker, genau jetzt, wo du es dringend bräuchtest? Geh erst mal nach hinten, ans Ende der Schlange. Du wartest auf einen Arzttermin und du wartest auf einen Installateur, du wartest sogar in der Notaufnahme, ob dir das Blut übers Gesicht rinnt oder nicht. Du wartest auf einen Platz im Kindergarten und auf ein Bett im Altersheim, auf eine Wohnung mit Balkon, einen Studienplatz oder gewinnbringende Aktien. Wie lange hast du gewartet, dass jemand kommt und deinen Internetanschluss einrichtet, dein Kabelfernsehen, deine Sat-Antenne, deine Infrarotsauna? Bis jemand deine Einbauküche montiert, deinen Gasherd, deinen Treppenlift? Es war immer einer vor dir da, stell dich an, zieh eine Nummer. Du bist werdende Mutter? Psychologiestudentin? Tibetischer Exilant? Lern die Regeln, es ist dein Problem, wenn du die Sprache nicht verstehst, wenn du blind bist oder taub oder Rollstuhlfahrer, es gibt einfach zu viele von uns. Es liegt an der Überbevölkerung und an der Weltwirtschaftskrise, wir stehen einander im Weg, nehmen einander die Jobs weg und die Aufenthaltsbewilligungen und die Sitzplätze und die Stückaufträge.

Kein Platz.

Die Jungen sind zu viele und die Alten werden zu alt. Wenn du einen Job suchst, werden Stellen abgebaut, wenn du in Pension gehst, sind die Staatskassen leer. Deine Praktika sind unbezahlt und trotzdem überlaufen, du hast deine Lehrstelle nicht bekommen und studieren darfst du nur in Graz. Für dein Baby gibt es im Zug kein Stillabteil, am Samstagabend ist dein Lokal immer zu voll, und die Konzerte, egal welche, sind immer ausverkauft, wenn du mal rausgehen möchtest, um Musik zu hören. Das nennt man Effizienz, und die Arbeitsämter und die Universitäten und die Parkplatzwächter sind sich darin einig, möglichst viele von uns abzuwimmeln.

Wir denken immer, es liegt an uns. Du warst im falschen Kindergarten, in der falschen Schule, im falschen Unternehmen. Du wohnst im falschen Bezirk. Du hattest die falschen Freunde und die falschen Noten, die falschen Eltern sowieso, aber sonst – Du denkst, dein Leben wäre anders verlaufen, wenn du zum richtigen Zeitpunkt in dieses eine Seminar hineingekommen wärst, in diese eine Fortbildung, diesen einen Englischkurs? Wenn du in die Meisterklasse hineingekommen wärst, in den Workshop bei Wim Wenders oder Wim Vandekeybus oder von sonst jemandem, alles wäre besser, aber es muss passieren, bevor du dreißig bist, weil danach ist es vorbei?

Ich möchte jünger sein und schlanker, ich möchte lieber Mann sein als Frau, lieber Franzose als Deutscher, ich möchte gesund sein und nicht krank, ein Stadtmensch, ich möchte kleiner und dicker sein, lieber Spanierin als Italienerin, ich möchte lieber Frau sein als Mann, lieber depressiv als schizophren, ich möchte Weltbürgerin sein, klüger, gebildeter, dümmer, unbefangener, ein Naturkind, ungebildet, unbeleckt, ungeformt, aber Tatsache ist: Ich bin ich, und ich habe hier keinen Platz.

Die Dramaturgin sagt: »Das Thema muss knallen. Ich sage ja nicht ›Feuchtgebiete‹, wissen Sie, aber knallen sollte es schon. So etwas wie ›Arizona Roadkill‹« – ich glaube, das Buch heißt anders, aber sie sagt es mit Überzeugung – »die Stückfassung spielen sie gerade am Thalia Theater. So etwas kann man verkaufen. Schreiben Sie so etwas.«

Ich weiß nicht, was ich für ein Gesicht machen soll.

Ich versuche, mir nicht ansehen zu lassen, dass ich mich gerade sehr alt fühle, und das gefällt mir nicht. Aber Arizona gefällt mir, das erinnert mich an Tombstone und an Wyatt Earp. Ich will keine mickrige Handfeuerwaffe, eher so etwas, was Wyatt Earp im Arm trägt. Ich nehme an, es ist eine Schrotflinte.

Sie sagt: »Wissen Sie?«

Sie sagt: »Wissen Sie, es gibt ja immer Konferenzen. Da entscheidet ja nicht ein Einzelner, nicht im Verlag und nicht am Theater. Da entscheiden mehrere, und die Pressefrau ist am wichtigsten. Ohne Presse kein Vertrieb. Ohne Vertrieb kein Buchhandel, ohne Buchhandel keine Literatur. Schreiben Sie etwas, wo die Pressefrau sagt: Ja.«

Ich denke, dass bei mir alles trocken ist, staubtrocken, ich fühle mich wie die Wüste von Arizona. Meine Augen sind so trocken, dass ich sie eintropfen muss, wenn ich die Kontaktlinsen tragen will, das nächste Feuchte bei mir ist die Verwesung. Die Verwesung räumt dich endgültig zur Seite, und sie beginnt im Darm. Die Bakterien, die uns verdauen helfen, verdauen am Ende uns selbst, wir werden langsam grün unter der Bauchdecke und darüber, aber Grün ist eine Lieblingsfarbe von mir, wenigstens das. Früher war es Schwarz. Im Kindergarten war die Tante unglücklich, weil ich schwarze Blumen malen wollte. Jetzt hat sich mein Geschmack geändert und ich stehe mehr auf Grün. Nur gönne ich es diesen Bakterien nicht, dass sie sich auf meinem Territorium breitmachen, ich gönne das niemandem mehr. Ich bin Arizona und New York City, ich bin Area 51 und die Mafia in Las Vegas, ich bin territorial.

Zwischen Travis Bickle und Michael Corleone entscheide ich mich für Michael Corleone. Nicht Sex zu haben mit Michael Corleone, sondern Michael Corleone sein. Einmal ein verfluchter Kerl sein. Einmal die Welt ändern, und zwar auf die einfache Art. In ein Lokal spazieren und die Feinde erledigen und die Welt ist geändert. Der Lauf der Welt geändert, die Umlaufbahn in meine Richtung, auf die Gefahr hin, dass einem der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Ich möchte meine Kontur in die Welt schießen wie Bugs Bunny seinen Umriss in der Wand hinterlässt. Ich trage einen roten Seidenanzug, ich sitze in einem braunen Ledersofa, Don Corleone, um nach getaner Arbeit in einer veränderten Welt zu entspannen. Es müssen alle weg, die mir sagen, was ich nicht hören will, alle, die die Welt hässlicher und dümmer machen, alle, die im Weg stehen, die in der Schlange weiter vorne sind, die zu laut sind oder zu leise, oder einfach sonst zur falschen Zeit am falschen Ort.

Ich erschieße zuerst die Dramaturgin mit der Architektenbrille, das geht relativ leicht, und dann gehe ich hinaus, und da sitzt der schnöselige Volontär neben dem Kopierer, das heißt, mittlerweile ist er aufgestanden, weil er den Lärm gehört haben muss. Ich erschieße auch den Volontär. Sekretärin haben die nicht, das können sie sich nicht leisten. Auch die Buchhalterin kommt nur ein paar Stunden die Woche, deshalb dauert es jedes Mal ewig, bis sie ein E-Mail beantworten oder das Telefon abheben, aber das hat sich jetzt wohl erledigt.

Dann gehe ich hinaus auf die Straße und erschieße zwei hässliche Frauen, weil ich selbst hässlich bin und mich diese Durchschnittlichkeit den letzten Nerv kostet. Dann erschieße ich eine schöne Frau, einfach weil ich ein böser Mensch bin, und dann habe ich keine Munition mehr.

Ich denke, dass das jetzt abscheulich von mir war und dass ich Tote abstoßend finde.

Ich habe Schwierigkeiten mit der Zerstörung von Materie. Ich finde es hässlich, etwas Ganzes kaputt zu machen, in seine Einzelteile zu zerlegen, ich trauere um meine Kaffeetasse, die in der Küche auf den Boden gefallen ist.

Ich trauere auch um die braunen Untersetzer, weil man die nicht mehr nachkaufen kann. Meine Mutter hat sie leichtsinnig als Katzenschüsseln verwendet, und die Katze hat sie leichtsinnig kaputt gemacht. Niemand hat daran gedacht, dass ich die braunen Untersetzer sehr gut gebrauchen könnte, zum Abstellen von Kaffeetassen. Dabei sind zerbrochene Untersetzer noch nicht einmal abstoßend im engeren Sinn, sie sind nur ein trauriger Anblick, und vielleicht wäre die zerbrochene Dramaturgin auch irgendwie traurig, wenn man darüber hinwegsehen könnte, dass Wyatt Earp ihr ein Loch in den Bauch geschossen hat. Aber ich fürchte, darüber komme ich nicht hinweg. Die meisten Menschen haben mit Leichen ihre Probleme, und wenn man schon mit Lebendigen nicht zurechtkommt, kann man sich ausmalen, wie wenig man mit Toten zurechtkommen würde. Der einzige Vorteil, den ein Toter gegenüber einem Lebendigen hat, ist, dass er nicht mehr lebt. Dafür stellen sich andere Eigenschaften ein, die ein Auskommen schwierig machen.

So stelle ich mir das vor, aber es ist alles geborgt, nur mein Opa ist tot in meiner Erfahrung, und die Tochter unserer Nachbarin, und beides waren Feuerbestattungen.

Nicht einmal meine Vorstellungskraft hat die Flügel, die ich als Kind gerne gehabt hätte.

Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, als ich gesprungen bin, außer dass das Dach ziemlich hoch ist. Sehr hoch war es, wenn man oben stand, aber Kinder schreckt das nicht. Ich habe mir den Knöchel kaputt gemacht, mir war schlecht, und ich lag da, ewig lange, bis meine Tante kam. Die Vorstellung, die man beim Springen hat, die ist ja, dass man fliegen wird. Mit einem Schirm wie Madita oder mit einem Flugdrachen oder mit diesem stoffbespannten Holzrahmen, den ich verwendet habe. Ich glaube, da kam eine Windböe, die hat mich ein Stück weit verweht, aber dafür war es dann unten umso härter, weil das Gras schon aus war und der Betonweg angefangen hat. Unfassbar schlecht war mir, und ich bin eingeschlafen oder ich war ohnmächtig, und dann erst kam meine Tante. Und ich denke immer, sehr oft denke ich das, ich liege da und kann nie mehr wieder aufstehen. Und es kommen fremde Truppen und ziehen an mir vorbei, und dann unsere eigenen, ich liege zwischen den Linien wie in »Krieg und Frieden«, wenn die Husaren kommen, werden sie mich ausplündern und abstechen. Es kommen dann aber gar keine Truppen, ich stelle mir vor, ich stehe auf, und der Fuß hängt hinunter, weil er nur mehr an einem Fetzen hängt, und nicht einmal die marodierenden Russen können mich jetzt noch dazu bringen, davonzulaufen. Der Fuß hängt und ich denke, es liegt daran, dass man nicht fliegen kann. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre nach Linz ins Krankenhaus gekommen, dann hätten mir die wahrscheinlich das Bein gleich abmontiert, und in der Charité sogar das falsche Bein. Dabei kann man wunderbar leben ohne Bein, es ist absolut kein Beinbruch, kein Grund für irgendwelche Neurosen. Und im Notfall, im äußersten Notfall würde ich bei einer Bettlergruppe anheuern und mich auf die Straße setzen lassen, damit die Leute einmal sehen, wie hart einen das Schicksal treffen kann.

Ich schlage der Dramaturgin die Geschichte mit dem fehlenden Fuß vor, aber es gefällt ihr nicht, genauso wenig wie der Amoklauf.

Sie sagt: »Warum wollen Sie sich denn das Bein abmontieren? Die Brust müssen Sie sich abmontieren, kennen Sie nicht diese New Yorker Fotografin? Das ist ein ganz eigener Look, da muss man gar nicht Brustkrebs haben. Denken Sie an die Amazonen.«

Ich weiß nicht, ob das für ein Todesurteil reicht, ich bin schon wieder dabei, das alles zu hinterfragen.

So kann man nicht schießen, das ist mein Unglück.

So kann man nicht leben, ökonomisch nicht und psychologisch nicht.

Clint Eastwood hat immer zuerst geschossen, manchmal bekam er Geld dafür, und Gene Hackman war oft als Richter angestellt, das schaffe ich wohl nicht mehr. Vielleicht ist es unsere Schwäche, dass wir über uns nachdenken und über das, was wir tun, während die Welt uns vor vollendete Tatsachen stellt und wir wissen, im Grunde sind wir lahm, wir sind lahme Enten, und unsere Selbstkritik ist die Tarnung einer universellen platzgreifenden Lähmung. Wir rollen auf unseren Wägelchen durch die überfüllten Straßen und betrachten die Dinge von unten. Nicht von ganz unten, dazu fehlt uns die Bodenhaftung, aber auch nicht von oben, wie ein einsamer Reiter in der Wüste von Arizona, den Cigarillo im Mundwinkel. Wir rollen stupide gelähmt, während die Welt über uns hinwegrollt, und während das Wägelchen immer weiter abwärtsfährt, glauben wir, wir gewinnen an Schwung. Wir rollen in unsere bewachten Parkplätze, wir ziehen uns zurück in unsere Nischen, wir machen Platz und weichen aus und halten uns für gute Menschen, während wir in unseren Kämmerchen elend zugrunde gehen, an Sauerstoffmangel und an mangelnder Bewegung.

Der Dicke neben mir räkelte sich im Sitz, und ich denke, warum muss sich ein Dicker ausgerechnet neben mich setzen, in einem leeren Zugabteil, wo ich gerade den schlechtesten Tag meines Lebens hatte.

Etwas tickt in meinem Kopf.

Ich denke, das sind nur die Tarifkilometer der Bahn, die an mir vorüberziehen, meine ablaufende Lebenszeit.

Nadine d’Arachart & Sarah Wedler

Wenn du es kommen siehst …

Im Spülstein verlaufen die dicken, roten Tropfen zu kleinen Bächen. Ich presse den Handrücken auf meine Nase und muss einen ganzen Schwall Blut schlucken. Das Klopapier, das ich mir ins Gesicht drücke, saugt sich voll, und mir wird vom metallischen Geruch meines eigenen Blutes schlecht. Ich frage mich jetzt schon, wie ich mein T-Shirt wieder sauber kriegen soll, blinzle den Tränenschleier weg und suche nach Seife oder Shampoo. Alles, was wir haben, ist eine verstaubte Flasche Duschgel, deren gelbes Etikett sich an den Seiten einrollt, als ob es davonlaufen wollte. Nach der Anwendung fühlen Sie sich frisch und belebt. Klar. Hilft das Zeug auch, wenn einem mit voller Wucht der Nasenrücken ins Gehirn gerammt wurde?

Draußen, im Rest der Wohnung, ist schon wieder Stille eingekehrt. Wenn man sich erst gut genug kennt, werden Gespräche unnötig. Meine Eltern sind seit dreißig Jahren verheiratet und haben das Reden schon lange aufgegeben. Ich war ein Unfall, eines dieser Kinder, die eigentlich nicht kommen sollten. Aber dann, wie es manchmal so läuft im Leben, riss das Gummi und die Sache blieb so lange unbemerkt, bis es für eine Abtreibung zu spät war. Und schon war ich Teil dieser Welt und alle seufzten: »Na den hätte’s ja nicht gebraucht.« Sechs Jahre später kam mein Bruder Basti auf die Welt – er war ein Wunschkind.

Aber was soll’s? Jetzt bin ich nun mal da und muss das Beste daraus machen. Ich habe mal gelesen, dass Backpulver gegen Blutflecken helfen soll, doch ich habe keine Chance, an welches ranzukommen. So kann ich unmöglich nach draußen gehen, um einzukaufen, und ich bezweifle, dass meine Mutter welches hat – ich habe sie noch nie backen gesehen. Vielleicht fehlen ihr die Anlässe dazu, vielleicht sieht sie es auch bloß nicht ein, für so einen verkommenen Haufen, wie sie uns gerne nennt, zu backen.

Also bleibt mir nur das gelbe Duschgel. Während ich schrubbe, summe ich die Mondscheinsonate, gehe im Kopf die Noten durch, und der Streit mit meinem Vater tritt langsam in den Hintergrund. Eigentlich war es gar kein richtiger Streit – mehr ein Schlagabtausch.

a-d-f-a-d-f

Er hat erst heute gemerkt, dass ich gestern Geld aus der Haushaltskasse genommen habe. Er wird alt – früher hat es keine Stunde gedauert, bis es was gesetzt hat. Vor gut vier Wochen habe ich angefangen, zurückzuschlagen. Ich habe geglaubt, das würde meinen Vater vielleicht einschüchtern, aber er hat nur gelacht, ist vor mir durch den Raum getänzelt wie ein Boxer im Ring und hat eine große Show aus der Sache gemacht.

b-es-g, mit Dramatik in der Bindung

Die einzige Zuschauerin war meine Mutter. Basti war zum Glück noch in der Schule. Wenn er zu viel von dem mitbekommt, was hier läuft, nässt er ins Bett, und wenn er das tut, ist er Vaters nächster Sparringspartner.

Ich halte das nasse T-Shirt gegen das Licht. Die Blutkleckse sind ganz hell geworden. Wenn Angela mich nachher fragt, werde ich einfach erzählen, dass ich mein rostiges Fahrrad poliert habe. Oder dass es Spaghetti mit Tomatensoße gab. Wenn sie erfährt, wie es bei uns zu Hause läuft, wird sie sicher irgendwen herschicken. Dann erfahren meine Eltern, wofür ich das Geld aus der Haushaltskasse nehme, und mit meinen Besuchen bei ihr ist endgültig Schluss.

Also muss ich Geschichten erfinden – Geschichten, die friedlich und nach Mittagessen und Fahrradtouren klingen. Ich bin zufrieden mit meiner Ausrede, wringe mein T-Shirt aus und lege es zum Trocknen über die Heizung. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich aussehe wie ein Clown. Ich weiß nicht, wie ich Angela das erklären soll. Es gibt ein Babyfoto von mir, da ist meine Nase ähnlich dick und rot. Immer wenn jemand fragt, erzählen meine Eltern, ich sei vor einen Schrank gekrabbelt. Vielleicht benutze ich diese Ausrede nachher auch – nur ohne das Krabbeln. Ich bin froh, dass ich mich an meine Zeit als Baby nicht erinnere, denn ich kann mir gut vorstellen, wie es war, den ganzen Tag vor sich hin zu dämmern, hinter Rollos, die meine Eltern nie ganz hoch lassen, im dichten Qualm, den sie ausstoßen, zwischen ihren ewigen Streitereien. Alles, was du als Baby tun kannst, ist heulen. Ich werde bald sechzehn. Mit fast sechzehn hat man längst Wege gefunden, um anders klarzukommen.

Als ich das Bad verlasse, schlägt mir die typische Atmosphäre einer Großfamilie entgegen, die dem Alltag resignierend gegenübersteht. Meine Mutter sitzt am PC und klickt mit monotonen Bewegungen auf der Mouse herum. Mein Vater steht mit einer Bierflasche auf dem Balkon. Sein Kopf ruckt herum, als er die Badtür hört, und er fixiert mich mit seinen kleinen Augen, in denen das Weiße mittlerweile gelb geworden ist. An seiner Unterlippe prangt eine dicke Kruste, und als ich sehe, dass Tränen in seine Augen treten, fliehe ich in die Küche. Wenn Basti aus der Schule kommt, braucht er etwas Warmes. Meine Mutter hat längst aufgehört zu kochen, und meine Schwestern sind beide nicht zu Hause.

»Aber mach nicht wieder alles dreckig.« Mutter sieht nicht mal von ihrem idiotischen Computerspiel auf, um mir Vorhaltungen zu machen. Wahrscheinlich ist ihr mein Anblick unangenehm.

Es dauert eine Weile, bis ich einen sauberen Topf gefunden habe, denn wenn sich meine Mutter einmal aufrafft, um Essen aufzuwärmen, hat sie danach keine Lust mehr, sauber zu machen. Ich verdränge das Klicken der Mouse und das Schluchzen meines Vaters und versuche, mich ganz auf nachher zu konzentrieren, während ich den Topf mit Wasser fülle.

Ich trommle den ruhigen, schweren Rhythmus der Mondscheinsonate