1946: In den Ruinen von Babylon - Carlo Feber - E-Book

1946: In den Ruinen von Babylon E-Book

Carlo Feber

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Beschreibung

Der spannende Auftakt zu einer historischen Krimireihe im Trümmer-Berlin nach 1945 – für Fans von Volker Kutscher  "Sein Blick schweifte zur toten Frau, die hinter den wie ein Gitter gesetzten Backsteinen aufrecht stand. Das erstarrte Gesicht war so blass und seltsam vornehm." Berlin steht 1946 kurz vor den ersten freien Wahlen, als die Leiche der Politikerin Döring gefunden wird. Überraschend wird der heikle Fall dem nassforschen Curt Lanke und den fronterfahrenen Hajo Steinert übertragen. Erst nach und nach begreifen die beiden Kommissarsanwärter, in welch hochgefährliches Spiel um Rache, Verrat und alte Rechnungen sie geraten sind ...

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© Piper Verlag GmbH, München 2020

Redaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München), mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: Shutterstock.com und Pixabay

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

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Epilog

1

In der Spätsommerhitze rochen die ausgebombten Häuser wieder nach Ruß und erloschenem Feuer. Die Linden in seiner Straße hatten die Nachbarn noch im Krieg abgeholzt. Der war jetzt über ein Jahr lang aus. Aber Günni hörte noch immer nachts in seinen Träumen die Fliegersirenen über Steglitz kreischen, dann hielt ihn die Angst lange wach. Aber das durfte keiner wissen, schon gar nicht Atze, der ihn wieder mitgenommen hatte – auf Fang. Außerdem musste er ja jetzt ein Großer sein, wo Vater tot war.

Durch die ausgebrannten Fensterhöhlen zog ein heißer Wind. Er wehte von den Schuttbergen rauen Staub, der feste auf Günnis Haut klebte. Der ging schlechter ab als Straßendreck, fand er, als er sich über die Wange rieb.

»Kiek ma, eine Trümmerbahn vor dem Kino.« Atzes Stimme kippte wieder.

Sein Freund war schon im Stimmbruch. Er deutete vor der Nummer 59 ihre Straße runter zu den ausgeleierten Schienen, die bis um die Ecke in die Ahornstraße reichten. Atze sagte immer noch Kino zum eingestürzten Eckhaus, obwohl nur eine Saalmauer hinter dem Trümmerhaufen aufragte, das Stück, wo mal die Leinwand gewesen war. Günni hatte mit ihm sogar einen Fetzen vom alten Filmvorhang gefunden, als sie im Winter nach Balkenholz gegraben hatten. Der Stoff war leider so zerrissen gewesen, dass Mutter ihn nicht hatte verhökern können. Ein heißer Windstoß fuhr in die schmutzigen Kittel der Frauen, die vom Schuttberg runter Putzbrocken in die Loren der Trümmerbahn warfen.

»Meine Mutter geht auch wieder Steine kloppen.«

»Da vorn?«

»Nee, am Bahnhof Wilmersdorf, da gibt’s Zulage.« Wofür, hatte Günni vergessen. Mutter war immer nur müde und sprach kaum noch mit ihm.

Die Mauerreste vor der 59 warfen zu wenig Schatten. Günni ging am zugenagelten Schreibwarenladen vorbei bis zum Wäschegeschäft in der 56, wo sogar ein neues Schaufenster die Sonne spiegelte.

»Bleib stehen!«

Günni stolperte fast, weil Atze ihn am Hosenträger zur Seite in den Hauseingang zerrte, wo er sich mit ihm in den Schatten drückte.

»Guck mal, vorm Café Schorn«, flüsterte Atze in sein Ohr.

Das lag dem Kino an der Straßenecke gegenüber. Noch bei seinem elften Geburtstag 1944 hatte er dort mit Mutter Kirschtorte gegessen, im ersten Stock. Sogar den Platz vorn im Eckturm hatte er haben dürfen. Der war nun weggebombt, wie die grüne Kupferkuppel auch. Immerhin hatten die ersten beiden Stockwerke überlebt und hinten sogar die Seitenflügel.

»Kolja steht Schmiere.«

Günni spähte die Straße hinunter. Vor dem mussten sie sich hüten. Auch wenn er dünn war wie sie alle, weil es nichts zu fressen gab. Kolja lehnte neben einem Schutthaufen am äußersten Café-Fenster und stellte den rechten Fuß neben das linke Knie an die Hauswand. Von seinen hellblonden Haaren leuchtete nur eine Strähne unter seiner Kappe hervor. »Wenn der sich bei der Hitze was aufn Kopp setzt, passt der wirklich auf.«

»Sag ich ja.« Atze kniff die Lider zusammen, weil er auf die Entfernung nicht so scharf sah.

Kolja kratzte sich am Knie und steckte dann die Hände in die kurze Hose. Früher mal hatte Günni ihn in der Grundschule bei den Großen im Hof gesehen. Dann war Krieg gewesen und viel Schule hatte es nicht mehr gegeben.

Atze rieb sich über den kurz geschorenen Kopf. »Die anderen sind bestimmt nicht weit.«

»Meinste, die passen uns ab?«

Sie hatten noch eine Rechnung offen. Günni wurde flau. Die blauen Flecken an Bauch und Schulter waren noch nicht ganz weg. Kolja hatte schnelle Fäuste, weil sein Vater ihm beim letzten Fronturlaub ein paar linke Haken beigebracht hatte, bevor er in Breslau gefallen war.

Atze stieß Günni an der Schulter. »Guck mal, das Wehrmachtszelt da schräg vorm Kino.«

Er hatte es gar nicht bemerkt, so staubig und niedrig, wie es war. Zwei Gasmänner krochen in blauen Arbeitsjoppen heraus. Sie knieten daneben und legten Rohre zurecht. »Deshalb gab’s früh kein Gas. War gar keine Sperre.« Mutter hatte geflucht, weil sie keinen Muckefuck hatte brühen können.

Atze schlug sich mit dem Handballen an die Stirn. »Die lauern drauf, dass einer von denen sich im Fleischerladen die Straße runter anstellen geht. Ab heute gelten die nächsten Karten. Die Wurst ist immer zuerst weg.« Wenn es überhaupt mal welche gab.

»Und dann lässt Kolja die anderen die Rohre und das Werkzeug klauen. Der eine Gasmann kann nur einem von denen hinterherrennen.«

Günni spähte wieder vom Hauseingang zu Kolja, der sich vorn am Café die Kappe in den Nacken schob und die Ahornstraße hinunterpeilte. Günni schaute Atze in die grünen Augen. »Ob wir uns dranhängen? Und einfach abstauben, was die übrig lassen?«

Atze zeigte ihm den Vogel. »Vorletzte Woche hat dir nicht gereicht? Die sind meist zu fünft, zu sechst. Drei bunkern das Eisenzeug, und drei haben wir auf dem Hals. Da kommt nix weiter rum wie ein Haufen Dresche.« Er legte Günni den Arm um die Schulter und zog ihn langsam aus dem Hauseingang der 56. Atze grinste breit. »Wenn die hier aufs Werkzeug lauern, sind sie nicht dort, wo wir hinwollen.«

Sein Freund wusste also schon, wie sie in das Farbenlager reinkommen würden. »Kürzen wir über die 54 ab.«

Zwei schwitzende alte Männer in Hosen aus grauem Armeestoff zerrten einen Rollwagen voll Holzkisten über den Bürgersteig. »Doprdele!«, fluchte einer.

Atze hielt sich die Nase zu, als sie die beiden überholten. »Die stinken ja noch schlimmer als wir.«

»Mutter versteht nicht, warum Adolfs Zwangsarbeiter nicht längst ab nach Hause sind.«

Atze zuckte nur mit den Schultern. »Meine wundert sich, warum überhaupt noch Leute nach Berlin reinkommen, wo es hier weniger zu fressen gibt als auf dem Land.«

Die 54 war wie die meisten Häuser in ihrer Straße nur halb ausgebombt. Die Nachbarn lästerten wie bei den Lebensmittelkarten über die neuen Rechenkünste: dass es so eine Sache war, wie viel größer heutzutage die kaputte als die andere Hälfte sein konnte.

Vor dem zugenagelten Ladengeschäft in der 54 unten rechts, wo Opa früher seine Schallplatten gekauft hatte, hopsten zwei Mädchen durch Himmel und Hölle. Kreide war eine von den wenigen Sachen, die es genügend gab.

Atze drückte einfach die schwere Tür im Hauseingang auf.

»Schön kühl.« Günni roch Bohnerwachs. Aber das Linoleum auf den Treppenstufen war so verkratzt und stumpf wie bei ihnen in der 42 auch. Er horchte mit Atze nach oben.

»Wir haben Glück«, flüsterte er.

Wenn neue Lebensmittelkarten galten, tratschte niemand mit den Nachbarn. Wer Arbeit hatte, ging später, wer keine hatte, stand auch gleich am zugewiesenen Laden an.

Günni folgte Atze nach oben. Den Stuck im Treppenhaus hatte jemand im ersten und zweiten Stock gründlich abgestaubt.

Auf den Stufen ins dritte Stockwerk blendete Günni das Licht durch die Lücke links in der provisorischen Wand aus Pappe. Im Sommer kümmerten sich die Leute im Haus nicht darum. Rechts die Wohnungstür war grau gestrichen.

»Die Treppe ins vierte haben sie schon verheizt.« Atze deutete auf eine Sägekante, bevor er die Pappe ein bisschen weiter auseinanderbog.

Günni schlüpfte hinter ihm aufs Notdach über dem zweiten Stock. Bei der im dritten übrig gebliebenen Wohnung hatten die Leute die Risse in den Wänden zugestopft.

»Lieber am Rand lang, bin schon mal fast eingekracht.« Atze lief dort, wo sich unter der Dachpappe die Wände abzeichneten, bis zur Hofseite hin.

Günni fühlte den von der Sonne aufgeheizten Teerbelag unter den dünnen Sohlen. Im Hinterhof erhob sich ein Schuttberg. Halb drüber weg, halb drum herum hatten die Leute aus dem Haus einen Pfad frei geräumt. Vom Seitenflügel waren noch die ersten beiden Etagen übrig. Hie und da hing Wäsche auf Leinen in den Fenstern.

»Das stinkt nach verschissenen Windeln.« Atze verzog die Nase.

Hinten im Hof stand ein leerer Waschkessel, unter dem eine Lache verdunstete.

Atze schlich geduckt an der Außenkante über die Teerpappe zur Straßenseite hin. »Ich zeige dir jetzt meinen Spähplatz.«

Günnis Herz hüpfte. Jetzt waren sie endlich richtig Freunde. Er folgte bis ganz nach vorn zu den hüfthohen Mauerresten des dritten Stocks.

Atze kniete sich hin. »Das war mal der Erker im Wohnzimmer von Doktor Felsenstein. Da war ich als Kind wegen Husten.«

Die Seiten und eine halbe Fensterbank waren noch übrig. Die schirmten sie von der Straße unten ab.

Atze hob den Kopf über die Mauerkante. »Von hier kiekst du wie der große schwarze Adler allen auf die Köppe.«

Günni tauchte auch hoch. Die ganze Straße erstreckte sich unter ihm. »Die Frauen schieben gerade die Loren der Trümmerbahn ums Eck.«

Atze kniff die Augen zusammen. »Wichtiger ist, ob Kolja noch Schmiere steht.«

Günni nickte. »Ob wir drüben in der 10 und 12 Gemüse stibitzen können?« Er deutete zur anderen Straßenseite, wo Leute auf den Notdächern oder dem, was vom Nebenhaus übrig war, Kübelgärten angelegt hatten, mit Erde, die sie aus den Parks hergeschafft hatten, und wo sie Gemüse und Kaninchenfutter zogen.

Aber Atze riss ihm den Arm runter. »Tarnung, Kamerad!« Er rollte mit den Augen. »Wohl alles vergessen, was sie dir als Pimpf beigebracht haben.«

Günni kauerte sich in den Halbschatten des Erkerrests.

»Schlaumeier. Was glaubst du, warum ich hier hocke?« Atze hob den Zeigefinger. »In der 10 hockt ’ne Olle den ganzen Tag dabei und gießt für die Nachbarn mit. In der 12 humpelt einer mit ohne Bein herum und zuppelt an den Pflanzen.«

Günni hob den Kopf über die Erkerkante. »Und in der 4 hinten, der zugewachsene Balkon?«

»Blindgänger.« Atze pikte ihn fest auf den großen Knopf des Hosenträgers mitten auf dem Rücken. Es tat richtig weh. »Dort hast du schon in die Kissen gefurzt. Wer wohnt noch mal über uns in der 4?«

Günni ließ sich gegen den Mauerrest sinken und stöhnte. »Deine Tante Else.« Er hob das Kinn. »Von oben sieht aber alles anders aus.«

»Los, weiter! Sonst kommen noch andere auf den Trichter mit dem Farbenlager.« Atze drückte sich aus den Knien hoch, blieb aber in der Hocke wie zum Startschuss beim Laufen und hielt die Finger auf die raue Teerpappe gestützt. Er kniff die Augen zusammen. »Da hinten stimmt was nicht.«

Günni folgte seinem Blick quer über das Notdach. Die Ecke gegenüber verdunkelte der Schatten des dritten Stocks. Zu ihr hin stieg der Rest der Außenmauer an der Hofseite langsam ganz auf Zimmerhöhe auf und schloss an die geflickten Wände der übrig gebliebenen Wohnung an. Der Kaminzug hatte das wohl zusammengehalten.

In dem Winkel lagen abgeklopfte Backsteine wie sonst an den Trümmerbahnen im Sonnenschein. »Baut hier der Hausbesitzer schon auf?«

»Quatsch.« Atze schlich die Längsseiten auf die dunkle Ecke zu. »Aber ich sage dir, da hat vorgestern nur der Kamin aufgeragt, als ich hier auf Lauer gelegen habe, und nicht das dort.«

Je näher sie dem neuen Mauerstück kamen, desto langsamere Schritte machte Atze vor ihm. »Die Backsteine sind nur auf Lücke aufeinandergesetzt.«

Günni hatte das schon mal geübt. »Genau wie bei der HJ, wenn wir einen Horchposten für den Städtekampf auf die Schnelle hochgezogen haben.«

Atze streckte den Arm nach vorn aus. »Da schimmert was.«

Zwischen den staubigen Backsteinen glänzte es hellblau. Sie blieben beide gleichzeitig stehen. Das war Kleiderstoff … Da stand jemand!

»Der beobachtet uns.« Günni packte Atze an der Schulter. »Lass uns abhauen.«

Der schüttelte sich aber los. »Warte«, sagte er leise.

Günni schluckte. So viel Mut wie sein Freund hätte er nie.

Atze machte noch ein paar vorsichtige Schritte voraus. Er lugte einfach auf der Höhe des hellblauen Stoffs zwischen den Steinen ins Dunkel und winkte Günni mit einem großen Armzug durch die Luft zu folgen.

Atzes grüne Augen glänzten vor Abenteuerlust. »Ich fress ’nen Besen.«

Günni drückte sich neben ihn und war froh, ihn so nah bei sich zu spüren. Er richtete den Blick auf das Hellblau hinter der Lücke in den Backsteinen. Eine Frau? Ein glänzender Faltenrock, eine Lederhandtasche … Günni zuckte zurück. Die Frau sagte gar nichts und war wie eingemauert, so eng war es hinter den Steinen.

»Die Olle macht uns nichts mehr.« Atze legte ihm die Pranke schwer auf die Schulter. »Die ist tot.«

Günni wagte noch einen kurzen Blick. Die Handtasche lag auf ihr wie vom Arm eingeklemmt. »Vielleicht ist die Frau nur ohnmächtig.«

»Quatsch, die wäre längst in die Knie gesackt. Außerdem könnte die mit dem vors Gesicht gerutschten Hut kaum atmen.« Atze beugte sich tiefer für einen anderen Blickwinkel. »Die ist tot, so starr, wie ihre Hand vor der Brust in die Luft ragt.«

Günni nickte. Letztes Jahr, im Bombenhagel, wenn sie aus den Bunkern gekrochen waren, da hatte Günni viele steife Arme und Beine gesehen, weil einfach keine Zeit für die Erwachsenen geblieben war, die Toten wegzuschaffen oder abzufackeln.

»Vielleicht hat die Reichsmark in der Handtasche.« Atze fingerte an einem Backstein auf Hüfthöhe der Toten herum.

Günni linste hoch zum Hut. Sogar die weiße Feder war noch sauber.

Atze legte den Stein neben seinen Fuß auf die Teerpappe. »Was glotzt du so? Wenn wir es nicht machen, tun’s andere. Die kann ihr Geld sowieso nicht mehr ausgeben.« Atze prüfte, welcher Backstein noch leicht zu lösen war. »Hilf mir!«

Günni kniete sich hin. »Handtaschen kann man auch verhökern.« Seine Mutter hatte ihre alle gegen Essen eingetauscht.

Atze lockerte noch einen. »Mehr geht nicht, sonst kracht uns das auf die Omme.« Er langte durch die Lücke und zog an der Handtasche. »Mist, die Olle hat sie doch über den Ellenbogen gehängt. Gib mir dein Messer, die Lederschlaufen sind nicht dick.«

Günni fasste in seine Hosentasche.

Heißer Wind zog über das Notdach. Der Hut rutschte der Frau ganz vom Gesicht herunter und kippte vor den braunen Schnürschuh. Günni beugte sich an Atze vorbei und lugte hoch. Sie war alt. Ihre Lider waren blau geschminkt und hingen schwer herab. Braune Locken kräuselten sich um die Stirn, eine davon machte ein großes S über dem linken Auge. Der Mund war spitz und schmal wie bei seiner Cousine Berta. Nur trug die nie roten Lippenstift. Günni erschauderte auf einmal. »Das ist die Apothekerin. Ich kenne die.«

Atze zog die Stirn kraus. »Woher?«

»Bei der hat Mutter mir mal Fieberpulver organisiert, im Krieg. Die wohnt hier irgendwo.«

»Mist.« Atze ließ die Schultern hängen. »Wenn die in unsere Straße gehört, lassen wir die Tasche lieber dran. Sonst erkennt die noch einer, wenn Mutter sie verhökern geht.«

Selbst machen konnten sie das kaum.

»Der bleibt dann besser auch hier.« Atze schnippte den Hut hinter die steifen Füße.

Dadurch verrutschten Putzbrocken und Steinchen im Winkel zwischen Schuhen und Kamin. Metall glänzte. »Da liegt was«, sagte Günni.

Aber Atze streckte schon den Arm und tastete mit den Fingern um die Beine herum. »Ha!«

Atze zeigte ihm das runde Stück Glas mit Metallfuß.

»Das ist eine Röhre für ein Radio«, sagte Günni.

»Kauft keiner.« Atze drückte ihm das Teil in die Hand.

Günni hielt das Ding gegen das Sonnenlicht. »Wenn es noch taugt, gibt’s dafür auch was zu kauen.« Er steckte es ein.

Ihre Knie knirschten im Dreck. Da glänzte noch etwas metallisch neben dem einen Schuhabsatz. Aber nicht blank wie die Röhre, sondern goldgelb. Günni rückte mit den Knien weiter heran. Er streckte die Hand aus. Und kam nicht weit, weil ihn Atze mit den Schultern rempelte und das Kinn gegen seine Wange knuffte. »Hab’s zuerst gesehen!«

»Nein, ich!« Günni wollte nicht einfach nachgeben wie früher bei der HJ gegen die Großen. »Mach dich nicht so dick.«

Aber Atze war zu stark und hebelte seinen Arm zur Seite weg. »Du hast dich ja gar nicht hergetraut.«

Es überlief ihn kalt, als er unfreiwillig mit seinen Fingerspitzen die starren Beine der toten Frau streifte. Atze drückte ihn noch weiter zur Seite weg zum Kamin. Günni rappelte sich auf in den Fersensitz. »Du bist ja ein Freund.«

Atze hockte sich neben ihn, die eine Hand geballt, und funkelte ihn aus seinen grünen Augen an. Langsam öffnete er die Faust.

Ein daumenlanger Ohrring war vom Dreck ganz stumpf. Die Perle war von glänzenden Splittern eingefasst. »Der dicke rote Stein auf dem Tropfen heißt Rubin.«

Atze verzog den Mund. »Weiß ich auch, Schlaumeier.« Er ballte die Faust wieder und schlug sich damit auf die Brust. »Wenn meine Mutter den verkauft, kriege ich eine Woche viel zu essen. Richtig den Bauch voll mit Braten und Kartoffeln und Honig.«

Günni spürte auf einmal, dass seiner auch schon wieder ziemlich leer war. »Ich aber nicht.« Außerdem würde seine Mutter bohrend fragen, wo er so einen teuren Ohrring überhaupt herhatte.

Atze legte ihm die Faust auf die Schulter. »Wir brauchen gar nicht zu streiten. Wo ein Ohrring ist, gibt es einen zweiten.« Er steckte seine Beute in die Hosentasche. »Wetten?«

Günni und er betrachteten durch die Lücke in den Backsteinen die Apothekerin. Neben der S-förmigen Locke vor dem linken Auge schimmerte im Haar etwas. »Da, am Ohr, ist das Gold?«

»Du willst ja nichts anfassen.« Atze streckte die Hand aus und stieß dabei an den hellblauen Kragen. »Die ist schon richtig steif, die Olle.« Er nestelte an dem toten Ohr. »Das Ding ist mit einer Öse hinterm Läppchen festgemacht. Die krieg ich nicht auf. Ach, scheiß drauf!« Er krallte die Finger darum und zerrte.

Der Kopf der Apothekerin ruckte ganz starr ein bisschen mit, die Haare aber wackelten heftig, wie wenn Mutter Nein sagte und es so meinte. Günni wurde flau.

Atze lachte kurz und zog den Arm zurück. »Da. Dein Teil.« Er hielt Günni die geöffnete Hand hin.

Ein Kreis glänzender Splitter schimmerte zwar sauber um die abgebrochene Perle, wobei der Wind zwei braune gekräuselte Frauenhaare von Atzes Schwielen wehte, der zweite Rubin-Tropfen hing aber noch am Ohr der Toten.

»Für die Perle kriegt ihr mindestens zwei Kilo Fleisch oder eine Gans. Nimm schon!«

Günni steckte sie ein. »Danke.«

»Quatsch. Ist bloß Schweigegeld.« Atze zeigt seine Zähne, bevor er lachte. »Kolja und die anderen machen das auch so.«

Die hatte Günni ganz vergessen. »Und was machen wir mit der Apothekerin?«

»Geht die uns was an?«

Er musste auch mal Courage zeigen, wie seine Oma immer sagte.

»Und wenn es eine Belohnung gibt, weil sie gesucht wird? Die ist vornehm angezogen.«

Atze wiegte den Kopf. »Ist schon ’ne schicke Olle – und ehe sie Kolja und die andern finden«, Atze kniff ein Auge zu, »kassieren wir lieber.«

Er fügte die zwei ausgebauten Backsteine nacheinander vor der Toten wieder ein.

Günni schaute über das Notdach zur Pappwand, hinter der das Treppenhaus der 54 nach unten führte. »Die nächste Polizeistation ist erst in der Schloßstraße.«

»Nee.« Atze zog Günni am Hosenträger, als er zurück zur Treppe wollte. »Da lang.« Er deutete erst hinunter zum Schuttberg im Hinterhof und dann weiter zu den Ruinen auf dem Nachbargrundstück. »Oder willst du Kolja vorm Café Schorn in die Schmiere laufen?«

Günni schüttelte den Kopf. Die Perle gab er nicht wieder her. Und um sein Messer wäre es auch schade. »Die machen uns bloß die Taschen leer, wenn sie uns kriegen.«

Die Mauerreste zwischen Notdach und Seitenflügel ergaben so was wie eine unregelmäßige Treppe nach unten. Die letzten zwei Meter sprang Atze einfach runter.

»Wir nehmen die Abkürzung über den Seitenflügel und dahinten«, er deutete zur langen Brandmauer des eingebrochenen Hinterhauses, »machen wir in den Hof der 61 rüber, wo der Schreiner die Werkstatt aufgemacht hat, und von dort drücken wir uns durch die Mauerbresche ins Gartenhaus, das schon zur Ahornstraße gehört.«

Günni überholte ihn. »Weiß ich auch.«

Atze balancierte hinter ihm über die lange Brandmauer, wo rechts und links das Stockwerk fehlte. »Ich habe die Olle angefasst. Dafür quatschst du mit den Polizisten. Dit kannste besser als icke.«

Günni schluckte, bevor er in den Hof der 61 sprang. Aber irgendwie fühlte er sich wie ein Großer.

2

»… meine Herren Kommissaranwärter, merken Sie sich vor allem, dass Ihre Kollegen beim Erkennungsdienst präzise Angaben zu Gesichtsform, Körperbau und sonstigen Merkmalen brauchen. Die festgelegten Begriffe sind von Ihnen auswendig zu lernen.«

Curt Lanke knickte die Ecke seines Schreibblattes ein, das zehnte oder elfte Mal für heute. Sie mussten, die Blocks auf den Knien, alles mitschreiben. Neue Lehrbücher für die Kriminalpolizei gab es nicht. Die Russen hatten die alten wegen der vielen Hakenkreuze in den Abbildungen verboten. Obwohl die Ausbilder schworen, dass fachlich das Gleiche drinstand wie schon zu Kaisers Zeiten.

»Und merken Sie sich die neue Adresse der Dienststelle.«

Sie hockten im früheren Direktorenzimmer auf drei Stuhlreihen hintereinander. Curt schwirrte der Kopf, nicht nur vom endlosen Vortrag ihres Ausbilders, sondern auch vom schwitzigen Mief der dreißig Männer seines Jahrgangs. Die Erbsensuppe gestern tat ihr Übriges. Frischluft war sonst das letzte aller Probleme. Man war einfach nicht mehr gewöhnt, dass alle Fenster Scheiben hatten. Aber bei Zuteilungen wurde die Polizei bevorzugt behandelt. Nicht nur beim Material, sondern auch bei den Essensrationen. Da hatte Onkel Fritz schon recht gehabt. Wenn die alliierte Kommandantur eine neue Polizei will, wird sie die auch füttern. Curt war froh, dass er als Kommissaranwärter die Schwerarbeiterkarte bekam und ein extra Mittagsessen in der Polizeischule Oberschöneweide obendrauf.

Zeit dafür wäre es schon jetzt – seinem Magen nach.

Ihr Ausbilder Oswald Brenner ging von der schwarzen Tafel zur kahlen Wand des Direktorenzimmers. Die Holztäfelung hatte irgendwer noch im Krieg herausgerissen und wohl verheizt.

»Was nützt es aber, wenn Sie einen Täter erkennungsdienstlich ermitteln können und ihn keiner von Ihnen da draußen in dem heillosen Durcheinander findet, zu dem unsere Reichshauptstadt geworden ist.« Brenner hakte die Daumen in der Weste seines Anzugs ein und hielt den Rücken gerade. Er schob das Kinn vor und ließ den Blick über Curts Stuhlreihe schweifen wie Trencker im Bergfilm über die Gipfel.

Brenner ließ sowieso keinen Zweifel daran, dass er die eine Hälfte von ihnen für Faulpelze hielt, die nur auf die Essensrationen schielten, und die andere für Grünschnäbel, aus denen die von der Kommandantur angeordneten Schnellkurse sowieso keine richtigen Kommissare machen würden. Curt mochte den alten Mann mit dem weißen Schnurrbart und der Glatze trotzdem. Er war bis 1935 Berliner Kriminalkommissar gewesen, bevor die Nazis ihn in ein Dorf nach Mecklenburg versetzt hatten. Und Brenner gab sich ehrlich Mühe mit ihnen.

»Kommen wir nun zu den Aufgaben des Fahndungswesens. Ohne eine schnelle Organisation der Zusammenarbeit unserer wenigen Kräfte …«

Jemand klopfte fest an die Tür. Curt wandte den Kopf wie fast alle auf den Stühlen.

Ein sommersprossiger Kerl um die vierzig trat ein, ohne dass er abgewartet hätte, ob Brenner sein kerniges Herein hören ließ.

»Der Schuldirektor persönlich?«, flüsterte einer. »Sonst hockt der doch in Mitte beim Polizeipräsidenten.«

Weiter links ließ einer einen Bleistift fallen, der auf dem Steinboden klackte. Curt sprang wie die anderen vom Stuhl auf und stand stramm. Die oberen Ränge der Polizei hatten die Russen letztes Jahr nach der Kapitulation sofort mit Männern besetzt, die früher bei der KPD gewesen waren, oder mit irgendwelchen anderen von den Nazis Verfolgten. Der Direktor ignorierte sie Kommissaranwärter völlig, stattdessen hielt er Brenner ein Schreiben unter die Nase. Der faltete es auseinander und wackelte schon über den ersten Zeilen mit dem weißen Schnurrbart.

Auf die Entfernung erkannte Curt nur ein paar Stempel auf der Rückseite.

»Alle anderen Kommissare sind im Einsatz. Anweisung des Polizeipräsidenten, sofort auszuhelfen. Ich habe nur Sie.«

»Verstehe.« Ihr Ausbilder straffte sich. »Wer wird den Unterricht fortsetzen?« Er blickte zu den Stuhlreihen her.

Der Direktor breitete die Arme aus. »Na, ich. Der Lehrgang ist eh schon viel zu knapp bemessen. Einen Ausfall an Lernstoff werde ich nicht zulassen.«

Brenner lächelte kurz, unterdrückte es aber gleich wieder. Er umklammerte den zusammengefalteten Befehl wie den Griff einer Stoßwaffe. »Wenn Sie gestatten, machen wir aus diesem Befehl das Beste für die jungen Herren Kommissare in spe.«

Der Direktor verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie meinen?«

»Wenn wir schon eine Leiche am Vormittag serviert bekommen, sollen die Anwärter in re praesenti lernen, wie man als Kriminalkommissar vorgeht.«

Der Direktor rieb sich mit einem Daumen übers Kinn. »Von mir aus. Aber nicht mit dem ganzen Lehrgang. Wählen Sie die zwei Besten aus.«

Doch Brenner blickte an ihnen vorbei zum Fenster hinaus, obwohl Curt mit den anderen noch immer strammstand. Draußen schleppten Wachtmeister Kisten von einem Lieferwagen.

»Worauf warten Sie?« Der Direktor zog die Stirn kraus.

»Wer von den Herren das sein wird, muss ich erst noch ermitteln.« Brenner hob die flache Hand bis auf Brusthöhe. »Meine pädagogischen Methoden entspringen langjähriger Praxis.« Er nahm die Hände auf den Rücken, nun ihnen zugewandt: »Wer erinnert sich? Lektion 34, letzte Woche Dienstag. Worauf kommt es jetzt für uns als Erstes an?«

»Tatortabsicherung«, versuchte es der stupsnasige Ruschke wie immer vorlaut aus der ersten Reihe.

»Machen die Polizeimeister vor Ort. Hoffentlich.« Brenner winkte ab. »Der Nächste. Worauf kommt es für uns Kriminalisten an?«

Curt sah aus den Augenwinkeln ein paar Kollegen hämisch grinsen, weil Ruschke die Kinnlade kippte.

»Den Befehl sofort umsetzen und …«

»Banal.« Der Direktor schnitt Lawrenz das Wort ab.

Curt war froh, dass er dessen pommersches Leiern nicht weiter hören musste.

»Enttäuschen Sie mich nicht.« Brenner neigte den Kopf zur linken Schulter.

»Lektion 34. Wird’s bald?«, rief der Schuldirektor.

»Wir als Kommissare müssen uns so schnell wie möglich zum Tatort begeben und diesen persönlich in Augenschein nehmen, bevor ephemere Spuren vernichtet sind.«

Hajo Steinerts Bass füllte klar und selbstsicher von schräg hinter Curt das Direktorenzimmer. Der war aus Stalingrad mit den letzten Fliegern herausgekommen, den haute so schnell kein nervöser Direktor um.

»Richtig.« Brenner steckte die Daumen in die Anzugaufschläge. »Und die Vorschrift fast wörtlich zitiert. Da haben wir schon den ersten Mann. Steinert, vortreten!«

Hinter Curt kratzten Stuhlbeine auf den Fliesen. Hajo Steinert ging an den Fenstern entlang bis zur Tafel vor. Er war einen Kopf größer als er selbst. Seine kurzen schwarzen Locken hatte er mit etwas Pomade gebändigt. Mit seinen langen Armen und dem breiten Kreuz erinnerte er an einen Schwimmer bei Olympia.

»Und weiter? Ihr oberster Dienstherr verlangt Einsatz!« Brenner winkte mit dem Befehl.

Einige wichen mit dem Blick aus, andere ließen gleich die Köpfe hängen. Und dachten wohl ans Mittagessen, das gleich fällig war.

Curt fiel etwas ein. Ihn juckte es. Und was sollte schon passieren: »Ich habe im provisorischen Labor gestern gesehen, das noch Entwicklerchemikalien im Giftschrank stehen. Der Fotoapparat soll angeblich noch funktionstüchtig sein. Wenn wir den mitnehmen, können wir den Tatort selbst aufnehmen und müssen nicht später bei den Pressefritzen um einen Abzug betteln.«

»Allenfalls konfiszieren wir einen.« Der Schuldirektor drehte Curt langsam das sommersprossige Gesicht zu. »In welchem Ton reden Sie von der Berliner Kriminalpolizei?«

»Wir sind ja nicht bei der Oper. Außerdem hat er recht.« Brenner wedelte mit dem Befehl. »Es würde mich wundern, wenn die Presse nicht einen von den Wachtmeistern für einen kurzen Sprung über die Absperrung oder ein Foto von der Leiche vor dem Abtransport bezahlt. Das läuft jetzt wieder wie früher vor der Hitlerei, glauben Sie mir.« Brenner winkte Curt mit dem Zeigefinger aus den Reihen. »Lanke ist unser zweiter Mann.«

Er drückte sich an den anderen vorbei aus der zweiten Reihe.

»Blondchen schleimt sich wieder ein«, flüsterte Senghaas ganz außen.

Beinahe wäre Curt an dessen Stuhl mit der Joppe hängen geblieben. Die war von Onkel Fritz und ein bisschen zu groß. Senghaas sollte froh sein, dass er ihm jetzt keine scheuern konnte. Curt wollte zu was kommen. Und von allein kam nichts.

Hajo Steinert maß ihn von oben herab. Dass Curt die letzten zwei Kriegsjahre in Nauen die Großfunkstelle mit der Flak verteidigt hatte, zählte bei den Frontsoldaten nichts. Dabei hatten sie von den Briten den Bombenhagel und mehr als genug Russenfeuer im Mai 45 abgekriegt.

»Aber bevor ich Sie einweihe – und damit die Kollegen hier noch was lernen: Wie kommen wir am schnellsten hin? Der Tatort liegt in Berlin-Steglitz. Dienstwagen haben wir keine in der Polizeischule. Die wenigen, die nicht von der alliierten Kommandantur requiriert worden sind, rollen in den Polizeirevieren.«

Oder warteten in den Werkstätten auf selbst gebaute Ersatzteile.

»Am Ost-Kreuz werden die Gleise erneuert.« Curt gondelte jeden Morgen gut eine Stunde umständlich von Schöneberg hierher. »Wenn wir im Pendelverkehr hängen bleiben, dauert es ewig.«

»Dann mit der Straßenbahn«, seufzte Brenner. »Das dauert auch ewig. Die Brücken in Oberschöneweide über die Spree sind leider noch kaputt.«

Steinert verschränkte die Hände und drückte die Daumen vor seiner gut sitzenden grauen Jacke aneinander. »Können wir auch abkürzen.«

Curt sah ihn an wie der Schuldirektor und die Kollegen vor den Stuhlreihen auch.

Brenner drehte sich Steinert wieder zu. Er machte ein ebenso ausdrucksloses Gesicht, wartete.

Curt fing ein hämisches Grinsen von Senghaas auf.

Als nach ein paar Sekunden immer noch nichts kam, schnippte Brenner mit den Fingern vor Steinerts Kinn.

»Der Reichswasserschutz führt am Spreeufer gegenwärtig eine Bergungsübung mit einem Boot aus. Gegenüber liegt der Stadtteil Baumschulenweg …«

Wieder ließ Steinert den Satz ausklingen, ohne dass er Luft holte.

Jedenfalls schnippte Brenner gleich noch einmal.

So ging also Autorität in den neuen Zeiten.

»Wir nehmen uns drei Dienstfahrräder und fahren runter ans Spreeufer. Bei dem Befehl«, Steinert nickte zum Schreiben in Richtung von Brenners Hand, »werden die Kollegen kooperieren.«

»Na bitte«, sagte Brenner nur. »Geht doch.«

Im Krieg hätten die Wehrmachtsoffiziere gleich was von Anmaßung geschrien.

Der Direktor blickte auf seine Armbanduhr. »Die Fahrräder können Sie haben. Ich schicke drei Anwärter zu Fuß zur sofortigen Rückführung hinterher«, er deutete mit dem Daumen zu den Stuhlreihen, »damit die Räder nicht gleich geklaut werden.«

»Von der Übungsstelle kommen wir schneller zur Ringbahn«, sagte Steinert mit seiner Bassstimme. Er ließ den Blick an der rohen Wand über die Halterungen der verschwundenen Täfelung bis unter die Decke des Direktorenzimmers gleiten.

Curt war so, als ob Brenner lächelte. Oder doch nicht?

Der sommersprossige Polizeischuldirektor klatschte in die Hände. »Machen Sie sich sofort auf den Weg. Ich übernehme hier. Und Sie, meine Herren Kommissaranwärter, setzen sich.«

Stühle rückten.

Steinert hielt Brenner die Tür auf, der den Befehl an seiner Brust wegsteckte.

Curt war froh, aus dem Mief hinauszukommen.

Brenner rieb sich im Flur die Hände. »Ich gebe zu, es reizt mich, nach all den Jahren einen solchen Fall zu übernehmen.« Er schaute den Flur mit dem fleckigen Putz entlang. »Besorgen Sie uns die Drahtesel.«

Vor der Polizeischule stiegen sie auf die Sättel. Sogar aufgepumpt hatte der Obermeister des Fuhrparks die Räder. Alle drei waren tadellos geputzt und der schwarze Lack poliert.

»Achten Sie auf die Schlaglöcher.« Brenner hob den Arm, wies die Wattstraße entlang Richtung Spree und strampelte los.

Curt krallte sich an den Lenker. Er war schon über zehn Jahre kein Fahrrad mehr gefahren. Die Pedale gingen schwer. Die ersten Meter kämpfte er noch mit dem Gleichgewicht und schlingerte über den löchrigen Asphalt.

Er erschrak, als ihn eine breite Hand am Rücken stützte. »Geradeaus gucken und feste treten.« Steinerts Bass klang befehlsgewohnt. Er radelte neben ihm her am offenen Tor der Takelagefabrik vorbei, bevor er Curt noch einen kräftigen Schub gab und ihn überholte.

Mit dem richtigen Schwung war es so einfach wie früher. Als ob die Beine sich an die Jahre vor dem Krieg erinnerten, als Curt mit seinen Eltern in Misdroy in Pommern Urlaub gemacht und Radfahren gelernt hatte. Gekauft hatten sie ihm in Berlin keines.

In der Straße waren Arbeiter zu Fuß unterwegs, ein Lieferwagen rumpelte aus einem Fabriktor. Schlote rauchten wieder in den Transformatoren- und Kabelwerken von Oberschöneweide. Auch wenn es manchmal aussah, als ob die Ruinen brannten, hier wurde wieder produziert. Wo die Werkshallen nicht total in den Flammen untergegangen waren, hatten ein paar Maschinen den Krieg überstanden wie Neben- und Hauptlager auch. Irgendwas ließ sich aus dem übrig gebliebenen Zeugs machen und verkaufen. Schließlich konnte man im kaputten Berlin alles irgendwo brauchen. Und Elektrozeug, wie es in Oberschöneweide hergestellt wurde, allemal.

Curt strampelte Steinert und Brenner hinterher.

Eine Schichtsirene schrillte hinter Backsteinmauern. Es stank nach Naphtalin. Brenner war am Transformatorenwerk zur Spree hin abgebogen. Curt beeilte sich, musste aber einem Lieferwagen ausweichen, dessen Auspuff knallte.

Curt rollte an einem Trupp Flüchtlinge vorbei. Die Männer schleppten schmutzige Seesäcke auf dem Rücken, alte Frauen trugen fleckige Koffer. Zwei kleine Mädchen wackelten in zerrissenen Röckchen hinterher. Zuzugssperre hin oder her, der Zustrom von Pommern, Schlesiern und Ostpreußen riss nicht ab. Die Polen waren so wenig zimperlich wie die Deutschen vorher mit ihnen und warfen aus dem eroberten Land, wer noch geblieben war.

Zum Spreeufer war es nicht mehr weit. Curt folgte den beiden zur zerstörten Brücke, von der auch der Uferkopf in die Spree gestürzt war. Steinert hatte mit seinen langen Beinen einen Vorteil. Er überholte Brenner und bog an einem Schild »Flussbad Wilhelmstrand« ab. Ob man dort wieder schwimmen konnte? Die Ufer waren längst nicht alle freigeräumt.

Der gepflasterte Weg holperte ordentlich unter dem Sattel.

Im Fluss unweit des Ufers trieben zwei grüne Boote, die Bugspitzen aneinander. Mannschaften des Reichswasserschutzes ruderten in beiden gegen die Strömung und hielten die Position. Vier andere Männer hievten Ledersäcke in Menschengröße aus der Spree. Über die Wasserfläche schollen Befehle, die Curt auf die Entfernung nicht verstand.

Er drehte im Geiste den Berliner Stadtplan in seine Fahrtrichtung. Der Reichswasserschutz war auf der anderen Flussseite in Baumschulenweg stationiert. Der nächste S-Bahnhof war von dort nicht weit.

Steinert radelte vor Curt aber nicht zum grünen Ufergras hinunter, sondern noch weiter Richtung Flussbad, wo er am Übergang der Pflasterung in einen Sandpfad mit Brenner anhielt. Sie blickten über die Schultern zurück.

Curt trat so heftig in die Pedale, dass er beim Bremsen auf dem Sand des Pfades beinahe vom Rad kippte.

»Lanke.« Brenner schüttelte den Kopf. »Sie sind der Jüngste, Leichteste, aber langsamer als ich alter Mann. Hoffentlich sind Sie nicht auch dümmer, als ich gedacht habe, sonst schicke ich Sie stante pede wieder zurück.« Er hob den Zeigefinger. »Als Kommissar müssen Sie bei Zeugenaussagen wie sonst auch zwischen den Zeilen lesen können. Also? Was hat Steinert nicht laut gesagt, weil der Polizeischuldirektor dabeistand?«

Steinerts Mundwinkel zuckte ein wenig, bevor er wie an einem freien Sonntag ohne Geld in der Tasche gelangweilt über die Spree schaute.

Curt kam ins Schwitzen. Er ließ den Blick schweifen wie Brenner.

Die kaputte Brücke konnte er nicht gemeint haben. Das Kohleschiff weiter oben auch nicht. Und an den Werken waren sie vorbeigefahren.

Warum standen sie überhaupt hier oben? Curt drehte sich weiter im Sattel herum. Ein paar Frauen liefen mit Körben zu einer Gartensiedlung. Dahinter stand vor dem Flussbad ein russischer Militärwagen, ein GAZ-61. Zwei Offiziere in den braunen Sowjetuniformen und -mützen hielten sich Ferngläser vors Gesicht und verfolgten die Bergung.

Brenner schnippte vor seinen Augen. »Und, Lanke?«

Die Stempel auf dem Befehl des Polizeipräsidenten fielen ihm ein. Größere als sonst. »Steinert hat damit gerechnet, dass Alliierte die Übung des Reichswasserschutzes überwachen, und auf einen Wagen spekuliert, der uns nach Steglitz fahren könnte.«

Brenner hob nur den Daumen.

»Ich konnte es nicht offen sagen, weil der Schuldirektor dabeistand. Der hätte was von ›Genehmigung einholen‹ und sonst was gefaselt. Der denkt bürokratisch, nicht militärisch.« Steinert stieg vom Fahrrad und legte es in den Sand.

Brenner lehnte seines einfach dran.

»Jetzt müssen wir den Russen nur noch verklickern, was wir wollen.« Brenner faltete den Befehl auseinander. »Das Beiblatt ist das Einzige, was hier kyrillisch geschrieben ist.«

Wäre Curt nicht an der Flak bei den Funkern gewesen, hätte er nicht mit den Abhörspezialisten Nachtschichten im Bunker geschoben und hätte sich nicht mit den Russisch-Lehrbüchern die Zeit vertrieben. »Ein paar Brocken habe ich aufgeschnappt.« Curt legte sein Fahrrad neben die der anderen beiden ins Gras. »Das wird reichen, dass sie uns nicht gleich erschießen, wenn wir zu dritt auf sie zulaufen.«

»So eine Unterstellung würde der Polizeischuldirektor gar nicht gern hören.« Steinert richtete seinen Anzug und krempelte das Hosenbein wieder hinunter.

»Wie dem auch sei, wir brauchen die Russen jetzt.« Brenner ging voraus. »Ewig werden sie nicht in der Reichshauptstadt bleiben.«

Brenner zückte seine Dienstmarke und schwenkte sie sichtbar.

Die Offiziere lenkten die Ferngläser in ihre Richtung und regulierten die Brennweite.

Der Eingang zum Flussbad lag nur ein paar Meter höher. Vom Kartenhäuschen blätterte die Farbe ab. Curt rief ihnen lieber schon auf zehn Schritt Entfernung zu. »My takzhe nemetskaya politsiya. Berlin politsii.«

Der Dickere von den Russen hatte ein mongolisches Gesicht mit Schlitzaugen. Er legte sofort die Hand auf die Dienstwaffe am Koppel.

Der andere war hochgewachsen und hatte einen Sonnenbrand. Seine hellblauen Augen blickten abweisend. Er musterte ihre einfache Zivilkleidung. »Chego vy khotite?«

Curt erkannte die Schulterabzeichen eines Leutnants. Der streckte den Arm aus, damit sie auf Abstand blieben. »Er will wissen, was wir wollen.«

Brenner zeigte vom Befehl des Polizeipräsidenten das kyrillisch geschriebene Beiblatt vor.

Der größte Stempel darauf war von der alliierten Kommandantur! Steinerts Augenbraue zuckte nicht weniger überrascht. Curt tauschte einen Blick mit ihm. Kein Wunder, dass der Schuldirektor so nervös gewesen war.

Steinert senkte die Lider ein kleines bisschen und kniff die Augen fast unmerklich zusammen, als wolle er sagen: Aber warum hat man nicht einfach einen Kommissar von einem anderen Fall abgezogen, von einer Schieberei oder einem Großeinbruch, sondern verfällt ausgerechnet auf den alten Brenner?

Der Leutnant ging mit dem Papier zur Seite bis zum Wagenheck und winkte dem Mongolen, einem Feldwebel. Sie steckten die Köpfe zusammen.

»Die Kommandantur befiehlt allen Dienststellen, jegliche Hilfe zu leisten«, sagte Brenner mit gedämpfter Stimme, fast heiser, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt.

Curt pfiff leise. Doch lockte er damit nicht mehr aus seinem Ausbilder heraus.

Der Leutnant kam zurück und gab Brenner das Dokument. »Steglitz … Wo ist?«

Brenner drehte sich zur Spree und wies mit drei Armschlägen nach Westen übers Wasser.

»Dovol’no daleko khodit. Ne daleko na mashine«, setzte Curt dazu, weil der Leutnant nur mit den Schultern zuckte.

Der brummte und drehte sich zu dem Mongolen um. »Drayv muzhchin.« Er deute zu dem GAZ-61.

Sie verstanden, dass sie einsteigen sollten. Curt mit Steinert hinten, der alte Brenner vorn.

In dem sowjetischen Militärwagen roch es unerwartet nach Rosen. Ganz leicht nur wie ein Hauch, so, wie das Sofakissen seiner Großmutter einen Duft nach Veilchen verströmt hatte.

Steinert zog die langen Beine an und legte die Hände auf die Knie. Curt packte sich hinter Brenner auf die Rückbank.

Der Mongole drehte sich zu ihm um. »Du sagen rechts, links, geradeaus.«

»Rechts, links, geradeaus. Verstanden.«

Der Feldwebel startete.

Der Sandweg machte dem Militärwagen keine Mühe, genauso wenig wie die kleinen Schlaglöcher auf den Straßen nach Berlin-Friedrichshain – auch wenn die Federung es mit keinem deutschen Wagen aufnehmen konnte. Curt war froh, dass sie nicht mehr strampeln brauchten. »Geradeaus.«

Auf dem Bahndamm Rummelsburg rollte ein leerer Güterzug stadtauswärts. Die Lok pfiff. Sie überholten zwei Pferdefuhrwerke. Schon drei Kreuzungen vor Ostkreuz drängten sich immer mehr Schwarzhändler am Straßenrand.

»Elektrozeug, Kabelrollen …«, murmelte Steinert. »Kein Wunder, dass die Werksleitungen am liebsten bewaffneten Werkschutz einführen würden.«

»Um die Diebesbanden kümmern sich andere Abteilungen, wir um den Mord.« Brenner drehte sich halb im Sitz und zwirbelte den weißen Schnurrbart. »Bei jeder Ermittlung müsst ihr systematisch vorgehen, verstanden?«

Curt nickte und sagte schnell zum Fahrer. »Links.«

Sie bogen nach Treptow ab. Curt kippte hart gegen Steinert, der ihn mit der Schulter gegen seine zurückdrückte.

Der Mongole scherte sich nicht um die Schlaglöcher.

Brenner hielt sich am Türgriff fest. »Sperrt die Augen und Ohren am Tatort auf, sonst überseht ihr schnell einen entscheidenden Hinweis.« Er seufzte wie über eine leidvolle Erinnerung. »Besonders wenn eine Frau ermordet wurde, kommt es auf Kleinigkeiten an.«

Steinert beugte sich auf der Sitzbank vor. »Bei Lektion 22 haben Sie uns aufschreiben lassen, dass es sich bei Frauenmord so gut wie immer um enttäuschte Liebe, rasende Leidenschaft oder abnormen Geschlechtstrieb handelt.«

Der sowjetische GAZ-61 rumpelte über eine Behelfsbrücke über die Spree.

»Im Normalfall.« Brenner klopfte auf die Brustseite, wo er den Befehl weggesteckt hatte. »Aber wenn die Leiche eine Frau über fünfzig ist, dann steckt etwas anderes dahinter, glaubt mir.«

Lektionen waren für Curt sowieso nur Papier. Von den Dienstanweisungen für die Flaksoldaten war auch nur die Hälfte brauchbar gewesen, und je näher der Feind gerückt war, desto weniger hatte gegolten, was irgendwo geschrieben stand. Welcher Mörder hielt sich schon an Regeln? Außer an die eine, dass er nicht gefasst werden wollte.

Brenner fischte aus seinem Anzug einen Flachmann, der echt silbern glänzte. »Ein bisschen Zeit lässt uns die Leiche noch.« Er schraubte ihn langsam auf. »Was heißt ›guter Apfelbrand‹ auf Russisch?«

»Yablochnii brendi«, versuchte es Curt. »Und rechts, dann geradeaus.«

Der Mongole griff zu, roch aber erst mal am Verschluss. Er lachte mit überraschend heller Stimme und trällerte: »Akasi ichish, ichish.« Er nahm einen tiefen Schluck und reichte den Flachmann nach hinten an Curt weiter.

Der Apfelbrand roch gut wie schon lange kein Schnaps mehr, an den er herangekommen war. »Sie sind wirklich spendabel. Alle Achtung.«

Steinert zögerte, als er an der Reihe war.

In welcher Dienstvorschrift das Alkoholverbot stand, war Curt herzlich egal.

Steinert trank aber doch, als Brenner zwinkerte. »Alter Kommissarentrick gegen böse Geister. Und ein Frauenmord weckt davon mehr als genug.«

Steinert schraubte den Flachmann aus Silber zu und steckte ihn zwischen seine Knie, wohl damit der Mongole nicht noch auf dumme Gedanken kam. Und Brenner auf dem Vordersitz nickte kaum merklich dazu.

3

Ein milder Sonnenfleck spiegelte vom »Geschäftshaus Leinen Max Kühl« über die große Kreuzung her. Am Kurfürstendamm wurden die Scheiben schneller wieder eingesetzt als anderswo. Sogar Leuchtreklamen, die abends die Gerüste an den Nachbarhäusern überstrahlten, waren an der Ecke Joachimsthaler Straße wieder aufs Dach montiert worden. An der Straßenecke gegenüber prangte im vierten Stock der Stern von Mercedes-Benz. Hella Winkler ließ den Blick noch den Ku’Damm entlang zu den Markisen vor dem »Café Möhring« und zur Gedächtniskirche schweifen. »Hohler Zahn« nannte man die jetzt. Für Hella traf das die Form der Ruine genau. Außerdem war ein bisschen Dagegen-an-Lästern nicht verkehrt, wo so viel kaputt war. Auch wenn ihre Freundin Sigrid es gleich wieder übertrieb: Schau nicht nach oben, sondern den Ku’Damm lang, dann sieht’s schon wieder fast wie früher aus.

Hella tat weiter so, zwei Schritt vom Bordstein weg, als ob sie bloß auf Sigrid wartete.

Ein Berliner Bus fuhr vorbei. Neue, bunte Reklame warb für Titan-Reifen. Die Farben taten richtig gut. Hella war das rußige Graubraun der Schuttberge, die ausgeblichenen rohen Bretterwände in der ganzen Stadt so über. Was für ein Glück, dass sie am Ku’Damm Arbeit gefunden hatte. Das verdankte sie bloß Sigrid. Hier gab’s schon wieder Cafés, aus denen es nach echten Bohnen und Sahnetorten roch.

Hella bekam aus den Augenwinkeln mit, wie sich ihre Freundin am amerikanischen Jeep vorbeugte. Sigrid hatte was zu zeigen: lange Beine, die vom Revue-Tanzen kräftig waren, eine hübsche Taille und kohlrabenschwarze Haare, aber eben auch unschuldige Schneewittchen-Haut. Sie hatte sich sofort umgedreht, als die beiden Amis nach ihnen gepfiffen hatten und winkend im Jeep herangebraust waren.

Wenn Sigrid wollte, konnten ihre dunklen Augen glühen wie bei einer exotischen Göttin. Wahrscheinlich funkelte sie die Soldaten gerade so an. Hella seufzte innerlich. Sie standen neben den rot-weiß-roten Sperrstangen direkt am Kreuzungseck. Aber ein Ami-Jeep hielt sowieso, wo er wollte.

»Fraoulain?«

Also würde Hella weiter mitspielen.

Sie drehte sich um, machte aber nur einen halben Schritt auf den Militärwagen zu. Der amerikanische Major gefiel ihr sogar. Seine Nase war sehr gerade und die Brauen ebenmäßig wie bei einem Cäsarenkopf im Museum. Außerdem zwinkerte er mit honigfarbenen Augen und hielt eine Packung Marlboro hoch.

»No, danke dir, boy.« Sie lächelte den Major im Jeep kühl an und fuhr sich wie gelangweilt durch ihre langen blonden Haare. Sigrid hatte vor ein paar Wochen eine amerikanische Zeitschrift ergattert und darauf bestanden, dass sie beide sich gaben wie die neuen Schauspielerinnen, wenn sie gemeinsam mit ihrer Nummer unterwegs waren. Du machst auf Berliner Ausgabe von Lana Turner und ich auf die von Hayworth. Heißer Eisblock liegt dir.

Hella fand zwar nicht, dass ihr Kopf so rund war, und so puppige Augen hatte sie erst recht nicht. Und Sigrid war auch nicht gerade mit den lasziven Lippen der Hayworth gesegnet, aber bei den langen Beinen konnte sie sich mit dem Star messen.

»No?« Der Major hob die ebenmäßigen Brauen und gab seinem Kollegen am Steuer einen Stoß mit dem Ellenbogen. »She just says no.«

Dem jüngeren Sergeant saß ein Boxer-Kopf auf einem arg kurzen Nacken. Die kräftigen Hände sahen nach einem aus, der mehr an den Wagen schraubte als Befehle schrieb. »First, girls always do. But …«

Hella waren seine Augen zu grau und zu kalt. Sie verließ sich bei Männern lieber auf ihr Gefühl. Das hatte sie als Funkhelferin bitter lernen müssen.

»Was is your name?« Sigrid zeigte ihr Dekolleté in der Rüschenbluse in ganzer Fülle und stellte einen Fuß auf das Trittbrett des Jeeps.

Prompt glitt der Blick der beiden auf ihr nacktes Knie und bis zur hochgezogenen Rockkante. Die Beine verrieten die Biegsamkeit der gelernten Tänzerin. Wieder seufzte Hella innerlich. Sigrid hatte ja nicht unrecht. Seit im Juli deren lustiger rotblonder Collin aus Sheffield ins Rheinland versetzt worden war, konnte Hella zwar wieder früher schlafen gehen, weil sie Sigrid nicht das Zimmer überlassen musste, aber im Schränkchen standen dafür auch keine Pressfleischdosen mehr. Hella ärgerte sich, dass ihr Magen schon wieder drückte. Aber die Grießsuppen machten einfach nicht satt.

Im Jeep tippte der Sergeant sich an die Uniformmütze. »Jim Kirkassian.« Der Bulle hob dabei den Mundwinkel und taxierte ihre Freundin von der Rockkante aufwärts.

»I’m Sigrid.«

Hella wusste, dass die Kulissen der UFA-Studios, wo sie noch bis in die letzten Kriegswochen hatte tanzen dürfen, in der Hinsicht eine gute Schule gewesen waren. Sigrid konnte sich die Männer vom Hals halten, wenn sie ihr nicht gefielen. Aber wenn doch, konnten sie ihr ruhig helfen, durch die schweren Zeiten zu kommen. Von dem Nähen allein bei Frau von Renningkhoffs Damenmode-Atelier kamen sie ja nicht über die Runden.

Hella machte einen Schritt vom Jeep weg und sah zu den U-Bahn-Treppen hin, wo ein Zeitungsjunge sich mit einem Packen Blätter auf dem Arm langsam im Kreis drehte und trotzdem bei den Fußgängern keine loswurde.

»You like a little …« Sigrid tuschelte mit dem bulligen Sergeant weiter. Hella machte noch einen Schritt vom Jeep weg, weil der Major mit dem Cäsarenkopf wieder nach ihr schaute und sich mit den Fingern an die Mütze tippte. »Phil Mancini«, sagte er laut.

Sie tat, als ob sie gar nicht hinhörte. Amerikanische Männer mochten es offenbar, dass man den Eiswürfel gab, den sie erst auftauen mussten.

»Fraoulain, wait!«

Hella drehte langsam, so wie Lana Turner und wie mit Sigrid geübt, den Kopf über die Schulter zurück. Na, Junge? Sie maß den Major mit einem Blick von der geraden Nase bis zu den glänzenden Army-Stiefeln, die er aus der offenen Jeeptür auf den Bordstein gestellt hatte. Seine honigbraunen Augen umspielte ein Zwinkern voller Spaß am Spiel.

Hella drehte sich ganz zu ihm um und schob betont langsam die Handtasche vom Unterarm. Sie fischte unter seinem neugierigen Blick den Werbezettel von der »Capri-Bar« heraus, bevor sie die Hand ausstreckte und ihn damit lockte. Sie hatte keine Ahnung, ob Lana Turner das auf der Leinwand auch so machte oder ob die Diva den Zettel einfach vor dem Major auf den Bürgersteig geschnippt hätte. Aber so viele hatte Hella nicht davon. Papier war chronisch knapp. Und Werbung mussten sie für die Bar machen, dafür, dass sie beide dort mit ihrer Tanznummer auftreten durften. Aber wer außer den Besatzern konnte sich schon Sekt oder Hochprozentiges leisten.

Major Phil Mancini stieg aus dem Jeep. Er war sehr schlank und auch größer, als Hella ihn eingeschätzt hatte. Mindestens eins neunzig. Er bewegte sich irgendwie vornehm, wie ein echter Gentleman, so, wie er auf sie zuschritt.

Sie hielt ihm den Zettel hin, wie zum Handkuss. »Nine o’clock in Capri-Bar.« Die Adresse stand drauf.

Er lächelte sie an und sah auf einmal sehr schüchtern aus, weil er nicht wusste, wo er den Zettel hinstecken sollte.

Hinter ihnen hupte der Bullige im Jeep.

Sigrid schwang langsam das Bein vom Trittbrett und strich den Rock zurück. Sie hatte also klargemacht, dass sie nicht einfach einsteigen würde. So eine war ihre Freundin wirklich nicht. Die beugte sich noch mal vor und tippte dem Jim Kir-Irgendwas am Steuer an die Brust.

Hella biss sich auf die Lippen. Es war die gleiche Pose wie bei der Hayworth in der amerikanischen Zeitschrift. Sigrid schnippte mit den Zeige- und Mittelfingern und schob dabei ihren Mund vor. Am Lippenstift sparten sie … für abends.

Der Ami lachte trotzdem dreckig und reichte ihr die Packung Marlboro.

Sigrid griff sich gleich zwei und deutete damit zu Hella hinüber.

Der Sergeant lachte noch mal dreckig. Der vornehme Major behielt den Zettel der »Capri-Bar« einfach in der Hand, als er zum Jeep zurückkehrte.

Zwei ältere Frauen kamen vom Schaufenster des Juweliers in der Joachimsthaler her und steckten die Köpfe zusammen. Sie hatten schon die ganze Zeit den Amerikaner gemustert. Die eine hielt im Vorbeigehen ihren grünen Hut fest, die andere ließ die Mundwinkel hängen. Hella wusste genau, was die dabei dachte: Ami-Schlampen. Hella schenkte ihnen einen Eisberg-Blick. Die beiden Frauen drehten abrupt die Schultern weg und stolzierten tuschelnd weiter rüber über den Damm zu »Handschuh-Röckl«.

Phil Mancini pfiff leise beim Einsteigen.

»We’ll pick you up with the car«, rief der Bullige am Steuer. Der Wagen knatterte los.

Sie hupten auf der Kreuzung noch einmal. Sigrid schlängelte den Arm in die Höhe und winkte filmreif mit den Zigaretten in den Fingerspitzen, als wäre die Ecke am Ku’Damm ein Strand in Florida.

Der Jeep überquerte knapp vor einer klingelnden Straßenbahn den Damm.

Weg waren sie. Hella seufzte. 1943 war sie noch manchmal spätnachts aus dem Theater nach Hause mit dem Taxi gefahren. Heute waren beide Gebäude nur noch Trümmer, und sie würde sogar das Geld für die U-Bahn sparen und laufen müssen.

Ein Mann in einem aus einer Wehrmachtsuniform geschneiderten Anzug kaufte bei dem Zeitungsjungen an den U-Bahn-Treppen eine Zeitung. Er drückte ihm die Münzen achtlos in die Hand und blätterte sofort auf.

Sigrid nahm den Arm herunter und drehte sich zu Hella her. »Ein Taxi haben wir schon mal für heute Abend.« Sie reichte ihr eine Zigarette. »Dein Anteil vom Auftritt.«

Hella steckte die Marlboro in die Handtasche. Langsam wuchs ihr Bestand. Bald reichte es für ein paar gute Nylons. »Meinst du, die kommen wirklich rum?«

»So, wie der mir auf die Möpse geglotzt hat?« Sigrid lachte. »Der will dringend was erleben heute.« Sie ließ ihre Zigarette in den Fingern wippen. Und zwinkerte.

Der Zeitungsjunge lief um den lesenden Mann herum. Er schob sich mit der Linken seinen Stapel auf dem rechten Arm zusammen. Hella erkannte den Zeitungskopf des »Tagesspiegel«. Darunter war jemand abgebildet. Hella erschrak, aber der Junge drehte sich. Langsam rückwärtsgehend drängte er sich den Leuten in den Weg, die die U-Bahn-Treppen heraufkamen.

Hella hielt es nicht am Bordstein. Sie schob Sigrid zur Seite.

»Nun reg dich nicht gleich auf.« Sigrid rollte mit den Augen. »Mit so einer Lache kommt der Kerl mir nicht …«

Hella kramte in ihrer Tasche nach der Geldbörse und machte schnelle Schritte dem Zeitungsjungen hinterher.

»Seit wann stellst dich so an?« Sigrid lief hinter ihr her. »Erzähl mir nicht, dass dir dieser Major nicht gefallen hat.«

Hella fischte ein paar Münzen heraus. Sie zog den Zeitungsjungen am geflickten Hemdsärmel. »Den Rest kannste behalten.«

»Und ein Geldstück is’n Knopp. Det kenn ick.« Er hatte ein schmutziges Lausbubengesicht und staubige Haare. Er machte die Hand flach und zählte die Reichsmark mit dem Blick ab, die Hella hineinlegte. »Hier, die Dame.« Er reichte ihr eine Wahlsonderausgabe, verbeugte sich übertrieben und trudelte weiter mit seinem Packen einen Bauzaun neben dem U-Bahn-Zugang entlang.

Sigrid zog die Augenbrauen zusammen. »Sonst liest du doch im Atelier …«

Die Schlagzeilen vermeldeten den Hunderttausendsten Kriegsheimkehrer aus Russland, aber das interessierte Hella nicht. Ihr Vater steckte in einem britischen Lager. Das abgedruckte Foto war es, das sie nur halb gesehen hatte, weil die Zeitung eingefaltet gewesen war. Hella schlug den »Tagesspiegel« auseinander. Und erschrak über das Bild noch einmal: Die spitze Nase, die breiten, aber akkurat gezupften Augenbrauen, die unregelmäßigen, feinen senkrechten Falten am Mund. »Sie ist es!«

»Mein Gott, die Döring.« Sigrid legte die Hand an den Hals. »Die zerdrückten Wasserwellen, der Mittelscheitel, genau die Frisur hatte sie immer dreimal nachgekämmt.« Sie zeigte mit dem Finger auf die Bildunterschrift. Tote Frau in Steglitz auf Notdach eingemauert.

»Abgemurkst wie im Krieg.«

Hella zuckte. Beinahe wäre ihr was herausgerutscht.

Aber ihre Freundin presste verwirrt die Hand auf die Stirn. »Ich habe ihr vorgestern noch die Passen am Abendkleid geändert«, sagte sie leise.

Die Döring hatte im Atelier einen Aufstand gemacht, weil das Oberteil immer noch gezwickt hatte. »Und ich habe den Futterstoff angepasst.«

Sigrid beugte sich zur Zeitung hin, kurzsichtig, wie sie war. »Bericht, Seite 4.«

Hella blätterte um. Sie überflog die Schlagzeilen. Irgendwas hatte Otto Grotewohl in Halle gemacht, und in Griechenland gab es Notverordnungen.

Rechts unten stand: Forts. von Seite 1. In der Forststraße in Steglitz wurde die achtundfünfzigjährige Margarethe Döring erdrosselt aufgefunden. Sie war Kandidatin der Liberal-DemokratischenPartei Deutschlands für die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin kommenden Oktober.

»Die Döring wohnt doch in dem Kiez, oder?« Sigrid verschränkte die Arme und beugte sich wieder über das Blatt.

Die besonderen Umstände lassen auf eine Bluttat schließen.

»Stehend eingemauert im Abendkleid? Wer macht denn so was?«

Hella sah ihre Freundin an und seufzte: »Lass mich doch erst mal lesen.«

Die Aufnahme der Toten gelang unserem Reporter Prieskowkurz vor Redaktionsschluss.

Deshalb endete der Artikel schon.

Sigrid machte die großen Augen, die sie immer machte, wenn es kompliziert wurde. Ihre Freundin zitterte mit einem Mal. »Warum ist denn nicht jetzt, wo wir wieder Frieden haben, endlich Schluss damit, dass ich nie weiß, wer morgen noch von denen lebt, die ich kenne.« Sie blinzelte und presste die Lippen aufeinander.

Hella nahm sie schnell in den Arm. Sigrids Leute waren im Feuersturm in Dresden umgekommen, sie selbst hatte die Bombardierung der UFA in Tempelhof knapp überlebt, weil sich ein Wasserbassin in die Probensäle ergossen und die Flammen gelöscht hatte. Aber von ihrer Truppe waren vier umgekommen.

»Ist ja gut.« Hella drückte sie fest an sich.

Eine Straßenbahn ratterte vorbei.

Sigrid machte sich los und rieb sich die Augen trocken. »Kommt halt manchmal noch hoch.« Sie zwang ein schiefes Lächeln in ihr Gesicht, das die schwarzen Gedanken verriet.

»Ich glaube, es ist am besten, die von Renningkhoff erfährt es von uns.«

Sigrid blickte den Ku’Damm runter Richtung »Roxy«, Ecke Uhlandstraße. »Du hast recht.«

Hella faltete den »Tagesspiegel« zusammen. »Die Chefin legt viel Wert auf den Ruf ihres Ateliers.« Auch wenn sie nicht weiter nachfragte, wo genau sie beiden nachts mit ihrer Varieté-Nummer auftraten.

»Vielleicht kriegen wir sogar was vom echten Bohnenkaffee ab.«

Hella lief mit ihrer Freundin schnell zur Uhlandstraße vor. Sigrid wischte sich im Gehen in der warmen Septembersonne die Wangen.

Die Döring war bei der Anprobe wirklich schwierig gewesen. Hella hatte alle Mühe gehabt, die Knopfleiste richtig abzustecken, so nervös, wie die am Oberteil herumgezupft und gemeckert hatte.

Sigrid kniff ein Auge zu. »Vielleicht kriegen wir sogar raus, warum die Chefin uns heute schon so früh aus dem Nähzimmer geworfen hat.«

»Komm jetzt nicht wieder mit dem Ruhesofa hinter dem Paravent.« Das war albern. Die von Renningkhoff hatte ein bisschen Vermögen gerettet, wo auch immer sie es im Krieg versteckt hatte. Wie hätte sie sonst das Geschäft aufmachen können?

Sigrid ging an der Ecke Uhland vorbei, wo die Briten sich mit dem »Roxy« im Erdgeschoss eine Bar eingerichtet hatten. Dort wartete der ein oder andere Offizier auf seine Frau, wenn die sich oben bei ihnen im Atelier Renningkhoff für Damenmode und Abendgarderobe einkleiden ließ.

Es lag nur zwei Häuser weiter in der Bel Étage, wie die Chefin gern betonte.

Das Entree des hochherrschaftlichen Hauses hatte den Krieg völlig unbeschadet überstanden. Marmorsäulen in Grün und Rotbraun trugen eine Halle mit Blumengirlanden aus weißem Stein. In die Etagen waren gute Mieter eingezogen. Neben dem Atelier handelte ein Kontor Industriefederungen bis nach Warschau und Bukarest.

Hella schritt über den roten Läufer nach oben, aber Sigrid war schneller mit dem Klingeln.

Sie hörten die Chefin über das Parkett drinnen herankommen.

»Ihr?«, fragte die von Renningkhoff durch den geöffneten Türspalt. Er halbierte ihr straffes Reiterinnen-Gesicht, nur die blonden Locken waren frisch gedreht. Die milderten die Strenge und hingen elegant bis zum Kragen herab. Sie machte auf.

Sigrid tauschte einen Blick mit Hella. Statt des dunkelgrünen Nachmittagskostüms mit der schmalen Lederkante trug die Chefin einen weit schwingenden braunen Rock mit Seidenvolant am Saum und eine cremefarbene Bluse.

»Sonst drängelt ihr immerzu mit dem Feierabend. Jetzt schicke ich euch einmal früher nach Hause, und prompt kommt ihr zurück.« Sie hob die Schultern und seufzte. »Was soll ich nur mit euch machen?«

Im großen Salon war im Erker, wo sonst die Modezeitschriften auslagen, ein Kaffeetisch aufgebaut. Die Goldränder des Services schimmerten im Sonnenlicht. Hella bemerkte einen Aschenbecher aus Porzellan. Es roch herrlich nach frischem Rosinenzopf. Wahrscheinlich hatte die Chefin ihn vom »Café Möhring« kommen lassen. Geld genug hatte sie. Sogar eine Karaffe mit Likör hatte sie neben der Konsoluhr auf dem Beistelltischchen bereitgestellt.

Vor dem langen Podest, auf dem sonst Hella, Sigrid oder die anderen ein Modellkleid vorführten, steckte die Chefin die Hände ineinander. »Also, was gibt es denn noch? Mein Besuch kommt gleich und …« Sie brach ab, weil ihr Blick auf den »Tagesspiegel« in Hellas Händen fiel.

»Wir dachten uns, Sie sollten das sofort sehen.« Hella hielt ihr die Zeitung hin.

Die von Renningkhoff wich zurück und presste eine Hand auf den Mund. »Geht es schon wieder los …«, flüsterte sie.

Hella war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. »Was meinen Sie damit?«

Die Chefin rührte sich nicht.

»Das Stückchen Stoff unter dem Kinn auf dem Foto, ist das … Gehört das zu unserem …«, Sigrid räusperte sich schnell, »ich meine, Ihrem Abendkleid, dass Sie für Frau Döring entworfen haben?«

Von Renningkhoff hob den Kopf, machte zwei schnelle Schritte und nahm Hella den »Tagesspiegel« aus der Hand.

Zeitungsbilder waren unscharf. Aber unter dem Kinn der Toten erkannte man tatsächlich die Ziernaht auf dem Kragen. Die Chefin hatte sie Hella genau vorgegeben: Stick immer Längsstrich, großes U, Längsstrich, kleines U und so fort.

»Großer Gott.« Das straffe Gesicht ihrer Chefin erstarrte zu der höflichen Maske, mit der sie sonst unverschämte Vertreter hinauskomplimentierte. Ihr Blick erfasste lange die Abbildung, bevor sie nach dem Artikel blätterte und die wenigen Zeilen las.

Schließlich wandte sie den Kopf ab zum Erker, wo in der Sonne das Goldrandservice glänzte. Die Chefin hielt sich einen Moment sehr gerade.

Hella hörte sie schwer atmen.

»Setzt euch.« Die Chefin wies zum Vorführpodest.

Hella rückte auf, damit Sigrid Platz hatte, weil sich von Renningkhoff sogar danebenhockte.

Die Chefin legte die Hände in den Schoß. »Ich habe das Abendkleid für Frau Döring gestern noch persönlich aufgebügelt, kaum dass ihr es fertig hattet. Sie wollte es unbedingt sofort anziehen.«

Das war ungewöhnlich für die Kundinnen. »Warum?«, fragte Hella.

»Sie wurde gegen fünf Uhr von hier abgeholt.«

»Von wem? Das haben wir im Nähzimmer nicht mitbekommen.« Sigrid beugte sich vor und lugte zur Chefin. »Wenn sie das Abendkleid auf dem Zeitungsbild noch trägt, dann war es vielleicht sogar der Mann, der …«

»Kein Wort weiter!« Die Chefin schlug mit der flachen Hand auf das Vorführpodest. »Das ist völlig ausgeschlossen.«

»Wieso?«, fragte Hella. Und biss sich sofort auf die Lippen, weil die Chefin den Mund schmal wie einen Strich zog.

»Weil Frau Döring vom französischen Stadtkommandanten hier abgeholt wurde.«

Der regierte mit den anderen drei Groß-Berlin.

»Herrje.« Die Chefin schlug die Hände vor der Brust zusammen. »Natürlich nicht von ihm persönlich. Sondern von einem Fahrer. Zu einem Empfang.«