1984 - George Orwell - E-Book
SONDERANGEBOT

1984 E-Book

George Orwell

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

London, 1984: Winston Smith, Geschichtsfälscher im Staatsdienst, verliebt sich in die schöne und geheimnisvolle Julia. Gemeinsam beginnen sie, die totalitäre Welt infrage zu stellen, als Teil derer sie bisher funktioniert haben. Doch bereits ihre Gedanken sind Verbrechen, und der Große Bruder richtet seinen stets wachsamen Blick auf jeden potenziellen Dissidenten. George Orwells Vision eines totalitären Staats, in dem Cyberüberwachung, Geschichtsrevisionismus und Gedankenpolizei den Alltag gläserner Bürger bestimmen, hat wie keine andere Dystopie bis heute nur an Brisanz gewonnen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 486

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



GEORGE ORWELL

1984

Aus dem Englischenneu übersetzt von Jan Strümpel

Anaconda

Die britische Erstausgabe erschien 1949 unter dem Titel »Nineteen Eighty-Four« bei Martin Secker & Warburg Ltd.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotive: Hintergrund Shutterstock / svekloid; außerdem lizenzfreie

Motive aus Dingbatsfont »Eyez« und Dingbatsfont »Military RPG«

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

ISBN 978-3-641-27911-0V002

www.anacondaverlag.de

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Zweiter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Dritter Teil

I

II

III

IV

V

VI

Anhang

Die Grundlagen von Neusprech

Erster Teil

I

Es war ein klarer, kalter Apriltag, die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith hielt das Kinn auf die Brust gedrückt zum Schutz vor dem strengen Wind, als er rasch durch die Glastür des Victory-Wohnblocks trat, wenn auch nicht rasch genug, um einen Schwall Staub davon abhalten zu können, mit hineinzuwirbeln.

Im Flur roch es nach gekochtem Kohl und alten Lumpen. Ganz hinten an der Wand war ein farbiges Plakat befestigt, das für innen eigentlich zu groß war. Es zeigte nichts als ein riesiges Gesicht, mehr als einen Meter breit: das Gesicht eines etwa 45-jährigen Mannes mit großem schwarzem Schnurrbart und markant-attraktiven Zügen. Winston ging Richtung Treppe. Mit dem Aufzug brauchte man nicht zu rechnen. Selbst in den günstigsten Momenten funktionierte er nur selten, und derzeit wurde der Strom abgestellt, solange es hell war. Das gehörte zu den Sparmaßnahmen im Vorfeld der Hasswoche. Die Wohnung befand sich in der siebten Etage; Winston, der 39 Jahre alt war und oberhalb des rechten Fußknöchels ein Geschwür hatte, ging langsam und machte unterwegs mehrmals Pause. Auf jedem Treppenabsatz starrte ihn von der Wand gegenüber dem Aufzug das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es war in der Art gestaltet, dass die Augen dir überall hin folgten. Darunter stand: DER GROSSE BRUDER WACHT ÜBER DICH.

Drinnen in der Wohnung verlas eine sonore Stimme ein Zahlenwerk, irgendetwas zur Roheisen-Produktion. Die Stimme kam aus einer länglichen Metallplatte, die einem blinden Spiegel glich und in die rechte Wand eingelassen war. Winston betätigte einen Schalter, worauf die Stimme etwas leiser wurde, jedoch immer noch zu verstehen war. Der Apparat (Monitor genannt) konnte heruntergeregelt werden, es gab jedoch keine Möglichkeit, ihn ganz abzustellen. Winston trat ans Fenster: eine kleine, hinfällige Gestalt, deren Ausgezehrtheit durch den blauen Overall, die Uniform der Partei, noch betont wurde. Er hatte schütteres Haar und eine frische Gesichtsfarbe, seine Haut war gegerbt von der groben Seife, den stumpfen Rasierklingen und der Kälte des eben ausgeklungenen Winters.

Die Welt draußen wirkte selbst durch die Scheibe des geschlossenen Fensters kalt. Unten auf der Straße wirbelten kleine Windstöße Staub und Papierfetzen zu Spiralen auf, und obwohl die Sonne schien und der Himmel tiefblau war, wirkte alles vollkommen farblos bis auf die Plakate, die überall hingen. Das Schnäuzer-Gesicht blickte von jeder präsenten Ecke herab. Eins befand sich an der Hausfassade direkt gegenüber. DER GROSSE BRUDER WACHT ÜBER DICH stand darunter, während die dunklen Augen Winston streng musterten. Auf Straßenniveau flatterte die abgerissene Ecke eines weiteren Plakats im Wind, sodass das Wort ENGSOZ mal zu erkennen war, mal nicht. In der Ferne senkte sich ein Helikopter zwischen die Dächer hinab, schwebte dort eine Weile wie eine Schmeißfliege und schoss in weitem Bogen wieder fort. Das war die Polizeistreife, die den Leuten in die Fenster spähte. Und doch waren die Streifen belanglos. Von Belang war nur die Gedankenpolizei.

In Winstons Rücken brabbelte die Stimme vom Monitor noch immer über Roheisen und die Übererfüllung des neunten Dreijahresplans. Der Monitor war Sender und Empfänger zugleich. Jedes von Winston ausgehende Geräusch, das ein sehr leises Flüstern überschritt, konnte er einfangen; solange Winston sich im Sichtfeld der Metallplatte befand, war er zudem auch sichtbar. Selbstverständlich konnte man zu keinem Zeitpunkt wissen, ob man gerade beobachtet wurde. Wie oft und in welcher Form sich die Gedankenpolizei bei jemandem einklinkte, war reine Mutmaßung. Es war sogar denkbar, dass sie alle Menschen durchgängig überwachte. In jedem Fall konnte sie sich bei dir einklinken, wann immer sie wollte. Du musstest unter der Prämisse leben – hattest verinnerlicht, so zu leben –, dass jeder von dir ausgehende Laut mitgehört und, außer im Dunkeln, jede Bewegung registriert wurde.

Winston hielt dem Monitor weiter den Rücken zugewandt. Das war sicherer, wenngleich er sehr wohl wusste, dass auch ein Rücken verräterisch sein konnte. In einem Kilometer Entfernung überragte das Ministerium für Wahrheit, sein Arbeitgeber, weiß und gewaltig die rußgeschwärzte Landschaft. Dies – dachte er mit unbestimmtem Ekel – dies also war London, Hauptstadt von Landebahn Eins, Ozeaniens Provinz mit der drittgrößten Bevölkerung. Er kramte nach Kindheitserinnerungen, die ihm verraten mochten, ob London schon immer so gewesen war. Hatte es diese Reihen verfallener Häuser aus dem 19. Jahrhundert immer gegeben – die Wände von Holzbalken gestützt, die Fenster mit Pappe bedeckt, die Dächer mit Wellblech –, deren baufällige Gartenmauern in alle Richtungen absanken? Und die zerbombten Ecken, wo der Pflasterstaub in der Luft umherwirbelte und Weidenröschen die Trümmerhaufen überwucherten; und die Flächen, wo Bomben eine größere Lücke gerissen hatten, auf der schäbige, hühnerstallartige Wohnbaracken entstanden waren? Doch es war nutzlos, er hatte keine Erinnerung; nichts war von seiner Kindheit geblieben außer einer Folge greller Bilder ohne Hintergrund, die meist unverständlich waren.

Das Ministerium für Wahrheit – Miniwahr auf Neusprech1 – hob sich von allen anderen Objekten in Sichtweite auffällig ab. Es war ein riesiges pyramidenförmiges Gebäude aus weißglänzendem Beton, das sich Stufe um Stufe 300 Meter in die Höhe erstreckte. Von Winstons Position aus konnte man die in schöner Schrift auf die weiße Fassade gemeißelten drei Maximen der Partei lesen:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNKENNTNIS IST STÄRKE

Das Ministerium für Wahrheit, so hieß es, umfasste dreitausend Räume oberhalb der Erde und war unterirdisch noch einmal entsprechend weit verzweigt. In ganz London gab es nur drei weitere Gebäude von ähnlicher Erscheinung und Größe. Sie ragten so über die umliegende Bebauung empor, dass man vom Victory-Wohnblock aus alle vier zugleich sehen konnte. Sie beherbergten die vier Ministerien, unter die der Regierungsapparat aufgeteilt war: Das Ministerium für Wahrheit, das sich mit Nachrichten, Unterhaltung, Erziehung und den schönen Künsten befasste. Das Ministerium für Frieden, das sich mit dem Krieg beschäftigte. Das Ministerium für Liebe, das für Recht und Ordnung sorgte. Und das Ministerium für Fülle, das für Wirtschaftsfragen zuständig war. Auf Neusprech hießen sie Miniwahr, Minipax, Miniliebe und Minifülle.

Richtig furchterregend war das Ministerium für Liebe. Es hatte keinerlei Fenster. Winston war nie im Ministerium für Liebe gewesen oder ihm näher als einen halben Kilometer gekommen. Man gelangte ausschließlich mit offiziellem Anliegen hinein, und auch dann ging es nur durch ein Labyrinth aus Stacheldrahtverhauen, Stahltüren und verborgenen Maschinengewehren. Selbst in den Straßen, die auf seine äußerste Absperrung zuliefen, patrouillierten schwarzuniformierte Wachposten mit Gorillagesicht, die schwere Schlagstöcke bei sich trugen.

Winston drehte sich mit einem Mal um. Er hatte eine Miene sanfter Zuversicht aufgesetzt, die angeraten war, wenn man sein Gesicht dem Monitor aussetzte. Er ging durchs Zimmer in die winzige Küche. Indem er das Ministerium zu dieser Tageszeit verlassen hatte, entging ihm sein Mittagessen in der Kantine, wobei er wusste, dass er bis auf einen Kanten Schwarzbrot, den er fürs Frühstück morgen aufheben musste, nichts Essbares in der Küche hatte. Er nahm eine Flasche mit farblosem Inhalt vom Regal, auf dessen schlichtem, weißem Etikett Victory-Gin stand. Ein muffiger, öliger Geruch ging von ihr aus, wie von chinesischem Reisschnaps. Winston schenkte sich fast eine ganze Teetasse voll ein, sammelte sich innerlich für den Schock und stürzte ihn wie Medizin hinunter.

Sein Gesicht wurde sofort feuerrot, Tränen schossen ihm in die Augen. Das Zeug schmeckte wie Salpetersäure und hinterließ beim Hinunterschlucken das Gefühl eines Knüppelschlags auf den Hinterkopf. Das Brennen im Magen ließ jedoch rasch nach, und schon begann die Welt sich aufzuheitern. Winston zog eine Zigarette aus einem knittrigen Päckchen mit der Aufschrift Victory-Zigaretten und hielt sie unbedacht senkrecht, sodass der ganze Tabak auf den Boden rieselte. Mit der nächsten hatte er mehr Erfolg. Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich an einen kleinen Tisch, der links vom Monitor stand. Der Tischschublade entnahm er einen Federhalter, ein Tintenfässchen und ein großes, dickes Notizbuch mit rotem Rücken und marmoriertem Bezug.

Aus irgendeinem Grund befand sich der Monitor im Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle. Statt wie üblich am Kopfende der Wand montiert zu sein, von wo aus er das gesamte Zimmer beherrschte, befand er sich an der Längswand gegenüber dem Fenster. Dort gab es auf einer Seite eine kleine Nische, in der Winston jetzt saß und die man beim Bau der Wohnungen wohl für ein Bücherregal vorgesehen hatte. Wenn sich Winston eng in diese Nische drückte, blieb er außerhalb der Reichweite des Monitors, jedenfalls außer Sichtweite. Natürlich war er zu hören, doch solange er in seiner Position blieb, konnte man ihn nicht sehen. Der ungewöhnliche Zuschnitt des Zimmers hatte ihn mit darauf gebracht, das zu tun, für das er sich nun vorbereitete.

Ebenfalls darauf gebracht hatte ihn das Buch, das er aus der Schublade geholt hatte. Es war ein auffällig schönes Buch. Sein weiches, cremefarbenes Papier, altersbedingt leicht vergilbt, war von einer Sorte, die seit mindestens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Er vermutete allerdings, dass das Buch noch erheblich älter war. Er hatte es im Fenster eines stickigen Trödellädchens in einem verrufenen Stadtviertel gesehen (welches Viertel genau, wusste er nicht mehr) und sofort den unbändigen Wunsch verspürt, es zu besitzen. Mitglieder der Partei sollten keine normalen Geschäfte betreten (»am freien Markt teilnehmen«, wie man es nannte), aber die Vorschrift wurde nicht streng eingehalten, weil allerhand Dinge wie Schnürsenkel oder Rasierklingen sich unmöglich auf andere Weise beschaffen ließen. Winston hatte eilig rechts und links die Straße entlanggespäht, den Laden betreten und für zwei Dollar fünfzig das Buch gekauft. Damals wollte er es gar nicht für einen bestimmten Zweck haben. Er hatte es schuldbewusst in seiner Aktentasche nach Hause getragen. Selbst ohne etwas Geschriebenes darin war es ein kompromittierender Besitz.

Er machte sich daran, ein Tagebuch anzulegen. Das war nicht verboten (nichts war verboten, seit es keine Gesetze mehr gab), doch für den Fall, dass es aufflog, musste man mit der Todesstrafe oder zumindest der Verurteilung zu 25 Jahren Arbeitslager rechnen. Winston steckte eine Schreibfeder in den Halter und leckte sie an, um Ablagerungen zu entfernen. Die Feder war ein altmodisches Gerät, das selbst für Unterschriften nur selten benutzt wurde; beschafft hatte er sie sich heimlich und mit einiger Mühe einfach wegen des Gefühls, dass es dem schönen cremefarbenen Papier angemessen war, mit einer echten Feder beschrieben zu werden statt mit einem kratzigen Tintenstift. Winston hatte gar keine Übung darin, mit der Hand zu schreiben. Von kurzen Notizen abgesehen diktierte man gemeinhin alles in den Sprechschreiber, was für sein jetziges Vorhaben natürlich nicht ging. Er tauchte die Feder in die Tinte und zögerte nur einen ganz kurzen Moment. In seinem Darm hatte es gerumpelt. Das Papier zu beschreiben, war die maßgebliche Tat. In unförmigen kleinen Buchstaben schrieb er:

4. April 1984.

Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit war in ihm aufgestiegen. Zunächst konnte er gar nicht mit Gewissheit sagen, dass es 1984 war. Es musste so etwa dieses Jahr sein, denn er war sich ziemlich sicher, 39 Jahre alt zu sein, und glaubte, dass er 1944 oder 1945 geboren worden war; aber heutzutage war es unmöglich, sich bei einem Datum auf ein, zwei Jahre genau festzulegen.

Für wen, musste er sich mit einem Mal fragen, führte er dieses Tagebuch überhaupt? Für die Zukunft, für die Kommenden. Seine Gedanken umkreisten einen Moment lang das fragliche Datum auf der Seite und prallten dann auf das Neusprech-Wort Doppeldenk. Zum ersten Mal wurde ihm die Bedeutung seines Vorhabens bewusst. Wie konnte man sich der Zukunft mitteilen? Das war ihrer Natur nach unmöglich. Entweder glich die Zukunft der Gegenwart und würde ihm in diesem Fall gar nicht zuhören; oder sie war ganz anders als die Gegenwart, womit seine Kategorien bedeutungslos waren.

Er saß eine Weile da und blickte apathisch auf das Papier. Aus dem Monitor kam jetzt schneidige Militärmusik. Seltsam, er schien nicht nur alle Formulierungskunst eingebüßt, sondern völlig vergessen zu haben, was er ursprünglich hatte mitteilen wollen. In den ganzen letzten Wochen hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet und nicht im Entferntesten gedacht, dass es noch etwas anderes brauchte als Mut. Die eigentliche Schreibarbeit wäre leicht. Er müsste nur den seit vielen Jahren pausenlos seinen Kopf durchströmenden Monolog zu Papier bringen. Momentan allerdings war selbst dieser Monolog verstummt. Noch dazu hatte sein Geschwür unerträglich zu jucken begonnen. Er wagte sich nicht zu kratzen, da es sich in diesem Fall immer sofort entzündete. Die Sekunden verstrichen. Er nahm nichts wahr außer der Leere der Seite vor ihm, dem Jucken der Haut oberhalb des Knöchels, dem Dröhnen der Musik und der leichten Benommenheit durch den Gin.

Plötzlich begann er, wie wildgeworden zu schreiben, ohne klares Bewusstsein, was er da von sich gab. Seine kindliche kleine Handschrift wanderte auf und ab über die Seite, wobei sie erst auf Großbuchstaben verzichtete und schließlich sogar auf Satzzeichen.

4. April 1984. Gestern Abend im Kino. Lauter Kriegsfilme. Ein sehr guter über ein Schiff voller Flüchtlinge irgendwo im Mittelmeer, das beschossen wird. Leute begeistert von einer Szene, wo ein großer, fetter Mann vor einem Helikopter wegzuschwimmen versucht, erst sieht man ihn im Wasser dümpeln wie ein Wal, dann sieht man ihn im Fadenkreuz des Helikopters, dann ist er ganz durchlöchert und das Meer um ihn herum wird rosa und er sinkt so schnell, als wäre er durch die Löcher mit Wasser vollgelaufen, die Leute kreischten vor Vergnügen, als er unterging. dann gabs ein rettungsboot voller kinder zu sehen mit einem drüber fliegenden helikopter. da saß eine frau mittleren alters jüdin vielleicht vorn mit einem so drei jahre alten jungen in den armen. der junge schreit vor angst und presst seinen kopf zwischen ihre brüste als wolle er sich in sie hineinbohren und die frau legt ihre arme um ihn und tröstet ihn obwohl sie selbst vor angst vergeht, beschützt ihn so weit wie möglich als würde sie denken dass ihre arme kugeln von ihm abhalten können. dann pflanzt der helikopter eine 20-kilo-bombe zwischen sie sagenhafte detonation und das boot zersplittert zu kleinholz. dann eine herrliche szene von einem kinderarm der hoch hoch immer höher in die luft fliegt ein helikopter mit kamera am bug muss sie eingefangen haben viel applaus dafür von den parteilogen aber eine frau auf den plätzen für die prols macht plötzlich rabatz und schreit rum das dürfte man nicht zeigen nicht vor kindern das dürfte man nicht vor kindern doch nicht nein bis die polizei sie rausbefördert raus der ist wohl nichts passiert völlig egal was die prols sagen typische prol-reaktion die werden doch nie …

Winston hörte auf zu schreiben, auch weil er einen Krampf bekommen hatte. Er wusste nicht, was ihn veranlasst hatte, diesen Schwall von Blödsinn von sich zu geben. Kurioserweise hatte jedoch währenddessen in seinen Gedanken eine völlig andere Erinnerung klare Konturen angenommen, beinahe so, als habe er tatsächlich sie aufgeschrieben. Wegen dieser anderen Sache, so wurde ihm nun bewusst, hatte er heute mit einem Mal beschlossen, heimzugehen und das Tagebuch zu beginnen.

Es hatte sich diesen Morgen im Ministerium zugetragen, falls sich von etwas so Nebulösem überhaupt sagen ließ, es habe sich zugetragen.

Es war kurz vor elf. In der Archiv-Abteilung, wo Winston arbeitete, schob man die Stühle aus den Büros und stellte sie in der Mitte des Vorraums vor dem großen Monitor auf, denn gleich gab es die Zwei Minuten Hass. Winston nahm gerade seinen Platz in einer der mittleren Reihen ein, als zwei Personen, die er vom Sehen kannte, ohne je mit ihnen gesprochen zu haben, unerwartet den Raum betraten. Die eine war ein Mädchen, an dem er oft in den Gängen vorüberlief. Er wusste nicht, wie sie hieß, aber er wusste, dass sie in der Roman-Abteilung tätig war. Er hatte sie manchmal mit verschmierten Händen und einem Schraubenschlüssel gesehen, was wohl hieß, dass sie irgendwelche technischen Arbeiten an einem der Romanschreibautomaten vornahm. Sie war eine forsch wirkende junge Frau, etwa 27 Jahre alt, mit fülligem schwarzem Haar, Sommersprossen im Gesicht und flinken, sportlichen Bewegungen. Eine schmale orangerote Leibbinde, Erkennungszeichen des Anti-Sex-Jugendbundes, war über dem Overall mehrfach um ihre Taille gewunden, gerade so eng, dass die Wohlgestalt ihrer Hüften hervortrat. Seit er sie das allererste Mal gesehen hatte, konnte Winston sie nicht leiden. Er wusste auch, warum. Es lag an der Atmosphäre von Hockeyfeldern, kalten Bädern, Gruppenwanderungen und rundum reiner Denkungsart, die sie ausstrahlte. Er konnte Frauen fast grundsätzlich nicht leiden, erst recht nicht die jungen und hübschen. Stets waren Frauen, und vor allem junge, ganz besonders fanatische Anhänger der Partei, die Parolen nachplapperten und als Hobbyspitzel mangelnder Orthodoxie nachspürten. Doch speziell dieses Mädchen wirkte auf ihn noch gefährlicher als die meisten. Einmal, als sie im Flur aneinander vorbeigegangen waren, hatte sie ihn mit einem Seitenblick gestreift, der ihn zu durchbohren schien und ihn für kurze Zeit mit schierem Entsetzen erfüllte. Er hatte sogar schon überlegt, ob sie eine Agentin der Gedankenpolizei sein mochte. Das war nun gewiss sehr unwahrscheinlich. Und doch ließ ein seltsames Unbehagen nicht von ihm ab, in das Angst ebenso mit hineinspielte wie Feindseligkeit, wann immer sie irgendwo in seiner Nähe war.

Die andere Person war ein Mann namens O’Brien, Mitglied der Inneren Partei in einer derart wichtigen und unnahbaren Position, dass Winston nur eine vage Vorstellung von ihrer Spezies hatte. Als die Leute bei den Stühlen den schwarzen Overall eines Mitglieds der Inneren Partei näher kommen sahen, verstummten sie für einen kurzen Moment. O’Brien war ein großer, stämmiger Mann mit dickem Hals und einem derben, heiteren, brutalen Gesicht. Seiner furchteinflößenden Erscheinung zum Trotz verfügte er über gewisse Umgangsformen. Er hatte so eine Art, die Brille auf seiner Nase zurechtzurücken, die seltsam gewinnend war – auf nicht benennbare Weise seltsam zivilisiert. Es war eine Geste, die – hätte denn jemand noch in solchen Kategorien gedacht – an einen Adligen des 18. Jahrhunderts denken ließ, der seine Schnupftabaksdose anbietet. Winston hatte O’Brien vielleicht ein Dutzend Mal gesehen im Verlauf etwa ebenso vieler Jahre. Er fühlte sich sehr von ihm angezogen, nicht allein, weil ihn der Kontrast zwischen O’Briens kultivierter Art und seiner Preisboxerstatur so faszinierte. Es lag noch weit mehr an seiner insgeheimen Überzeugung – oder vielleicht nicht gerade Überzeugung, nur Hoffnung –, dass O’Briens politische Orthodoxie nicht makellos rein war. Etwas in seiner Miene ließ klar darauf schließen. Gut, vielleicht ließ sich nicht gerade ein unorthodoxer Kern aus seiner Miene herauslesen, sondern ganz einfach Intelligenz. Jedenfalls wirkte er wie ein Mensch, mit dem man reden konnte, wenn sich der Monitor irgendwie überlisten ließ und man mit ihm allein war. Winston hatte nie den kleinsten Versuch unternommen, diese Annahme auf ihre Richtigkeit zu überprüfen; das war ein Ding der Unmöglichkeit. In diesem Moment blickte O’Brien auf seine Armbanduhr, sah, dass es kurz vor elf war, und beschloss offenbar, für die Zwei Minuten Hass noch in der Archiv-Abteilung zu bleiben. Er setzte sich auf einen Stuhl in Winstons Reihe ein paar Plätze weiter. Eine kleine, strohblonde Frau, die im Büro neben dem von Winston arbeitete, saß zwischen ihnen. Das Mädchen mit dem schwarzen Haar saß direkt dahinter.

Nun dröhnte eine scheußlich-knirschende Stimme wie von einer riesigen, schlecht geölten Maschine aus dem großen Monitor am Ende des Raums. Das Geräusch ging durch Mark und Bein und sträubte einem die Nackenhaare. Die Hass-Sendung hatte begonnen.

Wie üblich war das Gesicht von Emmanuel Goldstein, dem Feind des Volkes, auf dem Bildschirm erschienen. Hier und da gaben Anwesende Unmutsgeräusche von sich. Die kleine, strohblonde Frau kreischte auf vor Angst und Ekel. Goldstein war der Überläufer und Abtrünnige, der einst vor langer Zeit (vor wie langer Zeit, wusste niemand mehr so recht) zu den führenden Köpfen der Partei gezählt hatte, fast auf einer Ebene mit dem Großen Bruder, und später konterrevolutionär tätig geworden war, worauf er die Todesstrafe erhielt, der er jedoch auf rätselhafte Weise entkam; seither war er verschwunden. Das Programm der Zwei Minuten Hass war jeden Tag etwas anders, aber es gab keine Sendung ohne Goldstein als Hauptfigur. Er war der erste Verräter, der früheste Schänder der Reinheit der Partei. Alle späteren Verbrechen gegen die Partei, alle Treuebrüche, Sabotageakte, Irrlehren, Abweichungen waren die direkte Folge seines Wirkens. Irgendwo lebte er noch und betrieb sein Verschwörungswerk, vielleicht irgendwo jenseits des Meeres, unter dem Schutz seiner ausländischen Geldgeber, möglicherweise gar, wie mitunter gemunkelt wurde, von einem Versteck hier in Ozeanien aus.

Winstons Zwerchfell schnürte sich zusammen. Er konnte nie ohne ein schmerzliches Gemisch von Empfindungen in Goldsteins Gesicht blicken. Es war ein hageres, jüdisches Gesicht mit einer großen, krausen Aureole weißen Haars und Ziegenbärtchen – ein gescheites Gesicht und doch irgendwie armselig, mit einer Art greisenhafter Einfalt durch die lange, schmale Nase, auf deren Wurzel eine Brille saß. Es ähnelte einem Schafsgesicht, und auch die Stimme hatte etwas Schafartiges. Goldstein gab wie üblich seine ätzende Kritik an den Lehren der Partei von sich – diese Kritik war so überzogen und verdreht, dass selbst ein Kind sie durchschauen können sollte, und doch auch bestechend genug, dass einen die Sorge beschlich, andere, weniger besonnene Menschen als man selbst könnten empfänglich für sie sein.

Er schmähte den Großen Bruder, er verurteilte die Diktatur der Partei, er forderte einen sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, trat ein für Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gedankenfreiheit; mit hysterischer Stimme schrie er, die Revolution sei verraten worden – all dies rasend schnell mit komplizierten Wörtern vorgebracht, was den gängigen Stil der Parteiredner zu parodieren schien und auch Neusprech-Wörter umfasste, mehr Neusprech-Wörter sogar, als Parteileute gemeinhin im Alltag gebrauchten. Und die ganze Zeit, wie um letzte Zweifel an der Realität hinter dem von Goldstein errichteten Blendwerk zu zerstreuen, marschierten auf dem Monitor hinter seinem Rücken endlose Kolonnen der eurasischen Armee vorbei – Reihe um Reihe drahtig wirkende Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, die kurz über den Bildschirm glitten und wieder verschwanden, um anderen, exakt gleichen Männern Platz zu machen. Das dumpfe, rhythmische Stampfen der Soldatenstiefel bildete die Geräuschkulisse für Goldsteins blökende Stimme.

Die Hass-Sendung hatte noch keine dreißig Sekunden gedauert, da war bereits die Hälfte der Leute im Raum in unbeherrschtes Wutgeschrei ausgebrochen. Das selbstzufriedene Schafsgesicht auf dem Bildschirm und die furchterregende Stärke der eurasischen Armee hinter ihm waren unerträglich; wobei schon Goldsteins Anblick oder auch nur der Gedanke an ihn unwillkürlich Furcht und Zorn auslöste. Als Hassobjekt war er beständiger als Eurasien oder Ostasien, denn wenn Ozeanien mit einer dieser Mächte Krieg führte, hielt es mit der anderen gemeinhin Frieden. Doch seltsam: Obwohl Goldstein von jedermann gehasst und verachtet wurde, obwohl seine Theorien jeden Tag und täglich tausendfach von Tribünen herab, im Monitor, in Zeitungen und Büchern widerlegt, demontiert, verhöhnt und der Öffentlichkeit als der klägliche Schund vorgeführt wurden, der sie waren – all dem zum Trotz schien sein Einfluss niemals abzunehmen. Ständig warteten neue Trottel darauf, von ihm verführt zu werden. Kein Tag verging, ohne dass die Gedankenpolizei in seinem Auftrag handelnde Spione und Saboteure enttarnte. Er war der Befehlshaber einer riesigen Schattenarmee, eines Untergrund-Netzwerks von Verschwörern, die am Umsturz des Staates arbeiteten. Die Bruderschaft, so nannte sie sich angeblich. Auch von einem schrecklichen Buch wurde geraunt, einer Gesamtschau aller Irrlehren aus Goldsteins Hand, das da und dort heimlich kursierte. Das Buch hatte keinen Titel. Wenn überhaupt je, dann erwähnten die Leute nur das Buch. Doch von so etwas wusste man allein durch ganz vage Gerüchte. Kein normales Parteimitglied kam je ohne Not auf die Bruderschaft oder das Buch zu sprechen.

Die zweite Minute der Hass-Sendung steigerte sich zur Raserei. Die Leute tobten auf ihren Sitzen und schrien so laut sie konnten, um die unerträgliche Blökstimme vom Bildschirm zu übertönen. Die kleine, strohblonde Frau war rot angelaufen, und sie öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch an Land. Sogar O’Briens derbes Gesicht war gerötet. Er saß aufrecht auf seinem Stuhl, sein mächtiger Brustkorb wogte und bebte, als müsse er dem Anprall einer Welle widerstehen. Das Mädchen mit dem schwarzen Haar hinter Winston schrie nun laut »Drecksau! Drecksau! Drecksau!«, griff auf einmal nach einem dicken Neusprech-Wörterbuch und warf es gegen den Bildschirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte ab; das Mädchen schrie hemmungslos weiter. In einem hellen Augenblick bemerkte Winston, dass er genau wie die anderen schrie und mit der Ferse rabiat gegen das Stuhlbein trat. Das Schlimme an den Zwei Minuten Hass war nicht, dass man daran teilnehmen musste, sondern vielmehr, dass es unmöglich war, nicht mit hineingezogen zu werden. Nach dreißig Sekunden brauchte man sich gar nicht mehr zu verstellen. Ein hässlicher Taumel aus Angst und Rachsucht, der Wunsch zu töten, zu foltern, mit dem Vorschlaghammer Gesichter einzuschlagen, setzte alle Versammelten gleichsam unter Strom und verwandelte jeden auch gegen seinen Willen in einen Fratzen schneidenden, brüllenden Schwachkopf. Und doch war die empfundene Wut eine ganz abstrakte, ungezielte Regung, die sich von einem Objekt auf ein anderes richten ließ wie die Flamme einer Lötlampe. Dann richtete sich Winstons Hass eine Weile gar nicht gegen Goldstein, sondern im Gegenteil gegen den Großen Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei, und in solchen Momenten fühlte er sich dem einsamen, geschmähten Ketzer auf dem Bildschirm innig verbunden, dem einzigen Hüter der Wahrheit und Vernunft in einer lügenhaften Welt. Und im nächsten Augenblick empfand er doch wieder genau wie die Leute um ihn herum und hielt alles für wahr, was über Goldstein gesagt wurde. Dann wandelte sich seine geheime Abneigung dem Großen Bruder gegenüber in Verehrung, und der Große Bruder, unbezwingbarer, furchtloser Beschützer, ragte empor wie ein Fels gegen die asiatischen Horden; und Goldstein erschien ihm dann trotz seiner Isolation, seiner Ohnmacht und der ganzen Ungewissheit, was seine bloße Existenz betraf, wie ein böser Hexenmeister, der allein kraft seiner Stimme das Fundament der Zivilisation zu zerstören vermochte.

Manchmal war es sogar möglich, seinen Hass durch einen Willensakt von hier nach dort zu lenken. Mit einem heftigen Ruck ähnlich dem, durch den man sich aus einem Alptraum vom Kissen losreißt, gelang es Winston plötzlich, seinen Hass vom Gesicht auf dem Bildschirm fort auf das schwarzhaarige Mädchen hinter ihm zu richten. Lebhafte, herrliche Fantasien gingen ihm durch den Sinn. Dass er sie mit einem Gummiknüppel totschlägt. Dass er sie nackt an einen Pfahl bindet und mit lauter Pfeilen durchbohrt wie beim heiligen Sebastian. Dass er sie vergewaltigt und ihr im Moment des Orgasmus die Kehle durchschneidet. Besser als zuvor begriff er nun auch, warum er sie so hasste. Er hasste sie, weil sie jung und hübsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett wollte und es nie dazu kommen würde, weil um ihre entzückende weiche Hüfte, die dich einlud, deinen Arm um sie zu legen, bloß die scheußliche orangerote Leibbinde war, das offensive Symbol der Keuschheit.

Die Hass-Sendung erreichte ihren Höhepunkt. Goldsteins Stimme war nun tatsächlich ein Blöken, und sein Gesicht verwandelte sich kurz in das eines Schafs. Dann nahm das Schafsgesicht die Gestalt eines eurasischen Soldaten an, der groß und schrecklich mit ratternder Maschinenpistole vorzurücken und aus der Fläche des Bildschirms zu springen schien, was einige Leute in der ersten Reihe auf ihren Stühlen zurückweichen ließ. Im selben Moment jedoch – und da atmete jedermann erleichtert auf – verwandelte sich die feindliche Gestalt in das Gesicht des Großen Bruders: schwarzes Haar und schwarzer Schnurrbart, durchdrungen von Kraft und einer rätselhaften Ruhe, so groß, dass fast der gesamte Bildschirm ausgefüllt war. Niemand verstand, was der Große Bruder sagte. Es waren nur ein paar aufmunternde Worte von der Art, wie man sie im Kampfgetöse äußert, die nichts Bestimmtes meinen, sondern allein dadurch, dass sie fallen, wieder für Zuversicht sorgen. Dann verschwand das Gesicht des Großen Bruders wieder, und nun erschienen die drei Maximen der Partei in fett gesetzten Großbuchstaben:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNKENNTNIS IST STÄRKE

Doch das Gesicht des Großen Bruders schien noch einige Sekunden lang auf dem Bildschirm zu verharren, als sei die Wirkung, die es auf den Netzhäuten ringsumher hinterließ, zu stark, um sich sofort zu verlieren. Die kleine, flachsblonde Frau hing nun über der Rückenlehne des Stuhls vor ihr. Sie reckte ihre Arme in Richtung Bildschirm und raunte bebend etwas, das wie »Mein Erlöser!« klang. Dann hielt sie sich die Hände vors Gesicht. Offenbar betete sie.

Jetzt stimmte die gesamte Gruppe einen feierlichen, langsamen rhythmischen Sprechchor an, »G–B! … G–B! … G–B!« – wieder und wieder, sehr langsam mit einer langen Pause zwischen »G« und »B« –, einen mächtigen, säuselnden, seltsam unbändigen Ton, in dessen Hintergrund man das Aufstampfen nackter Füße und das Pulsieren von Trommeln zu hören meinte. Vielleicht dreißig Sekunden lang fuhren sie so fort. Es war ein Refrain, der in Momenten unbändiger Erregung oft zu hören war. Teils war es eine Art Hymne an die Weisheit und Herrlichkeit des Großen Bruders, doch weit mehr noch ein Akt der Selbsthypnose, eine vorsätzliche Betäubung des Bewusstseins durch rhythmischen Lärm. Winstons Eingeweide schienen kalt zu werden. Während der Zwei Minuten Hass konnte er sich dem allgemeinen Taumel nicht entziehen, aber dieses unmenschliche »G–B!-G–B!«-Skandieren erfüllte ihn jedes Mal mit Grauen. Natürlich skandierte er wie die Übrigen mit, alles andere war undenkbar. Dass man seine Gefühle verbarg, seine Mimik beherrschte, tat, was alle taten, war eine Instinkthandlung. Aber es gab eine Lücke von einigen Sekunden Länge, in der ihn der Ausdruck seiner Augen durchaus verraten mochte. Und in genau dieser Phase trat das Bedeutsame ein – wenn es denn wirklich eintrat.

Ganz kurz fing er O’Briens Blick auf. O’Brien war aufgestanden. Er hatte seine Brille abgenommen und setzte sie sich eben in seiner typischen Art wieder auf die Nase. Doch da war der Bruchteil einer Sekunde, den sie einander anblickten, und während dieses Moments wusste Winston – ja, er wusste es! –, dass O’Brien das Gleiche dachte wie er. Es hatte ein unmissverständliches Signal gegeben. Es war, als hätte sich beider Verstand geöffnet und die Gedanken wären durch ihre Blicke in den jeweils anderen geströmt. »Ich sehe es wie du«, schien O’Brien ihm zu sagen. »Ich weiß genau, was du empfindest. Deine Verachtung, dein Hass, dein Abscheu sind mir völlig vertraut. Doch keine Sorge, ich bin auf deiner Seite!« Dann war der Funke des Einverständnisses verflogen, und O’Briens Miene war wieder so verschlossen wie die aller anderen.

Mehr war es nicht, und er fragte sich bereits, ob es überhaupt geschehen war. Derlei Vorfälle hatten nie weitere Folgen. Sie dienten einzig dazu, dass der Glaube oder die Hoffnung in ihm wach blieb, es gäbe außer ihm selbst noch weitere Feinde der Partei. Vielleicht stimmte ja das Gerücht von gewaltigen Verschwörungen im Untergrund – vielleicht gab es die Bruderschaft wirklich! Allen zahllosen Verhaftungen, Geständnissen und Hinrichtungen zum Trotz konnte man sich unmöglich sicher sein, dass die Bruderschaft mehr war als eine Erfindung. An manchen Tagen hielt er sie für existent, an anderen nicht. Es gab keine Belege, nur flüchtige Eindrücke, die etwas bedeuteten oder auch nicht: Fetzen zufällig mitgehörter Gespräche, undeutliches Gekritzel an Toilettenwänden – einmal sogar, bei der Begegnung zweier Fremder, eine kleine Geste der Hände, die gewirkt hatte, als sei sie ein Zeichen des Erkennens. Es war reine Mutmaßung; höchstwahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet. Er war in sein Büro zurückgegangen, ohne O’Brien noch einmal anzusehen. Der Gedanke, nach ihrem flüchtigen Kontakt weitere Schritte zu unternehmen, lag ihm fern. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewusst hätte, wie man es anstellt. Eine Sekunde, zwei Sekunden lang hatten sie einen mehrdeutigen Blick getauscht, damit war die Geschichte beendet. Doch bereits dies war ein denkwürdiges Ereignis in der hermetischen Einsamkeit, in der man leben musste.

Winston fuhr hoch und setzte sich aufrechter hin. Er musste aufstoßen. Der Gin rumorte in seinem Magen.

Sein Blick richtete sich wieder auf die Seite. Er stellte fest, dass er, während er nutzlos grübelnd dasaß, weiter geschrieben hatte, wie unwillkürlich. Und nicht länger in dieser verkrampften, ungelenken Handschrift wie zuvor. Seine Feder war ausladend über das weiche Papier geglitten und hatte in großer, sauberer Blockschrift hinterlassen:

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER

Wieder und wieder, über eine halbe Seite hinweg.

Ein Gefühl der Bestürzung durchfuhr ihn. Es war lächerlich, denn diesen Satz niederzuschreiben war nicht gefährlicher als der Schritt, mit dem Tagebuch zu beginnen, doch einen Moment lang war er versucht, die beschriebenen Seiten herauszureißen und das gesamte Vorhaben aufzugeben.

Letztlich tat er es nicht, denn er wusste, dass es sinnlos war. Ob er NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER schrieb oder es sein ließ, machte keinen Unterschied. Ob er weiter Tagebuch schrieb oder damit aufhörte, machte keinen Unterschied. Die Gedankenpolizei würde ihn ohnehin finden. Er hatte das Kapitalverbrechen begangen, das alle anderen in sich einschloss – hätte es sogar begangen, ohne je die Feder anzusetzen. Gedankenverbrechen wurde es genannt. Gedankenverbrechen ließen sich nicht für alle Zeit geheim halten. Man konnte sie eine Weile, sogar jahrelang erfolgreich verbergen, doch früher oder später erwischten sie dich garantiert.

Es geschah immer nachts – die Verhaftungen fanden ausnahmslos nachts statt. Das plötzliche Hochfahren aus dem Schlaf, die ruppige Hand, die an deiner Schulter rüttelt, die dich blendenden Lampen, der Kreis strenger Gesichter um das Bett. In den allermeisten Fällen gab es keinen Prozess, keine Mitteilung zur Festnahme. Die Leute verschwanden einfach, und immer nachts. Man entfernte deinen Namen aus den Melderegistern, jeder Eintrag zu allem, was du getan hast, wurde getilgt; dass du je gelebt hast, wurde erst bestritten, dann vergessen. Du wurdest beseitigt, ausgelöscht: vaporisiert, wie es gemeinhin hieß.

Kurz wurde er von einer Art Hysterie gepackt. Er begann hektisch hinzuschmieren:

die werden mich erschießen mir egal die schießen mir von hinten ins genick mir egal nieder mit dem großen bruder die schießen einem immer von hinten ins genick mir egal nieder mit dem großen bruder …

Er lehnte sich zurück, etwas beschämt über sich selbst, und legte den Federhalter hin. Im nächsten Moment schrak er heftig auf. Jemand klopfte an die Tür.

Jetzt schon! Er saß mucksmäuschenstill da in der sinnlosen Hoffnung, der da draußen, wer immer es war, würde nach einem Versuch wieder gehen. Doch nein, es wurde wieder geklopft. Das Schlimmste von allem wäre, jetzt zu zögern. Sein Herz pochte wie eine Trommel, doch sein Gesicht war aufgrund langer Gewohnheit wohl ausdruckslos. Er stand auf und ging langsam in Richtung Tür.

1Neusprech war die Amtssprache Ozeaniens. Hinweise zu ihrem Aufbau und ihrer Etymologie siehe Anhang.

II

Während er die Türklinke ergriff, sah Winston, dass er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER stand dort wieder und wieder geschrieben in Buchstaben, die man vom Ende des Zimmers her fast lesen konnte, so groß waren sie. Das war nun eine unvorstellbare Dummheit gewesen. Doch ihm wurde bewusst, dass er selbst in seiner Panik das weiche Papier nicht besudeln wollte, indem er das Buch mit der noch feuchten Tinte zuklappte.

Er holte tief Luft und öffnete die Tür. Sofort durchströmte ihn eine warme Woge der Erleichterung. Draußen stand eine blasse, geduckt wirkende Frau mit dünnem Haar und schmalem Gesicht.

»Ach, Genosse«, sagte sie mit düsterer, weinerlicher Stimme, »hab ich doch richtig gehört, dass Sie gerade heimgekommen sind. Ob Sie wohl mal rüberkommen und sich meinen Abfluss anschauen können? Er ist verstopft und …«

Es war Mrs Parsons, die Frau eines Nachbarn auf derselben Etage. (»Mrs« zu sagen wurde von der Partei missbilligt – man sollte jeden mit »Genosse« anreden –, aber gegenüber manchen Frauen fiel das Wort instinktiv.) Die Frau war etwa dreißig Jahre alt, wirkte aber viel älter. Man hatte den Eindruck, dass ihre Gesichtsfalten voller Staub waren. Winston folgte ihr durch den Flur. Diese Aushilfsreparaturen waren ein fast tägliches Ärgernis. Die Victory-Wohnblocks waren alte Gebäude, hochgezogen etwa in den 1930er-Jahren, und fielen auseinander. Ständig bröselte der Putz von den Decken und Wänden, bei strengem Frost barsten jedes Mal die Leitungen, es sickerte durchs Dach, wenn Schnee darauf lag, die Zentralheizung lief gewöhnlich nur mit halber Kraft, wenn sie zwecks Einsparung nicht ganz abgestellt war. Reparaturen, die man nicht selbst erledigen konnte, mussten von fernen Gremien genehmigt werden, die sich selbst mit dem Austausch einer kaputten Fensterscheibe zwei Jahre Zeit lassen konnten.

»Natürlich nur, weil Tom nicht zu Hause ist«, sagte Mrs Parsons undeutlich.

Die Wohnung der Parsons’ war größer als die von Winston und in besonderer Art schäbig. Alles sah abgenutzt und ramponiert aus, als sei eben ein großes, wütendes Tier zu Besuch dagewesen. Der Boden war bedeckt mit Sportausrüstung – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein geplatzter Football, verschwitzte, auf links gewendete Shorts –, und auf dem Tisch stapelten sich schmutziges Geschirr und Schulhefte mit Eselsohren. An den Wänden hingen orangerote Fahnen des Jugendbundes und der Kundschafter, außerdem ein lebensgroßes Plakat des Großen Bruders. Hier hing der übliche Kohlgeruch im Raum, der das gesamte Gebäude durchzog, doch ihn überlagerte ein strenger Schweißmief, der – man wusste es nach einmal Schnuppern, gleich wie sich das erklären mochte – von einer gewissen, gerade nicht anwesenden Person herrührte. In einem anderen Zimmer versuchte jemand auf einem mit Papier überspannten Kamm die Militärmusik zu begleiten, die noch aus dem Monitor drang.

»Die Kinder«, sagte Mrs Parsons mit leicht ängstlichem Blick in Richtung Tür. »Sie waren heute nicht draußen. Und natürlich …«

Sie hatte die Angewohnheit, ihre Sätze mittendrin abzubrechen. Die Spüle in der Küche war beinahe randvoll mit einer grünlichen Dreckbrühe, die schlimmer denn je nach Kohl stank. Winston kniete nieder und machte sich am Siphon zu schaffen. Er hasste es, mit den Händen zu arbeiten, und er hasste es, sich bücken zu müssen, wovon er immer gleich zu husten begann. Mrs Parsons sah hilflos drein.

»Natürlich, wenn Tom da wäre, hätte er das sofort repariert«, sagte sie. »Er tut so etwas furchtbar gern. Er hat so geschickte Hände, der Tom.«

Parsons war ein Kollege von Winston im Ministerium für Wahrheit. Er war ein ziemlich dicker, aber sehr emsiger Mann von abgrundtiefer Dummheit, ein Ausbund idiotischen Eifers – einer jener völlig bedingungslos ergebenen Knechte, auf denen mehr noch als auf der Gedankenpolizei die Stabilität der Partei beruhte. Mit 35 Jahren hatte er widerwillig den Jugendbund verlassen, und bevor er in den Jugendbund aufgerückt war, hatte er ein Jahr über das maximal gestattete Höchstalter hinaus bei den Kundschaftern verbracht. Beim Ministerium saß er auf irgendeiner niederen Position, die kein Auffassungsvermögen erforderte, dagegen war er eine treibende Kraft im Sportausschuss und in allen anderen Ausschüssen, die Gruppenwanderungen, Spontandemonstrationen, Sparaktionen und jede Art von freiwilligem Einsatz organisierten. Mit leisem Stolz setzte er einen zwischen zwei Zügen an seiner Pfeife in Kenntnis, dass er in den vergangenen vier Jahren jeden Abend im Gemeinschaftszentrum vorbeigeschaut habe. Ein durchdringender Schweißgeruch folgte ihm wie ein unbewusster Beleg für die Anstrengungen seines Lebens auf Schritt und Tritt und hing noch in der Luft, wenn er längst wieder fort war.

»Haben Sie einen Schraubenschlüssel?«, fragte Winston, der die Mutter am Siphon betastete.

»Einen Schraubenschlüssel«, sagte Mrs Parsons und wurde sofort nervös. »Keine Ahnung, bestimmt. Die Kinder könnten …«

Stiefelgetrappel war zu hören und noch eine Fanfare auf dem Kamm, als die Kinder ins Wohnzimmer einfielen. Mrs Parsons brachte den Schraubenschlüssel. Winston ließ das Wasser ablaufen und entfernte angeekelt den Pfropfen aus Menschenhaar, der den Abfluss verstopft hatte. Er wusch sich die Hände, so gut es mit dem kalten Wasser aus der Leitung möglich war, und ging in das andere Zimmer zurück.

»Hände hoch!«, schrie jemand schrill.

Ein hübscher, robust wirkender Junge, neun Jahre alt, war hinter dem Tisch hochgesprungen und hielt eine Spielzeugpistole auf ihn gerichtet; seine kleine Schwester, die etwa zwei Jahre jünger war, machte ihm dies mit einem Stück Holz nach. Beide trugen kurze blaue Hosen, graue Hemden und rote Halsbänder, die Uniform der Kundschafter. Winston streckte seine Hände in die Luft, aber mit einem unguten Gefühl, denn der Junge verhielt sich so garstig, dass es gar nichts mehr von einem Spiel hatte.

»Du bist ein Verräter!«, schrie der Junge. »Du bist ein Gedankenverbrecher! Ein eurasischer Spion bist du! Ich erschieße dich, ich vaporisiere dich, ich steck dich ins Salzbergwerk!«

Mit einem Mal hüpften sie beide um ihn herum, schrien »Verräter!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen dem Bruder alles nachmachte. Es war ein bisschen beängstigend, wie das Herumtollen von Tigerjungen, die bald groß sein und Menschen auffressen werden. Im Blick des Jungen lag eine berechnende Wildheit, das offenkundige Verlangen, Winston zu schlagen und zu treten, und das Bewusstsein davon, sehr bald groß genug zu sein, um es zu können. Ein Glück, dass er da keine echte Waffe in der Hand hielt, dachte Winston.

Mrs Parsons’ Blick ging nervös von Winston zu den Kindern und wieder zurück. Im besseren Licht des Wohnzimmers bemerkte Winston interessiert, dass tatsächlich Staub in ihren Gesichtsfalten hing.

»Sie machen so einen Lärm«, sagte sie. »Sie sind enttäuscht, weil sie nicht zur Hinrichtung können, deshalb. Ich hab keine Zeit, sie hinzubringen, und Tom ist nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.«

»Warum dürfen wir nicht zur Hinrichtung?«, brüllte der Junge mit lauter Stimme.

»Wir woll’n zur Hinrichtung! Wir woll’n zur Hinrichtung!«, skandierte das Mädchen, das noch immer herumhüpfte.

Am Abend, das fiel Winston wieder ein, sollten im Park eurasische Gefangene hingerichtet werden, überführte Kriegsverbrecher. Etwa einmal im Monat fand dies statt, es war ein beliebtes Schauspiel. Kinder zeterten immer herum, dass sie mit hinwollten. Er verabschiedete sich von Mrs Parsons und ging zur Tür. Als er im Treppenhaus noch keine sechs Stufen hinabgestiegen war, schoss ihm etwas unerträglich schmerzhaft in den Nacken. Es war, als sei ein glühend heißer Draht in ihn gerammt worden. Er fuhr herum und konnte gerade noch sehen, wie Mrs Parsons ihren Sohn, der eine Zwille wegsteckte, zurück durch den Eingang zerrte.

»Goldstein!«, grölte der Junge, während sich die Tür schloss. Vor allem erschütterte Winston jedoch der Anblick hilflosen Schreckens auf dem blassgrauen Gesicht der Frau.

In seiner Wohnung ging er rasch am Monitor vorbei und setzte sich, weiter den Nacken reibend, wieder an den Tisch. Aus dem Monitor kam keine Musik mehr. Dafür verlas eine militärische Stimme abgehackt und mit einer Art brutaler Lust Angaben zur Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die eben zwischen Island und den Färöer-Inseln vor Anker gegangen war.

Mit diesen Kindern, dachte Winston, musste die arme Frau in Angst und Schrecken leben. Noch ein, zwei Jahre, dann würden sie sie Tag und Nacht nach Anzeichen von mangelnder Orthodoxie belauern. Fast alle Kinder waren schrecklich heutzutage. Am Schlimmsten von allem war, dass sie durch Organisationen wie die Kundschafter systematisch in unkontrollierbare kleine Bestien verwandelt wurden; und doch regte sich in ihnen keinerlei Neigung, gegen die Lehre der Partei aufzubegehren. Ganz im Gegenteil, sie schwärmten für die Partei und alles, was mit ihr zu tun hatte. Die Lieder, die Umzüge, die Fahnen, die Wanderungen, das Exerzieren mit Gewehrattrappen, das Skandieren von Parolen, die Anbetung des Großen Bruders – all dies war ihnen eine Art herrliches Spiel. Ihre ganze Grausamkeit wurde nach außen gelenkt, gegen die Staatsfeinde, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Für Menschen über dreißig war es fast normal, die eigenen Kinder zu fürchten. Aus gutem Grund, denn selten verging eine Woche, ohne dass in der Times ein Artikel darüber zu lesen war, wie irgendein kleiner Schnüffler – üblicherweise »Kinderheld« genannt – eine kompromittierende Bemerkung belauscht und seine Eltern an die Gedankenpolizei verraten hatte.

Der Schmerz vom Geschoss der Zwille hatte nachgelassen. Winston ergriff unentschlossen den Federhalter und fragte sich, was er denn noch in sein Tagebuch schreiben konnte. Plötzlich dachte er erneut an O’Brien.

Vor Jahren – wie vielen? Sieben bestimmt – hatte er geträumt, dass er durch ein stockfinsteres Zimmer ging. Und jemand, der seitlich von ihm saß, hatte, als er an ihm vorbeilief, gesagt: »Dort, wo keine Dunkelheit herrscht, werden wir uns wiederbegegnen.« Es war ganz leise gesagt worden, fast beiläufig – eine Feststellung, kein Befehl. Er war ohne anzuhalten weitergegangen. Seltsamerweise hatten damals, im Traum, die Worte keinen großen Eindruck auf ihn gemacht. Erst später und ganz allmählich schienen sie bedeutsam zu werden. Winston konnte sich jetzt nicht erinnern, ob er O’Brien vor oder nach diesem Traum erstmals gesehen hatte, er wusste auch nicht mehr, wann er zum ersten Mal die Stimme als die von O’Brien identifiziert hatte. In jedem Fall aber war es so gekommen. Es war O’Brien, der ihn aus der Finsternis heraus angesprochen hatte.

Winston hatte sich nie sicher sein können – und auch nach dem kurzen Blick von heute Morgen war es unmöglich zu sagen –, ob O’Brien ein Freund war oder ein Feind. Es schien nicht einmal sehr von Belang. Zwischen ihnen herrschte eine Übereinkunft, die entscheidender war als Zuneigung oder Parteigeist. »Dort, wo keine Dunkelheit herrscht, werden wir uns wiederbegegnen«, hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was dies bedeutete, nur, dass es auf die eine oder andere Weise eintreten würde.

Die Stimme vom Monitor hielt inne. Eine Trompetenfanfare glitt hell und schön durch die stehende Luft. Die Stimme fuhr schnarrend fort:

»Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit! Soeben erreicht uns eine Meldung von der Malabar-Front. In Südindien haben unsere Truppen einen glorreichen Sieg errungen. Ich darf verkünden, dass aufgrund der Maßnahme, von der gleich berichtet wird, das Kriegsende absehbar näher gerückt ist. Es folgt nun die Meldung …«

Schlechtes Zeichen, dachte Winston. Und auf den blutrünstigen Bericht von der Vernichtung einer eurasischen Armee mit gewaltigen Zahlen von Toten und Gefangenen folgte denn auch die Ankündigung, dass ab kommender Woche die Zuteilung an Schokolade von dreißig auf zwanzig Gramm herabgesetzt werde.

Winston stieß erneut auf. Die Wirkung des Gins wurde schwächer und hinterließ ein Gefühl der Ermattung. Aus dem Monitor dröhnte – vielleicht zur Feier des Sieges oder auch, um Gedanken an die rationierte Schokolade zu vertreiben – die Hymne Ozeaniens. Dazu hatte man eine stramme Haltung einzunehmen. Wobei Winston an seinem momentanen Platz nicht sichtbar war.

Auf die Hymne folgte leichte Musik. Winston trat ans Fenster, mit dem Rücken zum Monitor. Der Tag war noch immer kalt und klar. Irgendwo weit hinten detonierte dumpf und nachhallend eine Raketenbombe. Aktuell gingen jede Woche rund zwanzig bis dreißig auf London nieder.

Unten auf der Straße schlug der Wind das zerrissene Plakat hin und her, und das Wort ENGSOZ war mal zu lesen, dann wieder nicht. Engsoz. Die heiligen Grundsätze von Engsoz. Neusprech, Doppeldenk, die Veränderbarkeit von Vergangenem. Ihm war, als spaziere er durch die Wälder auf dem Grund des Meeres, verirrt in eine monströse Welt, in der er selbst das Monstrum war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft unvorstellbar. Wie konnte er mit Bestimmtheit sagen, dass auch nur ein einziger lebender Mensch auf seiner Seite war? Und wie wissen, ob die Herrschaft der Partei nicht ewig fortbestand? Wie als Antwort darauf erinnerte er sich der drei Maximen auf der weißen Fassade des Ministeriums für Wahrheit:

KRIEG IST FRIEDEN

FREIHEIT IST SKLAVEREI

UNKENNTNIS IST STÄRKE

Er nahm ein 25-Cent-Stück aus der Tasche. Auch hier waren in winziger, klarer Schrift die Maximen eingeprägt, die andere Seite der Münze zeigte den Kopf des Großen Bruders. Selbst von der Münze verfolgte dich sein Blick. Von Geldstücken, Briefmarken, Büchern, Transparenten, Plakaten und Zigarettenschachteln – einfach von überall. Immer der Blick, der dich ansah, und die Stimme, die dich einhüllte. Gleich ob du schliefst oder wach warst, beim Arbeiten oder Essen, drinnen oder draußen, im Bad oder Bett – es gab kein Entrinnen. Dir gehörte nichts als die paar Kubikzentimeter im Innern deines Schädels.

Die Sonne war weitergewandert, und die zahllosen Fenster des Ministeriums für Wahrheit wirkten ohne das Licht ihrer Strahlen düster wie die Schießscharten einer Festung. Winstons Herz erbebte angesichts dieses riesigen Pyramidenbaus. Er war zu stark, einfach uneinnehmbar. Tausend Raketenbomben würden ihn nicht in Trümmer legen können. Wieder fragte sich Winston, für wen er überhaupt Tagebuch schrieb. Für die Zukunft, die Vergangenheit – für ein Zeitalter, das vielleicht nur eine Fantasie war. Und ihn erwartete nicht allein der Tod, sondern die Auslöschung. Vom Tagebuch würde ein Häufchen Asche bleiben und von ihm selbst ein Schwall Rauch. Niemand als die Gedankenpolizei würde lesen, was er geschrieben hatte, und ihn dann aus dem Dasein und der Erinnerung tilgen. Wie konnte man sich an die Zukunft wenden, wenn von einem nicht die geringste Spur, kein auf ein Stück Papier gekritzeltes Wort eines Namenlosen materiell fortbestand?

Der Monitor schlug 14.00 Uhr. In zehn Minuten musste er los. Um halb drei hatte er wieder an der Arbeit zu sein.

Der Stundenschlag schien Winston seltsamerweise mit neuem Mut erfüllt zu haben. Er war ein einsamer Geist, der eine Wahrheit aussprach, die niemand je hören würde. Doch solange er sie aussprach, war auf unbestimmte Weise die Verbindung nicht abgerissen. Man wahrte das menschliche Erbe nicht, indem man sich Gehör verschaffte, sondern indem man bei gesundem Verstand blieb. Er ging zurück zum Tisch, tauchte die Feder ein und schrieb:

An die Zukunft oder die Vergangenheit, an eine Zeit, in der die Gedanken frei sind, in der Menschen sich voneinander unterscheiden und nicht jeder für sich lebt – an eine Zeit, in der Wahrheit existiert und Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann:

Aus dem Zeitalter der Gleichförmigkeit, dem Zeitalter der Einsamkeit, aus dem Zeitalter des Großen Bruders, dem Zeitalter von Doppeldenk – seid gegrüßt!

Er war bereits tot, überlegte er. Ihm schien, als habe er erst jetzt, da er seine Gedanken endlich zu formulieren in der Lage war, den entscheidenden Schritt getan. Jedem Handeln sind die Folgen dieses Handelns inbegriffen. Er schrieb:

Das Gedankenverbrechen führt nicht zum Tod: Das Gedankenverbrechen ist der Tod.

Nun, da er sich selbst als Toten begriff, wurde es wichtig, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand hatten Tintenflecken. Durch genau solche Kleinigkeiten konnte man sich verraten. Irgendein herumschnüffelnder Eiferer im Ministerium (am ehesten eine Frau, jemand wie die kleine Strohblonde oder das schwarzhaarige Mädchen aus der Roman-Abteilung) käme auf die Idee, sich zu fragen, warum er in der Mittagspause geschrieben hatte, wieso er eine altmodische Feder dazu benutzte, was er da wohl geschrieben hatte – um der zuständigen Stelle daraufhin einen Wink zu geben. Er ging ins Bad und schrubbte die Tinte sorgsam fort mit der groben, dunkelbraunen Seife, die einem die Haut aufscheuerte wie Schmirgelpapier und für diesen Zweck daher wie geschaffen war.

Er legte sein Tagebuch in die Schublade. Es zu verstecken war ein ziemlich nutzloser Gedanke, doch er konnte zumindest dafür sorgen, dass ihm auffiel, wenn es entdeckt worden war. Ein zwischen die Seiten gelegtes Haar war zu offenkundig. Mit der Fingerspitze tippte er ein eben noch erkennbares weißes Staubkörnchen auf und legte es auf die Ecke des Einbands, wo es herunterfallen musste, wenn jemand das Buch anrührte.

III

Winston träumte von seiner Mutter. Er wird, überlegte er, zehn, elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwand. Sie war eine große, stattliche, eher stille Frau mit langsamen Bewegungen und glänzendem blondem Haar. Seinen Vater hatte er undeutlicher in Erinnerung, als brünett und hager; er war stets gepflegt schwarz gekleidet (Winston hatte besonders die sehr dünnen Sohlen seiner Schuhe vor Augen) und trug eine Brille. Beide mussten während einer der ersten großen Säuberungen der fünfziger Jahre mit in den Abgrund gerissen worden sein.

Seine Mutter saß im Traum irgendwo tief unter ihm mit seiner kleinen Schwester im Arm. An seine Schwester hatte er überhaupt keine Erinnerung, außer dass sie ein kleines, schwächliches, immer ganz stilles Baby mit großen, hellwachen Augen war. Beide sahen zu ihm hinauf. Sie befanden sich irgendwie unterhalb der Erde – auf dem Grund eines Brunnens vielleicht oder in einem sehr tiefen Grab –, doch obwohl diese Stelle bereits so tief unter ihm lag, sank sie immer noch weiter abwärts. Sie waren im Salon eines sinkenden Schiffes und sahen durch das immer dunkler werdende Wasser zu ihm hoch. Noch war Luft im Salon, sie konnten ihn noch erkennen und er sie, aber dabei sanken sie die ganze Zeit tiefer und tiefer hinab in das grüne Wasser, das sie jeden Moment für immer seinem Blick entziehen musste. Er war draußen, hatte Licht und Luft, während sie in den Tod gezogen wurden, und sie waren dort unten, weil er hier oben war. Er wusste es, sie wussten es, und er las dieses Wissen ihren Gesichtern ab. Da lag kein Vorwurf, weder in ihren Gesichtern noch in ihren Herzen, nur das Wissen, dass sie sterben mussten, damit er am Leben blieb, und dass dies unausbleiblich zur Ordnung der Dinge gehörte.

Er erinnerte sich nicht, was geschehen war, doch in seinem Traum wusste er, dass seine Mutter und seine Schwester ihre Leben gewissermaßen für seines hatten opfern müssen. Es war einer jener Träume, die eine typische Traumsituation einfangen und doch eine Weiterführung des Verstandeslebens sind und in denen man sich Dingen und Ideen bewusst wird, die auch nach dem Aufwachen noch neu und kostbar wirken. Winston wurde nun mit einem Mal bewusst, dass der Tod seiner Mutter vor nahezu dreißig Jahren auf eine Weise tragisch und traurig gewesen war, die es heute gar nicht mehr geben konnte. Tragik, so erkannte er, war historisch geworden, sie gehörte einer Zeit an, in der es noch Privatsphäre, Liebe und Freundschaft gegeben hatte und in der alle Angehörigen einer Familie zusammenhielten, ohne den Grund dafür kennen zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter zerriss ihm das Herz, weil sie als ihn liebender Mensch starb, als er noch zu jung und eigensüchtig zur Erwiderung ihrer Liebe war, und weil sie sich irgendwie – wie genau, dessen konnte er sich nicht mehr erinnern – einem persönlichen, unabänderlichen Treuegedanken geopfert hatte. Dergleichen, so sah er, war heute nicht mehr möglich. Heute gab es Angst, Hass und Leid, aber keine Größe in der Empfindung, keinen tiefen, komplexen Schmerz. All dies meinte er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester gesehen zu haben, die durch das grüne Wasser zu ihm hinaufblickten, viele Hundert Klafter unter ihm und noch immer sinkend.

Unvermittelt stand er auf einem kleinen federnden Rasenplatz; es war ein Sommerabend, die Strahlen der tiefstehenden Sonne tauchten den Boden in Gold. Die sich ihm darbietende Landschaft kehrte in seinen Träumen so oft wieder, dass er nie genau wusste, ob er sie aus dem wirklichen Leben kannte oder nicht. In seiner wachen Vorstellung nannte er sie das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen bewohnte Weide mit einem Trampelpfad quer hindurch und Maulwurfshügeln da und dort. Inmitten des wildwuchernden Buschwerks am hinteren Ende der Wiese wiegten sich die Zweige der Ulmen kaum merklich im Wind, ihre Blätter wogten in dichten Büscheln wie Frauenhaar. Irgendwo ganz in der Nähe, wenn auch außer Sicht, gab es einen klaren, langsam dahinfließenden Bach, an dessen seichten Stellen unter den Weiden Haselfische umherschwammen.

Das Mädchen mit dem schwarzen Haar kam über die Wiese auf ihn zu. Mit einer einzigen Bewegung riss sie sich die Kleidung vom Leib und warf sie lässig beiseite. Ihr Körper war weiß und weich, doch er weckte kein Begehren in ihm, ja er betrachtete ihn kaum. In diesem Moment war er ganz von Bewunderung für die Geste erfüllt, mit der sie ihre Kleidung fortgeworfen hatte. Mit ihrer Anmut und Sorglosigkeit schien sie eine ganze Kultur aufzulösen, ein ganzes Denksystem, so als ließen sich der Große Bruder und die Partei und die Gedankenpolizei mit einem einzigen großartigen Schwung des Armes ins Nichts befördern. Auch dies war eine Geste aus alter Zeit. Mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen wachte Winston auf.

Aus dem Monitor drang ein ohrenbetäubendes Pfeifen, das in gleicher Tonhöhe dreißig Sekunden lang anhielt. Es war Viertel nach sieben, Weckzeit für die Büroangestellten. Winston quälte sich aus dem Bett – nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei erhielt nur 3000 Kleidermarken pro Jahr, und für einen Schlafanzug benötigte man schon 600 – und griff nach dem schmuddeligen Unterhemd und den Shorts auf seinem Stuhl. In drei Minuten begann die Morgengymnastik. Im nächsten Moment krümmte er sich unter einem heftigen Hustenanfall, der ihn fast jedes Mal kurz nach dem Aufwachen überkam. Er leerte die Lunge so vollständig, dass sich Winston flach auf den Rücken legen und mehrfach tief nach Luft schnappen musste, um wieder zu Atem zu kommen. Durch das angestrengte Husten schwollen seine Adern an, und das Geschwür begann zu jucken.

»Altersgruppe dreißig bis vierzig!«, kläffte eine durchdringende Frauenstimme. »Altersgruppe dreißig bis vierzig! Bitte auf Position. Gruppe dreißig bis vierzig!«

Winston nahm Haltung an vor dem Monitor, auf dem bereits eine recht junge Frau erschienen war; sie war mager, doch muskulös und trug einen Kittel und Sportschuhe.

»Die Arme beugen und strecken!«, bellte sie. »Ich gebe das Tempo vor. Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Na los, Genossen, mit etwas mehr Einsatz! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! …«

Die Schmerzen durch den Hustenanfall hatten nicht ganz aus Winstons Gedanken vertreiben können, was der Traum in ihm ausgelöst hatte, und die rhythmischen Bewegungen der Übung brachten es wieder stärker in Gang. Während er mit einer Miene verbissener Freude, die für die Dauer der Morgengymnastik vorgeschrieben war, seine Arme mechanisch vor und zurück bewegte, versuchte er seine Gedanken in die undeutliche Phase seiner frühen Kindheit zu lenken. Das war ungemein schwierig. Jenseits der späten fünfziger Jahre verblasste alles. Gab es keine äußeren Orientierungspunkte, an die man sich halten konnte, verlor sogar der Verlauf des eigenen Lebens an Kontur. Man erinnerte sich großer Ereignisse, die mutmaßlich nie stattgefunden hatten, man erinnerte sich an Details von Begebenheiten, ohne die damalige Atmosphäre zu fassen zu bekommen, und es gab lange leere Phasen, zu denen einem überhaupt nichts einfiel. Damals war alles anders gewesen. Sogar die Namen der Länder und ihre Umrisse auf der Landkarte waren anders gewesen. Landebahn Eins zum Beispiel hatte früher nicht so geheißen: Damals hatte man England oder Großbritannien gesagt, wobei sich Winston bei London ziemlich sicher war, dass es schon immer London genannt wurde.